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Eine Leiche im Wald, eine verschwundene Zeugin und eine antike Kanone: »Totholz« ist der 11. bayerische Krimi aus Andreas Föhrs humorvoller Krimi-Reihe um die Kult-Ermittler Wallner & Kreuthner. Leo Kreuthner ist außer sich: Da wagt es doch so ein dahergelaufener Lump, ihm bei der Schwarzbrennerei Konkurrenz zu machen! Das muss selbstredend sofort unterbunden werden – wenn nötig auch mithilfe einer alten Kanone aus dem 18. Jahrhundert … Währenddessen führt eine nicht ganz freiwillige Zeugenaussage Kommissar Wallner und die Kripo Miesbach zu einer im Wald vergrabenen Leiche, die so stark verbrannt ist, dass sie nicht identifiziert werden kann. Kurz darauf ist auch noch die Zeugin wie vom Erdboden verschluckt, doch eine erste Spur weist auf drei abgelegene Anwesen. Die Gespräche mit den eigenbrötlerischen Bewohnern gestalten sich skurril bis schwierig, und Wallner ahnt bald, dass alle drei Familien dunkle Geheimnisse hüten. Aber wer hat etwas mit der Leiche im Wald zu tun? Lustige Regio-Krimis mit Humor und Hirn Bestseller-Autor Andreas Föhr steht für intelligente bayerische Krimis, die mit einer guten Portion schwarzen Humors und glaubwürdigen Figuren mitten aus dem Leben bestens unterhalten. Die Bestseller der Krimi-Reihe um die gegensätzlichen Ermittler Clemens Wallner und Leonhardt Kreuthner vom Tegernsee sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Prinzessinnenmörder - Schafkopf - Karwoche - Schwarze Piste - Totensonntag - Wolfsschlucht - Schwarzwasser - Tote Hand - Unterm Schinder - Herzschuss - Totholz
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Seitenzahl: 434
Andreas Föhr
Was vergraben ist, ist nicht vergessen
Knaur eBooks
Leo Kreuthner ist außer sich: Da wagt es doch jemand, ihm bei der Schwarzbrennerei Konkurrenz zu machen – und der Konkurrent ist auch noch eine Frau! Das muss sofort unterbunden werden – wenn nötig auch mithilfe einer alten Kanone aus dem 18. Jahrhundert … Währenddessen führt eine unfreiwillige Zeugenaussage Kommissar Wallner zu einer im Wald vergrabenen Leiche. Keiner weiß, wer der Tote ist und es wird auch niemand vermisst. Kurz darauf ist die Zeugin wie vom Erdboden verschluckt, doch eine erste Spur führt zu zwei abgelegenen Anwesen. Die Vernehmung der eigenbrötlerischen Bewohner gestaltet sich skurril bis schwierig, und Wallner ahnt bald, dass alle Beteiligten dunkle Geheimnisse hüten. Aber wer von ihnen hat etwas mit der Leiche im Wald zu tun?
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1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Danksagung
Grau, modernd und irgendwie hinterhältig versteckte sich der Schuppen im Herbstnebel. Im einsamen Grund zwischen Hirschberg und Kampen brach die blaue Stunde an. Die Kälte der Nacht senkte sich langsam ins Tal, und von fern hallte das Brunftröhren der Hirsche. Polizeihauptmeister Leonhardt Kreuthner, heute in Zivil, beobachtete Schuppen und Umgebung mit dem Feldstecher. Nichts rührte sich. Kreuthner wusste aus verlässlicher Quelle, dass die Eigentümerin des Gebäudes sich gegenwärtig nicht darin aufhielt. Sein Blick war hart, als er das Fernglas absetzte.
Neben einem alten VW Passat mit Anhänger standen die drei Männer. Das hintere Ende des Anhängers wies in Richtung des Schuppens, die Ladung hatte man mit einer Plane verdeckt. Neben Kreuthner war noch Johann Lintinger mit von der Partie, dem die rechte Hand fehlte, seit er sie sich mit einer Schrottschere selbst entfernt hatte, denn sie hatte ihn seit seinen Kindertagen gestört, aber das war eine komplizierte Geschichte und sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Der Dritte im Bunde war Manfred Wallner, ein Mann mit von 93 Lebensjahren gegerbtem Gesicht, der sich auf einen Rollator stützte. Lange hatte Kreuthner mit sich gerungen, ob er Manfred mitnehmen sollte. Aber Manfred war der Einzige von den dreien, der Erfahrung mit dem Gerät besaß, das sich unter der Plane verbarg.
»Die Luft ist rein«, sagte Kreuthner, »pack ma’s.« Zusammen mit Lintinger zog er die Plane vom Anhänger. Zum Vorschein kam eine gusseiserne Kanone mit der lateinischen Aufschrift »Ioannes Agricola hoc fecit anno domini MDCCLXII«. Das Geschütz ruhte auf einer hölzernen Lafette, die, wenn man nach dem Zustand ihres Holzes ging, noch um einiges älter sein mochte als das Datum auf der Kanone. Kreuthner tätschelte die Waffe, die er in den letzten Wochen liebevoll restauriert hatte.
»Was heißt’n die Zahl?«, wollte Manfred wissen.
»1762«, sagte Kreuthner nicht ganz ohne Stolz. »Wie alt war eure im Krieg?«
»Die war von 1756.« Manfred strich mit seiner knotigen Hand über das Metall. »Des is schon über siebz’g Jahr her, dass mir damit g’schossen ham.«
»Ihr habt’s im Zweiten Weltkrieg mit Kanonen von 1756 g’schossen?« Lintinger sah Manfred skeptisch an.
»Hat ja nix mehr ’geben am Kriegsende. Mir ham g’nommen, was herganga is.«
»Wie alt warst denn damals?«
»Fuchzehn war ich. Volkssturm! Das letzte Aufgebot. Sechs Buam war’ ma und der Volksschullehrer. Der hat a Schrotflint’n g’habt, und mir ham die Kanone g’schoben.«
»Und? Habt’s was ’troffen?«
Manfred schien nachzudenken, und sein Kopf wackelte altersbedingt ein wenig. »An Panzer von die Amerikaner«, sagte er schließlich.
Lintingers Miene zeigte Erstaunen, wenn nicht Respekt. »Wie muss man sich des vorstellen? War der Panzer dann … kaputt?«
»Ich glaub, der hat des gar net g’merkt. Die Kugel is am Turm abgeprallt – und hat leider an Pfarrer derwischt. Tot!«
Lintinger schien erneut verwundert. »An Pfarrer?«
»Mei …«, erläuterte Manfred, »der is mit seiner Klobürscht’n am Straßenrand g’standen und hat die amerikanischen Soldaten mit Weihwasser gesegnet. Des war wirklich tragisch, dass es ausgerechnet den derpackt hat.«
»Die G’schicht kenn ich irgendwoher.« Lintinger starrte die Kanone an, als könnte die weiterhelfen. »Genau des Gleiche hat mein Vater vom Simmerding Beppi verzählt. Des is doch koa Zufall.«
»Der Simmerding war Pfarrer?«
»Naa – der war bei der SS.«
»Der, wo die Kugel abkriegt hat, des war a Pfarrer. Mit Soutane und Bürscht’n.«
Lintinger blickte Manfred an wie ein kleines Kind. »Geh, Manfred … wenn der Amerikaner kommt, dann stehst besser mit der Weihwasserbürscht’n am Straßenrand – net mit der SS-Uniform.«
»Ah, drum!« Manfred streckte einen knorrigen Zeigefinger Richtung Lintingers Nase. »Dem Pfarrer Nüsslein is an dem Tag nämlich sei Soutane wegkemma.«
»Können mir uns mal auf unsern Job hier konzentrieren?«, mahnte jetzt Kreuthner.
Die beiden anderen verstummten.
»Idealerweise«, legte Kreuthner seinen Plan dar, »setz’ ma eine Kugel aufs Dach, und die andere schieß’ ma durch die Wand. Mit a bissl Glück treff’ ma die Destille und a paar Maischefässer.«
»Oder des Regal mit die ganzen Obstlerflaschen!« Lintinger machte die Beckerfaust. »Yeah!«
»Oder so!« Kreuthner nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, dass in der Truppe eine gewisse Begeisterung für die Aufgabe um sich griff. »In jedem Fall signalisieren mir dem Gegner: Bis hierher und net weiter.«
Einige Monate zuvor hatte Kreuthner bemerkt, dass der Absatz seiner schwarzgebrannten Obstler merklich nachließ. Die Kunden bestellten in größeren Abständen, manche gar nicht mehr. Wenn Kreuthner nachfragte, ob irgendetwas mit seinen Bränden nicht stimme, stieß er auf Ausflüchte oder Schweigen. Schließlich entdeckte er in der Mangfallmühle mehrere verdächtige Flaschen und stellte Harry Lintinger, den Wirt des Gasthauses und Sohn des einhändigen Johann Lintinger, wegen deren Herkunft zur Rede. Und so kam heraus, dass es seit Neuestem einen Konkurrenten gab, der seine Obstler zu Dumpingpreisen anbot. Genauer gesagt: eine Konkurrentin. Die Frau hieß Pippa Trautmann und war Kreuthner bekannt. Freilich nicht als Schwarzbrennerin, sondern als Stammgast der Mangfallmühle sowie Tatverdächtige in mehreren Ermittlungsverfahren, in denen es um Betrug ging. Allerdings ließ sich ihr nie etwas nachweisen. Kreuthner konnte Pippa schlecht anzeigen, da ja auch seine eigenen Destillate alles andere als legal waren. Aber es gab Alternativen für jemanden mit seinen Beziehungen. Und so ging just an dem Tag, an dem ein großes Schützenvereinsjubiläum gefeiert werden sollte, bei der Polizei in Bad Wiessee ein anonymer Hinweis ein: Bei besagtem Jubiläum würde eine Lieferung Schwarzbrand erwartet, und der Lieferwagen werde an einer bestimmten Stelle vorbeikommen. Kreuthner sorgte dafür, dass dort eine Straßenkontrolle errichtet wurde. Nun lag es aber aus den oben erwähnten Gründen nicht in Kreuthners Interesse, dass Pippa bei ihren Geschäftsaktivitäten gefasst wurde, denn sie wusste ja auch über seine Geschäfte Bescheid. Daher ließ Kreuthner Pippa eine Warnung zukommen – die sie veranlasste, zu Hause zu bleiben, denn es gab für sie nur den Weg an der Polizeikontrolle vorbei. Der über die Unzuverlässigkeit seiner neuen Lieferantin erboste Wirt rief in seiner Not bei Kreuthner an und orderte die Ware reumütig dann doch bei ihm.
Der Vorfall sprach sich herum und verursachte nicht unwesentlichen Absatzschwund bei Pippa. Die nahm mit Entschlossenheit den Fehdehandschuh auf und trachtete nun ihrerseits danach, Kreuthners Ruf zu demolieren.
Was im Folgenden passierte, wurde nie ganz geklärt. Weder konnte die Urheberin der Schurkerei eindeutig überführt noch die Art und Weise, wie sie es angestellt hatte, erhellt werden. Unstrittig ist, dass es »jemandem« gelungen war, eine beachtliche Marge von Kreuthners Schnapsflaschen mit Buttersäure zu versetzen. Der Geruch war den Konsumenten der betroffenen Getränke zwar vertraut, denn er entstand, wenn die Destillate nach zu üppigem Genuss den Magen wieder auf ebenjenem Weg verließen, auf dem sie hineingelangt waren. Dass der Obstler aber bereits beim Einschenken nach Erbrochenem roch, war selbst für hartgesottene Trinker gewöhnungsbedürftig. Der Imageschaden für die Marke Kreuthner war immens.
Die drei Männer starrten auf ihr Ziel dort hinten im Nebel, und Manfred kamen dann doch noch letzte Bedenken. »Eigentlich hat sie sich ja nur g’wehrt. Des is ihr gutes Recht nach der G’schicht mit der Polizeikontrolle«, wandte er ein.
»Ich seh’s a bissl anders«, entgegnete Kreuthner. »Aber wie auch immer – hier hat was angefangen, wo man schaun muss, dass des net eskaliert. Deswegen samma da.«
»Aber …« Manfred deutete auf die Kanone.
»Ja gut, da könnt jetzt einer sagen: Kanone und Deeskalation – wie geht des z’samm? Aber des musst psychologisch sehen: Ein Schuss, und guat is. Da passiert gar net viel. A paar kaputte Dachziegel und vielleicht a Maischefass – koa große Sach. Aber! Sie weiß jetzt, dass mir a Kanone ham. Mir ham ihr praktisch die Folterwerkzeuge gezeigt.«
Manfred dachte nach. Kreuthner ließ ihm Zeit.
»Na gut«, sagte Manfred schließlich. »A kleiner Warnschuss. Und dann hoff’ ma, dass die G’schicht erledigt is.«
»Aber logisch doch«, sagte Kreuthner und nahm ein Leinensäckchen, das mit Schwarzpulver gefüllt war, von der Ladefläche des Hängers. Das Säckchen steckte er vorn in die Kanone und schob es mit einem Ladestock an deren hinteres Ende. Dort befand sich das Zündloch, aus dem bereits eine Zündschnur hing, die jetzt engen Kontakt mit dem Leinensäckchen hatte. Währenddessen hatte Lintinger eine Eisenkugel mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern von irgendwoher hervorgeholt und steckte sie in den Kanonenlauf. Kreuthner stopfte sie mit dem Ladestock ans hintere Ende zu dem Pulversäckchen.
»So, jetzt müssen mir noch den Winkel wissen«, wandte sich Kreuthner an Manfred.
»Zielentfernung?«, stieß Manfred militärisch-ruppig hervor.
Kreuthner blickte durch einen Entfernungsmesser. »Zweihundertvierzehn.«
Manfred nickte und dachte nach. Schließlich sagte er: »Sieben Grad.«
Kreuthner stutzte, Lintinger hob erstaunt die Augenbrauen.
»Des hast jetzt im Kopf ausgerechnet?«
»Ausgerechnet! Des hat man im G’fühl als Kanonier.«
»Du, ich will dir net zu nahe treten …«, sagte Kreuthner, »aber du hast damals zwei Stunden a Kanone durch die Gegend g’schoben, und den Winkel hat, schätz ich mal, euer Lehrer ausg’rechnet.«
»Aber ich war dabei. Wart’s ihr dabei?«
Kreuthner und Lintinger schwiegen.
»Sieben Grad, dann geht’s genau durchs Fenster.«
Kreuthner und Lintinger sahen sich an.
»Des is fei a Menge Pulver.« Lintinger deutete auf das Kanonenende.
»Und?«
»Ich glaub, die Kugel verliert net so viel Höhe auf zweihundert Meter.«
»Und woher wiss’ ma des, Herr Neunmalklug?«
»Von der Jagd. Da musst so was auch berücksichtigen.«
»Von der Jagd!« Manfreds Stimme überschlug sich fast. »Des is doch koa Büchs’n net. Die Kugel wiegt sechs Pfund!«
»Na gut. Schaun mir’s uns mal an.« Kreuthner schien etwas genervt und rief auf seinem Handy eine App auf, mit der man Neigungswinkel bestimmen konnte. Anschließend machte er sich mit Lintinger zusammen daran, das Geschütz zu justieren.
Während sie über die Kanone gebeugt waren, flüsterte Lintinger ihm zu: »Der hat doch keine Ahnung, wie’s geht.«
»Mir aber a net«, raunte Kreuthner zurück. »Also versuch’ ma’s halt mit sieben Grad. Zur Not hamma noch die zweite Kugel.«
»Ich hör fei noch ziemlich gut«, meldete sich Manfred.
»Dann geh amal a bissl auf d’ Seit’n. Weil jetzt scheppert’s gleich.«
Kreuthner warf einen letzten skeptischen Blick auf das Ziel, dann entflammte er die Zündschnur. Manfred wurde die Sache jetzt doch etwas unheimlich, und er beschleunigte seine Schritte, um von der Kanone wegzukommen. Dabei störte allerdings sein Rollator, der für schnelle Fluchtbewegungen nicht konstruiert war. Kreuthner und Lintinger packten Manfred, eine Hand unter jeder Schulter, und schleiften ihn vom Hänger weg. Dann verharrten die drei einige endlos lange Sekunden und warteten auf den Schuss.
»Ich hab’s doch gleich g’sagt«, maulte Lintinger in Richtung Manfred, »mir müssen a Loch in den Sack machen. Die Zündschnur brennt des Leinen net durch.«
»Schmarrn«, sagte Manfred – und wie zur Bestätigung zertrümmerte in dem Moment ein ohrenbetäubender Knall die herbstliche Stille. Gleichzeitig schossen Wagen und Anhänger einen halben Meter nach vorn.
»Geiler Rückstoß, ha?«, freute sich Kreuthner. Doch als er ins Innere seines Wagens sah, verdunkelte etwas seinen Blick: Dort, zwischen den Vordersitzen, steckte jetzt die Kanone. Sie hatte die Heckscheibe durchschlagen und sich dabei von der morschen Lafette verabschiedet, die es nur bis zur Ladewand des Anhängers geschafft hatte.
Kreuthner fluchte herzhaft, dann wandte er sich dem Schuppen zu, um zu begutachten, welchen Schaden die Kugel verursacht hatte. So wie es aussah, hatte sie den Dachfirst getroffen, wo jetzt ein kleines Loch klaffte, und auf ihrem weiteren Weg einen hölzernen Strommast gestreift, der hinter dem Schuppen stand. Dem Mast fehlte dort, wo er getroffen war, gut die Hälfte seines Holzmaterials.
»Und? Was sagt’s?«, triumphierte Manfred.
»Das Fenster war’s net«, nörgelte Lintinger.
»Immerhin …«, Kreuthner verschränkte zufrieden die Arme. »A netter kleiner Denkzettel.« Er betrachtete das Loch im Dach. »Fast a bissl zu klein …«
»Ja, was denn?«, fuhr ihm Manfred in die Parade. »Willst den Schuppen abreißen? Ohne mich!«
»Na ja, aber vielleicht …«
»Nein! Des reicht. An kleinen Schaden, hama g’sagt. Alles mit Maß und Vernunft.«
»Was macht er denn?«, murmelte mit einem Mal Lintinger und deutete mit seinem handlosen Arm in Richtung Schuppen. Dort war jetzt Bewegung in den Strommast gekommen. Bedächtig langsam neigte sich dessen Kopfteil nach vorn, von fern hallte ein Knacken durch den Nebel: An der getroffenen Stelle hielt das restliche Holz der Last des darüberliegenden Aufbaus nicht mehr stand und barst. Der Mastkopf senkte sich genau über das Loch im Dach, das Ganze in Zeitlupe, denn die Stromleitungen verzögerten den Fall, doch schließlich prallte das Teil auf die Dachziegel, und Kreuthner erinnerte sich später daran, einen Funken gesehen zu haben, aber vielleicht hatte sein Gedächtnis dieses Detail hinzuerfunden, weil es ja irgendwie so gewesen sein musste. Denn unmittelbar darauf explodierte der Schuppen in einem beeindruckenden Feuerball, eine knappe Sekunde später hörten sie die Detonation, und abermals etwas später fegte ein Luftzug ihnen die Kappen vom Kopf. Lintinger sagte: »Obacht!«, aber Kreuthner hatte es auch schon gesehen und riss Manfred zu Boden und legte sich schützend über ihn, während Dachziegel, Holztrümmer sowie ein kupferner Destillierkolben auf sie abregneten.
Die Rückfahrt verlief still. Kreuthner steuerte mit verkniffenem Blick den Wagen, hinten saß Manfred, einen Arm auf der Kanone. Lintinger auf dem Beifahrersitz starrte mit einer Furche auf der Stirn durch die Windschutzscheibe und bewegte die Lippen, aber irgendwie wollten keine Worte aus ihm herauskommen.
»Mei …«, sagte Kreuthner schließlich, denn irgendwie musste jetzt mal jemand was sagen, »des kommt vor.«
»Ah ja …?«, kam es dünn von hinten.
»Alkoholdampf aus die Maischefässer. Des is ganz ungewöhnlich, dass der so a Konzentration erreicht, dass des explodiert. Also, da habt’s was ganz was Seltenes miterlebt.«
»Ah geh …«, murmelte Lintinger, aber man hatte nicht den Eindruck, dass er das Besondere an diesem Erlebnis zu schätzen wusste.
»Früher oder später wär der Schuppen eh in d’ Luft g’flogen«, versuchte Kreuthner einen Hauch von Absolution zu verbreiten.
Lintinger nickte. »So g’sehen …«
Auch Manfred nickte. Doch den zerknitterten Gesichtern der Wageninsassen nach schien der Gedanke wenig Trost zu spenden.
Am nächsten Tag hatte Kreuthner Innendienst. Protokolle schreiben, Telefonate entgegennehmen – Dinge, die er nicht mochte und bei denen seine Gedanken abschweiften. Eine Anzeige des Stromleitungsbetreibers war schon gestern eingegangen. Darin war von »Beschädigungen an einem landwirtschaftlichen Gebäude« die Rede. Man wollte die Sache wohl nicht so hoch hängen. Was dem Bedürfnis des Stromunternehmens nach Diskretion entgegenkam: Pippas Schuppen war so abgelegen, dass niemand sonst die Explosion und den anschließenden Brand bemerkt hatte. Offenbar war die Ursachenkette dem Stromunternehmen nicht klar. Von Kanonenbeschuss war jedenfalls nicht die Rede. Vermutlich hatte der Reparaturtrupp die Kugel nicht gefunden – und selbst wenn: Hätte irgendjemand die bizarren Zusammenhänge richtig erkannt? Von Pippa Trautmann war keine Anzeige eingegangen, obwohl sie vom Betreiber der Stromleitung verständigt worden war. Pippa wollte offenbar nicht, dass die Polizei ihre gesprengte Schwarzbrennerei untersuchte.
Kreuthner machte sich Gedanken um Pippa. Sonst war das gar nicht seine Art. Aber dieses Mal hatte er ein schlechtes Gewissen, und Freude darüber, dass er seinen Schnaps nun wieder konkurrenzlos verkaufen konnte, mochte nicht so recht aufkommen. Da war so ein Bild, das ihn verfolgte: Pippa vor den zertrümmerten Resten ihrer Destillieranlage, wie sie mit kleinen Augen auf das Chaos von zerfetzten Maischebehältern und Flaschenscherben starrte. In Wahrheit würden die Augen situationsbedingt natürlich weit aufgerissen sein, aber Pippa hatte über zehn Dioptrien und Brillengläser wie Flaschenböden, sodass ihre Augen dahinter ganz klein aussahen, egal wie weit sie sie aufriss. Im Übrigen besaß Pippas Gesicht eine freundlich-gewinnende Ausstrahlung, ihr Mund war weiblich-füllig, was die kleinen Augen mehr als wettmachte, und zeigte meist ein Lächeln. Die Ohren standen etwas ab, sodass sie aus dem schwarzen Bob herausragten und Pippa einen märchenhaften Touch verliehen, denn der Anblick erinnerte irgendwie an eine Elbe aus Der Herr der Ringe. Zusammen mit Pippas fraulich-heiterem Auftreten ergab das Ganze eine Mischung von eigenem Reiz. Da war sie ihm, das musste Kreuthner eingestehen, bei der Akquise um einiges voraus. Pippa nutzte ihre charmante Art für eine Vielzahl von Aktivitäten, die ihr bereits mehrere Ermittlungsverfahren wegen Betrugs und Untreue eingebracht hatten – ohne dass man ihr allerdings genug für eine Anklage hätte nachweisen können. Das lag zum Teil auch daran, dass sie als Opfer Leute wählte, die selbst Dreck am Stecken und deswegen nur bedingt Lust hatten, mit den Ermittlungsbehörden zu kooperieren.
Kreuthner überlegte, wie die ansonsten betont fröhliche Frau wohl in diesem Augenblick drauf war – und sollte in dem Moment, wo er es dachte, auch gleich Antwort bekommen.
»He, das gibt’s ja net – der Leo!«, kam es anscheinend über die Maßen erfreut aus Richtung Bürotür. Von dort lachte Pippa Kreuthner an und kam jetzt an seinen Schreibtisch. »Hast a bissl Zeit?« Sie deutete auf einen schlichten Besucherstuhl. »Is der für Besucher?«
»Äh …« Kreuthner überlegte, ob er sie abwimmeln sollte, aber natürlich interessierte ihn, was sie auf der Polizeiinspektion wollte. »Ja, is für Besucher«, sagte er und beugte sich über seinen Schreibtisch, nachdem Pippa sich samt Stuhl davor installiert hatte. »Was kann ich für dich tun?«
»Mei – stell dir vor …«, ihre Augen wurden so groß, wie es die Flaschenbodengläser ihrer Brille erlaubten, »… es hat a Attentat gegeben!«
»Attentat?«
»Ja. Auf a Haus, das mir g’hört.«
»Tatsächlich?« Kreuthner nahm einen Notizblock und einen Stift, als wollte er sich Notizen machen. »Wo is des Haus?«
»Des kennst du doch. In Wiessee, im Söllbachtal oben.«
»Wüsst ich jetzt net. Was is des für a Haus? A Wohnhaus?«
»Es war eher a Schuppen.«
»Und was war drin in dem Schuppen?«
»So dies und das.«
Kreuthner nickte. »Is jetzt keine sehr genaue Beschreibung.«
»Na ja, gewerbliche Dinge, sag ich mal.«
»Geht’s noch etwas genauer?«
Pippa schenkte Kreuthner ein Lächeln. »Is doch net so wichtig, was da drin war. Die Frage is doch eher: Wer macht so was? Ich mein, der Schuppen is praktisch in die Luft g’flogen. Des war a Bombe.«
»Wieso bist dir da so sicher?«
Pippa schaltete das Handy ein, das sie an einer Schnur um den Hals trug. Ein Foto erschien, auf dem die Reste eines Holzhauses zu sehen waren, ganz ähnlich wie die Bilder, die sie in den Nachrichten nach Tornado-Katastrophen zeigen, nur dass die Reste auch noch verkohlt waren. Pippa tippte mit einem rot lackierten Fingernagel auf das Display. »Was soll des sonst g’wesen sein?«
»Keine Ahnung. Manchmal entstehen in gewerblichen Gebäuden …«, Kreuthner lehnte sich noch ein bisschen weiter vor und suchte Pippas Blick, »… entflammbare Gase.«
»Ah ja? Entflammbare Gase?«
»Bei … Gärprozessen etwa. Da reicht ein Funke, und wusch fliegt der ganze Schlamassel in die Luft.«
»Kann sein.« Pippa zog das Handy wieder zu sich. »Aber in dem Fall schaut’s mir mehr nach Fremdverschulden aus. So heißt des doch, wenn’s wer anders war?«
In diesem Moment kam Kreuthners Kollegin Lisa in den Raum und setzte sich an ihren Schreibtisch. Kreuthners Stimme wurde merklich leiser, auch wenn ihm klar war, dass Lisa verstehen konnte, was geredet wurde.
»Also darauf …«, Kreuthner deutete auf das Handydisplay, »… kann man jetzt von Fremdverschulden nix erkennen.«
»Vielleicht da drauf?« Pippa ging auf dem Handy zurück zur Bildergalerie und tippte ein Video an. »Ich hab mir vom Beck Dominik Überwachungskameras aufstellen lassen.«
»Ah geh …« Kreuthner wurde jetzt ein wenig unruhig, vor allem, da Lisa verstohlen zu ihnen sah.
»Die, die direkt am Haus waren, san natürlich …« Pippa ließ den Satz mit Seitenblick auf Lisa unvollendet und deutete mit ihren Händen eine Explosion an. »Aber des hier is von a bissl weiter weg.«
Pippa tippte auf den Wiedergabepfeil, und das Video startete. In einiger Entfernung stand am unteren Bildrand ein Kombi, der in Form und Farbe sehr dem Passat von Kreuthner ähnelte. Neben dem Fahrzeug standen drei Menschen, ein kräftiger, ein normal gebauter und ein eher dünnes Männchen. Hinter dem Wagen, den man schräg von vorn sah, war ein Anhänger, auf dem etwas stand, das man aber nicht genau erkennen konnte, denn das Bild war klein und die Qualität der Aufnahme schlecht. Am oberen Bildrand, in ziemlicher Entfernung zum Auto, war der Schuppen zu sehen.
»Achtung …«, sagte Pippa, »gleich passiert’s.«
In die drei Menschen am Wagen kam Bewegung. Das dünne Männchen bewegte sich freilich sehr langsam und wurde mit einem Mal von den beiden anderen in die Mitte genommen und von dem Anhänger weggeschleift. Dann passierte es. Und es passierte lautlos, aber mit hoher Geschwindigkeit. Zuerst quoll aus dem Gegenstand auf dem Anhänger eine Rauchwolke hervor, gleichzeitig schoss der Gegenstand in Richtung Wagen und spaltete sich in zwei Teile, von denen der untere auf dem Anhänger blieb, während der obere verschwand – offenbar im Wagen. Es vergingen einige Sekunden, und dann, plötzlich und überraschend, verwandelte sich der Schuppen am oberen Bildrand in einen Feuerball, und es flogen Dinge durch die Luft, einige darunter von beträchtlicher Größe.
Pippa sah Kreuthner ins Gesicht und lächelte freundlich. Kreuthner war um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht und sagte schließlich: »Sachen gibt’s.«
»Irgendwie kommt mir der Wagen bekannt vor.« Pippa betrachtete nachgerade liebevoll das Display ihres Handys.
»Echt?« Kreuthner schielte kurz zu Lisa, die so tat, als hätte sie was anderes zu tun. »Eigentlich kannst da gar nix erkennen. Des is ja ganz a lausige Qualität.«
Auch Pippa schaute jetzt zu Lisa. Die sah ihrerseits zu den beiden herüber, lächelte kurz und starrte dann wieder auf den Bildschirm ihres Computers.
»Können mir irgendwo ungestört reden?«, fragte Pippa und sagte dann zu Lisa: »Is net gegen dich persönlich.«
Lisa zuckte mit den Schultern.
Kurz darauf standen Kreuthner und Pippa hinter der Polizeiinspektion in einer abgelegenen Ecke, wo selten jemand vorbeikam. Kreuthner lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. »Was wird des jetzt?«
»Mir verhandeln.« Pippa führte sich noch einmal das Explosionsvideo auf ihrem Handy zu Gemüte. Dann zog sie anerkennend die Augenbrauen nach oben. »Sauber! Des wenn in die falschen Hände gerät …«
»Träum weiter. Des war a illegale Schnapsbrennerei.« Kreuthner deutete auf Pippas Handy. »Die warten doch nur drauf, dass sie dich mal derwischen.«
»Ah ja? Ich wär mir da net so sicher, wer von uns beiden träumt.« Pippas Lächeln hatte einen unangenehmen Schlag ins Hinterhältige bekommen.
»Weil …?«
»Weil, Leo …« Sie legte eine Hand auf Kreuthners Unterarm. »Ich erklär’s dir: Der Unterschied zwischen Schwarzbrennen und Häuser in die Luft sprengen is tausend Euro Geldstrafe auf der einen Seite und auf der anderen zehn Jahre Knast. Verstehst du’s jetzt? Du glaubst, mir ham a Gleichgewicht des Schreckens. Hamma aber net. Was ich hab, is tausend Mal schrecklicher.«
Da hatte Pippa leider verflucht recht. Und wenn sie von sich aus mit der Polizei kooperierte, würden sie ihr nicht mal die Geldstrafe aufbrummen.
»Jetzt komm zur Sache. Ich hab ja net ewig Zeit.«
»Hey cool! Ich hab ja net ewig Zeit!«, ahmte Pippa Kreuthner nach und betrachtete ihn mit einem Gesicht wie eine Achtjährige, der man gerade etwas total Lustiges erzählt hatte. »Ja gut, dann machen wir’s kurz: Ich krieg deine Destille und deine Kundenkartei, und du suchst dir an andern Nebenjob.«
»Jetzt wirst größenwahnsinnig.« Kreuthner schüttelte scheinbar ungläubig den Kopf.
»Größenwahnsinnig? Ich versuch dir grad den Arsch zu retten. Da könnt’st fei a bissl dankbarer sein.«
»Sehr nobel.« Kreuthner ließ ein kurzes, eher angedeutetes Lächeln über sein Gesicht huschen. »Pass auf, ich mach dir an andern Vorschlag …«
In diesem Moment summte Pippas Handy. Auf dem Display erschien der Name Fabian, was eine gravierende Veränderung in ihrem Verhalten verursachte. Die sadistische Lässigkeit, mit der sie Kreuthner behandelt hatte, wich geschäftsmäßiger Hektik, als würde ihr Chef anrufen. Nur dass sie keinen hatte. »Da muss ich drangehen«, sagte sie und nahm das Gespräch an.
Es folgte ein militärisch knapper Dialog. »Ja … is sie weg? … ganz sicher? … Alles klar.«
Das war’s. Kreuthner sah sie fragend an.
»Wir reden später weiter«, sagte Pippa und ließ Kreuthner stehen.
Der sah ihr nach und war erstaunt. Mitten in dieser dramatischen, ja existenziellen Verhandlung brach die Frau einfach ab? Offenbar hatte das Telefonat sie zu etwas noch Wichtigerem beordert. Was aber mochte so unglaublich wichtig sein?
Pippa fuhr zunächst in Richtung Hausham. In Agatharied bog sie in eine kleine Straße ab, die sich über Land bis zur St2076 schlängelte, die nach Gmund am Tegernsee führte. Kreuthner war Pippa in seinem Passat gefolgt und hatte mehrere Fahrzeuge zwischen ihr und sich gelassen. Jetzt aber hätte er direkt hinter ihr herfahren müssen, weil außer Pippa niemand abgebogen war. Das Risiko, entdeckt zu werden, war groß, denn die Sicht auf der Strecke war frei, und Pippa kannte Kreuthners Wagen nur zu gut. Kreuthner bat daher Sennleitner, der gerade im Gmunder Raum mit dem Kollegen Schartauer Streife fuhr, sich nach Seeglas zu begeben. Dort mündete die St2076 in die B307, die von Gmund über Tegernsee und Rottach-Egern nach Kreuth führte. Er selbst nahm einen Umweg über Hausham auf die St2076.
Ein paar Minuten später meldete Sennleitner, dass Pippa am Seeglaser Kreisverkehr in Richtung Tegernsee abgebogen sei, und erklärte sich bereit, ihr noch ein Stück zu folgen. Nach weiteren zwölf Minuten meldete er, Pippa habe in Rottach in einer Seitenstraße mit Wohnhäusern angehalten und sei aus dem Wagen gestiegen. Sie verhalte sich verdächtig, indem sie in den Garten eines der Anwesen hineinspähe und anscheinend herausfinden wolle, ob sich jemand dort aufhalte. Kreuthner bat die Kollegen, das Ganze auf Video festzuhalten.
Kurz darauf war Kreuthner dann selbst zur Stelle. Pippa war mittlerweile in das fragliche Haus eingedrungen, und Sennleitner hatte Kreuthner das Video, auf dem alles zu sehen war, auf sein Handy geschickt: Erst hatte Pippa geklingelt. Als niemand öffnete, war sie durch das nicht abgesperrte Gartentor aufs Grundstück gegangen und hatte sich – nach weiterem Gespähe – anscheinend mittels eines Schlüssels Zutritt zum Haus verschafft. Das war drei Minuten her. Kreuthner dankte den Kollegen und sagte, er übernehme jetzt.
»So ganz legal is des aber net«, gab Schartauer im Hinblick auf das Video zu bedenken. »Für so was kannst zwei Jahre einfahren.«
»Schon, aber in dem Fall is des Gefahr im Verzug«, belehrte ihn Kreuthner. »Hast doch g’sehen, was da los war. Die Frau is in des Haus eingebrochen.«
»Sie hat die Haustür, wie’s ausschaut, mit am Schlüssel aufg’sperrt und is reingegangen. Woher wissen mir, dass des a Einbruch war?«
»Wegen verdächtigem Vorverhalten. So verhältst du dich nur, wennst du was Illegales machst. Muss ich dir doch net erklären. Bist doch kein Neuling.«
»Woher hast du überhaupt gewusst, dass die Frau was Illegales vorhat?« Schartauer war trotz Kreuthners Erklärung anscheinend nicht wirklich beruhigt.
»Ich bin seit über dreiß’g Jahr dabei. Ich g’spür so was.«
Schartauer nickte skeptisch-bedächtig. Dass Kreuthner über viel Erfahrung und einen erstaunlichen Instinkt verfügte, war bekannt. Allerdings auch, dass die Dinge, die er unternahm, oft nicht die saubersten waren.
»Aha«, sagte Schartauer schließlich. »Wer is die Frau? Kennst du die?«
»Des tut im Augenblick nix zur Sache.« Kreuthner sah kurz zu Sennleitner, der sich schon seit Kreuthners Anruf fragte, was da los war.
»Die Frau is schon lang bei uns im Visier«, sprang Sennleitner Kreuthner bei, weil der sein Kumpel war und offenbar Support benötigte. »Seit Jahren is die … also macht die …«
»Illegale G’schichten«, übernahm Kreuthner wieder. »Bis jetzt hat ihr halt keiner was nachweisen können.«
Schartauer nickte argwöhnisch. »Und jetzt?«
»Jetzt übernehm ich«, sagte Kreuthner. »Vielen Dank für die Amtshilfe.«
»Was heißt des? Müss’ ma da an Bericht schreiben?«
»Ihr haut’s einfach ab, und den Rest mach ich.« Kreuthner sah zu Sennleitner.
»So mach’ ma’s«, sagte der und klopfte Schartauer auf die Schulter. »Auf geht’s. Mir ham ja noch a paar andere Sachen zum tun.«
Als Schartauer Sennleitner folgte, schien er sich zu fragen, was da wieder für eine Gaunerei am Laufen war und ob er dafür selber was auf die Mütze bekommen würde.
Kreuthner hatte so geparkt, dass Pippa seinen Wagen nicht sehen konnte, als sie aus dem Haus kam. Er selbst hielt sich hinter einem Alleebaum verborgen. Kreuthner kannte das Anwesen. Dort wohnte eine Mariella Brunnleitner. Die Frau war Anfang sechzig und stammte aus dem Tegernseer Tal, hatte aber viele Jahre in Frankfurt gelebt und war dort, wie man sich erzählte, zu Geld gekommen. Vor einiger Zeit aber war sie wieder ins Tal zurückgekehrt, und es hieß, sie sei pleite. Kreuthner witterte etwas. Er konnte zwar nicht genau sagen, was das war. Aber es roch, als könnte man Pippa einen Strick draus drehen.
Nach etwa fünf Minuten kam Pippa wieder aus dem Haus. Sie hatte einen braunen Briefumschlag im Format DIN B4 in der Hand. Soweit sich Kreuthner erinnern konnte, hatte sie den beim Reingehen nicht dabeigehabt. Der Umschlag war prall gefüllt. Pippa schlenderte jetzt anscheinend entspannt auf ihren Wagen zu. Kreuthner bemerkte jedoch, dass ihre Unbeschwertheit aufgesetzt war, denn Pippa hatte ein wachsames Auge auf die Umgebung und lugte mal hierhin mal dorthin, möglicherweise auf der Suche nach Zeugen ihres Besuches bei Frau Brunnleitner. Kreuthner schien sie hinter seinem Baum aber nicht zu bemerken.
»Ja servus! So sieht man sich wieder«, sagte Kreuthner, als Pippa die Tür ihres Autos öffnete. Sie drehte sich ruckartig um, schien eine halbe Sekunde verdattert, dann aber zauberte sie ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.
»Heee … Leo! Des is ja lustig.«
»Scho, oder?« Kreuthner grinste sie fröhlich an, aber seine Augen sagten: Hamma dich erwischt, ha?
»Tja – erst sieht man sich tagelang gar net und dann …« Sie deutete ein ausgelassenes Lachen an. »Du, sorry, ich bin a bissl in Eile. Wir telefonieren.« Sie machte die Telefonieren-Geste mit Daumen und kleinem Finger und wollte im Wagen verschwinden.
»Nur ein, zwei kurze Fragen …«
»Mir pressiert’s wirklich. Morgen, okay?«
Kreuthner schüttelte in sich ruhend und sehr gelassen den Kopf. »Nein – jetzt.«
Pippa wollte Widerworte geben, aber Kreuthner sagte sehr bestimmt: »Es is dienstlich.«
»Ach …« Pippa zog die Augenbrauen hoch. »Dienstlich!«
Kreuthner nickte.
Sie warf den Briefumschlag in den Wagen, zog ihr Handy aus der Gesäßtasche, rief das Video mit der Schuppensprengung auf und hielt es Kreuthner vor die Nase. »Hier is auch was Dienstliches drauf. Wär’s net g’scheiter, wenn mir den Ball a bissl flacher halten?«
»Du, mir san hier net am Basar«, sagte Kreuthner mit authentisch klingender Empörung in der Stimme. »Hier geht’s um den Anfangsverdacht einer Straftat. Da ham private G’schichten nix zum suchen, verstehst.« Er deutete auf Pippas Handy.
»Bald is die G’schicht nimmer privat, wennst so weitermachst.«
»Oh …«, erwiderte Kreuthner erstaunt. »Einschüchterung von Amtsträgern! Mach dich net unglücklich. Das sag ich jetzt als Freund.«
»Ja, danke. Aber komm mal zur Sache. Ich hab’s nämlich wirklich eilig.«
»Ah ja? Müss ma den Umschlag irgendwo abliefern?«
Pippa verdrehte die Augen. »Was – willst – du?«
Kreuthner sammelte sich ein wenig, wobei er die Arme vor der Brust verschränkte. Und am Ende der Sammlung blickte er Pippa väterlich-ernst an. »Eigentlich will ich nur sicher sein, dass ich meinen Pflichten als Polizist ordnungsgemäß nachkomme. In dem Fall reden mir über die Verfolgung von Straftaten.«
»Hier gibt’s keine Straftat.«
»Das glaub ich natürlich auch.« Er lächelte Pippa an, und die war sichtlich verwirrt. Was soll dann der Scheiß, schien ihr Gesicht zu fragen. »Jedenfalls, bis ich vom Gegenteil überzeugt bin. Im vorliegenden Fall hamma zumindest einen ersten Anschein von a Straftat. Und es gibt auch Beweismittel auf Video.«
»Kann ich mal sehen?«
»Nein. Des geht aus ermittlungstaktischen Gründen net. Sag mir einfach, was du im Haus von der Brunnleitnerin g’macht hast.«
»Ich denk net, dass dich des was angeht.«
»Wenn du da eingebrochen bist, geht mich das schon was an.«
»Hab ich irgendwas aufgebrochen? Bin ich durchs Fenster rein?«
»Nein, durch die Tür. Hast an Schlüssel?«
Pippa zögerte den Bruchteil einer Sekunde zu lang, bevor sie mit erhobenem Kinn »Ja« sagte.
»Darf ich den mal sehen?«
»Nein. Ich hab ihn dringelassen. Die Frau Brunnleitner hat ihn mir gegeben, damit ich reingehen kann. Sie hat g’sagt, ich soll ihn im Haus lassen, wenn ich geh.«
»Dann können wir ja mal schauen, ob er im Haus is.«
»Leider nicht. Is a Schnappschloss. Wenn man die Tür zuzieht …« Pippa machte ein bedauerndes Gesicht.
Kreuthner musste ihr Respekt zollen. Das hatte sie sich in der Kürze der Zeit ganz nett ausgedacht. Würde natürlich nicht weit führen. Kreuthner zückte sein Handy.
»Hast du die Nummer von der Brunnleitnerin da?«
Pippa schwieg, machte eine verneinende Geste und war bemüht, freundlich dreinzuschauen.
»Schad«, sagte Kreuthner, suchte die Nummer im Internet und wählte.
»Grüß Gott, Frau Brunnleitner. Hier Kreuthner von der Polizei. Ich hätt amal a Frage: Haben Sie einer Frau Trautmann Ihren Hausschlüssel gegeben?« Kreuthner sah kurz zu Pippa: Ein Auge zuckte nervös. »Wozu ich des wissen will, muss Sie net interessieren«, sagte er ins Handy. »Entweder mir machen’s kurz, und Sie sagen mir’s jetzt. Oder ich muss Sie zu uns ins Büro einladen … Aha! Ja danke, das war’s auch schon.«
Kreuthner steckte das Handy ein und konnte nicht verhindern, dass ihm der Triumph aus dem Gesicht strahlte. »Leider hamma jetzt doch an starken Verdacht auf a Straftat.« Pippa sah ihn trotzig an, sagte aber nichts. »Einbruchdiebstahl!« Kreuthner machte eine Pause, in der er ein Paar Latexhandschuhe aus der Innentasche seiner Jacke holte und überstreifte. »Ich muss dich bitten, zur Seite zu treten. Ich werde jetzt den Umschlag dort untersuchen.«
Pippa zögerte.
»Zwing mich net zum unmittelbaren Zwang.«
Schließlich trat sie zur Seite. Kreuthner nahm den Umschlag vom Fahrersitz und inspizierte ihn. Er war nicht zugeklebt, nur die Lasche war eingesteckt. Als er ins Innere des Umschlags blickte, wanderten seine Augenbrauen in Richtung Haaransatz. Mit spitzen Fingern zog er ein mehrere Zentimeter dickes Bündel ans Tageslicht. Es waren Fünfzigeuroscheine mit einer Bankbanderole.
Zum Entziffern der Banderole musste Kreuthner seine Lesebrille aufsetzen, über die er seit Neuestem verfügte. »Fuchzigtausend?« Er blickte zu Pippa. Die zuckte mit den Schultern, als sei die Summe nichts Besonderes. Nach einer weiteren kurzen Inspektion des restlichen Umschlaginhalts stellte Kreuthner fest: »Zweihunderttausend Euro. Net schlecht.«
Pippa schwieg.
»Handtasche und Handy!« Kreuthner machte eine fordernde Handbewegung in Richtung Pippa.
Sie zögerte, und ihre Miene zeigte Ansätze von Verzweiflung.
»Jetzt geh weida!«, drängte Kreuthner. »Des schaut doch aus wie im Kindergarten, wenn ich’s dir wegnehmen muss.«
Pippa überreichte die verlangten Sachen mit verkniffenem Mund.
Nach kurzem Graben in der Handtasche förderte Kreuthner einen Satz Dietriche zutage und hielt ihn hoch.
»Pippa – jetzt wird’s eng.«
»Dann reden mir mal übers G’schäft«, sagte sie und deutete auf ihr Mobiltelefon, das Kreuthner ebenfalls in der Hand hielt. »Das Video hab ich natürlich noch woanders g’speichert.«
Kreuthner wog seine Optionen ab und befand, dass Pippas Verhaftung ihm erst mal eine gute Ausgangslage verschaffen würde. Solange er ihr noch nützlich sein konnte, würde sie niemandem erzählen, wer den Schuppen in die Luft gejagt hatte, denn dann hätte sie ja nichts mehr gegen ihn in der Hand. »Du bist in a fremdes Haus eingebrochen und mit zweihunderttausend Euro in bar wieder rausgekommen. Sorry, aber es geht net anders. Frau Trautmann, Sie sind vorläufig festgenommen. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern und so weiter.« Kreuthner schob Pippas Handy in seine Jacke. »Ich denk, des is auch in deinem Sinn, wenn des erst amal net ausg’wertet wird.«
»Leo, Leo …« Pippa schüttelte milde lächelnd den Kopf. »Ich hab da so a komisches G’fühl, wie wenn dir des noch um die Ohren fliegt.«
Um Diebstähle kümmerte sich der Leiter der Kripo Miesbach sonst nicht persönlich. Bei 200000 Euro wollte Wallner aber schon wissen, was da los war. Die Verdächtige wartete im Vernehmungsraum der Polizeiinspektion, als er mit Kreuthner sprach, um sich auf den Stand der Ermittlungen bringen zu lassen.
»Habt ihr die Geschädigte erreicht, wie heißt sie …?«
»Brunnleitner. Ja, ich hab inzwischen zwei Mal mit ihr gesprochen.«
»Und?«
»Sie hat der Tatverdächtigen jedenfalls keine Schlüssel für ihr Haus überlassen. Spricht also alles dafür, dass Frau Trautmann sich mit einem der Dietriche Zutritt zum Anwesen von Frau Brunnleitner verschafft hat. Beim ersten Anruf hab ich noch nichts von dem Geld g’wusst. Beim zweiten hab ich die Brunnleitnerin g’fragt, ob sie größere Summen Bargeld im Haus hat. Nur a paar Hundert Euro, hat’s g’sagt.«
Wallner war sichtlich erstaunt. »Dann hat die Trautmann das Geld vielleicht doch nicht aus dem Haus.«
»Moment! Die Verdächtige is nachweislich ohne den Briefumschlag ins Haus gegangen. Das hamma auf Video.«
»Der Schartauer hat’s mir erzählt. Ich hoffe, die Aufnahme ist verwertbar.«
»Logisch is des verwertbar. Des war hoch verdächtig, wie die …«
Wallner winkte ab. »Das klären wir später. Also Frau Trautmann ist ohne Umschlag rein und mit den zweihunderttausend wieder raus. Sprich: Sie muss das Geld aus dem Haus mitgenommen haben – auch wenn Frau Brunnleitner leugnet, dass das Geld da war.«
Kreuthner nickte.
»Vielleicht sollte Frau Trautmann das Geld tatsächlich da abholen, und Frau Brunnleitner will aus irgendwelchen Gründen nicht zugeben, dass es da war. Oder Brunnleitner hat nichts dagegen, dass das Geld aus dem Haus mitgenommen wurde – warum auch immer. Oder sie wusste gar nicht, dass das Geld da war.« Wallner sah Kreuthner forschend an. »Irgendeine Vermutung?«
»Keine Ahnung. Aber bei der Summe is was faul. So viel hat die Trautmann in ihrem Leben noch nie in der Hand g’habt. Wie soll die an das Geld kommen?«
»Fragen wir sie«, sagte Wallner und stand auf.
Pippa hatte die Beine übereinandergeschlagen und ihre Hände über den Knien gefaltet. Sie sah Wallner mit freundlich-mädchenhaftem Blick an. Auf dem Tisch des Vernehmungsraums standen Kaffee und Kekse. Wallner nahm die Befragung auf Video auf. Pippa hatte nolens volens zugestimmt. Über ihr Recht, die Aussage zu verweigern, hatte Wallner sie erneut aufgeklärt. Einen Anwalt wollte Pippa erst mal nicht. Außer Wallner und Pippa waren noch Kreuthner und Janette Bode anwesend, die zu Wallners Stellvertreterin aufgerückt war, seit sein früherer Stellvertreter Mike Hanke die Leitung einer Kriminalpolizeiinspektion in der Oberpfalz übernommen hatte.
»Schauen Sie«, begann Wallner die Vernehmung, »wir fragen uns natürlich, was dahintersteckt, wenn Sie in ein Haus einbrechen und mit zweihunderttausend Euro wieder rauskommen. Haben Sie eine Erklärung, bei der Sie außer Hausfriedensbruch keine Straftat begangen haben?«
»Muss ich das beantworten?«
»Nein, müssen Sie nicht, wie ich Ihnen schon eingangs erklärt habe. Und vor Gericht muss man Ihnen Diebstahl erst mal nachweisen. Nur – nach Lage der hier gegebenen Fakten muss Sie jeder Richter verurteilen. Es sei denn, Sie erzählen uns eine überzeugende Geschichte, wie man die Fakten anders deuten kann.«
Pippa ging in sich, sah nachdenklich zur Decke und sagte schließlich: »Das Geld habe ich mir geliehen.«
»Von wem?«
»Von einem Herrn Schinkinger.«
»Vom Joe?« Kreuthner war erstaunt.
»Von Herrn Fabian Schinkinger. Das is der Neffe vom Joe.«
»Aha. Der leiht Ihnen zweihunderttausend Euro? Wofür, wenn ich fragen darf?«
»Das ist ja dann eher meine Sache. Und wenn er sie mir geliehen hat, ist das ja auch egal, oder?«
Wallner nahm sein Mobiltelefon. »Haben Sie die Nummer?«
»Nicht auswendig. Ist auf meinem Handy.«
Wallner drehte sich zu Kreuthner.
»Wurde keins gefunden«, beeilte sich Kreuthner, die ungestellte Frage zu beantworten.
Wallners Blick schwenkte zu Pippa.
»Muss ich bei der Festnahme verloren haben«, sagte sie.
»Die Kollegen haben da alles noch mal abgesucht«, übernahm Kreuthner wieder. »Nichts. Hat vielleicht wer mitgenommen.«
»Ist ja ausgesprochen schade«, stellte Wallner fest und hatte das sichere Gefühl, dass bei der Sache irgendetwas nicht stimmte. Janettes Blick verriet, dass auch sie einiges nicht glaubte.
Wenige Minuten später hatte man über Joe Schinkinger die Handynummer seines Neffen eruiert. Es sprang allerdings nur der Anrufbeantworter an. Wallner hinterließ eine Bitte um baldigen Rückruf, der bis zum Ende der Vernehmung allerdings nicht erfolgte.
»Nehmen wir mal an, Herr Schinkinger hat Ihnen das Geld geliehen. Wieso befindet es sich dann im Haus von Frau Brunnleitner, wo Sie dann einbrechen, um in seinen Besitz zu gelangen?« Wallner hatte Pippa nicht gesagt, dass Frau Brunnleitner keine zweihunderttausend Euro vermisste. Er durfte bei der Vernehmung nicht lügen, aber er musste der Verdächtigen auch nicht alles sagen, was man ermittelt hatte.
»Ich hab des Geld schon dabeigehabt, wie ich ins Haus gegangen bin.«
»Also, auf dem Video ist davon nichts zu erkennen«, sagte Janette, die auch für IT und die Auswertung von Datenträgern zuständig war. »Aber wir können es uns ja noch mal anschauen.«
Janette fuhr mit ihrem Bürostuhl zu einem großen Computerbildschirm und klickte auf eine Videodatei. Die Aufnahme begann, als Pippa bereits auf dem Weg zum Haus war. Man sah die Handtasche, die über Pippas Schulter hing. In den Händen hatte sie nichts.
»Wo soll der Umschlag sein?«, fragte Janette.
»Da hatte ich den noch nicht. Das Geld ist da in der Handtasche.« Sie deutete auf den Bildschirm. »Den Umschlag hab ich erst im Haus gefunden.«
»Sind Sie deswegen in das Haus eingebrochen? Um einen Briefumschlag für die zweihunderttausend Euro zu holen?«, sagte Janette.
»Nein. Natürlich nicht.«
»Sondern?«
»Das ist privat.«
Janette schüttelte fassungslos den Kopf. »Schauen Sie mal her …« Sie nahm einen Plastikbeutel der Spurensicherung, in dem sich die vier Geldbündel befanden, jedes etwa zehn Zentimeter dick. Die Geldbündel hielt sie gegen Pippas Handtasche, die ebenfalls in einem durchsichtigen Plastikbeutel steckte. Die Handtasche war nicht übermäßig groß. »Wenn diese Menge Geld in dieser Handtasche steckt, dann kriegen Sie die Handtasche nicht mehr zu. Schon gar nicht, wenn zusätzlich so viel anderes Zeug drin ist wie zu dem Zeitpunkt, als der Kollege Kreuthner sie beschlagnahmt hat.«
Pippa zuckte mit den Schultern. »Dann glauben Sie es mir halt nicht.«
»Nein, tun wir nicht«, sagte Wallner. »Und deswegen bleiben Sie in Haft. Vielleicht fällt Ihnen bis morgen ja noch was ein, was Sie uns sagen möchten.«
Pippa nahm mit spitzen Fingern einen Keks vom Teller auf dem Tisch und steckte ihn sich in den Mund.
»Sie können sich maximal drei Plätzchen in die Zelle mitnehmen«, klärte sie Wallner auf.
Kurz darauf hatten Wallner und Janette eine Zoom-Konferenz mit Staatsanwalt Jobst Tischler, dessen Karriere derzeit auf der Stelle trat, was seine von Natur aus schlechte Laune nicht eben verbesserte.
»Was wollen Sie von mir?«, maulte er gleich zu Beginn der Unterhaltung, nachdem ihn Wallner über den Sachverhalt aufgeklärt hatte. »Einen Haftbefehl wegen Hausfriedensbruch? Nicht ernsthaft, oder?«
»Wir können sie bis morgen dabehalten«, sagte Wallner. »Vielleicht knickt sie ein und erzählt uns, was wirklich los ist.«
»Das Geld hat sie jedenfalls aus dem Haus mitgenommen«, sagte Janette. »Das ist offensichtlich. Wir haben das mit den Scheinen in der Handtasche ausprobiert. Die hätten gar nicht reingepasst. Zumindest hätte man es auf dem Video gesehen.«
»Mit welcher Berechtigung haben Ihre Leute dieses Video noch mal gemacht?«
»PHM Kreuthner hat einen anonymen Hinweis erhalten.«
»Auf welchem Weg kam der Hinweis, und was genau wurde mitgeteilt?«
Wallner seufzte. »Herr Kreuthner wird einen schriftlichen Bericht verfassen.«
»Das will ich hoffen. Aber er soll sich genau überlegen, was er schreibt.«
»Ich sag’s ihm.«
»Gut … Was glauben Sie, wieso im Haus von Frau Oberleitner –«
»Brunnleitner.«
»Wie auch immer. Also die Frau hat zweihunderttausend Euro im Haus und streitet das ab. Wieso? Schwarzgeld?«
»Vielleicht. Die Frau wurde mal wegen Betrugs verurteilt und hatte vor Kurzem ein Insolvenzverfahren. So einen Geldbetrag dürfte sie eigentlich nicht besitzen.«
»Wie könnte sie trotzdem an so viel Geld kommen?«
»Keine Ahnung. Die Insolvenz ist noch nicht sehr lange her.«
»Was ist mit dem Haus?«
»Nachdem, was wir in Erfahrung bringen konnten, gehört es einem Bekannten von Frau Brunnleitner und soll demnächst saniert werden. Bis dahin kann sie drin wohnen.«
Tischler dachte ein paar Sekunden nach, dann fragte er: »Was ist mit dem Mann, der der Täterin das Geld angeblich geliehen hat?«
»Er ruft nicht zurück und ist auch sonst nicht zu erreichen. Wir versuchen es weiter.«
»Aha …«, sagte Tischler. »Und jetzt?«
»… schauen wir mal, was das Opfer sagt.«
Frau Brunnleitner war eine Frau in Blazer und Jeans in den Sechzigern mit halblangen Haaren, deren Ebenholzfarbe wohl zum geringsten Teil natürliche Ursachen hatte. Sie zeigte sich schockiert.
»Ja, ist man denn nirgends mehr sicher! A Einbruch in mein Haus, wo doch ein jeder weiß, dass ’s bei mir nix zum holen gibt!«
Wallner nickte empathisch. »Sie meinen, wegen Ihrer Privatinsolvenz?«
»Insolvenz!« Sie sprach es Insolfenz aus. »Man hat mich betrogen, und dann bin ich mit dem ganzen Schlamassel allein dagestanden.«
»Nicht ganz allein. Den Leuten, denen Sie noch Geld geschuldet haben, ging es wahrscheinlich auch nicht so gut. Aber lassen wir die alten Geschichten. Haben Sie eine Vermutung, warum Frau Trautmann bei Ihnen eingebrochen ist?«
»Vielleicht hat sie gedacht, dass was zu holen ist. Weiß ja nicht jeder von meiner schlimmen Lage.«
»Das denken wir auch. Aber da fangen unsere Probleme an. Gegen Frau Trautmann wurde schon mehrfach wegen Betrugs und Untreue ermittelt. Einbruchdiebstahl war auch mal dabei. Sie ist also keine Anfängerin. Wenn sie irgendwo reingeht, dann hat sie sich vorher erkundigt, ob da was zu holen ist.«
Frau Brunnleitner machte eine Geste, die wohl zum Ausdruck bringen sollte, dass sie nicht die entfernteste Ahnung hatte, wovon Wallner redete.
»Frau Trautmann ist in Ihr Haus eingebrochen und mit zweihunderttausend Euro in neuen Scheinen wieder herausgekommen. Das wurde auf Video dokumentiert, was bedeutet, das Geld war in Ihrem Haus. Oder fällt Ihnen eine andere Erklärung ein?«
Frau Brunnleitner verzog den Mund und blickte schräg zur Decke. »Es ist ja nicht mein Haus. Ich wohne erst seit meiner Insolfenz da und auch nur vorübergehend, bis es saniert wird. Vielleicht hat Frau Trautmann das Geld dort mal versteckt und es jetzt wieder geholt.«
»Warum sollte sie Geld in dem Haus verstecken?«
»Weil … keine Ahnung. Ich kenne dieses Geld nicht. Bin ich jetzt dafür verantwortlich, dass Leute Geld in meinem Haus verstecken?«
»Kennen Sie Frau Trautmann?«
»Flüchtig.«
»So flüchtig kann’s nicht sein. Immerhin hatten Sie mit Frau Trautmann Geschäfte gemacht, bevor Sie nach Frankfurt gegangen sind. Es gibt da noch Ermittlungsakten bei uns.«
»Aber Anklage ist nie erhoben worden. Das war nämlich alles legal.«
»Sagen wir: Es konnte nichts nachgewiesen werden. Aber jedenfalls kennen Sie Frau Trautmann schon länger und hatten geschäftlichen Kontakt mit ihr.«
Frau Brunnleitner versuchte ein ratloses Lächeln. »Werfen Sie mir das vor?«
»Ich will wissen, warum in Ihrem Haus zweihunderttausend Euro sind, von denen Sie angeblich nichts wissen.«
»Glaubens Sie’s mir«, sagte Frau Brunnleitner und hatte mit einem Mal Tränen in den Augen, »wenn ich g’wusst hätt, dass so viel Geld bei mir im Haus is – ich hätt’s wirklich gut brauchen können.«
Schon draußen vor der Tür roch es heimelig-deftig. Wallner seufzte, und sein Seufzen hatte mehrere Gründe. Da war zum einen Vorfreude auf ein Essen, wie er es liebte, seit er ein Kind war, und das für immer mit seinem Großvater Manfred verbunden sein würde, der – und das war der wehmütige Teil – schon 93 Jahre alt war. Wallner hoffte, dass er noch lange bei ihm blieb, rechnete aber jederzeit mit einem jener Anrufe, bei dem einem das Herz stillsteht, obwohl er doch unausweichlich kommen muss. Ein dritter Aspekt, der zum Seufzen beitrug, war: Wallner hatte die Fünfzig überschritten, und seine Cholesterinwerte waren seit einiger Zeit nicht mehr so makellos wie früher. Der Arzt hatte gesagt, er solle sich von Schweinefleisch und gesättigten Fettsäuren fernhalten. Nun basierte aber die Ernährung seines Großvaters auf genau diesen beiden Komponenten – seit über neunzig Jahren freilich, weswegen Wallner bei Diskussionen über das Thema regelmäßig die Argumente ausgingen.
Wallners Nase hatte nicht getrogen. Es gab Halsgrat mit Bratkartoffeln. Das Fleisch schwamm im Fett und war scharf angebraten, die Kartoffeln waren teilweise schon dunkelbraun, was Wallner liebte, und Manfred hatte weder an Speck noch Zwiebeln noch Kümmel noch Butterschmalz gespart. Leider auch nicht am Salz, denn seine Geschmacksnerven reagierten nur noch auf starke Reize.
»Riecht super«, sagte Wallner, als er die Küche betrat. »Diesmal alles selber gemacht?«
»Hab mal wieder Lust drauf g’habt.« Manfred nahm die Halsgratscheiben mit einer Gabel aus der Pfanne, mit der anderen Hand stützte er sich auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. In letzter Zeit ging es wieder ganz gut ohne Rollator. Aber Wallner machte sich nichts vor. Es ging mal besser, mal schlechter, die Tendenz aber deutete, wenn auch langsam, nach unten. Deswegen gab es immer öfter Essen, das Manfred schon vorgekocht vom Metzger holte oder manchmal auch kommen ließ.
Wallner ging seinem Großvater beim Befüllen der Teller zur Hand und half ihm beim Hinsetzen. Dann machte er zwei Flaschen Weißbier auf. Das von Manfred füllte er in ein spezielles Weißbierglas mit Henkel.
»Ich hoff, des is nix, wo dir der Arzt verboten hat«, sagte Manfred und schnitt in das fetttriefende Fleischstück.
»Na ja, Schweinefleisch soll ich eigentlich nicht so viel … aber ist egal. Ab und zu geht das schon.«
»Des is ja koa Schweinefleisch. Des is a Halsgrat.«
»Ist das kein …?«
»Scho, aber des is ja g’sund. Schweinsbraten oder Wammerl – da kriegst Sodbrennen. Aber vom Halsgrat hab ich mein Lebtag noch kein Sodbrennen ’kriegt.«
»Es geht auch mehr darum, dass die Adern nicht verkalken.«
»Bin ich vielleicht verkalkt?« Manfred sah Wallner herausfordernd an und streckte, so weit es ihm möglich war, die Brust nach vorn.
»Sag ich ja nicht. Du bist wirklich fit für dein Alter. Aber da ist auch ein bisschen Glück dabei.«
»Glück? Vielleicht. Aber auch gutes Essen. Grad des Fett, des schmiert ja, wie man weiß, die Adern. Da kann nix verkalken.«
»Ja, das kann sein. Hab ich so noch gar nicht gesehen.« Wallner wusste, dass es sinnlos war.
Eine Weile lang aßen sie stumm, und Wallner musste zugeben, dass alles verdammt lecker war, auch wenn sein Blutdruck wahrscheinlich durch die Decke gehen würde.
»Und?«, fragte Manfred schließlich in die gefräßige Stille hinein, »steht noch alles im Landkreis?«
»Ja. Wieso?«
»Mei … hätt ja was passieren können. Man liest ja so viel in letzter Zeit. Aber wahrscheinlich darfst mir wieder nix sagen.«
»Was hätte denn passieren können?« Wallner kannte seinen Großvater und wurde langsam ein wenig misstrauisch.
»Was weiß ich … irgendwer hat zum Beispiel wieder was in d’ Luft g’sprengt. So was halt.«
Derart konkrete Vermutungen äußerte Manfred eigentlich nie. Wallner war alarmiert. »Bis jetzt wurde nichts gemeldet.«
Manfred zögerte, überlegte, wollte etwas sagen, sagte dann aber, wie es Wallner schien, etwas anderes. »Dienstgeheimnis, versteh schon.«
»Falls es ein Dienstgeheimnis wäre, würde ich dir sagen, dass ich nichts sagen kann, und dich nicht anlügen. Abgesehen davon: Wenn jemand was in die Luft sprengt, kriegt es ja eh jeder mit. Das ist dann kein Dienstgeheimnis.«
»Dann is ja gut.« Manfred stierte auf die Reste seines Halsgrates und schnippelte ein Stück Fett herunter.
»Hättest du denn erwartet, dass jemand was in die Luft sprengt?«
»Ich? Nein. Des war ja nur a Beispiel für irgendwas, wo passieren hätt können. Aber anscheinend is ja nix passiert.«
»Ich wunder mich nur.« Wallner nahm einen Schluck Weißbier und stellte das Glas anschließend bedächtig am Tisch ab. »Du fragst sonst nie, ob irgendwas in die Luft geflogen ist.«
»Des war a Beispiel! Ich wollt mich nur a bissl unterhalten. Was du so machst den Tag über. Aber wenn des jetzt auch nimmer erlaubt is …«
»Nein, ich freu mich, wenn du Anteil nimmst an meinem Leben. Und weißt du was? Ich frag mal nach. Vielleicht ist ja was gemeldet worden, und ich hab’s nicht mitbekommen.«
»Mach dir keine Umstände«, winkte Manfred ab. »Is wirklich net nötig.«
Wallner holte sein Handy von der Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank, wo es zum Aufladen lag. Telefondienst hatte eine erfahrene Kollegin.
»Sag mal, Resi, ist heute eine Explosion gemeldet worden oder irgendwas in der Art?«
»Heut nicht. Gestern Abend.«
»Ah ja?«