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Kylie Scott

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Beschreibung

Edie Millen hatte hohe Erwartungen an ihr letztes Highschooljahr - mitten in einen Raubüberfall zu stolpern und beinahe zu sterben, gehörte allerdings nicht dazu. Von einem Moment auf den anderen ändert sich ihr Leben grundlegend. Als ihr die Blicke und das Gerede ihrer Mitschüler zu viel werden, wechselt sie kurzerhand die Schule - nicht ahnend, dass sie dort John Cole wiedersehen würde, den Jungen, der ihr an jenem Abend das Leben rettete. Die wildesten Gerüchte ranken sich um John - er sei gewalttätig und deale mit Drogen. Doch auch wenn Edie weiß, dass sie womöglich ihr Herz aufs Spiel setzt, kann und will sie nicht gegen die Gefühle ankämpfen, die John in ihr hervorruft ...

"Ein Roman, der wunderbar einzigartig ist und Herzen höher schlagen lässt." KATY EVANS

Der neue Roman von Spiegel-Bestseller-Autorin Kylie Scott

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Inhalt

TitelZu diesem BuchZitatPlaylist1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelEpilogDanksagungDie AutorinKylie Scott bei LYXLeseprobeImpressum

KYLIE SCOTT

TRUST

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt

Zu diesem Buch

Edie Millen hatte hohe Erwartungen an ihr letztes Highschooljahr – mitten in einen Raubüberfall zu stolpern und beinahe zu sterben, gehörte allerdings nicht dazu. Von einem Moment auf den anderen ändert sich ihr Leben grundlegend. Als ihr die Blicke und das Gerede ihrer Mitschüler zu viel werden, wechselt sie kurzerhand die Schule – nicht ahnend, dass sie dort John Cole wiedersehen würde, den Jungen, der ihr an jenem Abend das Leben rettete. Die wildesten Gerüchte ranken sich um John – er sei gewalttätig und deale mit Drogen. Doch auch wenn Edie weiß, dass sie mit dem Feuer spielt, kann sie sich nicht von John fernhalten. Er war dabei, als sie dachte, dass sie sterben würde, und ist der Einzige, der nachvollziehen kann, wie schwer es ist, mit den Erinnerungen zu leben. Je näher sich die beiden kommen, desto deutlicher wird, dass auch John bei Edie eine Seite von sich zeigt, die er vor allen anderen verborgen hält. Denn bei ihr kann er der Junge sein, der die Fehler seiner Vergangenheit wiedergutmachen und noch einmal von vorn anfangen möchte. Und auch wenn Edie womöglich ihr Herz aufs Spiel setzt, kann und will sie irgendwann nicht mehr gegen die Gefühle ankämpfen, die John in ihr hervorruft …

»Die gebräuchlichste Form der Verzweiflung ist, nicht zu sein, wer man ist.«

Sören Kierkegaard

Playlist

»(Don’t Fear) The Reaper« – Blue Oyster Cult

»Bad Habit« – The Kooks

»I Wanna Be Sedated« – Ramones

»Girls« – The 1975

»Get It On« – T. Rex

»Liability« – Lorde

»Heart of Glass« – Blondie

»Teen Idle« – Marina and the Diamonds

»What Is and What Should Never Be« – Led Zeppelin

»Adore« – Amy Shark

»Because the Night« – Patti Smith

»Tear in My Heart« – Twenty One Pilots

1. Kapitel

»Vergiss die Mais-Chips nicht!«, rief Georgia, halb aus dem Seitenfenster des Wagens hängend.

»Alles klar.«

»Und nimm die scharfe Salsa-Soße, Edie. Nicht dieses milde Zeug, du feiges Huhn.«

Ich zeigte ihr den Mittelfinger und lief weiter, wobei ich den Blick auf den Boden geheftet hielt.

Der Regen hatte jedes Schlagloch auf dem Drop-Stop-Parkplatz in einen Minisumpf verwandelt. Die Trockenperiode war vorüber, weshalb das nasse Wetter eigentlich ein Segen war. Kronkorken und Zigarettenstummel trieben wie kleine Boote in den trüben Gewässern. Der nordkalifornische Wind ließ kleine Wellen entstehen, die die leuchtende Spiegelung des »Geöffnet«-Schriftzuges verzerrten. Ansonsten war es stockdunkel. Gegen Mitternacht war in Auburn nicht mehr viel los. Um Snacks für unseren Filmmarathon zu besorgen, hatten Georgia und ich uns gezwungen gesehen, durch die halbe Stadt zu fahren. Acht Harry Potter-Filme hintereinander – das war unsere Art, als Einwohnerinnen der sogenannten »Endurance Capital« unser Durchhaltevermögen zu beweisen.

»Oh, und Oreos!«

Als würde ich jemals die Oreos vergessen, dachte ich und betrat den schäbigen Laden.

Wer bei Drop Stop einkaufte, durfte keine hohen Ansprüche haben. Und ich war optisch hervorragend an das niedrige Niveau angepasst: schwarze Yogahose, Sport-BH und ein labbriges, altes blaues T-Shirt. Beim Wettbewerb »Welche Schlafklamotten gehen eher als normale Kleider durch« schlug mein Outfit Georgias Satinnegligé mit Einhornprint um Längen. Uns für unseren Einkaufstrip etwas Ordentliches anzuziehen, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Nein, viel zu viel Aufwand für die Sommerferien.

Drinnen im Laden blendeten mich die fluoreszierenden Deckenlampen, und die klimatisierte Luft war so kalt, dass ich eine Gänsehaut bekam. Doch nun lag er vor mir: ein ganzer Gang voll mit den ungesündesten Lebensmitteln der Welt, denen ich jedoch, wie mein Hintern bewies, gern zusprach. Wiederholt und mit Begeisterung.

Ich schnappte mir einen Einkaufskorb aus Plastik und schritt zur Tat.

Außer mir waren nur wenige andere Kunden im Laden. Beim Bierkühlschrank unterhielt sich ein groß gewachsener Junge im schwarzen Kapuzenpullover leise mit einem anderen jungen Kerl. Ich bezweifelte stark, dass die beiden alt genug waren, um legal Alkohol trinken zu dürfen. Hinter der Ladentheke stand ein Student vom hiesigen College, deutlich erkennbar an dem Lehrbuch, das er ausgewählt hatte, um sich dahinter zu verstecken. Merke: im Abschlussjahr ordentlich büffeln, um in Berkley zugelassen zu werden.

Hershey-Schokoriegel, Reese’s Pieces, Oreos, Gummibärchen, Milk Duds, Skittles, Twinkies, Doritos und Salsa-Soße. »Höllisch scharf« stand auf der Flasche, auf der sogar ein kleiner tanzender Dämon abgebildet war. Das alles landete im Korb. Somit waren alle wichtigen industriell hergestellten Nahrungsmittelgruppen angemessen vertreten. Doch ein wenig Platz war noch im Korb. Nachdem wir immerhin ans andere Ende der Stadt gefahren waren, wäre es blöd gewesen, halbe Sachen zu machen. Allein die Rückfahrt zum Haus von Georgias Eltern würde schon gute zehn oder fünfzehn Minuten in Anspruch nehmen. Da brauchten wir ausreichend Proviant.

Noch eine Dose Pringles als Glücks- und Wohlstandsbringer – fertig.

Ich stellte meinen Korb auf die Ladentheke und schreckte damit den Collegeboy auf. Offenbar war er tatsächlich richtig in seine Studien vertieft gewesen. Er blinzelte mich verdutzt durch seine Brille mit Drahtgestell an. Seine Augen waren braun.

Mist, er war süß.

Sofort wandte ich mich ab. Nun starrte ich allerdings direkt auf einen Ständer mit Tittenmagazinen. Wow. Hoffentlich wurde ein Teil der Verkaufserlöse dieser Heftchen dafür eingesetzt, Frauen mit Rückenproblemen zu helfen. Diese Brüste waren teilweise erschreckend groß. Durch das verdreckte Fenster hindurch ließ sich draußen kaum etwas erkennen, doch ich hatte den Eindruck, dass es in der Zwischenzeit wieder angefangen hatte zu regnen. Die Flipflops an meinen Füßen waren wohl keine gute Wahl gewesen.

Piep, piep, piep addierte die Kasse meine Einkäufe zusammen. Hervorragend. Der süße Kassierer und ich ignorierten uns. Jeder weitere Augenkontakt unterblieb. Das war von allen denkbaren Szenarien das bestmögliche. Mit anderen Menschen zu interagieren, stellte für mich generell eine Herausforderung dar, aber bei attraktiven Personen war es bei Weitem am schlimmsten. Sie verunsicherten mich. In ihrer Gegenwart fing ich an zu schwitzen, lief rot an, und mein Hirn war nur noch leer und nutzlos.

Meine Ausbeute wanderte in eine dünne weiße Plastiktüte, die hundertprozentig auf halbem Weg zum Auto reißen würde. Egal, dann musste ich sie eben fest an die Brust drücken und mit dem Unterteil meines Shirts stützen oder was auch immer. Das wäre jedenfalls viel einfacher, als ihn darum zu bitten, sie in eine zweite Tüte zu stecken.

Ich schob das Geld in seine grobe Richtung, murmelte ein Dankeschön und setzte mich wieder in Bewegung. Auftrag erfolgreich ausgeführt.

Nur betrat genau in diesem Augenblick ein dürrer Typ den Laden, der es noch eiliger hatte als ich. Wir prallten gegeneinander, und ich zog den Kürzeren. Meine Flipflops rutschten unter mir auf dem nassen Boden weg. Ich taumelte rückwärts in eins der Regale, stürzte und landete auf dem kalten, harten Boden. Die Plastiktüte platzte auf, und mein Kram verteilte sich überall. So ein Arsch.

»Na großartig«, murmelte ich sarkastisch, schnell gefolgt von einem ironischen »Mir geht’s gut. Kein Problem«.

Wie peinlich. Nicht, dass mir irgendjemand Beachtung schenkte. Anscheinend hatte ich im Sturz eine der scharfen Metallkanten erwischt, denn an meiner Taille prangte nun ein Kratzer. Er schmerzte heftig, genau wie mein lädierter Hintern.

Der Collegeboy rang hörbar nach Luft. Verständlich. Ich wäre an seiner Stelle auch sauer geworden, wenn in meinem Laden eine moppelige Tussi im Schlafanzug mit Sachen um sich geworfen hätte. Der Vollidiot, der mich gerade aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, knallte die Hand auf die Theke und knurrte etwas, woraufhin der Collegeboy stammelte: »B-bitte. N-nicht.«

Ich erstarrte, denn mir wurde schlagartig klar, dass es hier überhaupt nicht um meine Bruchlandung im Regal ging.

Nicht im Entferntesten.

Der Collegeboy fummelte mit panisch verzerrtem Gesicht an der Kasse herum. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Die Zeit schien fast stehen zu bleiben, als der junge Mann die Tasten der Kasse drückte. Dabei rannen ihm Tränen der Verzweiflung über die Wangen, weil das Ding sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund nicht öffnen ließ. Der dünne Kerl gebärdete sich derweil wie ein Irrer, brüllte und fuchtelte mit etwas herum.

Plötzlich flog die Kassenschublade mit einem kurzen misstönenden Klingeln auf.

Der Collegeboy nahm ein Geldbündel heraus und stopfte es in eine Plastiktüte. Der dürre Kerl knallte wieder voller Wut und Frust die Hand auf den Tresen. Da heulte unvermittelt eine Polizeisirene auf. Gleich darauf quietschten Reifen. Ich verfolgte entsetzt, wie draußen auf dem Parkplatz ein ramponiertes Auto schlingernd beschleunigte und davonraste. Dabei prallte es gegen einen Müllcontainer, dessen Abfall sich auf dem Asphalt verteilte. Ein Polizeiauto nahm die Verfolgung auf, ein anderes kam mit eingeschaltetem Blaulicht vor dem Supermarkt zum Stehen.

Der Kerl vor der Theke fuhr zum Parkplatz herum und schrie etwas Unverständliches. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten unkontrolliert. Seine Augen sahen merkwürdig aus, die Pupillen waren wie aufgebläht und riesengroß. Sein Gesicht war von roten Flecken – Geschwüren – übersät, und seine Zähne waren nur noch faulige Stummel. Dann sah ich die Pistole in seiner Hand, und mir blieb das Herz stehen.

Er hatte eine Waffe. Eine Waffe. Das passierte wirklich, genau hier. Genau jetzt.

Durch die schmuddeligen Fenster fiel zuckend das Blaulicht, abwechselnd rot und blau, und ich saß nur da, wie betäubt, mit weit aufgerissenen Augen, und begriff gar nichts mehr. Alles ging so schnell. Ich konnte dem bewaffneten Kerl genau ansehen, wann er begriff, dass er zurückgelassen worden war, denn in diesem Augenblick zuckte er zusammen. Die Hand, in der er die Waffe hielt, zitterte kurz. Dann drehte er sich zum Collegeboy um.

Eine Sekunde lang standen sie einander reglos gegenüber, der eine zitternd vor Angst, während der andere die Waffe hob. Dann ertönte ein lauter Knall. Der Collegeboy ging zu Boden. Das Wandregal mit den Zigarettenpackungen sah aus, als hätte jemand einen Eimer scharlachroter Farbe darübergekippt.

Das Sirenengeheul wurde lauter. Noch mehr Polizeiwagen fuhren vor dem Gebäude vor.

»Du Miststück!«, brüllte der Mann und übertönte damit sogar die Sirenen und das Klingeln in meinen Ohren. »Joanna, du blöde Schlampe! Du solltest doch nicht abhauen! Komm sofort zurück!«

Ich bekam keine Luft. Mit eingezogenem Kopf kauerte ich am Boden, die Kehle wie zugeschnürt.

Er drehte sich wieder zu der blutigen Sauerei hinter der Theke um und fluchte heftig und ausdauernd.

»Legen Sie die Waffe weg«, forderte von draußen eine weibliche Stimme durch einen Lautsprecher. »Legen Sie sie langsam ab und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«

Schwere, schlammverschmierte Stiefel stampften direkt auf mich zu. Oh nein. Ich musste ihm gut zureden, ihn irgendwie beruhigen. Doch in meinem Hirn regte sich nichts, und mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Obwohl er so dürr war, zog er mich problemlos hoch. Sein Griff war eisern, als könnte er mir mit Leichtigkeit die Knochen brechen.

»Steh auf.« Er krallte die Finger schmerzhaft in meine Haare und drückte mir die warme Mündung der Pistole ans Kinn. »Geh zur Tür.«

Schlurfend bewegten wir uns, Schritt für Schritt, voran, wobei er mich als menschlichen Schutzschild benutzte. Ich stolperte über meine Pringles. Die runde Dose rollte unter meinen Fuß und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Doch seine fest geschlossene Faust hielt meine blonden Haare weiterhin unbarmherzig gepackt, wodurch er mir ein ganzes Büschel davon ausriss. Vor Schmerz liefen mir Tränen über die Wangen.

»Wir können das hier ohne weitere Gewaltanwendung zu Ende bringen«, ertönte erneut knisternd die Stimme der Polizistin. »Lassen Sie sie frei.«

Das Licht der Scheinwerfer blendete mich und erleuchtete den Regen. Ich konnte den schattenhaften Umriss eines Kopfes erkennen, einen der Polizisten, der sich hinter einer Autotür duckte, mit ausgestreckten Armen und der Waffe in der Hand. Georgia war irgendwo dort draußen. Oh Gott, hoffentlich war sie in Sicherheit.

»Wir haben beide Ausgänge umstellt. Lassen Sie sie gehen und legen Sie die Waffe nieder«, wiederholte sie. »Wir können es noch immer friedlich zu Ende bringen.«

Wieder durchzuckte ein Schmerz meine Kopfhaut. Der Kerl zerrte meinen Kopf nach hinten und steckte mir die Waffe in den Mund. Das harte Metall stieß gegen meine Zähne, die Mündung schabte meinen Gaumen entlang. Schwarzpulvergestank erfüllte meinen Kopf.

Ich würde sterben, hier, an diesem Abend, im Drop Stop, in meinem gottverdammten Schlafanzug. Aus und vorbei. Draußen auf dem Parkplatz stieß jemand einen Schrei aus.

»Ich bringe sie um!«, brüllte er, während er die Ladentür mit dem Körper offen hielt. Sein widerlicher Atem strich über meine Wange.

»Nicht.« Nun klang die Polizistin panisch. »Nicht. Lassen Sie uns reden.«

Der Bewaffnete reagierte nicht. Stattdessen packte er mit der Hand, die er eben noch in meine Haare gekrallt hatte, die Türklinke und zog die Ladentür wieder zu. Dann verriegelte er sie mit seinen schmutzigen Fingern. Es gab kein Entkommen. Nicht mit der Waffe in meinem Mund, die ebenso zitterte wie seine Hand. Plötzlich musste ich an all die Dinge denken, die ich, wenn er jetzt abdrückte, niemals tun würde. Ich würde niemals wieder die Gelegenheit haben, nach Hause zu gehen, mich niemals von meiner Mutter verabschieden, niemals Lehrerin werden.

»Geh zurück«, befahl er. »Beweg dich!«

Die Waffe bohrte sich tiefer in meinen Mund, bis ich einen Brechreiz spürte. Ich würgte. Es half nichts. Langsam und keuchend setzte ich einen Fuß nach hinten, dann den anderen. Schrittchen für Schrittchen wichen wir zurück. An den vorderen Fenstern standen aufgereiht Ständer mit Zeitschriften, sodass von draußen nur unsere Oberkörper zu sehen waren. Oberhalb der Ständer war die Welt rot, weiß und blau. Fast wie in einer Disco huschten die farbigen Lichter über Werbeplakate für Getränke und allerlei andere Produkte. In der Ferne war eine sich nähernde Feuerwehrsirene zu hören.

Dann riss er mir die Pistole aus dem Mund und stieß mich zu Boden. Da lag ich, schnappte nach Luft, versuchte ruhig zu bleiben, mich ganz klein, unsichtbar zu machen. Hoch über mir blitzte Chrom auf. Sein Arm schwang in einem weiten Bogen, und dann – wumm. Der Griff der Pistole traf mich, und in meinem Schädel explodierte der Schmerz.

»Dämliche Schlampe«, knurrte er leise. »Rühr dich ja nicht vom Fleck.«

Dann nichts mehr.

Mehr tat er nicht. Vorerst.

Ehrlich, selbst wenn ich es versucht hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, mich zu bewegen. Mit acht Jahren hatte ich mir im Ferienlager bei einem Sturz aus dem oberen Stockbett den Arm gebrochen. Das war übel gewesen. Doch das hier, das war eine ganz andere Liga. Höllische Schmerzen brachen in Wellen über mich herein, durchfluteten mich von Kopf bis Fuß, und verwandelten mein Hirn in Matsch. Ihn im Auge zu behalten war bei diesen Schmerzen und dem Blut, das von meiner Stirn troff und mir ins Auge lief, nicht so einfach. Ich spähte hinter meinen Haaren hervor. Die Welt sah verschwommen aus.

Nichts bewegte sich, kein Laut war zu hören. Dann das Geräusch von Schritten. Ich zuckte jäh zusammen. Doch diesmal bewegten sie sich von mir weg. Ich atmete so flach, wie ich nur konnte, und weinte lautlos.

Als er die Deckenbeleuchtung ausschaltete, verwandelte sich alles um mich herum in Schatten. Doch von draußen kam zumindest genügend Licht herein, um einigermaßen sehen zu können. Der Polizistin fiel inzwischen offenbar nichts mehr ein, was sie noch hätte sagen können. Das einzige Geräusch kam vom Prasseln des Regens auf dem Dach.

»Nicht schießen«, bat eine männliche Stimme. Es folgten gedämpfte Schritte. »Wir haben die Hände oben. Du bist doch Chris, oder?«

»Wer zur Hölle bist du?«, fauchte der Bewaffnete.

»Ich bin John, Dillon Coles kleiner Bruder«, antwortete die Stimme.

»Dillon …«

»Genau.« Die Schritte kamen näher, bewegten sich in Richtung des vorderen Teils des Supermarkts. »Erinnerst du dich noch an mich, Chris? Du warst ein paarmal bei uns, hast dich mit Dillon getroffen. Ihr beide habt immer mal wieder etwas gemeinsam unternommen, damals während der Schulzeit. Ihr wart beide im Footballteam, richtig? Ich bin sein Bruder.«

»Dillon«, nuschelte der Gangster und begann, auf den Zehen zu schaukeln. »Ach ja. Wie geht’s ihm so?«

»Gut, richtig gut. Hat viel um die Ohren.«

»Shit. Super. Dillon.« Die schmutzigen Stiefel kehrten zurück, kamen wieder in Sichtweite. Da mir die Haare ins Gesicht hingen, sah ich alles nur bruchstückhaft. Der Bewaffnete lehnte sich an die blutverschmierte Ladentheke. »Was machst du hier, äh …«

»John«, wiederholte er seinen Namen. Er war einer von den Jungs, die beim Bierkühlschrank gestanden hatten. So musste es sein. »Vorräte auffüllen. Du kennst das ja.«

»Ja, tue ich, tue ich«, antwortete Chris. »Ich wollte … Ich wollte auch für Nachschub sorgen.«

»Alles klar.« John, der Typ im Kapuzenpulli, klang freundlich, entspannt. Wahrscheinlich war er, genau wie Chris, bis zur Halskrause mit Drogen vollgepumpt. Der nette Psycho von nebenan. Sonst hätte er doch nie im Leben in solch einer Situation so ruhig bleiben können. »Du solltest es mal mit dem Hinterausgang probieren.«

»Ja«, nuschelte Chris. Augenblicklich marschierte er zu besagter Tür, wedelte noch kurz mit der Waffe in unsere Richtung, ehe er aus unserem Blickfeld verschwand. »Keiner von euch dreien bewegt sich.«

Es war so still. Das Klicken des Schlosses an der Hintertür und der Knall, als sie gleich darauf wieder zugeworfen wurde, waren überdeutlich zu hören. Chris fluchte verbittert und marschierte zurück zur Theke. »Daraus wird nichts.«

»Mist«, meinte John.

»Aber keine schlechte Idee … weißt du. Shit. Hab ja ganz vergessen, dass die noch offen steht.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Chris über die Ladentheke griff und Geld aus der Kasse holte. »Brauchst du auch was?«

»Mit einem Zwanziger kann man immer was anfangen, nicht wahr?«

»Stimmt«, antwortete Chris lachend und drückte ihm ein paar Scheine in die Hand. »Geh mal hinter die Theke und hol mir ein paar Zigaretten, okay?«

»Klar. Was rauchst du?«

Chris schnaubte. »Marlboro.«

»Kein Problem«, sagte John und trat hinter den Tresen. »Mann. Was für eine Sauerei.«

Schmatzende Geräusche waren zu vernehmen, wie wenn man mit Gummisohlen in etwas Nasses tritt. Mir drehte sich der Magen um, Galle brannte in meiner Kehle. Ich schluckte sie hinunter, versuchte wieder ruhig zu atmen, ganz stillzuhalten.

»Was hast du für ein Problem?«, wollte Chris wissen.

»Glitschig hier hinten«, antwortete John. »Blut konnte ich noch nie sehen.«

»Schlappschwanz.« Chris kicherte irre. »Mann, du bist ja ganz grau im Gesicht. Kotzt du jetzt oder was?«

Er stieß einen Grunzlaut aus. »Immer langsam, ich gehe schließlich noch auf die Highschool. Ich brauche noch ein paar Jahre, um so tough zu werden wie du. Was dagegen, wenn ich mir auch eine Packung nehme?«

»Klar, Kleiner, bedien dich nur.«

»Danke.«

Ich verhielt mich still, verfolgte das Schauspiel. Wie toll für John und seinen Helden Chris, den Meth-Junkie, dass sie hier so schöne Stunden miteinander verbringen konnten. Was für eine Scheiße.

Chris räusperte sich. »Wer ist denn dein Kumpel? Bring ihm auch was mit.«

»Ach, das ist Isaac«, erklärte John. »Ein Schulfreund. Er ist im Footballteam.«

»Echt?«, sagte Chris. »Auf welcher Position?«

»Receiver«, antwortete eine leisere, weniger selbstsichere Stimme.

»Ich hab Fullback gespielt und Dillon Quarterback«, verkündete Chris stolz. »Das waren noch Zeiten.«

Isaac murmelte etwas, das nach Zustimmung klang. Ein Streichholz flammte auf, und gleich darauf breitete sich beißender Tabakgeruch aus.

»Soll ich uns was zu trinken holen?«, fragte John, als wären sie hier auf einer gottverdammten Party.

»Mm.«

Schmatz, schmatz kamen Schritte auf mich zu. Verblichene grüne Chucks, die Sohlen mit Blut beschmiert. Ich regte mich nicht, blieb ausgestreckt auf dem Boden liegen, mit dem Gesicht in einer Blutlache. Wenigstens linderte der kalte Boden ein wenig die Schmerzen in meinem Kopf. Ein ganz klein wenig.

Chris’ Freund John blieb neben mir stehen und betrachtete mich kurz. Dann wandte er sich wortlos wieder ab und ging davon, wobei er blutige Fußabdrücke hinterließ.

»Ich laufe lieber nicht direkt an der Tür vorbei«, murmelte er.

»Nein«, stimmte Chris zu und kicherte wieder. »Das wäre nicht gut.«

Flaschen stießen klirrend gegeneinander. Von draußen hörte ich das Zuschlagen von Autotüren und viele unterschiedliche Stimmen. Die roten, weißen und blauen Lichtblitze waren inzwischen noch greller geworden, als hätte eine ganze Schwadron Streifenwagen die Lightshow verstärkt. Bitte, lieber Gott, lass einen von diesen Leuten etwas Konstruktives tun, um mich hier herauszuholen. Ich würde zur Kirche gehen. Ich würde alles tun. Ich war erst siebzehn, noch Jungfrau, verflucht. Zwar würde ich mit Sicherheit niemals zur Ballkönigin gekrönt werden, aber ich wollte trotzdem noch so lange leben, dass ich wenigstens an meinem blöden Abschlussball teilnehmen konnte.

»Super«, sagte John. »Hier gibt’s Corona.«

Weitere Geräusche. Bierflaschen wurden ploppend geöffnet, während es sich die Jungs gemütlich machten, um die Geiselnahme gebührend zu feiern. Den anderen jungen Mann, Isaac, konnte ich nicht sehen. Nur Chris, den Speed-Freak, und John. Sie saßen mit dem Rücken an die Theke gelehnt auf dem Boden und hingen gemütlich zusammen ab. Absurd. Und obwohl die beiden sich allem Anschein nach kannten, kamen mir plötzlich Zweifel, ob John auch Drogen nahm. Sein schulterlanges Haar war nicht so schütter und fettig wie das von Chris. Er hatte zwar einen Dreitagebart, doch sein schmales, kantiges Gesicht war nicht so ausgemergelt und von Geschwüren übersäht wie das von Chris.

»Wie heißt du?«, fragte er, als er mich dabei ertappte, wie ich ihn musterte.

Ich leckte mir die Lippen, versuchte, meinen ausgetrockneten Mund zu befeuchten. »Edie.«

»Eddie?«

»Nein. Ii-dii.«

Ein Nicken. »Darf Ii-dii auch etwas trinken, Chris?«

»Von mir aus«, murmelte er, den Blick ins Leere gerichtet.

John erhob sich und kam so vorsichtig auf mich zu, als wäre ich diejenige mit der Waffe in der Hand. Man hätte doch meinen können, der Meth-Junkie wäre seine größere Sorge. Dann zwinkerte mir der Irre – John, meine ich – zu. Es schien nicht als Flirt gedacht zu sein, sondern eher als eine Art »Spiel-mit« – Zwinkern.

Na so was. Ich hatte ihn völlig falsch eingeschätzt. Er versuchte nicht, Chris nachzueifern. Er versuchte, ihn zu manipulieren. »Setz dich auf«, sagte er leise, während er neben mir in die Hocke ging.

Meine Güte, es tat so weh. Sich zu bewegen, zu denken, zu atmen, einfach alles. Ich richtete mich auf und lehnte mich mit dem Rücken an eines der Regale. Gräuliche Schlieren waberten vor meinen Augen, die Welt kippte immer wieder seitlich weg. Er öffnete ein neues Corona, drückte es mir in die Hand und schloss meine Finger fest um die kalte, feuchte Flasche. Seine Berührungen waren so ziemlich das Einzige, was nicht schmerzte.

»Trink aus, Edie«, sagte er. »Schließlich ist das hier ein geselliges Beisammensein, oder Chris?«

Chris lachte schnaubend auf. »Klar. Gesellig.«

»Genau«, sagte John. »Alles ist gut.«

Um ein Haar hätte ich losgeprustet.

»Halt es dir vielleicht gegen den Kopf«, fuhr er etwas leiser fort. »Okay?«

»Ja.«

Bier hatte ich noch nie gemocht. Georgia und ich bedienten uns lieber hin und wieder am Weinvorrat ihrer Mutter. Billiges und ziemlich widerwärtiges Zeug. Ihr fiel nie auf, dass etwas fehlte, und selbst wenn, hätte es sie nicht interessiert. Das Bier floss durch meine wunde Kehle und landete in meinem rebellierenden Magen. Ich zwang mich dazu, es bei mir zu behalten, atmete tief ein und aus, schluckte es wieder herunter.

John nickte.

Ich erwiderte das Nicken, weil ich noch am Leben war und so. »Danke.«

Sein Blick war intensiv, durchdringend. Bei einem Schönheitswettbewerb hätte er locker gegen den inzwischen verstorbenen Kassierer gewonnen. Was für ein abartiger Gedanke. Schließlich wusste keiner von uns, wessen Blut als Nächstes die Wände zieren würde.

»Auf welche Schule gehst du?«, fragte John.

»Greenhaven.«

»Armes kleines reiches Mädchen«, lallte Chris. »Schlampen. Allesamt.«

Ich hielt den Mund.

»Dillon fand die Mädels von der Green immer gut.« John gesellte sich wieder zu Chris an die Ladentheke.

»Er fand es gut, sie zu vögeln.«

»Das auch«, stimmte John mit einem falschen Lächeln zu. »Er meinte immer, mit einer von der Green zu gehen wäre unkomplizierter. Sie konnten ihn in der Schule nicht nerven. Weniger Aufwand.«

Chris schmunzelte.

»Wie wär’s, Edie, möchtest du gelegentlich mit mir ausgehen?«, fragte John. Das konnte nicht sein Ernst sein. Der Kerl musste den Verstand verloren haben.

»Klar«, antwortete ich, ohne mir meine Verwirrung anmerken zu lassen.

»Was willst du denn mit der?« Chris kratzte sich am Kinn, die Lippen zu einem höhnischen Grinsen verzerrt.

»Ich mag Blondinen.« John lächelte nur. »Und der lieben Edie hier scheint es nichts auszumachen, geklautes Bier zu trinken. Solche Mädels mag ich.«

Chris schüttelte den Kopf.

Worte waren zu gefährlich, darum nippte ich einfach nur weiter an meinem Getränk.

Chris holte aus und ließ seine leere Flasche durch die Luft fliegen. Das Glas zersprang an der hinteren Wand. Das Klirren war so erschreckend laut, dass ich den Kopf einzog.

»Noch eins?«, fragte John seelenruhig, als würde er tagtäglich Situationen wie diese erleben. Vielleicht tat er das auch.

»Du.« Chris nickte mit dem Kinn in Richtung von Johns schweigsamem Freund.

»Ich hole noch was«, sagte Isaac mit bebender Stimme.

»Ich wünschte, ich hätte mein Dope nicht im Auto gelassen«, meinte John. »Ich würde dich gern entschädigen.«

Chris lachte auf. »Ein andermal.«

John nickte ihm lächelnd zu.

Ein jähes, obszön lautes Trillern durchbrach die Stille und ließ mir den Atem stocken. Das Telefon. Nur das Telefon. Wenn das so weiterging, würde ich, noch bevor ich meiner Kopfwunde erliegen konnte, an einem Herzinfarkt sterben.

»Nicht drangehen«, befahl Chris, plötzlich in Habachtstellung, und funkelte uns finster an. Als ob wir uns das gewagt hätten.

Das Klingeln verstummte, nur um einen Augenblick später von Neuem einzusetzen.

»Diese Schweine!« Chris rappelte sich auf und legte geduckt die Waffe an. Die Pistole knallte, wieder und wieder. Er brauchte drei Versuche, ehe er es schaffte, einen Treffer zu landen. Endlich hörte das Klingeln auf. »Ich werde … Ich werde einfach abwarten. Joanna, sie wird zurückkommen. Sie wird einen Plan haben. Sie hat immer einen Plan. Wahrscheinlich wird sie eins der Fenster einrammen müssen oder was weiß ich.«

Isaac kehrte zurück und verteilte neues Bier.

»Cool«, sagte John, zündete sich eine weitere Zigarette an und blies einen Rauchring in die Luft.

»Dann könnt ihr alle gehen.« Chris lächelte und entblößte dabei einen Mund voll schwarzer, kaputter Zähne. »Wir müssen nur abwarten.«

John leckte sich die Lippen. »Du willst Edie nicht jetzt schon loswerden?«

Stirnrunzelnd wandte sich Chris zu ihm um. »Warum zum Teufel sollte ich das?«

»Wie du bereits gesagt hast, ist sie nur ein nutzloses Mädel von der Green. Wir brauchen sie nicht«, erklärte John ruhig, überzeugt. »Ich wette, sie bricht in Panik aus und versaut alles, macht für dich alles nur unnötig kompliziert. Da kannst du sie auch gleich rausschicken, richtig?«

»Falsch!« Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, packte Chris den jüngeren Mann. »Was für ein Spielchen versuchst du hier durchzuziehen? Hältst du mich für dämlich?«

»Nein, nein. Was –«

»Halt verdammt noch mal das Maul«, fauchte Chris und krampfte die Finger fester um die Waffe. »Sie ist meine einzige richtige Geisel. Glaubst du etwa, die Bullen würde es jucken, wenn ich dir deinen zugedröhnten Kopf wegblasen würde?«

»Ich breche nicht in Panik aus«, sagte ich, ohne nachzudenken. »Versprochen.«

Chris wandte sich zu mir um. Seine Miene war angespannt, sein Blick wütend und auch ein wenig verwirrt.

»Wir müssen nur auf Joanna warten«, fuhr ich hastig fort. »Danke … Vielen Dank für das Bier.«

Langsam entspannte sich Chris wieder. Der zornige Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Stimmt genau. Wir müssen nur auf Joanna warten.«

Ich riskierte lieber nicht, John direkt anzuschauen, um ihm dafür zu danken, dass er mir hatte helfen wollen, oder zu sehen, ob es ihm gut ging. Blick gesenkt und Mund geschlossen – so war es am sichersten.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, murmelte Chris mehr zu sich selbst. »Dann ist alles vorbei.«

2. Kapitel

Keine Ahnung, wie lange ich dort saß und schlückchenweise mein Bier trank. Auf jeden Fall lange genug, dass mein Kopf aufhörte, wehzutun und die Wunde nicht mehr blutete. Nach den blinkenden Lichtern und dem Stimmengewirr draußen zu urteilen, schien sich inzwischen die gesamte Truppe des County Sheriffs vor dem Laden eingefunden zu haben.

Vor einer Weile hatte Chris damit angefangen, sich zu kratzen, was seine Hautgeschwüre aufreißen ließ. Zudem zitterte er jetzt stärker. John redete in aller Seelenruhe weiter, erzählte Geschichten, die er von seinem Bruder gehört hatte, erkundigte sich nach gemeinsamen Bekannten. Um uns herum sammelten sich leere Bierflaschen. Er sprach immer weiter. Seine Stimme war leise und klang etwas kratzig. Das kam bestimmt vom vielen Rauchen. Sein Freund Isaac gab keinen Mucks von sich.

»Chris, mein Sohn«, sagte ein Mann durch ein Megafon. »Hier spricht Sheriff Albertson. Ich habe mich mit Joanna unterhalten – ich weiß, dass das hier ursprünglich nicht so geplant war.«

»Jo?« Chris kroch auf Händen und Knien zur vorderen Glasfront, die Waffe noch immer fest in der Hand. Aus der sicheren Deckung der Magazinständer lugte er nach draußen.

»Warum reden wir nicht über alles? Nur du und ich?«

»Nein!«, schrie der Speed-Junkie und zerrte an seinen kurzen Haaren. »Sie ist nicht … Ich sehe sie nirgends.«

John sagte nichts. Sein Blick klebte geradezu an Chris.

Ich konnte nicht verhindern, dass ich zu zittern begann, zuerst meine Arme, dann meine Beine. Bitte, bitte, bitte. Jemand muss mich hier rausholen.

»Steh auf.« Chris erhob sich ein Stück, bis er in gebückter Haltung über mir thronte. »Beweg dich, du fette Kuh! Wird Zeit, diesen Arschlöchern zu zeigen, dass ich es ernst meine.«

»N-nein. Bitte.«

Er schlug mir die fast leere Bierflasche aus der Hand, sodass sie über den Boden davonrollte. Wieder packte er meine Haare und zerrte mich an ihnen hoch auf die Füße. Dabei riss er sie mir büschelweise aus, doch mir blieb der Schrei in der Kehle stecken. Ich tastete nach seiner Hand, versuchte den Griff, mit dem er mich gnadenlos festhielt, an meiner Kopfhaut zog, zu lockern.

»Beeil dich«, befahl er und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.

Blut lief aus meiner Nase und hinterließ einen metallischen Geschmack in meinem Mund. Meine rechte Gesichtshälfte pochte schmerzhaft. Er schob mich in Richtung der Tür, die Waffe fest in meinen Rücken gepresst.

»Mach auf.«

Ich schielte mit zusammengekniffenen Augen hinaus in die Nacht. Es fiel mir schwer, etwas zu erkennen. Da waren so viele Lichter, so viele Menschen. Und keiner von ihnen tat irgendetwas, um zu helfen. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Gesicht war mit Tränen, Blut und Rotz beschmiert. Mit gefühllosen Fingern fummelte ich am Türschloss herum. Schließlich bekam ich es auf und öffnete die Tür nach außen, hielt sie mit einer Hand offen.

Chris legte von hinten den Arm um mich, als wären wir ein Liebespaar. Die Waffe unter meinem Kinn passte allerdings nicht ins Bild.

»Ich will Joanna!«, schrie er. Sein Gebrüll gellte mir in den Ohren.

»Chris –«, setzte der Sheriff mit freundlichem, ruhigem Tonfall an.

»Sofort. Bringt sie raus.«

»Sie ist nicht hier, Chris. Das wird ein Weilchen dauern.«

Ich hörte Chris hinter mir fluchen. »Nein. Ihr schafft sie augenblicklich her.«

»Wenn ich sie hierherbringen soll, musst du auch etwas für mich tun. Warum lässt du das Mädchen nicht frei?«

Chris’ Antwort darauf klang alles andere als begeistert. Sein widerlicher Geruch ließ Übelkeit in mir aufsteigen, und sein schweres Atmen und sein Gemurmel hallten in meinem Kopf, in all meinen Knochen wider.

»Ihr hört mir nicht richtig zu. Ich hab hier das Kommando … Ich. Das müsst ihr kapieren.«

»Chris –«

»Maul halten! Ich wollte das nicht tun!«, brüllte er. »Das ist allein eure Schuld.«

Ich wankte. Urin lief mir unkontrolliert das Bein hinunter und sammelte sich in meinen Flipflops.

»Warte. Okay«, entgegnete der Sheriff hastig. »Ich rufe sofort an. Bleiben wir ruhig.«

Ob meine Mom wohl dort draußen stand? Hoffentlich nicht.

In den Schatten neben uns schien sich etwas zu regen. Ich konnte es nicht richtig erkennen. Die unzähligen Lichter blendeten mich, verstärkten noch das Pochen in meinem Gesicht und den schmerzhaften Druck der Waffe in meinem Rücken. Chris packte meinen Pferdeschwanz fester. Noch immer hinter meinem Körper verschanzt, den Finger am Abzug, deutete er mit der Pistole in die Richtung, aus der die Stimme des Sheriffs gekommen war.

»Ihr bringt Jo hierher«, befahl er. »Und ihr Auto auch.«

»Okay, was immer du willst, Chris.«

»Ich hab drei in meiner Gewalt. Und ich blase ihnen ihre verfluchten Köpfe weg, einem nach dem anderen, wenn ihr nicht –«

John warf sich von der Seite gegen uns. Ich stürzte zu Boden, und Chris landete hart auf meinem Rücken. Die schwere Ladentür schlug zu. Chris’ Knie bohrte sich in meine Wirbelsäule, als er versuchte, aufzustehen. Doch noch jemand – Isaac – kam nun dazu, kämpfte schlagend und tretend, um die Oberhand zu gewinnen. Wir waren allesamt ineinander verkeilt und jeder dem anderen im Weg. Auch ich bekam versehentlich mehrere Schläge ab, die eigentlich für Chris bestimmt waren. Egal, durch Johns Attacke war Chris vornübergefallen, und ich war nun nicht mehr komplett unter ihm eingeklemmt. Blankes Entsetzen trieb mich. Ich versuchte mich freizukämpfen, mich unter Chris’ Hüfte und seinen wild um sich tretenden Beinen hervorzuwinden. Direkt über mir klammerte sich Isaac verzweifelt an Chris’ wedelnden Arm und versuchte, ihm die Waffe zu entreißen.

Derweil prügelte John auf Chris’ Gesicht ein, das inzwischen nur noch eine einzige blutige Masse war. Die Pistole ging mit einem ohrenbetäubenden Knall los. Jemand schrie schmerzerfüllt auf, und zum zweiten Mal an diesem Abend spritzte Blut. Als der Schuss fiel, verlagerte Chris sein Gewicht ein wenig, und für den Bruchteil einer Sekunde war genug Platz für mich, um mich unter ihm hervorzuschlängeln. Endlich befreit rappelte ich mich auf die Knie.

Isaac hielt die Waffe mit beiden Händen fest und versuchte, sie Chris aus der Hand zu winden. Peng, peng, peng! Nach dem letzten Schuss taumelte Isaac rückwärts, wobei er es endlich schaffte, Chris die Waffe zu entreißen. Gott sei Dank. Sie landete klappernd auf dem Boden, direkt vor mir. Ohne Zögern schnappte ich sie mir und rutschte auf dem Hintern rückwärts, bis es nicht mehr weiterging. Blut – keine Ahnung von wem – ließ meine Sicht auf dem linken Auge verschwimmen. Doch eine Sache sah ich klar und deutlich: Finger am Abzug. Der Lauf direkt auf Chris’ Brust gerichtet. Klick, klick, klick. Nichts passierte.

Oh verdammt. Keine Munition mehr.

Die Tür flog auf. Polizisten, bewaffnet und in kugelsicheren Westen, stürmten den Laden. Grelles Licht fiel von draußen herein. Zwei von ihnen zerrten John von Chris herunter.

Alles war so seltsam. Die Münder der Menschen um mich herum bewegten sich, doch es klang, als befänden wir uns unter Wasser. Jeder Laut schien gedämpft, zeitverzögert. Einer der Polizisten hockte sich neben mich, legte die Hände auf meine und sicherte die Waffe, ehe er meinen Finger vom Abzug löste. Anfangs wehrte ich mich dagegen, sie loszulassen. Sie mochte zwar keine Kugeln mehr enthalten, trotzdem ließ sie sich im Notfall noch als Schlagwaffe einsetzen. Um dem Arschloch damit den Schädel einzuschlagen. Doch der Polizist hatte mehr Kraft in den Händen als ich. Am Ende gewann er und reichte die Waffe einem seiner Kollegen, der sie wegschaffte. Überall waren Lichter, alles war in Bewegung.

»Ist es vorbei?«, fragte ich und sah mich mit einem Auge um. Das andere war geschwollen und von getrocknetem Blut verklebt.

Was immer der Polizist zu mir sagte, konnte ich nicht hören.

Oh Mann, im Drop Stop sah es übel aus. Noch schlimmer als sonst.

Chris lag reglos auf dem Boden. Sein Gesicht sah aus wie Hackfleisch. Kaum wiederzuerkennen. Zwei Polizeibeamte standen neben John, dem Blut von den Fäusten tropfte. An seinem Oberarm klaffte eine lange, hässliche Wunde. Isaac lag ebenfalls bewegungslos da. Mit leerem Blick starrte er zur Decke. Seine Brust war dunkel verfärbt, weil sich der hellgraue Stoff seines Shirts mit etwas vollgesaugt hatte. Unablässig sah ich ihn an, doch er regte sich nicht. Kein einziges Mal.

Als Nächstes eilten Rettungssanitäter mit ihren Erste-Hilfe-Taschen zur Tür herein. Wäre es hier drinnen noch immer gefährlich gewesen, hätte man ihnen den Zutritt vermutlich nicht gestattet.

Es war also vorbei. Ich schloss mein unversehrtes Auge und lehnte mich mit dem Kopf an den Kühlschrank mit der Milch.

3. Kapitel

Ich verließ den Supermarkt aus eigener Kraft. Weitestgehend.

Einer der Sanitäter hielt mich stützend an den Ellbogen fest und führte mich vorsichtig zu einem der Krankenwagen. Als ich mich geweigert hatte, mich auf eine Trage zu legen, waren er und seine Kollegen ziemlich stinkig geworden. Chris war auf einer festgeschnallt und unter seinem zusammenhanglosen Wutgeschrei weggebracht worden. Isaac und der Kassierer bekamen Leichensäcke, während die Polizisten noch immer mit John redeten.

Ich schmiegte mich in eine Decke und wandte den vielen Schaulustigen, die sich hinter der Polizeiabsperrung versammelt hatten, den Rücken zu. Überall wimmelte es von Medienvertretern und anderen neugierigen Arschlöchern.

»Edie.« Mom weinte. Ihr Gesicht war gerötet, und sie wirkte erschöpft. Bei meinem Anblick riss sie entsetzt die Augen auf.

Mein Shirt war an der Brust mit rotem Zeug beschmiert, teilweise eingetrocknet, teilweise noch frisch. Ich wickelte die Decke fester um mich. »Das ist nicht alles von mir.«

Mom war trotzdem nicht beruhigt.

»Hier entlang«, sagte Bill, der Sanitäter, und bedeutete mir, mich auf die Trittstufe am Heck des Krankenwagens zu setzen.

Ich hatte kein bisschen Kraft mehr. Meine Arme schienen mir jeden Moment abfallen zu wollen, und mein Kopf hing nur noch schlaff herunter. Bill machte sich ans Werk und kümmerte sich behutsam, aber effektiv um mein Gesicht. Der Rest meines Körpers hatte eigentlich nur blaue Flecken davongetragen. Sein Partner stieg hinten in den Rettungswagen, um ihm Bandagen und alles Weitere herauszureichen.

So viele Polizeiautos. Einige der Uniformierten eilten zwischen dem Parkplatz und dem Drop Stop hin und her, während andere einfach nur herumstanden. Bill beantwortete barsch und sachlich Moms Fragen. Wiederholt erklärte er ihr, dass wir gleich ins Krankenhaus fahren würden, wo die Ärzte ihr ausführlichere Auskunft über meinen Zustand geben würden. Doch meine Mom fragte ihn trotz seiner stets gleichbleibenden Antworten unermüdlich weiter aus.

Für mich war das alles nur Hintergrundrauschen. Nichts davon schien real zu sein. Meine Freundin Georgia stand ganz in unserer Nähe. Ihre Eltern waren ebenfalls hergekommen. Sie sahen blass und erledigt aus. Bestimmt waren sie tierisch erleichtert, dass nicht Georgia blutverschmiert und mit kaputtem Gesicht hinten auf einem Krankenwagen saß.

Zwei Johns wurden zu einem Streifenwagen geführt, die Hände vorm Körper mit Handschellen gefesselt. Ich blinzelte mehrmals, konzentrierte mich. Langsam verschmolzen die beiden wieder zu einer Person.

Was zum Teufel war da los? Ich versuchte aufzustehen.

»Edie.« Bill hob die Hand, um mich zurückzuhalten. »Hey, Kleine. Wo willst du hin?«

»Ich muss mit ihnen reden.«

»Ganz bestimmt möchte sich im Krankenhaus auch einer der Beamten mit dir unterhalten.«

»Nein.« Ich erhob mich langsam. Oha, das fühlte sich aber ganz und gar nicht gut an. Nicht, dass es anders zu erwarten gewesen wäre, doch hätte Bill mich nicht gehalten, wäre ich höchstwahrscheinlich auf meinem armen lädierten Hintern gelandet. Schon wieder. »Ich muss jetzt sofort mit ihnen sprechen.«

»Du musst dich jetzt sofort von mir wieder zusammenflicken lassen.«

»Nein. Auf der Stelle.«

Bill seufzte. Dann half er mir.

»Stopp«, sagte ich, doch meine Stimme klang selbst in meinen eigenen, klingelnden Ohren erschreckend schwach. »Was tun Sie da? Warum haben Sie ihm Handschellen angelegt?«

Der Polizeibeamte sah mich nur fragend an, schob John auf den Rücksitz des Streifenwagens und schlug die Tür zu. »Bitte treten Sie zurück, Miss.«

»Er hat nichts getan.«

Ein Mann in einem verknautschten grauen Anzug trat auf mich zu. »Miss Millen?«, fragte er mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen. »Darf ich Edie zu Ihnen sagen?«

»Holen Sie ihn da raus«, forderte ich, während ich ein wenig wankte. Gar nicht gut. »Er hat mir geholfen. Er hat mir das Leben gerettet. Herrgott, sein Freund ist gerade gestorben!«

Nun wurde sein Lächeln herablassend. »Edie, so einfach ist das leider nicht.«

»Wie bitte?« Ich hätte am liebsten vor Enttäuschung laut losgebrüllt. Aber ehrlich gesagt war ich dazu nicht in der Lage. Ob er wohl damit einverstanden wäre, wenn wir die Unterhaltung kurz unterbrachen und später fortsetzten, sobald ich ein kleines Nickerchen eingelegt hatte? »Warum tun Sie das? Ich begreife nicht, was das soll.«

Der Polizist öffnete den Mund, zweifellos, um mir noch einmal das Gleiche zu erzählen, was er eben schon gesagt hatte. Doch in diesem Moment klopfte John von innen an die Seitenscheibe des Polizeiwagens. Er lächelte nicht, sah aber auch nicht bedrückt aus. Er blickte mich einfach nur an. Blut sprenkelte sein Gesicht und färbte den weißen Verband an seinem Oberarm. Sein hellbraunes schulterlanges Haar hing ihm ins Gesicht. Es war ebenfalls von getrocknetem Blut verklebt. Von den fünf Personen, die sich im Laden befunden hatten, waren nur noch er und ich übrig. Und Chris natürlich.

Der Motor des Wagens wurde angelassen.

John hörte auf zu klopfen. Stattdessen legte er eine verschrammte, blutbeschmierte Handfläche an die Fensterscheibe. Vielleicht war das seine Version eines Abschiedsgrußes, oder aber ein Ich-bin-so-froh-dass-es-dir-gut-geht-Handzeichen. Aufgrund der grau-metallischen Handschellen, die seine Handgelenke umschlossen, ließ ihn diese Geste jedoch nur einsam und verloren wirken. Sein blasses Gesicht zeigte keinerlei Regung. Nur sein Blick wirkte gehetzt und verstört. Das hier war absolut nicht okay. Während ich es gleichgültig hinnahm, dass Mom, Georgia und der nette Sanitäter um mich herumscharwenzelten, transportierten sie John in einem Streifenwagen ab.

Als das Auto langsam anfuhr, hielten wir noch immer Blickkontakt. Mehrere Polizeibeamte bahnten für den Wagen einen Weg durch die Menge. Kameras und Reporter umringten ihn wie ein wilder Mob. Als der Streifenwagen schließlich außer Sichtweite war, richteten sich ihre Linsen auf mich. Ich zweckentfremdete rasch meine Decke als eine Art Yedi-Cape und verbarg damit mein Gesicht.

»Komm mit, du toughes Mädel«, sagte Bill und zog mich entschlossen mit sich. »Sie bringen ihn bestimmt ins Krankenhaus, um ihn dort zu verarzten. Genau dorthin, wo du auch hinmusst.«

Der Mann im grauen Anzug sagte nichts mehr, wirkte aber nicht gerade zufrieden. Damit waren wir schon zwei.

4. Kapitel

Der Herr im grauen Anzug entpuppte sich als ein gewisser Detective Taylor. Er war es auch, der mich, gemeinsam mit seinem Kollegen Detective Garcia, am Sonntagnachmittag im Krankenhaus befragte – sobald die Ärzte und meine Mutter das Verhör gestattet hatten. Meine Geschichte blieb unverändert, ganz egal, wie sie ihre Fragen formulierten oder wie oft sie mich den Ablauf der Geschehnisse von Samstagnacht wiederholen ließen. Irgendwann waren sie schließlich zufriedengestellt. Das Gute war, dass Chris sich, weil sich die Geschehnisse vor den Augen mehrerer Zeugen zugetragen hatten, schuldig bekannt hatte und ich demzufolge nicht vor Gericht erscheinen und dort als Zeugin aussagen musste. Das war mir nur recht. Selbst wenn ich Chris bis zu meinem Lebensende nicht mehr wiedersehen würde, wäre das gefühlt noch zu kurz.

Detective Taylor bestätigte mir schließlich wenig erfreut, dass John nach dem Verhör wieder auf freien Fuß gesetzt worden war. Mich dagegen freute es sehr. Die Erinnerung daran, wie er allein und verletzt von der Polizei weggebracht worden war, ließ mich einfach nicht los. Wenigstens war nun wieder alles einigermaßen im Lot: Chris saß hinter Gittern, und John war frei. Damit fühlte ich mich schon besser. Immer noch nicht besonders toll, aber zumindest etwas besser. Der Arzt hatte mir Schmerzmittel verordnet und mich angewiesen, nur langsame, vorsichtige Bewegungen zu machen. Doch es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben, wenn ein groß gewachsener Mensch den Raum betrat und mein Hirn schrie, dass das Chris sein könnte. Am ganzen Leib zu zittern und sich lauter merkwürdiges Zeug einzubilden schien für mich zum neuen Normalzustand geworden zu sein.

Als Georgia schließlich zu Besuch kam, warf sie sich heulend auf mich. Das war kein schöner Anblick und mit meinen angeknacksten Rippen, den vielen Wunden und blauen Flecken obendrein nicht besonders angenehm. Trotzdem freute ich mich, dass sie gekommen war.

»Ich habe allen erklärt, dass wir nur durch bloßen Zufall oder schicksalhafte Fügung oder so was dort waren«, erzählte sie und wischte sich mit den Handflächen die Wangen ab.

»Du hast in deinem Einhorn-Nachthemd Interviews gegeben?«

Sie nickte. »Ich sah aus wie eine Bekloppte.«

Obwohl es wehtat, musste ich einfach lachen. Stechende Schmerzen waren ja so toll.

»Meine Güte, Edie, es tut mir so leid.«

»Wieso tut es dir leid? Das ist doch alles nicht deine Schuld.« Ich versuchte angestrengt, in dem Berg von Krankenhauskissen eine bequemere Position für mich zu finden.

»Aber –«

»Nicht. Das ist mein Ernst.«

Ein schweres Seufzen.

Äußerlich waren Georgia und ich grundverschieden. Sie hatte kurzes dunkles Haar und war sehr schlank. Perfekte Voraussetzungen für die Schauspielkarriere, von der sie schon seit ihrer Geburt träumte. Unser Sinn für schrägen Humor, unsere Begeisterung für Sephora-Kosmetikprodukte und unser Literaturgeschmack schweißten uns zusammen. Georgia und ich, wir würden für alle Zeiten Freundinnen bleiben.

»Da bekommst du endlich dein Fernsehdebüt, und ausgerechnet dann sehen deine Haare furchtbar aus und du trägst noch nicht mal Make-up«, neckte ich sie. »Was für eine Katastrophe.«

Sie schlug die Hände an die Wangen und keuchte theatralisch. »Unfassbar, nicht wahr?«

»Ganz schlechtes Timing.«

»Ja.« Sie wurde wieder ernst. »Was zum Teufel ist dort drinnen nur passiert? Ich hatte wirklich so große Angst wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Aber du, du hast da drinnen mit diesen ganzen Typen festgesessen.«

»Eigentlich war nur dieser Meth-Junkie Chris schlimm.«

»Bist du sicher? Den anderen haben sie auch in Handschellen abgeführt. Ich habe es gesehen.«

Ich schüttelte den Kopf, woraufhin die Welt vor meinen Augen verschwamm und ein stechender Schmerz durch meinen Schädel zuckte. Gehirnerschütterungen waren echt das Letzte. Immer schön vorsichtig, hatten die Ärzte gesagt. Ich musste vorsichtiger sein. Stöhn. »John kannte diesen Kerl zwar, doch er hat versucht zu helfen. Er hat sogar an alle Bier und Zigaretten verteilt.«

»Wie bitte?«, fragte sie ungläubig.

»Doch, es stimmt. Ich habe Bier getrunken, während eine Waffe auf mich gerichtet war.« Das Lächeln, das ich zu bewerkstelligen versuchte, schmerzte. Es missriet zu einer Grimasse, und die tat ebenfalls weh. »Er hat sich nur bemüht, das Arschloch zu beruhigen. Und es hat funktioniert … zumindest für gewisse Zeit.«

»Aber er kannte den Räuber?«

»Ja.« Jetzt fing langsam alles an wehzutun. Wahrscheinlich ließ die Wirkung der wundervollen Medikamente nach. »Anfangs hielt ich sie für dicke Freunde oder so. Aber dann hat John mir zugezwinkert, und mir wurde klar, dass er nur versuchte, uns alle lebendig aus diesem ganzen Schlamassel herauszuholen.« Sprechen allein tat schon weh. Ich schloss die Augen, denn nun machten sich auch meine Kopfschmerzen wieder bemerkbar. Es fühlte sich an, als würden winzig kleine Männchen mit winzig kleinen Spitzhacken in meinem Stirnhirn Bergbau betreiben. Weiß Gott, was sie dort zu finden hofften. »Johns Bruder war anscheinend mit Chris befreundet.«

»Ach du Scheiße. Aber es muss doch trotzdem einen Grund dafür gegeben haben, dass die Polizisten ihn in Handschellen abgeführt haben«, bohrte sie neugierig weiter. Georgia stellte immer zu viele Fragen, benutzte viel zu viele Wörter. »Glaubst du das nicht auch? Ich meine …«

Ich blendete ihre Stimme aus, hielt die Augen geschlossen, versuchte die Schmerzen zu besänftigen. Schon das Atmen an sich tat weh.

Mom kehrte wieder ins Zimmer zurück. Sie hatte Kaffee geholt oder was auch immer. Sie murmelte irgendetwas Unverständliches, woraufhin der Sessel, in den Georgia sich hatte plumpsen lassen, zurückgeschoben wurde. Dann hörte ich Schritte, und gleich darauf, wie jemand draußen im Korridor nach einer Krankenschwester fragte. Hoffentlich brachten sie mir gleich wieder etwas von den tollen Medikamenten vorbei.

»Noch mehr Blumen«, verkündete Mom am folgenden Tag mit einem fast schmerzhaft fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Es grenzte an ein Wunder, dass ihr das Gesicht nicht mehr wehtat als mir meins. Aber sie war offensichtlich fest entschlossen, Heiterkeit zu verbreiten.

»Hier riecht’s wie in einem Beerdigungsinstitut«, stellte ich schnuppernd fest.

»Sag so was nicht.« Bedächtig verrückte sie die Vasen auf der Fensterbank, damit noch weitere hinzugestellt werden konnten. »Hier. Die kommen von den Schülern deiner Schule.«

Ich hustete so etwas wie ein Lachen heraus. Jap, meine Rippen schmerzten noch immer höllisch. »Ja, von wegen.«

Anstatt etwas zu erwidern, nahm sie ihr Handy und machte es sich in dem bequemen Ecksessel gemütlich.

»Du brauchst nicht zu bleiben«, sagte ich. »Ich weiß, dass du anderes zu tun hast.«

Sofort runzelte sie kritisch die Stirn. »Schätzchen, ich lasse dich doch hier nicht allein.«

»Es wird nichts passieren.«

Keine Antwort.

Tja. Wenn meine Mutter beschlossen hatte, den Wachhund zu spielen, konnte ich nicht viel dagegen ausrichten. Und so ganz unberechtigt war ihre Sorge nicht. Die Medien stürzten sich regelrecht auf die Geschichte. Das ganze Hin und Her im Drop Stop hatte sich so lange hingezogen, dass die Presse noch während der Verhandlungen dort eingetroffen war. Georgia hatte erzählt, dass im Internet sogar Aufnahmen von Isaacs Erschießung kursierten. Diese Widerlinge. Ein übereifriger Reporter hatte bereits versucht, sich ins Krankenhaus einzuschleichen, um ein Exklusivinterview abzugreifen. Als ob ich irgendetwas zu sagen gehabt oder ein Fotomotiv abgegeben hätte. Mom war von dem Gedanken, dass ich mit der Presse redete, nicht gerade begeistert, überließ die endgültige Entscheidung jedoch mir. Aber von meiner Seite gab es in dieser Hinsicht auch nur ein fettes NEIN.

In meinen Träumen klackten meine Zähne immer wieder gegen die Mündung der Waffe, während ich in einer stinkenden Pfütze aus Urin und Blut stand. Den Raubüberfall für ein Interview noch einmal zu durchleben, die Geschichte zu erzählen – allein beim Gedanken daran wurde mir kotzübel. Und die Nähte, die meine rechte Augenbraue und einen Teil meiner Stirn zusammenhielten, hätten selbst Frankensteins Braut neidisch gemacht. Warum zur Hölle sollte ich also daran interessiert sein, mich – außer von der Polizei zur Beweissicherung – ablichten zu lassen?

»Ich nehme an, du bist noch immer wild entschlossen, heute Nachmittag nach Hause zu gehen?«, fragte Mom.

»Ja.«

»Schätzchen, deine Verletzungen sind nicht gerade unerheblich«, wandte sie seufzend ein.

»Bitte«, bettelte ich. »Du hast doch den Arzt gehört: Meine Gehirnerschütterung hat sich bereits gebessert, und gegen die gebrochenen Rippen kann man ohnehin nichts unternehmen. Und daheim könnte ich mich besser ausruhen – ganz bestimmt. Da hätte ich es so viel ruhiger, und ich könnte mich in mein eigenes Bett legen.«

Sie sah mich prüfend an und seufzte schließlich resigniert. »Versprichst du mir, dass du dich ausruhen und dich an die Anweisungen der Ärzte halten wirst?«

»Hundertprozentig.«

»Edie, ich meine es ernst.«

Ich setzte meine überzeugendste Unschuldsmiene auf und sah sie mit großen Augen und einem kleinen hoffnungsvollen Lächeln an. »Ehrenwort, ansonsten will ich tot umfallen.«

»Rede nicht ständig über den Tod.«

»Entschuldige.«

Mit einem letzten missbilligenden Blick lenkte sie schließlich ein.

Mit Sicherheit wollte Mom das Krankenhaus genauso schnell verlassen und zu einer gewissen Normalität zurückkehren wie ich. Sie und ich, wir waren ein Team. Ich sah sogar fast so aus wie sie, war ebenfalls groß und blond. Allerdings hatte ich dazu noch große Brüste, einen Bauch und einen Hintern. Ganz zu schweigen von meinen entzückenden Riesenoberschenkeln. Mom dagegen hielt schon fast ihr ganzes Leben lang Diät. Ihr Verhältnis zum Essen konnte man wohl am treffendsten mit dem Wort »Kampf« umschreiben. Ständig verkniff sie sich alles, aß nur Häppchen, obwohl sie eigentlich Lust auf ein ganzes Stück Kuchen hatte. Aber vielleicht war es in ihren Augen ja all die Mühen wert, wenn man dafür hinterher in eine kleine Konfektionsgröße passte. Keine Ahnung. Ich jedenfalls wollte niemals so leben. Und in diesem Moment war ich sowieso froh, überhaupt noch am Leben zu sein.

Wir kamen ohne Zwischenfälle zu Hause an. Ich hatte allerdings auch keinen so großen Bekanntheitsgrad erlangt, dass die Presse vorm Krankenhaus campiert hätte oder so. Die Couch im Wohnzimmer hatte sich jedenfalls noch nie so herrlich angefühlt. Ich ließ mich in die Polster sinken. Zu Hause war es doch am schönsten.

Und am sichersten.

»Dieser junge Mann, der von der Polizei abgeführt wurde«, setzte Mom an. »Woher wusstest du, dass er unschuldig ist?«

»Er hat versucht, mir das Leben zu retten.«