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Er der Millionenschwere Erbe, sie die mittellose Kellnerin. Doch das Leben ist kein Märchen à la Cinderella. Seit Samantha denken kann, ist Josh ihr Rettungsanker, wenn ihr Stiefvater mal wieder gewalttätig wird. Doch nach einem Vorfall auf einer Party, verschwindet Sam spurlos und wird für tot erklärt. Zehn Jahre später sitzt Josh bei einem wichtigen Geschäftsessen, als er in der Kellnerin, seine totgeglaubte Jugendliebe wiedererkennt. Erneut bricht sein ganzes Leben zusammen, erinnert ihn die Begegnung doch an seine geplatzten Träume und Hoffnungen. Handelt es sich bei der jungen Frau wirklich um Sam? Und was ist damals passiert?
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Trust me one last time
Eva Maria Höreth
Eva Maria Höreth
Pestalozzistr. 37
63128 Dietzenbach
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Coverdesign und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor -www.100covers4you.com Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: amixstudio, 123dartist, Bombdesign. Kapitelzierde: Adobe Stock: Bombdesign Lektorat: Nina C. Hasse. www.texteule.de Korrektorat: Monika Schulze
Eva Maria Höreth wurde als Sonntagskind am Erntedankfest in Offenbach geboren. Sie studierte Germanistik in Frankfurt mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur. Bereits in der Grundschule traf sie den Mann fürs Leben. Heute lebt sie in der Nähe von Frankfurt in einem drei Generationenhaus mit ihrem Mann und zwei Söhnen, so wie zwei Meerschweinchen.
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Die 16-jährige Samantha Cruz wird noch immer vermisst. Laut Polizei wurde das Mädchen zuletzt am Freitagabend gegen 22 Uhr in Bel Air in der Nähe der Bel Air Road gesehen.
Cruz ist ca. 1,70 m groß, schlank, wiegt etwa 55 kg, hat gewellte, schulterlange schwarze Haare, gebräunte Haut, braune Augen. Bekleidet ist sie mit einem roten Pulli und einer hellblauen Jeans mit Blumen bestickten Gesäßtaschen. Außerdem hat sie einen grünen Rucksack mit Regenbogen-Badge bei sich. Hinweise zum Aufenthaltsort der Vermissten nimmt das Bel Air Police Department sowie jede andere Polizeistation entgegen.
»Gib mir deinen Finger«, kommandiere ich mit fester Stimme. Josh zögert. Er ist so ein Angsthase. »Tut das weh?« Seine blauen Augen schauen besorgt auf die Nadel, die ich in der Hand halte.
»So haben das Winnetou und Old Shatterhand auch gemacht. Daraufhin waren sie für immer miteinander verbunden. Und egal, wo sie sich befanden, sie konnten immer spüren, ob es dem anderen gut ging. Vertrau mir.«
Er mustert mich gründlich und überlegt. »Na schön.«
Josh presst sich seinen Teddy an die Brust und hält mir seinen Zeigefinger hin. Außerdem kneift er die Augen zusammen und dreht seinen Kopf weg, um nicht hinschauen zu müssen, während ich mit der Nadel in seinen Finger pikse, bevor er es sich anders überlegt.
»Au.« Er zuckt und will seinen Finger zurückziehen, doch es ist zu spät. Ein Blutstropfen bildet sich an der Stelle, an der ich zugestochen habe. Hastig steche ich in meinen Finger und es erscheint ebenfalls ein roter Punkt. Gemeinsam legen wir die Kuppen aufeinander und vermischen unser Blut.
»Blutsgeschwister?«
»Blutsgeschwister«, bestätigt Josh und grinst von einem Ohr zum anderen, sichtlich froh, es überstanden zu haben.
»Schwörst du es?«, will ich wissen.
»Ich schwöre.«
»Sag es.« Josh hebt seine rechte Hand und setzt ein ernstes Gesicht auf.
»Ich schwöre hiermit feierlich, dass ich dich, Samantha Cruz, immer auffangen werde, wenn du fällst.«
»Und wenn ich springe?«, frage ich herausfordernd.
»Dann auch.«
»Für immer?«
»Für immer und ein Leben lang.«
Ich lächele ihn müde an, bevor ich mich an ihn schmiege. Josh ist mein Anker, mein Hafen. Meine Zufluchtsstätte. Ohne ihn wäre ich schon längst ertrunken.
Mein achtjähriges Ich hat an diese Worte geglaubt. Heute, mit sechsundzwanzig weiß ich es besser. Ich kann niemandem vertrauen. Niemandem, außer mir selbst. Das musste ich auf die harte Tour lernen.
Im Fall der noch immer als vermisst geltenden Schülerin Samantha Cruz geht die Polizei mittlerweile von einem Verbrechen aus. In der Wohnung wurde Blut gefunden, das laut Analyse offenbar Samantha gehört. Eine Familientragödie kann nicht ausgeschlossen werden. Der Stiefvater wurde verhaftet und sitzt in Untersuchungshaft. Wie sich herausstellte, ist der 45-jährige Puerto-Ricaner schon des Öfteren wegen häuslicher Gewalt aufgefallen. Nachbarn berichteten von Lärm und lauten Schreien. Seine Frau wurde in der Nacht, in der die Tochter verschwand, ins Krankenhaus eingeliefert, nach dem ein Streit zwischen den Eheleuten eskaliert war. Die Polizei ermittelt weiter.
»Joshua, Joshua, hörst du mir überhaupt zu? Das Essen mit den Großaktionären ist von enormer Wichtigkeit für unsere Firma.« Die aufgeregte Stimme meines Vaters dröhnt durch mein Büro, das bis vor drei Jahren noch seines war. Obwohl er mittlerweile im Ruhestand ist und ich die Firma leite, verbringt er mehr Zeit hier als auf dem Golfplatz.
»Natürlich, Dad, das weiß ich. Und ich habe alles im Griff.« Eine Lüge, schon wieder. Rein gar nichts habe ich im Griff, aber das darf mein Vater nicht erfahren. Er darf nicht erfahren, dass der Bank – seinem Lebenswerk – Geld fehlt. Und dass ich bislang nicht in der Lage war, dieses Loch zu finden und zu stopfen.
Er mustert mich mit diesem Blick, begutachtend und gleichzeitig wertend, dem ich seit sechsundzwanzig Jahren ausgesetzt bin. Das heißt aber nicht, dass ich damit klarkomme, unter ständiger Beobachtung zu stehen, und mit dem Druck, immer alles richtig machen zu müssen. Als einziger Erbe einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien Kaliforniens durfte ich mir nie irgendwelche Fehler erlauben. Doch dafür ist es nun zu spät.
»Wo hast du den Tisch bestellt?« Mein Vater spielt mit seiner Taschenuhr, die an seiner Hose befestigt ist. Er lässt die Glieder der Kette durch seine Finger gleiten. Das tut er immer, wenn er nervös ist und es sich nicht anmerken lassen will. Eine goldene Taschenuhr, altmodischer geht es nicht. Er wehrt sich komplett gegen Smartphones und besitzt nicht mal eines.
»Savoir Vivre.«
»Sehr gut, das hätte ich auch getan. Man hört nur Gutes über den Laden. Ich war noch nicht da, aber es soll zurzeit das beste Restaurant in Los Angeles sein. Die Aktionäre sollen nicht denken, dass wir knauserig sind.«
»Ich weiß, Dad. Auch wenn du denkst, ich höre dir nicht zu, ich bin durchaus in der Lage dieses Unternehmen zu führen. Das habe ich dir jetzt mehr als einmal bewiesen, oder?«
»Ich habe die Firma aufgebaut und mehr als dreißig Jahre geleitet. Glaubst du wirklich, dass du Jungspund schon alles weißt und alle Tricks draufhast?«
Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke seine Spitze samt meiner Antwort hinunter. Keine Ahnung, was passieren muss, damit er mir endlich vertraut und mir die Bankgeschäfte überlässt. »Erst durch deine Hochzeit und die Fusion mit der Familie Bush sind wir aus dem Gröbsten raus.« Er lässt diesen Blick auf mir ruhen, tadelnd und doch genau wissend, dass ich seine letzte Chance bin, die Firma zu retten.
»Ich weiß, wie wichtig die Hochzeit ist. Du musst mich nicht ständig daran erinnern.« Das tut Cecilia schon permanent.
»Habt ihr endlich einen Termin festgelegt?«
»Wir konnten uns noch nicht einigen«, bemerke ich kurz, doch eigentlich versuche ich, die Vereinigung unserer beiden Familien so lange wie möglich hinauszuzögern. Ich habe nichts gegen Cecilia. Sie ist hübsch, klug, selbstbewusst und vor allem eines: reich. Wobei das Geld eigentlich ihrem Vater gehört. Aber was sie will, bekommt sie auch. Das war schon immer so. Ich kenne sie bereits aus meiner Schulzeit, aber sie hat mich nie interessiert. Vielleicht haben wir auf irgendeiner Party mal rumgeknutscht. Das war es dann aber auch schon. Und das ist schon ewig her. Jetzt soll ich mein ganzes Leben mit ihr verbringen, nur weil ihr Vater sein Geld in unsere Bank stecken soll. Ich habe jede erdenkliche andere Möglichkeit durchgespielt, diese Hochzeit zu umgehen und die Bank trotzdem zu retten. Aber es gibt sie nicht. Und dennoch sträubt sich alles in mir, Cecilia zu meiner Frau zu machen. Irgendwie glaube ich daran, vielleicht eines Tages noch die Liebe meines Lebens zu finden.
»Je eher ihr heiratet, desto eher können wir diesen Geier Flink auszahlen. Er wartet nur darauf, dass wir pleitegehen und unsere Anteile verkaufen müssen. Aber das wird nicht passieren, nicht solange ich lebe! Mit dem Geld der Bushs können wir die Bank wieder fest in unseren Händen halten – ohne dass die Raubvögel über uns kreisen.« Seine Stimme ist hart und sein Körper angespannt. Seit ein paar Wochen braucht er beim Gehen einen Stock, weil seine Arthritis schlimmer geworden ist.
»Es geht um mein Leben.«
»Die Firma sollte dein Leben sein.«
Es fällt mir schwer, diese Aussage unkommentiert stehen zu lassen, aber egal, was ich darauf antworte, es wird meinen Vater nicht zufrieden stellen. Keine Ahnung, warum ich überhaupt damit angefangen habe. Es wird nur wieder in einen Vortrag seinerseits münden. Und schon geht`s los ...
»Dass die Bank vor allem anderen kommt, war bei meinem Vater schon so und bei mir und nun wird es auch bei dir so sein. Du weißt, dass ich deine Mutter auch nicht aus Liebe geheiratet habe und schau nur, wie weit es uns gebracht hat. Du bist die Frucht dieser Vereinigung. Du bist mein Erbe und ich hinterlasse dir mein wichtigstes Vermächtnis. Die Morgan Bank ist seit hundert Jahren in Familienbesitz und das soll auch so bleiben.«
Er geht hinüber zum Fenster und lässt seinen Blick über den Finanzdistrikt schweifen. Vom 73. Stock aus hat er einen weitreichenden Blick über Los Angeles. Die Stadt, in der sich Träume erfüllen. Die Stadt der Engel, der Reichen und Schönen. Über diese Stadt wird so viel philosophiert. Dabei ist sie nichts weiter als eine überfüllte amerikanische Großstadt wie alle anderen auch. Jede Menge Smog und Kriminalität. Ich kenne niemanden, dessen Träume sich hier erfüllt haben.
»Dass sie jetzt wirklich aus allem eine Touristenattraktion machen müssen.«
Er meint die Glasrutsche am U.S. Bank Tower. Die Leute können eine verglaste Röhre hinunterrutschen, die in siebzig Metern Höhe außen am Gebäude zwischen zwei Stockwerken angebracht wurde. Alles für ein paar Sekunden Nervenkitzel.
»Dass ich damals in der Finanzkrise Anteile an der Firma verkaufen musste, war der größte Fehler meiner Karriere.«
»Du hattest keine andere Wahl, sonst hätten wir die Bank verloren.«
Sein Kiefer mahlt angespannt hin und her. Ich kann sehen, wie sehr es ihn quält. »Sieh zu, dass du das Essen mit den Aktionären nicht vermasselst. Du musst sie bei der Stange halten. Schmier ihnen Honig ums Maul, erzähle ihnen das Blaue vom Himmel, ganz egal. Hauptsache, sie verzichten auf die Ausschüttung ihrer Dividenden bis zu eurer Vermählung. Sobald die Hochzeit stattfindet, schießen die Aktien durch die Decke. Und sie bekommen ihre fette Abfindung.«
Mein Vater ist durch und durch Geschäftsmann. Die Bank kommt immer als Erstes, das war schon immer so und wird sich nie ändern.
»Maria, wo warst du?«, begrüßt Zoe mich panisch, während ich durch den Hintereingang das Restaurant betrete und mir bereits eilig meine Schürze umbinde.
»Entschuldige ich weiß, ich bin zu spät«.
»Das ist ja ganz was Neues«, scherzt meine Kollegin. Ich kann gar nicht zählen, wie oft sie mich bereits gedeckt hat. Ohne sie wäre ich schon längst gefeuert worden.
»Kommt nicht wieder vor.«
»Das sagst du jedes Mal. Was war es diesmal? Der Babysitter oder der Bus?« Sie wirft mir den Spüllappen zu, den ich auffange.
»Der Babysitter tauchte nicht auf und ich habe daraufhin den Bus verpasst. Deshalb bin ich zu spät zu meiner ersten Stelle gekommen und den ganzen Tag nur der Zeit hinterhergelaufen.« Meine Kollegin Zoe ist die Beste, aber auch ihre Geduld hat irgendwann ein Ende. Ich bin diese Woche bereits das dritte Mal zu spät.
»Ich schulde dir was.«
»Ich weiß. Zur Strafe musst du aber trotzdem abspülen.«
Ich tue alles, um den Job zu behalten. Da ist Spülen das kleinste Übel.
Sie holt eine leere Getränkekiste unter der Theke hervor, um zu zählen, was gestern Abend verbraucht wurde.
»Hat der Chef was gemerkt?« Ich fange an, Gläser zu waschen, die auf dem Tresen herumstehen. Wasser und Spüli befindet sich bereits in der Spüle.
»Nein, ich habe gesagt, du bist im Keller, den Champagner für heute Abend kaltstellen.«
»Ich danke dir.« Ich werfe ihr eine ehrlich gemeinte Kusshand zu. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren. Alles in allem verdiene ich mit dem Trinkgeld hier so viel wie bei meinen beiden anderen Jobs zusammen.
»Du solltest die anderen Jobs kündigen.«
»Das geht nicht. Die Stunden abends hier im Restaurant reichen nicht, um die Miete, den Kindergarten und die Kleidung für Mayla zu bezahlen. Sie wächst einfach so schnell aus allem raus.«
»Das kann ich verstehen. Mir wäre es auch recht, wenn wir schon früher öffnen würden. Aber das habe ich nicht zu entscheiden. Der Big Boss meint, es würde sich nicht lohnen.«
»Was ist heute Abend? Wofür der Champagner?«
»Hast du das wirklich vergessen?«
Zwischen dem Job hier und zwei Stellen als Putzfrau, bei denen ich vormittags bin, sowie meiner Tochter und dem Haushalt, falle ich abends einfach nur ins Bett. »Ich komme im Moment kaum hinterher mit meinen Terminen, da kann ich mir die des Restaurants nicht auch noch merken.«
»Und genau aus dem Grund, bin ich bereits Managerin und du noch Servicekraft.«
Zoe hat auch kein Kind zu versorgen oder einen gewalttätigen Ex, der immer dann auftaucht, wenn man es nicht gebrauchen kann. Sie hat nur sich und jedes Wochenende einen anderen Typen. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal Sex hatte. Nach der Arbeit bringe ich Mayla ins Bett und meistens schlafe ich mit ihr ein und wache dann mitten in der Nacht auf, um mich in mein Bett zu schleppen. So erschöpft bin ich.
»Irgend so ein Bankenfuzzi trifft sich heute mit seinen Geschäftspartnern. Ultrawichtig.« Beim letzten Wort hebt sie theatralisch die Hand in die Luft. Der Big Boss persönlich hat angerufen und den besten Champagner geordert. ›Der Tisch hat Vorrang vor allen anderen.‹Das waren seine Worte, als er mit Jimmy telefoniert hat.
»Muss ja oberwichtig sein dieser Typ, wenn der Chef extra für ihn anruft. Wie immer werde ich mein bezauberndstes Lächeln aufsetzen und sie so flink bedienen, als wäre ich ein Wiesel.«, erkläre ich pflichtbewusst, mit den Händen im Spülwasser.
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet.«
Wir lachen beide.
»Wie lange müssen wir eigentlich noch alles mit der Hand spülen?« »Der Techniker für die Spülmaschine ist bereits da. Ich hoffe, dass er sie noch heute wieder zum Laufen kriegt.«
Joyce, die erst seit kurzem hier arbeitet, tritt zu uns an den Tresen. In ihrem Gesicht liegt Besorgnis, wenn nicht sogar Verzweiflung.
»Was gibts Joyce? Hast du alle Kerzen ausgewechselt?«, will Zoe wissen.
»Noch nicht ganz. Aber ... Jimmy will, dass ich ihm im Keller mit dem Champagner helfe.«
»Sag ihm, dass ich das bereits erledigt habe«, entgegne ich. Irgendwie ist es ja nur halb gelogen. Ich werde mich gleich als Nächstes darum kümmern.
»Dann wird er sich etwas anderes ausdenken.«
Ich trockne meine Hände am Handtuch ab und atme einmal tief durch. Wir wissen von Jimmys Vorliebe, junge Kellnerinnen im Keller zu befummeln. Dabei lässt er sich auch von einem Nein nicht abhalten. Er nutzt aus, dass sie die Jobs brauchen. Auch wenn es Restaurants wie Sand am Meer gibt, arbeitslose Schauspielerinnen gibt es weitaus mehr. Wir haben es schon mehrmals dem Inhaber, Shawn Sanders – dem Big Boss, wie wir ihn nennen –, gemeldet, jedoch ist nichts passiert. Er hat keine Zeit, sich mit so etwas zu beschäftigen oder unsere Mail kam nicht bis zu ihm durch. Oder es ist ihm einfach egal. Er ist Geschäftsmann und das Savoir Vivre nur eines von vielen Unternehmen, die er besitzt. Und da es vermutlich nicht das lukrativste in seinem Portfolio ist, kümmert er sich auch nicht wirklich darum. Wir kriegen ihn nur einmal die Woche zu Gesicht, wenn er zum Essen herkommt. Dabei ist die oberste Regel, dass er nicht über Geschäftliches sprechen möchte. Sonst hätten wir ihn schon längst darauf angesprochen.
»Ich glaube, diese Kiste Wasser muss im Keller getauscht werden. Oder was meinst du, Chefin?« Ich zeige auf die leere Kiste, die Zoe unter der Theke herausgeholt hatte.
»Sicher?« Joyce sieht mich erwartungsvoll an.
»Oh ja, ich bin sowieso gerade in Stimmung und ich finde, dass es endgültig reicht. Wenn Sanders nichts gegen Jimmy unternimmt, dann machen wir es eben selbst.«
»Danke.« Joyce geht und schließt sich Jimmy auf dem Weg in den Keller an.
Jimmy leitet das Restaurant. Wie er dazu gekommen ist, ist uns allen schleierhaft. Er ist ziemlich faul. Eigentlich schmeißt Zoe den Laden. Jimmy brüstet sich nur immer wieder mit seinem Job, aber arbeiten tut er selten. Wir wissen alle, dass er Joyce nur aufgrund ihres Aussehens eingestellt hat. Sie ist jung, naiv und hat lange blonde Haare. Eigentlich will sie Schauspielerin werden, wie wohl etwa die Hälfte der Servicekräfte in Los Angeles. Dass sie noch nie gekellnert oder in einem Restaurant gearbeitet hat, merkt man leider auch, denn sie ist ziemlich tollpatschig. Zoe hat ihr eine Chance gegeben, aber letzte Woche hat sie einer Kundin beim Servieren ein Glas Wein auf den Schoß gekippt. Deshalb darf sie jetzt nicht mehr bedienen, sondern nur noch Hilfsarbeiten übernehmen.
»Aber brich ihm nichts, okay?«, bittet mich Zoe mit verkniffenem Gesicht.
»Das kann ich nicht garantieren.« Ich werfe das Handtuch auf die Spüle, nehme den leeren Kasten Wasser und gehe in Richtung Lieferanteneingang. Kurz vorher führt eine Treppe hinunter. Das Licht im Keller brennt bereits.
Als ich unten ankomme, muss ich mich ein kurzes Stück durch den vollgestellten Flur zwängen. Hier stehen ein paar leere Flaschenkartons, Ersatzstühle und Deko für Geburtstags- oder Hochzeitsfeiern zu beiden Seiten des Ganges herum. Gleich die erste Tür rechts ist das Lager für die Getränke, in dem sich Getränkekisten stapeln und Kühlschränke edle Tropfen auf Temperatur halten.
Ich biege um die Ecke und treffe auf Jimmy und Joyce vor den Kühlschränken.
»Alles in Ordnung hier unten?«, will ich wissen und richte meine Frage vor allem an Joyce.
»Ja, es scheint genügend Champagner parat zu stehen. Ich wollte nur sichergehen. Es handelt sich um Freunde von Mr. Sanders. Da dürfen keine Fehler passieren«, erklärt Jimmy zufrieden und mir ist klar, dass das nur eine Ausrede war. Doch anscheinend habe ich ihn gestört.
Joyce nickt mir zu, dass alles in Ordnung ist, weshalb ich mich wieder dem Kasten Wasser widme und ihn auf den leeren Stapel stelle. Gerade als ich mich nach vorne bücke, um einen vollen Kasten zu stemmen, gibt Jimmy mir im Vorbeigehen einen Klaps auf den Po. Ich reagiere schnell, schnappe mir sein Handgelenk und drehe ihn zu mir. Ramme mein Knie in seine Eier, woraufhin er zusammenklappt wie ein Schweizer Taschenmesser. Ein Stöhnen entfährt ihm, aber ich bin noch nicht fertig mit dem Dreckskerl. Mit Schwung wirbele ich ihn herum und presse ihm den Arm auf den Rücken. Ich halte ihn fest und stoße ihn vorwärts, bis er gegen die Tür des Kühlschranks kracht. Die Flaschen darin wackeln gefährlich, aber das ist mir egal. Wenn ich seinen Arm ein bisschen weiter hochdrücke, kugele ich ihm schmerzhaft das Schultergelenk aus. Doch stattdessen drücke ich seinen Kopf mit meinem Ellenbogen an die durchsichtige Wand des Kühlschranks, so dass er einen hervorragenden Blick auf den Champagner erhält. Er beginnt zu zappeln und sich zu beschweren, aber ich habe ihn fest im Griff.
»Was soll das?«, nuschelt er mit schiefem Mund. Es ist schwer, zu sprechen, wenn das Gesicht gegen eine Glasscheibe gepresst wird.
»Du wolltest doch nach dem Champagner sehen. Jetzt hast du einen guten Blick darauf. Außerdem entschuldigst du dich auf der Stelle bei mir oder ich breche dir den Arm.«
Um meine Drohung zu verstärken, biege ich seinen Arm nur ein kleines Stück nach oben. Sofort schreit er los, dass man ihn vermutlich noch die nächsten drei Blocks weit hört.
Jimmy jault auf und ruft: »Ich entschuldige mich ja, aber lass mich los.« Zum Glück ist Jimmy weder der größte noch der sportlichste Typ und so hat er keine Chance, sich zu befreien.
»Klang das für dich nach einer Entschuldigung, Joyce?«
»Ich bin mir nicht sicher, was ich verstanden habe.«
»Es – tut – mir – leid«, erklärt Jimmy laut und deutlich.
»Was tut dir leid?«
Er stöhnt auf, als habe er keine Lust mehr auf unser kleines Spiel. »Dass ich dir auf den Arsch gehauen habe und jetzt lass mich endlich los.« Er zappelt wie ein Fisch an der Angel. Ich tue ihm den Gefallen noch nicht.
»Erst, wenn du schwörst, nie wieder Frauen zu belästigen. Sollte ich dich nochmal erwischen, breche ich dir nicht nur den Arm. Hast du das verstanden?« Zur Warnung verstärke ich meinen Griff und drücke ihn fester gegen den Kühlschrank, so dass seine Wange zur Frostbeule wird, wenn er noch länger mit der Antwort wartet.
»Ja, ja.«
Vorsichtig lasse ich ihn los und trete ein paar Schritte zurück. Jimmy rafft seinen schlechtsitzenden grauen Anzug zurecht und wirft mir und Joyce einen bösen Blick zu. Kurz überlegt er, etwas zu sagen, lässt es dann aber doch und verkriecht sich. So wie er es meistens tut, bevor der Trubel losgeht und die Arbeit beginnt. Aber diesmal wenigstens mit eingezogenem Schwanz. Joyce und ich kehren nach oben zurück.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, will Zoe wissen, die noch immer hinter der Theke steht und im Reservierungsbuch blättert.
»Er hat geschrien wie ein Baby und ist sofort abgehauen. Keines Blickes hat er mich gewürdigt.«
»Habe ihm eine kleine Lektion erteilt. Er hat feststellen müssen, dass Frauen sich wehren können.«
»Wo hast du das gelernt?«, will Joyce wissen. Sie mustert mich mit weit aufgerissenen Augen. Ich glaube, für sie bin ich so etwas, wie eine Heldin.
»Sagen wir, ich war eine Zeitlang auf mich allein gestellt, da habe ich gelernt, auf mich aufzupassen und mich zu verteidigen.«
Wenn man auf der Straße lebt und wie das letzte Stück Dreck behandelt wird, ist jeder dein Feind – vor allem als Frau. Da ist es besser, du weißt, wie du dich schützen und wehren kannst, schießt es mir durch den Kopf. Aber ich muss nicht jedem meine Lebensgeschichte auf die Nase binden.
Der Laden füllt sich langsam. Seit das Savoir Vivre letztes Jahr mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, sind wir jeden Abend ausgebucht. Für uns, das Servicepersonal, bedeutete es zwar eine kleine Extrafinanzspritze, aber auch mehr zu tun. Die Kundschaft ist reich und hat hohe Ansprüche – ans Essen, an ihre Privatsphäre, an den Service. Beim geringsten Fehltritt besuchen sie den Laden nicht mehr, sondern gehen in eins der anderen Nobelrestaurants der Stadt. So schnell wie der Aufstieg eines Lokals ist meistens auch sein Fall.
Zoe begrüßt die Gäste an der Tür und führt sie zu ihrem Platz. Zwischendurch steht sie hinter der Theke, springt hier und dort ein. Sie sollte wirklich Jimmys Job bekommen.
Auch ich habe gut zu tun, da ich noch allein bin. Der zweite Kellner sollte schon längst da sein. Ich versuche, allen Kunden gerecht zu werden und Wege zu sparen, schließlich ist der Abend noch lang. Die meisten Gäste sehe ich gar nicht hereinkommen, sondern begrüße sie erst, wenn ich ihnen die Karte gebe. Zum Glück treffen nicht alle gleichzeitig ein, sonst würde ich es nicht schaffen.
Als ich an der Theke eine Getränkebestellung abhole, legt Zoe wütend das Handy beiseite. »Na toll, Robert hat sich eben krankgemeldet.« Sie setzt imaginäre Anführungszeichen beim Wort krank in die Luft. »Bestimmt hat er wieder irgendein Casting, auf das er sich vorbereiten will. Ich hasse diese Möchtegern-Schauspieler. Sobald irgendwer irgendwo das Wort Casting in den Mund nimmt, lassen sie einen hängen. Aber wehe es klappt nicht, dann kommen sie wieder angekrochen und betteln um ihren Job.«
»Wir schaffen das schon. Ich übernehme die eine Hälfte der Tische und ... Joyce die andere Hälfte.«
Joyce, die aus der Küche neben mich getreten ist, setzt ihren Bambiblick auf und wir beide lächeln Zoe an. Ich kenne sie, sie ist nach außen hin ein strenger Chef, aber sie hat ein weiches Herz.
»Na schön, aber keine Getränke, die übernimmst du, Maria. Genauso wie die Bestellungen. Es ist keine Zeit, ihr das Bestellungssystem und den PC zu erklären. Joyce übernimmt die Speisen und das Abräumen.«
»Danke, danke, danke.« Joyce klatscht aufgeregt in die Hände und springt wie ein Flummi in die Höhe.
»Contenance, bitte. Dankt mir, wenn wir diesen Abend unbeschadet überstanden haben.«
Wir nicken weniger energisch und dem schicken Ambiente des Restaurants angemessener.
»Und nun an die Arbeit.«
Ich setze mich gerade mit den Getränken wieder in Bewegung, da hält Zoe mich zurück. »An Tisch zehn sitzt verdammt wichtige Kundschaft, vergiss das nicht. Der Tisch gehört dir. Du kannst ihnen die Speisekarten bringen und die Bestellung aufnehmen. Der Typ, der mit dem Rücken zu uns sitzt, ist übrigens mega scharf und mega reich, seinem Anzug nach zu urteilen.«
»Willst du mich verkuppeln?«
»Nein, aber wenn du deinen Charme spielen lässt, springt bestimmt ein fettes Trinkgeld für dich heraus und ich weiß, dass du das gebrauchen kannst, weil Maylas Geburtstag ansteht, oder?«
»Du bist die beste Chefin der Welt.«
»Erzähl das ruhig dem Big Boss, vielleicht bekomme ich dann irgendwann Jimmys Stelle.«
Ich zwinkere ihr zu, während ich nun endlich die Getränke ausliefere, bevor die Eiswürfel darin zu schmelzen beginnen. Manchmal überrascht mich Zoe. Ich hätte nicht gedacht, dass sie weiß, wann Mayla Geburtstag hat. Mein kleines Mädchen wird schon vier. Wahnsinn, wie die Zeit verfliegt ...
Mit den Speisekarten im Arm mache ich mich auf den Weg zu Tisch zehn. Unterwegs prüfe ich meine Kleidung und streiche meine Schürze glatt. Außerdem öffne ich den obersten Knopf meiner Bluse, denn wenn der Typ wirklich so nach Geld riecht, wie Zoe gesagt hat, werde ich die zuvorkommendste Servicekraft in L.A. sein, um mir ein fettes Trinkgeld zu angeln. Wäre doch gelacht, wenn heute Abend nicht ein paar Scheinchen in meiner Tasche landen würden. Entschlossenen Schrittes nähere ich mich dem blonden Mann, der mit dem Rücken zu mir sitzt. Seine Geschäftskollegen sind allesamt ältere Semester. Der Blondschopf spricht zu ihnen – und ich erstarre. Ich kenne diese Stimme.
Aber das ist unmöglich, das kann nicht sein.
»Es freut mich, Sie alle heute Abend hier im Namen der Morgan Bank begrüßen zu dürfen.«
Auf meinen Armen breitet sich eine Gänsehaut aus, die bis in meinen Nacken kriecht. Meine Schritte verlangsamen sich, im Gegensatz zu meinem Herzen, das zu rasen beginnt. Nur widerwillig lässt es sich wieder einfangen. Für einen Moment muss ich stehen bleiben. Denn eine schwere Last legt sich auf meine Brust und droht mich zu erdrücken.
Atme, Maria, atme. Alles ist gut. Er kann es nicht sein und wenn doch, dann wird er dich nicht erkennen. Es ist zu lange her.
Ich reiße mich zusammen, um meinen Job zu machen. Selbstbewusst trete ich an den Tisch, der mitten im Restaurant steht und an dem neun Männer sitzen.
»Guten Abend, meine Herren, mein Name ist Maria. Ich bin heute Ihre Servicekraft und werde versuchen, Ihnen jeden kulinarischen Wunsch von den Lippen abzulesen.« Ich lächele überschwänglich.
Galant verteile ich die Speisekarten und berichte gleichzeitig von unserem Tagesgericht. Dabei unterlasse ich es, den Gastgeber am Kopf des Tisches anzusehen.
»Darf es zunächst ein Aperitif sein?«
Jetzt wird es unumgänglich sein, dass ich ihn ansehe. Ich schaue erst alle in der Runde an, dann den Tischherren. Er hat das letzte Wort. Als ich meine Augen aufschlage und zu ihm sehe, gerät meine Welt für einen kurzen Augenblick ins Wanken. Mein Herz setzt aus und meine Kehle wird trocken. Dieses Gesicht, ich kenne es. Ich kenne ihn. Seine Augen sind blau wie zwei Ozeane, genauso tief und unergründlich. Ich könnte sie nie vergessen. Schon damals waren es die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Sie nehmen mich erneut gefangen und ich muss mich zusammennehmen, um mich von ihnen loszureißen. Die Stimme, die Augen, einfach alles. Es gibt keinen Zweifel, dass er es ist, und auch er scheint für einen Moment verunsichert zu sein. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich ihn erkannt habe.
Mach einfach deinen Job, ermahne ich mich.
»Wir nehmen jeweils einen Bobby Burns, bitte.« Er lächelt mir zu und ich erwidere es professionell. Dauert der Blickkontakt zu lange? Ich weiß es nicht. Räuspernd befeuchte ich meine Kehle, um meine Stimme wiederzufinden.
»Ein Aperitif also, sehr gute Wahl«, sage ich und eile davon. Mein Herz pocht noch immer wie wild.
An der Bar gebe ich die Bestellung auf und brauche einen Moment, um mich zu sammeln. Entkräftet lasse ich mich auf einen Barhocker sinken. Ich muss mich an der Theke festhalten, um nicht umzukippen und um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, während meine Vergangenheit auf mich einstürzt. Aber ich habe keine Zeit, lange in Erinnerungen festzuhängen, die Arbeit ruft.
»Hier, deine Bestellung«, sagt Zoe und schiebt mehrere Gläser über den Tresen.
Ich erhebe mich, sammle sie auf einem Tablett und balanciere es auf einer Hand. Normalerweise ist das kein Problem für mich, ich bin routiniert genug, um neun Gläser zu tragen. Doch diesmal beginnen sie zu zittern. Immer heftiger, je näher ich dem Tisch komme.
Reiß dich zusammen, er hat dich nicht erkannt. Das ist unmöglich.
Meine Haare sind jetzt kurz und blond und es ist fast zehn Jahre her. Ich vermeide es, ihn anzusehen, als ich an den Tisch trete, und verteile die Getränke an die Männer. Den Gastgeber hebe ich mir bis zuletzt auf. Als ich sein Glas abstellen will, nimmt er es mir aus der Hand und unsere Finger berühren sich eine Sekunde lang. Die Welt hört auf sich zu drehen. Er sieht mir in die Augen, will etwas sagen, doch ... Und im selben Moment lässt er das Glas los, das klirrend zu Boden fällt.
Scheiße. Hat er mich erkannt?
Mein Puls rast.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich hole sofort ein neues Glas.«
Ich hoffe, mir nichts anmerken zu lassen und eile davon, um Ersatz für den verschütteten Drink zu besorgen. Während Zoe ihn mir einschenkt, schnappe ich mir Besen, Tücher und Kehrblech, um die Scherben aufzukehren. Ich knie mich neben dem Mann nieder, der mein Herz erneut zum Rasen bringt. Schnell breite ich die Tücher über der Lache aus und beginne, die Scherben zusammen zu kehren. Jetzt bereue ich es, einen Knopf an meiner Bluse geöffnet zu haben. Bestimmt hat er einen fantastischen Blick auf meine Brüste.
Zu meiner Verwunderung bückt er sich ebenfalls und hilft mir.
»Das müssen Sie nicht tun«, erkläre ich, es ist mir unangenehm, wenn ein Gast meine Arbeit macht.
»Oh doch, es war meine Schuld. Ich habe das Glas fallen gelassen.«
Wir sehen uns erneut an und für eine Sekunde bin ich wieder fünfzehn und würde am liebsten etwas sagen. Aber das darf ich nicht. Das kann ich nicht. Meine ganze Welt würde zusammenbrechen. Stattdessen fege ich die Scherben zusammen, während er den Drink aufwischt.
»Wie war noch gleich Ihr Name, Miss?« Bei der Frage sieht er mich direkt an und ich habe das Gefühl, als könnte er tief in mich hineinsehen und dort vielleicht mein altes Ich entdecken. Das Ich, das er gekannt hat.
»Maria, ich heiße Maria.«
Er nickt. Ein Schatten huscht über sein Gesicht, beinahe so, als ob er einen anderen Namen erwartet hätte. Als er mir den Lappen reicht, spüre ich einen stechenden Schmerz an meinem Finger. Eine Scherbe muss sich darin verfangen haben. »Au.« Ich zucke zurück und auf meiner Fingerspitze bildet sich ein kleiner Blutstropfen. Wir starren ihn beide an und denken vermutlich an das Gleiche: dass wir uns mal Blutsbrüderschaft geschworen haben.
»Sie bluten.« Er greift nach meiner Hand, um die Wunde zu begutachten, doch ich springe hastig auf.
»Ist nicht so schlimm.«
Fiebrig beeile ich mich, die restliche Sauerei zu entfernen, um keine weitere Zeit mit ihm zu verbringen. Dann bringe ich alles weg und verschwinde in der Küche, um mir ein Pflaster aus dem Erste-Hilfe-Kasten zu holen. »Was ist passiert?«, fragt Joyce und verarztet mich, in dem sie mir ein Pflaster aufklebt.
»Habe mich nur an einem zu Bruch gegangenen Glas geschnitten. Ist nicht weiter schlimm.«
Mit einem neuen Aperitif tauche ich wieder am Tisch auf und frage gleich nach den Essenswünschen der Gäste, die ich direkt elektronisch an die Küche übermittele. Als alle gewählt haben, sammele ich die grauen Karten, auf denen in goldenen Lettern der Name Savoir Vivre prangt, wieder ein. Er reicht sie mir, verhält sich dabei aber wieder ganz normal. Kein zu langer Blickkontakt, keine Berührungen. Schnellstmöglich verlasse ich den Tisch.
Ich glaube nicht, dass er mich erkannt hat. Das ist unmöglich. Das ist unmöglich, bete ich mir vor.
»Was ist denn los? Alles in Ordnung? Du siehst blass aus. Hast du einen Geist gesehen?«, will Zoe wissen, als ich endlich wieder an der Bar auftauche.
»So etwas Ähnliches.«
»Kannst du weiterarbeiten? Sorry, aber die Bude ist voll. Lass uns später darüber reden, Tisch vier wartet auf seine Getränke, Tisch fünf will bestellen, genauso wie Tisch acht.« »Ja klar, kein Problem. Mir geht’s gut.«
Zum Glück habe ich keine Zeit mehr über den Mann an Tisch zehn nachzudenken. Ich bin permanent in Bewegung, eine Pause gibt es nicht. Einen Kellner weniger merken wir anderen ganz schön. Und auch wenn Joyce ihr Bestes gibt, so ist sie kein vollwertiger Ersatz. Ich gebe ihr Anweisungen, so gut ich kann, aber der Laden ist proppenvoll und die Kunden dürfen nicht merken, dass wir im Stress sind. Sobald ein Tisch frei wird, warten schon die nächsten Gäste darauf. Und der Tresen an der Bar ist mittlerweile auch belegt.
Ich bringe den Herren an Tisch zehn gemeinsam mit Joyce ihr bestelltes Essen. Sobald alle ihre Teller vor sich stehen haben, wünsche ich guten Appetit. Dabei schaue ich ihm direkt in die Augen. Bevor allerdings die Welt um mich herum erneut stehen bleibt, haste ich weiter zum nächsten Tisch, der zahlen will.
Ich hoffe bloß, er merkt nicht, wie nervös ich jedes Mal in seiner Nähe bin. Sieht er mir nach, oder bilde ich mir das nur ein? Als er kurz nachdem wir das Essen serviert haben, noch einmal die Hand hebt, eile ich die Luft anhaltend zu ihm.
»Gibt es ein Problem, Sir?«
»O nein, das Essen ist vorzüglich. Könnten Sie uns Champagner bringen? Wir haben etwas zu feiern.« Er strahlt mich an, als wäre er eine Achtzig-Watt-Glühbirne.
»Natürlich, Sir.«
Auch auf die Gefahr hin, dass Joyce es vermasselt, lasse ich sie das Tablett mit den neun Champagnergläsern bringen. Denn in seiner Nähe zu sein, bringt meine Welt wortwörtlich ins Wanken. Ich kassiere zwar einen entgeisterten Blick von Zoe, doch den ignoriere ich. Trotzdem bin ich erleichtert, dass Joyce den Champagner ohne größere Vorfälle verteilt. Der weitere Abend läuft ohne weitere Zwischenfälle ab und ich könnte Freudensprünge machen, als die Gruppe endlich zahlen will.
Ich lege das Ledermäppchen mit der Rechnung vor ihm auf den Tisch und ziehe mich zurück, um die Essensbestellungen am Nachbartisch aufzunehmen. Als ich damit fertig bin, nehme ich das Ledermäppchen wieder an mich und gehe damit an die Kasse an der Bar, um die Kreditkarte zu belasten. Meine Finger streichen über die Erhebungen in der Karte. Dieser Name.
»Joshua William Ernest Morgan, komm sofort ins Haus«, schreit seine Mutter nach dem achtjährigen Jungen, mit dem ich schon seit zwei Jahren befreundet bin.
»Ernest?« Ich pruste los.
»Wenn du das jemandem erzählst, sind wir keine Freunde mehr!« Er hebt drohend seinen Finger.
»Schon okay, ich werde nichts sagen.« Ich unterdrücke mein Lachen und verschließe meine Lippen mit einem imaginären Schlüssel, den ich dann wegwerfe.
Wie oft habe ich ihn mit seinen Zweitnamen aufgezogen und wie oft habe ich ihn einfach nur Josh genannt? Dann sehe ich auf die Rechnung, um den Betrag in das Kartenlesegerät einzugeben. In der Zeile Trinkgeld stehen 200 Dollar. Das ist selbst für einen Laden wie das Savoir Vivre 'ne Menge. Um sicher zu gehen, dass der Gast, sich nicht vertan hat, breche ich den Vorgang ab und gehe wieder hinüber zum Tisch.
»Entschuldigen Sie bitte?« Es ist mir unangenehm, die Gesellschaft zu stören, zumal die Männer gerade lachen und sich amüsieren. »Ich wollte nur sichergehen, dass der Betrag beim Trinkgeld richtig angegeben ist.« Ich halte ihm das aufgeschlagene Ledermäppchen hin, so dass er einen Blick auf die Rechnung werfen kann.
»Das stimmt schon so.« Er lächelt mich an und binnen Sekunden bin ich wieder sechzehn, liege in seinen Armen und denke, dass alles gut wird.
»Das sind 200 Dollar«, gebe ich zu bedenken und versuche, aus meinem Tagtraum zu erwachen.
»Sie können es ja gemeinschaftlich teilen.«
Ich nicke nur wie betäubt und verlasse den Tisch. Tippe erneut die Rechnungssumme in das Gerät und ziehe die Karte durch. Das Gerät schnurrt zufrieden und druckt einen Beleg aus, den ich ins Ledermäppchen lege, zusammen mit der Kreditkarte. Für einen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch. Zurück zum Tisch, ein letztes Mal.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und hoffe, Sie bald wieder im Savoir Vivre begrüßen zu dürfen«, verabschiede ich mich lächelnd von den Gästen, von denen der ein oder andere ein Schlückchen zu viel getrunken haben dürfte.
Obwohl er einen Moment zögert, was ich ignoriere, folgt er seinen Gästen. Ich achte nicht weiter auf ihn. Eilig kümmere ich mich um die Auslieferung der nächsten Bestellung, die bereits an der Ausgabe auf mich wartet. Außerdem gebe ich Joyce ein Zeichen, den Tisch der Gesellschaft abzuräumen, sobald die Herren gegangen sind. Die nächsten Gäste warten schon sehnsüchtig auf einen freiwerdenden Tisch, da sie nicht reserviert haben. Es ist mittlerweile dreiundzwanzig Uhr, aber das ist in L.A. nicht von Bedeutung.
Während ich erneut auf eine Getränkebestellung warte, steht er plötzlich hinter mir. Ich zucke zusammen, als er sich räuspert.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken, für den ausgezeichneten Service und das gute Essen. Es war ein erfolgreicher Abend für mich und die Bank.«
Ich nicke wieder und versuche, irgendwo anders hinzusehen, nur nicht in seine Augen. Worauf er hinaus will, weiß ich nicht, denn mein Service war miserabel. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal ein Glas kaputtgegangen ist. Und schließlich mache ich hier nur meinen Job. Apropos. Ich habe irre viel zu tun und keine Zeit, weiter mit ihm hier herumzustehen und zu quatschen oder ihn anzustarren.
Verlegen kratzt er sich am Kopf. »Kenne ich Sie irgendwoher?«
Meine Kehle wird eng.
»Ich denke nicht.« Ich lächele aufgesetzt und zwinge mich, ruhig zu atmen, während in mir ein Feuersturm wütet. Er darf mich nicht erkennen. Ich fahre mir durch meine blonden kurzen Haare, prüfe, ob alles in Ordnung ist. Das ist es. Und doch ...
»Samantha?«
Für einen Moment setzt mein Herz aus und die Welt hört auf, sich zu drehen. Den Namen habe ich schon sehr lange nicht mehr gehört. Er klingt fremd, als wäre er gar nicht mehr meiner. Meine Nasenflügel beben vor Panik, ich kann nichts dagegen tun.
Bleib cool, ermahne ich mich. Was leichter gesagt ist als getan.
»Mein Name ist Maria«, behaupte ich, so gelassen es mir möglich ist in Anbetracht der Tatsache, dass er dabei ist, mein ganzes Leben zum Einsturz zu bringen. Diesmal halte ich Augenkontakt zu ihm. Meine Augen sind das Einzige, dass ich nicht verändert habe. Es ist leicht, einen neuen Namen anzunehmen oder jeden Tag eine Perücke zu tragen. Aber die Augen sind unverwechselbar. Das Tor zur Seele eines Menschen hat meine Mutter immer gesagt. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, Kontaktlinsen zu tragen. Ein paar Mal habe ich es versucht, doch es dauert ewig, bis ich die Dinger drinnen habe und nach langen Tagen im Restaurant brennen sie fürchterlich.
Er nickt verstehend, aber ob er meine Lüge auch glaubt, kann ich nicht einschätzen. Eigentlich ist es nur eine halbe Lüge. Ich bin Maria. Samantha ist damals gestorben. Sie hat aufgehört, zu existieren, in dem Moment, in dem Joshua sie verriet.
»Sie sehen jemandem, den ich früher mal gekannt habe, wahnsinnig ähnlich. Das ist wirklich verblüffend.« Er mustert mich und ich lächele verständnisvoll und beinahe schon mitleidig mit dem armen Trottel, obwohl er doch ins Schwarze getroffen hat.
»Ich, ähm ... ich muss dann mal weiterarbeiten.« Ich deute auf das volle Restaurant und die wartenden Gäste hinter ihm.
»Oh, ja natürlich.«
Ich nehme das Tablett mit den gefüllten Getränkegläsern von der Theke und gehe an ihm vorbei. Seinen Blick spüre ich noch auf mir, doch irgendwann geht er zum Glück. Mir fällt ein Stein vom Herzen, offenbar glaubt er mir. Richtig durchatmen kann ich jedoch erst, als er das Restaurant verlassen hat. Für eine Sekunde halte ich inne und hole tief Luft. Das wäre überstanden.
Als es ruhiger wird im Restaurant und nur das Klackern des Bestecks zu hören ist, habe ich ein paar Minuten Pause. Ich husche zum Bedienstetenausgang raus in die sommerliche Abendluft, die meine Lunge durchflutet. Im Restaurant war die Luft warm und stickig, hier draußen ist sie frisch und klar. Jedenfalls so frisch und klar, wie sie in L. A. sein kann. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge.
Jetzt und hier kehren meine Gedanken zu ihm zurück. Ich würde ihn überall erkennen, immer. Wie könnte ich auch nicht? Schließlich kenne ich ihn bereits mein halbes Leben lang. Nein, ich kannte ihn mein halbes Leben lang. Bis ich fortgegangen bin und ihn zurückgelassen habe.
Ich flüchte in Joshs Bett, rolle mich so klein wie möglich zusammen.