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Er legt seine Hände um mein Gesicht für einen langen intensiven Kuss. Einen Seelenkuss. Mein absoluter Favorit.
Als Anna nach einem Autounfall aus dem Koma erwacht, ist nichts mehr, wie es war. Ihr altes Leben ist nur noch eine vage Erinnerung, während ihr neues leer und ziellos erscheint. Doch dann trifft sie den Mann, der ihr offenbar während ihres Komas immer vorgelesen hat. Leif Larsen ist Tattoo-Artist, ungeheuer attraktiv und war eigentlich ein echter Player - aber auch er wurde unschuldig in besagten Unfall verwickelt und hat Narben davon getragen. Beide wissen nicht so recht, wie sie die Starttaste für ihr Leben wiederfinden sollen, doch schon bald keimen zarte Gefühle zwischen ihnen auf, und Anna schöpft Hoffnung, dass es ihnen gemeinsam gelingen kann, ihre Wunden zu heilen ...
"Süß, sexy, zum Seufzen schön!" ESCAPIST BOOK BLOG
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Seitenzahl: 372
Titel
Zu diesem Buch
Playlist
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Epilog
Die Autorin
Die Romane von Kylie Scott bei LYX
Leseprobe
Impressum
Kylie Scott
Trust this Love
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katrin Reichardt
Als Anna nach einem Autounfall aus dem Koma erwacht, stell sie fest, dass das Leben einfach ohne sie weiter gegangen ist und ihr Mann Ryan sie mit einer anderen Frau betrogen hat. Ihr altes Leben ist nur noch eine vage Erinnerung, während ihr neues leer und ziellos erscheint. Bis sie allein klarkommt, muss sie erst mal wieder bei ihren Eltern einziehen – halb so schlimm, wäre ihre Mutter nicht so eine Glucke. Doch dann trifft sie den Mann, der ihr offenbar während ihres Komas immer vorgelesen hat. Leif Larsen ist verdammt attraktiv, Tattoo-Artist und war eigentlich ein echter Player – aber auch er wurde unschuldig in den Unfall verwickelt und hat Narben davongetragen. Anna fühlt sich sofort wohl in seiner Gegenwart und findet durch ihn schon bald die Kraft, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Als sie sich eine Wohnung suchen will, bietet Leif ihr ein Zimmer bei sich an. Anna zögert zunächst, denn längst gehen ihre Gefühle über reine Freundschaft hinaus, und sie weiß nicht, ob sie schon bereit für etwas Neues ist. Doch sie spürt, dass sie ein Wagnis eingehen muss, wenn sie die Starttaste für ihr Leben wiederfinden will, und gemeinsam kann es ihnen vielleicht gelingen, ihre Wunden zu heilen …
»Bust Your Windows« von Jazmine Sullivan
»Mad Woman« von Taylor Swift
»Wildflowers« von Tom Petty
»Feeling Good« von Nina Simone
»killing boys« von Halsey
»Adore You« von Harry Styles
»Beyond« von Leon Bridges
»Jackie and Wilson« von Hozier
»Was ist los?«, frage ich. Oder zumindest versuche ich es. Allerdings ist meine Kehle so wund und ausgetrocknet, dass meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern ist. Nicht mal zu schlucken hilft. »Mom?«
Sie wischt sich hastig die Tränen weg. »Mein Schatz.«
Alles in dem merkwürdigen weißen Raum wirkt verschwommen und unwirklich. Ich blinzle einige Male, um klarer sehen zu können. Auf einem kleinen Beistelltisch steht eine Vase mit welkenden rosa Rosen, und ich bin an eine Infusion und mehrere Geräte angeschlossen. Mein Körper ist ein einziger langer, dumpfer, furchtbarer Schmerz. Was zum Teufel ist geschehen?
»Du hattest einen Unfall«, sagt Dad und beantwortet damit die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe. Er erhebt sich von einem Sessel, der in einer Ecke des Zimmers steht. »Kannst du dich daran erinnern?«
Bevor ich antworten kann, ist meine Mom schon da, mit ihrem zittrigen Lächeln. »Du bist schon mehrmals aufgewacht, aber nie für lange. Du schläfst immer wieder ein.«
Das ergibt alles keinen Sinn. »Was …«
»Der Arzt hat uns gesagt, dass wir dich fragen sollen, wie es dir geht und woran du dich erinnern kannst«, erklärt sie.
»M-moment mal«, stammele ich. »Wo ist Ryan?«
Sie wechseln besorgte Blicke.
»Was ist hier los?«, frage ich.
»Woran erinnerst du dich?« Mom setzt sich auf die Bettkante. »Wie fühlst du dich?«
»Kannst du deine Finger und Zehen bewegen?«, erkundigt sich Dad.
»Ich fühle mich verwirrt und frustriert.« Ich unterbreche mich, um wieder zu schlucken. Es hilft noch immer nicht. »Aber ja, mit meinen Fingern und Zehen ist alles in Ordnung.«
Mom holt mir rasch einen Plastikbecher voll Wasser mit einem Strohhalm darin. Ich bemühe mich, langsam zu trinken, nur schlückchenweise, aber es schmeckt so gut.
»Ich kann mich an keinen Unfall erinnern«, räume ich schließlich ein, nachdem ich fertig getrunken habe.
»Ein anderes Auto hat dich gerammt und du hast die Kontrolle über deinen Wagen verloren.«
Sie warten beide auf meine Reaktion. Dass mir schlagartig alles wieder einfällt. Aber damit kann ich nicht dienen. »Wann?«
»Warten wir doch lieber auf den Arzt«, sagt Mom und ringt die Hände.
»Sagt es mir einfach. Bitte.«
»Es ist der vierzehnte Februar.« Dad richtet in einer für ihn untypischen nervösen Geste seine Krawatte. »Das ist das heutige Datum.«
Ich runzle nachdenklich die Stirn. »Nein. Nein, das kann nicht sein.«
Mom nickt hartnäckig.
»Was?«, frage ich ungläubig.
»Sieben Monate. So ist es«, sagt Dad.
»Das ist eine wirklich lange Zeit, um im Koma zu liegen. Niemand hat geglaubt, dass du noch einmal aufwachst.« Mom knüllt ein Papiertaschentuch in den Händen zusammen. »Die Ärzte meinten … Es ist jetzt ja auch egal, was sie gesagt haben. Du bist ein medizinisches Wunder. Ich wusste, dass du es schaffst. Meine Tochter ist eine Kämpferin.«
Ach du Scheiße.
Auch wenn das alles absolut keinen Sinn ergibt, erscheint es viel zu real, um nur ein Scherz zu sein. Außerdem haben meine Eltern sowieso keinen Sinn für Humor. Der gequälte Ausdruck in den Augen meiner Mutter wirkt nicht gespielt. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Juli war und wir zu Hause ein Barbecue planten. Nachdem ich mich auf den Weg in den Laden gemacht hatte, brach allerdings ein Sommergewitter los und es regnete zum ersten Mal seit über einem Monat. Danach nichts mehr.
Sieben Monate meines Lebens sind einfach weg. Halloween, Thanksgiving, Weihnachten und Neujahr. Sommer, Herbst und Winter. Ein komplettes halbes Jahr. Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.
Mein Gehirn verweigert die Zusammenarbeit, und der Versuch, auch nur die Hand zu heben, ist eine echte Strapaze. Sie sieht nicht anders aus, aber ich bin so verdammt schwach und steif. Und wo ist mein Verlobungsring, mein Ehering? Wahrscheinlich haben sie sie mir aus Sicherheitsgründen ausgezogen, aber trotzdem. Das gefällt mir nicht.
»Wo ist Ryan?«, frage ich noch einmal.
Dad verzieht das Gesicht.
Mom wendet sich ab. »Wo ist mein Mann?« Diesmal bebt meine Stimme. Es war niemand mit mir im Wagen. Ryan war zu Hause geblieben, um die Terrasse zu fegen und den Grill zu säubern. Um alles vorzubereiten. Ich kann mich nicht entsinnen, dass jemand auf dem Beifahrersitz gesessen hätte. Allerdings erinnere ich mich auch nicht an einen Unfall, sondern nur an ein paar undeutliche, verschwommene Träume. Das ist die Hölle.
»Oh mein Schatz«, sagt Mom. In ihren Augen glänzen Tränen.
»Er ist nicht …« Ich kann das Wort tot nicht aussprechen. Ich will nicht mal an dieses Wort denken. »Was ist passiert?«
»Er ist auf dem Weg hierher.« Dad steckt das Handy zurück in die Hosentasche und weicht meinem Blick geflissentlich aus. »Versuch einfach, ruhig zu bleiben, Anna. Dich jetzt aufzuregen, hilft auch nicht.«
Der Bitte meines Vaters zum Trotz geht mein Atem plötzlich schneller. Ich bin zwei Sekunden von einer ausgewachsenen Panikattacke entfernt. Zwar ist das in Bauchlage nicht so einfach, aber ich kriege das bestimmt trotzdem hin. »Was zum Teufel geht hier vor?«
Drei Monate später …
Leif Larsen wohnt in einem coolen Stadtviertel, in einem großen, alten, braunen Backsteingebäude, vor dem ein ausladender Hartriegel wächst. Auf mein Klingeln öffnet niemand. Aber laut der Notiz auf dem Papierfetzen, den die Schwester mir gegeben hat, bin ich hier richtig.
Was jetzt?
Die rationale Antwort auf diese Frage wäre, aufzugeben und nach Hause zu fahren. Weil es sich bisher so gut bewährt hat, mich in meinem alten Kinderzimmer zu verkriechen (und das wäre dann die sarkastische Antwort). Schon seit Monaten habe ich das Haus außer für Arzttermine nicht mehr verlassen. Dass ich das letzte Mal von Freunden gehört habe, ist schon Wochen her. Wie aufs Stichwort vibriert in meiner hellbraunen Coach-Handtasche das Handy. Ich spare mir die Mühe, es herauszuholen. Meine Mutter verlangt stündlich ein Lebenszeichen von mir. Offenbar kann sie nicht mal ein Dinner im Country Club davon abbringen. Ihre elterliche Sorge um mich hat inzwischen mehr als klaustrophobische Ausmaße angenommen.
Eine Böe des für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Abendwindes trifft mich und ich schließe die Hand fest um das Metallgeländer. Zwar benutze ich schon eine Weile keine Gehhilfe mehr, aber trotzdem ist noch immer einiges schwierig für mich. Wenn ich ehrlich bin, trifft das eigentlich auf die ganze verdammte Welt um mich herum zu. So viele Dinge, die ich früher als selbstverständlich erachtet habe, sind plötzlich wie auf den Kopf gestellt.
Das ist eben der Nachteil, wenn man den vermeintlichen Traum lebt, einen hieb- und stichfesten Plan für sein Leben hat – den Traumprinzen kennenlernen und ihn heiraten, den perfekten Job finden. Das Problem ist: Wenn etwas schiefgeht, wenn einem die Realität eins vor den Latz knallt und einen ins Straucheln bringt, dann gibt es kein System, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Man hat keinen Plan B, weil es einem nie in den Sinn gekommen wäre, dass er eines Tages vonnöten sein könnte. Vielleicht ist das auch meiner mangelnden Fantasie geschuldet.
Ein Motorrad hält an der Bordsteinkante, und plötzlich scheint alles nur noch in Zeitlupe abzulaufen. Irgendetwas an diesem großen, schlanken Mann bringt die Zeit dazu, stillzustehen. Ein in Jeans gekleidetes Bein wird über den Rücken des Ungetüms aus Metall geschwungen. Ein Helm wird abgenommen und enthüllt schulterlanges Haar, hohe Wangenknochen und perfekte Lippen, eingerahmt von Bartstoppeln – und ich kann nichts anderes tun, als zu starren.
Ich weiß selbst nicht genau, ob mich dieser Anblick nun einschüchtert oder anmacht oder was auch immer.
»Kann ich Ihnen helf-«, setzt er an. In seinen Augen blitzt plötzlich ein Ausdruck des Wiedererkennens auf.
Ich stehe noch immer wie versteinert da.
»Ich werd’ nicht mehr«, murmelt er und kommt steifbeinig näher. Er mustert mich von Kopf bis Fuß, bis sein Blick schließlich an den kleinen Narben hängen bleibt, die das Glas auf meiner Wange hinterlassen hat. Dabei gibt er sich keine Mühe, seine Neugier zu verbergen. »Du bist es wirklich.«
Nichelle, die Krankenschwester, hat ihn mir als netten, jungen Mann beschrieben. Mehr nicht. Sie hat mich mit keinem Wort auf das hier vorbereitet. Und das mit dem »nett« muss ich auch noch einmal zur Diskussion stellen. Zerfetzte Jeans, abgewetztes Leder und eine Harley Davidson sind nicht nett.
»Ich hab dich noch nie bei Bewusstsein gesehen«, sagt er und kommt noch näher.
Ich blinzle nur verdattert.
Unter dem Kragen und den Ärmeln seiner Lederjacke blitzen farbenfrohe Tattoos hervor. Eine ganze Menge. Blaue Wellen und schwarze Buchstaben. Rote Flammen und weiße Blüten. Der Mann ist ein Kunstwerk auf zwei Beinen. Meine Eltern wären entsetzt. Ryan übrigens auch. Nicht dass ihre Ansichten Gewicht hätten. Ich muss meinen eigenen Pfad durchs Leben erschaffen. Meinen eigenen Weg gehen.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragt er mit einem leichten Stirnrunzeln.
»Oh. Ähm.« Ich streiche über die Vorderseite meines blassblauen Midi-Sommerkleids aus Leinen. Mein dunkles Haar ist zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz gebunden und mein Make-up ist schlicht, aber perfekt. Es ist schön, dass es gewisse Dinge gibt, die ich trotz allem noch unter Kontrolle habe. »Eine der Schwestern auf der Intensivstation hat mir von dir erzählt, und ich wollte bei dir vorbeischauen und mich bedanken. Aber vielleicht wäre eher eine Entschuldigung angebracht?«
Er stutzt einen Moment, bevor er fragt: »Möchtest du reinkommen?«
Gute Frage. Tatsache ist: Ich weiß es nicht. Genauso wenig, wie ich weiß, wie ich mich in dieser Situation verhalten soll. Das wird recht offensichtlich, als ich meinen Mund aufklappe und nichts herauskommt. So viel Nichts über eine so lange Zeitspanne ist schon mehr als peinlich. Verflixt. Was immer ich mir erhofft habe, hier zu finden, es war ganz bestimmt nicht das. Nicht er. Was auch immer.
»Wir haben uns einander noch gar nicht richtig vorgestellt, oder?« Er streckt seine große Hand aus. »Hi, ich bin Leif.«
»Anna.«
Während ich noch zögere, hält er sich nicht zurück. Kraftvolle, warme Finger schließen sich um meine kalten. Er versucht nicht, mir ein dominantes Händeschütteln aufzudrängen oder mich zu betatschen. Er drückt meine Hand, nur einmal ganz behutsam, bevor er sie wieder freigibt.
»Ich könnte jetzt sagen, dass es schön ist, dich kennenzulernen, aber das wäre irgendwie schräg.« Er grinst verschwörerisch, und oh mein Gott. Tief unten in meinem Bauch erwacht etwas und wird aufmerksam. Meine Muschi sollte sich wirklich was schämen. Aber die Anziehungskraft, die dieser Mann auf mich ausübt, ist einfach unfassbar. Es dauert einen Augenblick, bis mir wieder einfällt, dass ich eine verheiratete Frau bin. Weitestgehend. Also, zumindest in gewisser Hinsicht. Jedenfalls steht es mir absolut nicht zu, ihn so anzulächeln, wie ich es gerade tue. Mein Leben ist schon chaotisch genug, da brauche ich nicht noch eine Schwärmerei. Vielleicht ist es eine Reaktion auf mein Verhalten, keine Ahnung, jedenfalls verschwindet seine heitere Miene und sein Blick wird ernst. Sogar ein wenig betrübt. »Weißt du, ich habe noch immer Albträume von diesem Tag.«
»Tut mir leid.«
»Ist nicht deine Schuld.«
»Ich hätte nicht herkommen sollen.«
»Nicht, Anna. Mach doch nicht so ein Gesicht. Ich habe dir das nicht erzählt, um dir wehzutun oder damit du dich unwohl fühlst. Ich wollte es dir nur … mitteilen.« Wieder verändert sich sein Gesichtsausdruck, und ein Lächeln, das diesmal verhaltener ausfällt, vertreibt den andeutungsweisen Anflug eines Traumas. Dann zwinkert er mir plötzlich zu, als würde er mit mir flirten. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Ich schaffe es kaum, mit ihm mitzuhalten. Dieser Mann ist ein Wirbelwind. »Möchtest du reinkommen und ein Bier mit mir trinken?«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Ich … ich möchte nur nicht, dass du meinetwegen wieder an Dinge erinnert wirst, die du lieber –«
»Ich möchte, dass du reinkommst. Andernfalls hätte ich nicht gefragt.«
Ein Bierchen mit einem gut aussehenden, wilden Mann, mit dem mich eine schräge Vorgeschichte verbindet – oder lieber der zügige Rückzug in Sicherheit und Langeweile? Ich grüble nicht lange nach. Zögere nicht mal eine Sekunde. »Dann ja, Leif. Sehr gern.«
Im Polizeibericht steht, dass ich die Kontrolle über meinen Wagen verloren habe und mir deshalb ein Mann auf einem Motorrad ausweichen musste und von der Straße abkam. Das passierte, nachdem ich von dem anderen Wagen gerammt worden war, aber bevor ich gegen den Baum prallte. Während der andere Autofahrer vom Unfallort flüchtete, zog sich der Mann auf dem Motorrad einen mehrfachen Bruch im rechten Arm zu und wurde zur Behandlung ins selbe Krankenhaus eingeliefert wie ich. Der Mann, der jeden Abend neben meinem Krankenbett saß und mir vorlas. Bis er irgendwann plötzlich nicht mehr auftauchte.
Das alles ist allerdings keine Erklärung dafür, weshalb es in seiner Wohnung abgesehen von einer einzelnen King-Size-Matratze kein einziges Möbelstück gibt. An den kahlen weißen Wänden hängt absolut nichts. Und die Matratze liegt einfach so auf dem Boden, mitten im offenen Koch-Ess-Wohnbereich. Es gibt noch zwei weitere, kleine Zimmer, die er jedoch nicht nutzt. Auf der Matratze liegen knittrige Laken und achtlos hingeworfene Kissen. Mein Gehirn hat viel zu viel Spaß dabei, sich all die obszönen Handlungen auszumalen, in die er auf diesem Bett möglicherweise verwickelt gewesen ist. Das ist, gelinde gesagt, irritierend. Pornografische Gedanken sind bei mir eigentlich nicht Standard.
»Du bist wahrscheinlich eher eine Weißweintrinkerin, oder?« Er öffnet eine Dose Bissell Brothers Swish-Bier und reicht sie mir.
»Das ist auch gut. Danke.«
Nachdem er einen großen Schluck von seinem eigenen Bier getrunken hat, lässt er den Blick durch den größtenteils leeren Raum schweifen. »Ich wohne erst seit wenigen Monaten hier. An den Möbeln und dem ganzen Kram arbeite ich noch.«
Ich nicke zustimmend und umklammere den Träger meiner Handtasche, der eine Art Rettungsleine für mich darstellt. Er hatte immerhin mehrere Monate Zeit, sich zu organisieren. Meine Güte. Die Arztrechnungen haben mit Sicherheit ganz schön reingehauen, aber trotzdem. Die Wohnung ist so gut wie leer. Eine hohle Hülle. Kein Zuhause.
»Vielleicht hätten wir lieber irgendwo anders etwas trinken gehen sollen«, meint er.
»Ist schon gut.«
Er setzt sich auf die Küchenarbeitsfläche, blickt auf mich herab und lässt dabei die Beine baumeln wie ein Kind. »Weißt du, du verwendest das Wort ›gut‹ recht oft. Aber gleichzeitig kann ich geradezu sehen, wie dein Auge dabei nervös zuckt, weil es dich irritiert, dass mir ein Sofa mit Fußhocker fehlt.«
Ich finde das nicht witzig.
»Ein schöner, großer Schrank und ein Beistelltisch vielleicht auch noch. Ein paar Lampen für eine stimmungsvolle Beleuchtung.« Er lässt die Lederjacke von den Schultern gleiten. Unter den kurzen Ärmeln seines grauen T-Shirts kommen noch weitere Tattoos sowie eine ganze Menge straffer Muskeln zum Vorschein. Ich lasse nicht zu, dass mein Blick zu lange an der wulstigen, zackigen rosa Narbe an seinem Oberarm hängen bleibt. Derweil ist da ein Glitzern in Leifs bernsteinfarbenen Augen, das verrät, dass er sich gerade viel zu gut amüsiert. »Vom Mangel an anständigen Gläsern und Untersetzern wollen wir erst gar nicht reden. Wahrscheinlich ist es ein Glück, dass ich nicht so viele Möbelstücke besitze, denn andernfalls würden wir bestimmt überall Wasserflecken hinterlassen. Noch nicht mal eine Leinenserviette kann ich vorweisen. Ich bin wirklich nicht gut auf Besuch vorbereitet, oder?«
»Du ziehst mich auf.«
»Du bist mir gegenüber voreingenommen.«
Mist. »Das lag nicht in meiner Absicht«, sage ich kleinlaut, erschrocken darüber, dass ich ertappt wurde.
Hierherzukommen war eine dermaßen schlechte Idee. Er ist ein vollkommen Fremder und wir haben keine Gemeinsamkeiten. Na ja, zumindest keine erfreulichen. Außerdem kommt jetzt noch dazu, dass ich inzwischen viel zu lange gestanden habe. Ich hasse dieses anhaltende Schwächegefühl. Mein Therapeut meint, es wäre zu erwarten, deswegen Enttäuschung oder Zorn zu empfinden. Der Unfall hat mich verändert. Aber im Moment möchte ich vor allem verhindern, dass ich gleich auf meinem Hintern lande.
»Komm her«, sagt er und springt mit Leichtigkeit von der Theke.
»Was?«
»Ich hebe dich auf die Arbeitsplatte, damit du nicht mehr stehen musst.«
Ich sehe ihn nur an.
»Du musst dich hinsetzen, oder? Das bedeuten der panische Gesichtsausdruck und das Zittern doch. Glaub mir, nachdem ich wegen meines Arms selbst eine Reha hinter mir habe, kenne ich das nur allzu gut.«
»Ja«, gebe ich widerstrebend zu.
Er winkt mich mit den Händen zu sich. »Ist schon okay, Anna. Jetzt tut es mir sogar leid, dass ich kein Sofa habe, auf das du dich setzen kannst. Darf ich dir helfen?«
Meine Auswahlmöglichkeiten sind nicht gerade berauschend. Der Boden, die Matratze oder seine Küchentheke. Und alleine komme ich da auf keinen Fall rauf. »Vielen Dank. Ja.«
Er steht so dicht vor mir. Der Mann muss etwas über einen Meter achtzig groß sein, denn ich reiche ihm kaum bis zur Nase. Starke Hände legen sich um meine Taille, und als er mich hochhievt, streifen meine Brüste seinen Oberkörper. Ein Versehen, was man deutlich daran erkennen kann, dass sich seine Augen plötzlich ein klein wenig weiten. Als wäre er noch nie zuvor einem Busen nahegekommen. Also bitte. Und er riecht unfassbar gut. Nach sauberem, warmem Männerschweiß mit einer würzigen Note. Für eine Frau, die fast ein Jahr lang keinen Sex mehr hatte, ist das schon fast das Nirwana. Ganz zu schweigen von der Erkenntnis, dass ich in der Tat ein richtiger, atmender Mensch bin, der über weibliche Reize verfügt. Das Gefühl, dass er mich tatsächlich wahrnimmt, nachdem ich mir so lange Zeit vorgekommen bin, als würde ich nicht existieren, ist berauschend. Ich war eine Patientin, ein Problem und alles andere als eine starke, patente Frau mit einem schlagenden Herzen und eigenen Wünschen und Bedürfnissen.
»Danke«, sage ich noch einmal, diesmal allerdings ein wenig atemlos.
»Keine Ursache.« Wie er plötzlich innehält und mein Gesicht mustert, ist schon seltsam. Wahrscheinlich, weil ich mich so seltsam verhalte. Doch schließlich ist dieser merkwürdige Augenblick wieder vorbei und er tritt einen Schritt zurück. »Hübsches Kleid.«
»Danke.«
»Erzähl mir etwas von dir.«
Ich kontere mit: »Nichelle hat gesagt, dass du mich eine Zeit lang jeden Abend im Krankenhaus besucht hast.«
Er verschränkt seufzend die Arme. »Ich habe dir ein paar Wochen lang abends vorgelesen. Keine große Sache.«
»Doch, irgendwie schon. Das war sehr nett von dir.«
»Anna –«
»Nicht«, sage ich, schroffer als beabsichtigt. »Rede das nicht klein. Dass du dir Zeit genommen hast, um bei mir zu sitzen, bedeutet mir viel.«
»Ja. Na ja.« Er kratzt sich am Kopf. »Um ehrlich zu sein, warst du eine ziemlich lausige Gesellschaft.«
Ich lache vor Überraschung lauthals auf. Dann schlage ich rasch die Hand vor den Mund, denn, oh Mann, was für ein ohrenbetäubender Laut.
Leif grinst hinter seiner Bierdose. »Also los, erzähl mir von dir.«
»Was willst du wissen?«
»Fang mit den Grundlagen an.« Er lehnt sich an die Wand. Einer seiner klobigen Stiefel klopft in der Stille einen Rhythmus. »Oder überrasche mich. Egal.«
»Sechsundzwanzig. Ich habe im Gastgewerbe gearbeitet, aber das liegt derzeit alles auf Eis.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin in Cape Elizabeth aufgewachsen.«
»Noble Gegend.«
»Wenn du meinst. Einzelkind. Ich war in New Hampshire auf dem College.« Und das bin im Grunde genommen ich. »Was ist mit dir?«
»Einunddreißig. Hier geboren und aufgewachsen. Jüngster von drei Brüdern. Und ich bin Tätowierer.«
Ich krause die Nase. »Wow.«
»Du möchtest eher kein Tattoo, was?«
»Nicht nach all den Nadeln im Krankenhaus.« Allerdings wäre es auch vorher nicht im Entferntesten infrage gekommen, füge ich im Geiste hinzu. Zwar finde ich durchaus Gefallen daran, wie sie an ihm aussehen, doch ich bin bei Weitem kein so interessanter Typ wie er. Und auf Schmerzen stehe ich auch nicht.
»Aktueller Beziehungsstatus?«, fragt er und senkt den Blick auf meine bloße Hand. Ich bin mir sicher, dass das nichts weiter zu bedeuten hat. Nur die heteronormative Standardreaktion.
»Ähm.« Die Frage löst bei mir zu gleichen Teilen Unbehagen und Schmerz aus. Eigentlich sollte ich mich inzwischen daran gewöhnt haben, aber na ja. »Es ist kompliziert. Also … Ich bin getrennt. Ja.«
»Aha. Ich, ähm …« Er öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder, als wäre er zu dem Schluss gekommen, dass er das, was er sagen wollte, lieber doch für sich behält. Was seltsam ist. »Tut mir leid.«
Ich nicke nur. Um ehrlich zu sein, leide ich noch immer unter einem ziemlichen Kulturschock. Meine Ehe und mein Ehemann machten große Teile meines Lebens aus. So, wie es sein sollte. Doch jetzt kommt es mir so vor, als hätte jemand die Pausetaste gedrückt, und ich bin mir nicht sicher, wie ich mich deswegen fühlen und was ich darüber denken soll. Da mein Herz und mein Verstand sich derzeit in einem permanenten Verwirrungszustand befinden, kann ich daran nicht viel ändern. Noch nicht. Und so ist es schon seit Monaten. Untreue tut verdammt weh, und ich schaffe es nicht, so weit über den Schmerz hinwegzukommen, um auch nur an Vergebung zu denken. Noch nicht. Vielleicht auch niemals. Dass ich in absehbarer Zeit meinen Ehering wieder an den Finger stecke, kann man jedenfalls getrost vergessen.
»Lieblingsessen?«, fragt er und wechselt Gott sei Dank das Thema.
»Mexikanisch.«
»Hervorragende Wahl.« Er zieht das Handy aus der Gesäßtasche seiner Jeans. »Wie hungrig bist du?«
»Ich könnte eine Kleinigkeit vertragen.«
Er bedenkt mich mit einem bösen Blick. »Weißt du, so etwas sagt ihr Frauen immer, und dann esst ihr uns unsere halbe Mahlzeit weg.«
»Wenn du genug bestellst, esse ich dir auch nicht die Hälfte weg.« Ich verkneife mir ein Grinsen. »So einfach ist das.«
Er seufzt. »Ich bekomme langsam den Eindruck, dass an dir gar nichts einfach ist. Aber ich werde dich trotzdem verköstigen. Wie wäre es mit Tacos?«
»Die liebe ich.«
»Carne Asada?«
»Das wäre toll.«
»Queso und Chips?«
»Ja, bitte. Und mexikanischen Mais, wenn sie welchen haben.«
»Haben sie. Okay«, sagt er, während er mit seinem Handy beschäftigt ist. »Das hätten wir. Weißt du, du bist die erste Person außerhalb meiner Familie, die mich hier besucht.«
»Tatsächlich? Warum?«
Ein Schulterzucken. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil ich einfach zu viel zu tun hatte.«
Ich trinke noch einen Schluck Bier. In diesem Augenblick wird mir bewusst, dass ich mich hier wohlfühle und sogar Spaß habe. Zum ersten Mal seit langer Zeit. »Lass mich die Hälfte bezahlen.«
»Nein. Ich gebe dir ein Abendessen aus. Das ist beschlossene Sache.« Er wirft das Handy auf die Küchentheke. »Beim nächsten Mal kannst du bezahlen.«
»Es wird ein nächstes Mal geben?«, erkundige ich mich.
»Klar«, antwortet er und holt sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. »Das Kennenlernen haben wir doch schon hinter uns. Ich war dabei, als du aus deinem Auto rausgeschnitten wurdest und so weiter. Ich habe dir sogar eine Weile die Hand gehalten, bis irgendwann der Rettungswagen eintraf. Also, na ja, wir haben gemeinsam ein traumatisches Erlebnis überstanden. Der andere Typ, der den Unfall verursacht und anschließend die Flucht ergriffen hat, ohne zu helfen, kann das nicht von sich behaupten.«
»Macht es mich zu einem schlechten Menschen, dass ich mir sehnlich wünsche, dass Gott ihn dafür zerschmettert?«
»Nö. Ich habe eine Titanplatte und acht Schrauben im Arm. Das ist auch nicht gerade meine Vorstellung von Spaß.« Bei der Erinnerung daran verzieht er das Gesicht. »Dieser komplizierte Bruch hätte durchaus das Ende meiner Karriere bedeuten können. Ganz zu schweigen davon, was dieser Typ dir angetan hat.«
Ich hebe die Brauen. »Subdurales Hämatom, hämorrhagische Kontusionen, eine ausgerenkte Schulter und fünf gebrochene Rippen.«
»Ganz genau.«
»Wie geht es deinem Arm? Ist er inzwischen wieder in Ordnung?«
»Na ja. Weitestgehend. Da ich ganz gut versichert war, bin ich glimpflich davongekommen. Und ich merke, wenn Regen im Anmarsch ist, was ja immer praktisch ist«, sagt er, und seine Miene verfinstert sich. »Dieser Unfall, das war wirklich eine fiese Angelegenheit. Wir können froh sein, dass wir noch leben.«
»Sehr wahr. Den anderen Wagen hast du nicht gesehen?«
Er verzieht das Gesicht. »Es war eine silberne Limousine. Mehr weiß ich nicht. Ich wünschte, ich hätte verdammt noch mal den Fahrer oder das Nummernschild oder sonst etwas Sachdienliches gesehen.«
Ich trinke einen Schluck Bier und denke nach. Das Handy in meiner Handtasche vibriert wieder. Ich werde nicht draufschauen. Nein, das werde ich nicht.
»Solltest du da nicht drangehen?«, fragt er und macht es sich auf dem Boden bequem.
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Das ist meine Mutter. Ich weiß ihre Fürsorglichkeit durchaus zu schätzen, aber inzwischen klammert sie richtiggehend. Ich versuche, sie zurück auf ein verkraftbares Level zu bringen.«
»Verständlich.«
»Nur weil ich derzeit ein wenig zerbrechlich bin, bedeutet das noch lange nicht, dass ich keine Erwachsene mehr bin«, sage ich und, oh Mann, ich klinge ganz schön angefressen. Als wäre ich kurz davor, loszugeifern. Nicht gut.
»Wie kommst du mit all dem zurecht, wenn ich fragen darf?«
»Inzwischen besser als noch zu Anfang. Ich musste wieder lernen, zu laufen und selbstständig zu essen. Und ich habe noch einiges an Reha vor mir.«
Er nickt nur.
»Dass ich in absehbarer Zeit joggen gehen kann, ist recht unwahrscheinlich.«
»Joggen ist dämlich. Mein Bruder und seine Frau wohnen nebenan, und er nötigt mich andauernd dazu, mit ihm laufen zu kommen.«
»Um ehrlich zu sein, fehlt mir dieser Teil auch nicht besonders. Obwohl es schön wäre, die Wahl zu haben.«
»Irgendwelche Nahtoderlebnisse? Bist du aufs Licht zugegangen und hast dein Leben an dir vorbeiziehen sehen?«, fragt er.
»Nein«, entgegne ich kopfschüttelnd. »Aber ich hatte merkwürdige Träume von unheimlichen Schatten. Vermutlich wurden sie nur vom Unterschied zwischen Tag und Nacht ausgelöst. Nicht weiter interessant.«
Er lehnt den Kopf an die Wand und mustert mich nachdenklich. »Wenn ich etwas bezüglich deiner Mutter sagen dürfte …«
»Okay.«
»Ich lag nur wenige Tage im Krankenhaus. Gerade so lange, dass sie mich operieren und mir Schrauben einsetzen konnten, die meinen Arm zusammenhalten«, sagt er. »Aber es war lange genug, um mitzubekommen, was um dich herum vorging. Wie deine Angehörigen sich damit abgewechselt haben, bei dir zu bleiben. Weißt du, damit du nicht allein bist, falls du aufwachst.«
Ich nicke, denn ich weiß Bescheid. Mom und Dad sprechen zwar nicht gern darüber, aber Ryan hat mir nur allzu gern mitgeteilt, was er alles auf sich genommen hat. Mich in alle Details eingeweiht, um zu beweisen, was für ein pflichtbewusster Ehemann er doch ist. Die vielen Stunden, die er an meinem Bett saß. Die Opfer, die er gebracht hat. Die langen, einsamen Stunden, die er durchgestanden hat, und so weiter und so fort. Armer Ryan.
Wohlgemerkt, aus einem langwierigen Koma aufzuwachen ist keine Kleinigkeit. Meine Chancen standen schlecht, was einem auch die Posts auf meinem Facebook-Profil überdeutlich klarmachen. Geschichten über mich von früher. Gute Gedanken und Gebete für mich. Nachrichten über Tod und Verlust, als wäre ich schon gestorben. Sogar ein Post mit »Ruhe in Frieden«. Kein Wunder, dass Ryan mich aufgegeben hat – genau wie so ziemlich alle anderen. Wenngleich die anderen nie mit mir vor einem Pfarrer gestanden und ein Gelübde abgelegt haben.
Wie dem auch sei.
»Deine Mutter hat die Nachtschichten übernommen«, fährt Leif fort. »Sie hatte nichts dagegen, dass ich mich zu dir setze, weil sie sich derweil unbesorgt einen Kaffee holen oder einen Spaziergang machen konnte oder was auch immer. Allerdings hat sie mich bei unserer ersten Begegnung gemustert, als wollte ich ihre Handtasche klauen.«
»Wie man sieht, komme ich aus einer Familie, in der man gern Urteile über andere fällt.«
»Ihr Vorstädter aus der oberen Mittelschicht seid doch alle gleich«, meint er augenzwinkernd. »Aber, Anna, sie war ein Wrack. Es steht mir wahrscheinlich nicht zu, das zu sagen, aber diese Frau würde alles für dich tun.«
Ich seufze. »Ich weiß.«
»Obwohl sie vollkommen fertig war, hat sie penibel über deine Behandlung gewacht, hat die Ärzte und Schwestern gelöchert und ist ihnen aufs Dach gestiegen, wenn sie Zweifel hatte, ob sie auch das Beste für ihr kleines Mädchen tun. Das war wirklich herrlich.«
»Jetzt fühle ich mich deinetwegen wie eine schlechte Tochter.«
Er nimmt einen großen Schluck Bier. »Niemand kann dir einen Vorwurf daraus machen, dass du in dieser Situation gereizt bist. Das muss eine gravierende Umstellung sein.«
»Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste ich aus diversen Gründen wieder bei meinen Eltern einziehen und … Vermutlich war es für alle eine große Umstellung.«
»Meine Mutter ist eine wundervolle Frau. Aber sie hat weiße Teppiche und einen festen Tag in der Woche, an dem sie die Wäsche macht«, sagt er. »Du darfst mir also glauben, dass ich dich verstehen kann. Ich könnte auf keinen Fall wieder zu Hause einziehen.«
Ich bedenke ihn mit einem verdrießlichen Lächeln und lasse den Blick durchs Zimmer schweifen, um etwas Zeit zu gewinnen. Um meine Gedanken zu ordnen. Die Wohnung ist wirklich schön. Schon älter, mit Charakter. In der Küche müsste etwas gemacht werden, und im Bad sieht es vermutlich ähnlich aus. Aber trotzdem. Die hohen Decken und die Holzfenster haben Charme.
Er räuspert sich. »Was ist mit deinen Freunden? Unterstützen sie dich?«
»Oh. Also, das ist ebenfalls kompliziert.« Und obwohl ich eigentlich nicht mehr dazu sagen möchte, wartet er geduldig auf eine weitere Erläuterung. »Die meisten Menschen, die mir nahestanden … Deren Leben ging inzwischen ohne mich weiter. Oder ich kann nicht mehr mit ihnen Schritt halten. Ich bin immer so schnell erschöpft.«
»Das ist bestimmt übel.«
Ich nicke. »Da meine Mom darauf besteht, mich zu all meinen Arztterminen zu fahren, verbringen wir sehr viel Zeit miteinander. Um alles unter einen Hut zu bekommen, musste sie ihre kirchlichen Aktivitäten und die Zeit mit ihrer Scrabble-Gruppe reduzieren.«
Er erwidert nichts.
»Um die Wahrheit zu sagen: Ich hasse es, ihr ständig solche Umstände zu machen. Ich fühle mich wie eine Last in meinem eigenen Leben.«
Sein Blick ist freundlich und mitfühlend. »Anna …«
Oh Gott, ich bin schrecklich. Die amtierende Königin der negativen Loser. »Und ab und zu heule ich nur so zum Spaß heißen Typen die Ohren voll.«
Er wird sofort hellhörig. »Du findest mich heiß?«
»Wie bitte? Nein.«
»Du hast heiß gesagt. Ich habe eindeutig das Wort heiß gehört.«
»Puh, ja, nicht wahr? Würde es dich umbringen, mal die Klimaanlage anzuschalten?«
Er schnaubt. »Sehr witzig.«
»Danke.«
Obwohl ich schon eine ganze Weile nicht mehr geflirtet habe, habe ich es offensichtlich noch nicht ganz verlernt. Das ist herzerfrischend. Außerdem fühle ich mich deswegen kein bisschen schuldig. So, jetzt ist es raus. Doch ich bin weder auf der Suche nach mehr noch daran interessiert. Mein Leben ist momentan schon verwirrend genug. Zudem wäre ein Mann wie Leif sowieso niemals ernsthaft an mir interessiert. Ich sehe ganz okay aus, aber er spielt noch mal in einer ganz anderen Liga. Allerdings mischt sich in den neugierigen Blick, mit dem er mich nun mustert, plötzlich etwas anderes, Prickelndes.
»Du willst nicht wirklich, dass ich die Klimaanlage einschalte, oder?« Er hebt eine Augenbraue. »Du würdest es mir direkt sagen, wenn es so wäre, nicht wahr?«
»Nein, ich möchte nicht, dass du sie einschaltest. Und, ja, wenn es anders wäre, würde ich es dir sagen.« Obwohl meine Mutter der Meinung ist, man sollte stets in höflichem Schweigen still vor sich hin leiden, schwitze ich ungern. Meine käseweiße Haut wird dann immer sofort krebsrot, und von da an geht es nur noch bergab.
»Gut«, sagt er und lehnt sich wieder entspannt gegen die Wand. »Ich habe das Gefühl, als wäre dies der Anfang einer wundervollen Freundschaft.«
Ich hole tief Luft. »Leif. Vielen Dank. Das ist sehr nett von dir. Aber ich brauche dein Mitleid nicht. Ich –«
»Dein Resting Bitch Face hat es mir einfach angetan«, fährt er ungerührt fort, als hätte ich kein Wort gesagt. »Und wer sonst könnte mir alles über Leinenservietten, dazu passendes Tafelsilber und all den anderen Kram beibringen, den ich jetzt, als frischgebackener Wohnungseigentümer, offenbar benötige?«
»Mein Herr, Ihr verwechselt mich mit Martha Stewart an einem ihrer schlechten Tage.«
»Quatsch«, entgegnet er grinsend. »Du bist viel heißer.«
Sofort wird mein Gesicht kochend heiß. Trotzdem ist es irgendwie unmöglich, sein Grinsen nicht zu erwidern. Er ist nicht nur hübsch, sondern seine Fröhlichkeit ist auch offensichtlich ansteckend. Und das ist genau das, was ich gerade brauche.
Er nickt. »Na bitte. Das ist schon besser.«
Oh Gott. Habe ich ihm falsche Hoffnungen gemacht? »Juristisch gesehen bin ich noch immer verheiratet, Leif.«
»Ich habe ›Freunde‹ gesagt, Anna. Freunde.« Er tut so, als würde er schmollen, und das sieht bei ihm ebenfalls außerordentlich attraktiv aus. Verflixt noch mal. »Übertreib es nicht.«
»Tut mir leid.«
In diesem Augenblick klingelt es an der Tür und er springt sofort auf. Das muss unser Essen sein. Was hervorragend ist, denn ich bin hungrig. Ich glaube, ich bin heute Abend hierhergekommen, weil ich auf der Suche nach einem Leben war, einer Zukunft, oder zumindest nach etwas, das mich weiterbringt. Und ein neuer Freund ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung.
Als er die Tür öffnet, hallt jedoch lautes Rufen durch den Korridor, und die Stimme, die ich höre, ist mir vertraut. Schmerzhaft vertraut.
»Wo ist meine Frau?«, brüllt Ryan.
Ich mache ein langes Gesicht.
Leif runzelt die Stirn, schiebt dann entschlossen den Kiefer vor und marschiert nach draußen auf den Gang, als zöge er in ein Gefecht. Ach du Scheiße.
Nein, nein, nein. Das ist eine Katastrophe. Ich muss da raus und dem Ganzen ein Ende setzen. Wie komme ich allein hier runter? Ich rolle mich auf die Seite, dann auf den Bauch und schlängle mich der Kante der Theke entgegen. Irgendwann erreiche ich endlich mit meinen baumelnden Füßen den Boden. Zwar bin ich etwas durch den Wind, aber trotzdem einsatzbereit.
So schnell mich meine Füße tragen, laufe ich zur Tür hinaus, den Korridor entlang und hinaus vors Haus. Dort steht gerade ein wutentbrannter Ryan einem zu allem entschlossenen Leif gegenüber, während ein großer und ebenfalls tätowierter Mann ihnen zusieht. Es lässt sich nicht in Worte fassen, welchen Schmerz es in mir auslöst, meinen Noch-Ehemann zu sehen. Mal wieder mit meiner derzeitigen beschissenen Realität konfrontiert zu werden. Kein Wunder, dass ich ihm möglichst aus dem Weg zu gehen versuche. Es tut einfach zu weh.
Die Frage, wie um alles in der Welt Ryan mich finden konnte, wird durch das Handy in seiner Hand beantwortet. Die Handy-Ortungs-App. Die hatte ich vollkommen vergessen. Früher, als unsere Ehe noch gesund und munter war, war es praktisch, zu wissen, wo der jeweils andere sich aufhielt. Wie weit von zu Hause entfernt oder wie nah beim Supermarkt. Wir hatten uns gemeinsam dafür entschieden, sie zu verwenden, und damit war alles in Ordnung. Doch dass er sie jetzt benutzt, in dieser Situation, bringt mein Blut zum Kochen. Bestimmt hat er bei mehreren Wohnungen geklingelt, weswegen jetzt auch dieser andere Mann hier draußen steht. Was für eine Farce.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du dich von ihr fernhalten sollst.« Ryan stößt einen Finger gegen Leifs Brust, und oh mein Gott. Sie sind sich schon mal begegnet. Deswegen hat mich Leif irgendwann nicht mehr im Krankenhaus besucht. Ryan wurde entweder eifersüchtig, oder seine Kontrollsucht ist mit ihm durchgegangen, oder vielleicht war es auch eine fiese Kombination aus beidem und er hat ihn des Platzes verwiesen. Heiliger Bimbam. So hat er sich noch nie aufgeführt. Zumindest nicht, wenn ich es mitbekommen habe. Wie ein Tyrann. Wie ein verzogenes Kind, das entschlossen ist, seinen Willen durchzusetzen.
Er gebärdet sich so laut und widerwärtig, dass mir davon übel wird. Ich könnte jetzt glatt mein Bier in die Büsche kotzen. Immer wieder wirft er mir bohrende Blicke aus dem Augenwinkel zu, als würde er abschätzen, welche Wirkung diese Szene auf mich hat. Meine Schultern hängen herab, niedergedrückt vom Gewicht seiner Worte und seines Zorns. Als hätte ich schon aufgegeben. Das ist nicht okay. Er kann nicht einfach hier auftauchen und so tun, als wäre ich die Böse. Und er darf mich nicht einfach in aller Öffentlichkeit, oder anderweitig, blamieren, obwohl ich gar nichts falsch gemacht habe.
Leif schweigt.
»Ich habe dich verdammt noch mal gewarnt«, fährt Ryan fort.
Der andere tätowierte Mann steht mit verschränkten Armen daneben, beobachtet und wartet ab.
»Anna?« Ryans herabhängende Hände sind zu Fäusten geballt. »Geht es dir gut?«
»Ja. Ich lösche nur gerade die App von meinem Handy, die du benutzt hast, um mich zu finden.« Ich lasse das Handy zurück in meine Tasche fallen. »Das wird nicht noch einmal vorkommen.«
Er blinzelt irritiert. »Ich bin noch immer dein Ehemann.«
»Und das gibt dir das Recht, mir nachzuspionieren?«, frage ich höllisch empört. »Ich glaube nicht. Du bist nicht mein Wärter. Ich gehöre dir nicht.«
»Anna, ich liebe dich.«
»Nein«, sage ich und deute mit dem Finger auf ihn. »Nein, Ryan. Du kannst nicht einfach tun, was du getan hast, und es als Liebe bezeichnen.«
Er stößt einen äußerst tiefen Seufzer aus. Nie zuvor wurde ein Mann dermaßen schlecht behandelt wie er. Zumindest seiner Meinung nach. Fast scheint es, als wäre durch die Belastungen, die mein Unfall nach sich gezogen hat, ein zweiter Ryan entstanden. Ein wütender Arschloch-Ryan. »Lass mich dich nach Hause bringen. Du siehst müde aus.«
»Ich finde, sie sieht gut aus«, sagt Leif. Was nett ist, aber nicht besonders hilfreich.
Ryan reagiert gereizt. »Lass mich dich zurück zu deinen Eltern fahren. Oder du könntest mit zu mir kommen. Was meinst du?«
»Meine Meinung ist dir doch egal. Weißt du, beinahe hätte ich dir geglaubt, dass du es ehrlich damit meinst, mir Freiraum zu gewähren. Dass du meine Entscheidung, mir erst mal etwas Zeit zu nehmen, um mir über alles klarzuwerden, respektierst.« Mein Lachen klingt ziemlich verbittert. »Du lügst in letzter Zeit andauernd. Ich weiß gar nicht mehr, wer du eigentlich bist.«
»Ich habe es ehrlich gemeint. Ich bin ehrlich.« Er schluckt angestrengt. »Du kannst nicht klar denken. Du verstehst nicht, wie –«
»Wie schwer du es hattest, während ich im Koma lag. Ja, ich weiß«, erwidere ich. »So schwer, dass du eine meiner besten Freundinnen ficken musstest.«
»Anna«, sagt er tadelnd. Eine Dame soll keine unflätigen Worte benutzen. Insbesondere nicht in Bezug auf ihn.
»Er hat mit deiner besten Freundin geschlafen, während du bewusstlos warst?«, hakt Leif nach. »Ernsthaft?«
Ich nicke.
»Autsch«, bemerkt der andere Typ, wer immer er auch sein mag.
Ryan richtet sich kerzengerade auf. »Das geht Sie nichts an. Euch beide nicht. Das ist nur eine Sache zwischen mir und meiner Frau.«
Das Seltsame ist nur, dass ich mich gar nicht mehr wie seine Frau fühle. Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ich nicht mehr fühle. Wie ein weißes Blatt Papier, das darauf wartet, dass eine neue Geschichte geschrieben wird. Wie der Anfang von etwas, für das keine Zukunft in Sicht ist. So fühlt es sich an, ich zu sein.
»Das Problem ist«, setze ich an, »dass es jeder weiß, weil du nämlich so verdammt leichtsinnig warst, dass meine Mom euch dabei erwischt hat, wie du neben meinem Bett mit ihr auf Tuchfühlung gegangen bist. Du hast mich also nicht nur betrogen, sondern dich dabei auch noch dämlich angestellt!«
Ryan ist so perplex über meinen Wutausbruch, dass ihm der Mund offen steht. Aber ich entschuldige mich nicht, und ich gedenke auch nicht, mich zu beruhigen. Diesmal nicht, verflucht noch mal.
Meine Hände zittern, doch ich bin keine unterwürfige Tussi, die nur lächelt und nickt und nach seiner Pfeife tanzt. Nicht jetzt. Und auch sonst niemals.
»Anna?« Leif fragt mich, was ich tun möchte. Schön, dass mich wenigstens einer hier für eine fähige Erwachsene hält und nicht für ein hilfsbedürftiges, kaputtes Ding.
»Du hättest nicht herkommen sollen«, sage ich und lege, um mich abzustützen, eine Hand aufs Geländer. »Ich meine … Mein Ehemann und eine meiner besten Freundinnen. Während ich bewusstlos war, wurde nicht nur mein ganzes Leben, sondern auch noch einige der wichtigsten Beziehungen darin kaputtgemacht. Jedes Mal, wenn ich glaube, diese ganze Sache endlich im Griff zu haben, fliegt sie mir wieder um die Ohren. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie sich das anfühlt? Sich wegen der Handlungen der Menschen, die einen eigentlich gernhaben sollten, dermaßen klein und dumm zu fühlen?«
»Du verhältst dich vollkommen unvernünftig«, murmelt mein Ehemann, als hätte er es mit einem zornigen Kind zu tun.
In Wahrheit bin ich mit dieser ganzen Angelegenheit bisher relativ gelassen umgegangen. Abgesehen davon, dass ich den ersten Monat nur geheult und mich anschließend in meinem Zimmer vergraben habe. Vielleicht habe ich mich einfach davor gescheut, in der Öffentlichkeit laut zu werden und ein Fass aufzumachen. Mich mit dem Wesentlichen dieser Situation auseinanderzusetzen. Sich in Verdrängung zu üben und sich vor allem zu verstecken hat mir wirklich weitergeholfen. Oder? Wahrscheinlich war dieser Showdown längst absehbar gewesen. Und er ist daran schuld, weil er hier aufgetaucht ist und mich dazu gezwungen hat.
Meine Hände zittern vor rechtschaffener Wut. »Du musst gehen, Ryan. Jetzt.«
Er öffnet den Mund, aber nichts da.
»Jetzt«, wiederhole ich.
Er stampft davon, steigt in seinen neuen Dienst-Chevrolet Silverado und knallt die Tür zu. Unglaublich.
Ich sinke einfach in mich zusammen, bis mein Kinn meine Brust berührt. »Es tut mir so leid.«
»Das ist nicht deine Schuld«, sagt Leif. »Hey. Ist schon in Ordnung. Wirklich.«
Der andere Mann verschwindet ohne ein weiteres Wort wieder nach drinnen.
Ich stehe derweil kurz davor, wie eine Idiotin in Tränen auszubrechen. Bestimmt gab es im Laufe der Menschheitsgeschichte peinlichere Zwischenfälle als diesen hier, mir will im Moment nur leider keiner einfallen. Die Sache ist die: Ich hatte einen schönen Abend. Es ging mir gut. Ich wollte mexikanischen Reis essen, verdammt noch mal. Doch dann musste Ryan mit seinem heuchlerischen, besitzergreifenden Schwachsinn daherkommen.
Ehrlich gesagt würde ich am liebsten laut schreien, aber ich tue es nicht. »Seinetwegen bist du nicht mehr gekommen, um mir vorzulesen.«
Leif nickt nur. Sein offensichtliches Mitleid macht mich fertig. Das Bedauern in seinem Blick und die Sorgenfalten in seinem Gesicht. Ich kann das nicht. Ich kann ihm so nicht gegenübertreten.
»Es tut mir so leid. Alles. Dass er hier aufgetaucht ist und … Es tut mir leid.« Und dann mache ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub.
Das erste Warnzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, ist Stille. Sie ist so vollkommen, dass sie beinahe im Haus widerzuhallen scheint. Keine Musik. Kein Geplapper. Nichts. Mom hasst Stille, und da ihr Auto draußen steht, muss sie zu Hause sein. Seitdem ich Leif besucht habe, ist mehr als eine Woche vergangen, und meine Laune hat sich seitdem nicht nennenswert verbessert. Und daran wird sich erst einmal auch nichts ändern. Ich höre nämlich ein dumpfes Geräusch, als wäre jemand gegen ein Möbelstück gestoßen, gefolgt von einem Kichern.
Oh Gott. Das würde sie nicht tun. Bestimmt nicht.
Dann wird mein schlimmster Albtraum Realität. Diverse Freunde und Bekannte springen hinter verschiedenen Möbelstücken hervor und schreien: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«
Scheiße, nein. Erschieß mich jemand.
Als Mom aus der Küche kommt, setze ich ein Lächeln auf. Ihr Grinsen ist breit und hoffnungsvoll. Während ich von allen Seiten umarmt werde, drückt mir jemand ein Glas Champagner in die Hand. Zola, Lucy, Cho und James sind gekommen, ehemalige Kollegen aus dem Gasthaus, wo ich früher einmal gearbeitet habe. Meine alten Nachbarn Julia und Will. Erin und ihre Freundin Angie vom Tennisclub, wo ich früher gespielt habe. Und last but not least Briar vom College. Gott sei Dank ist sie auch da.
Kein Wunder, dass Mom gesagt hat, sie hätte keine Zeit, mich abzuholen. Und ich sehe furchtbar aus, denn nach der Dusche im Anschluss an die Hydrotherapie habe ich mir die nassen Haare nur rasch geflochten. Das Gleiche gilt für meine abgeschnittenen Jeansshorts und die alte Bluse, die eher für die Gartenarbeit geeignet sind als für eine Geburtstagsüberraschungsparty. Nein, glamourös sehe ich nun wirklich nicht aus.
Pfeif auf Rosé-Champagner. Ich brauche etwas Härteres.