Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Erfahrungen, Erlebnisse, Beobachtungen. Aufgezeichnet und verarbeitet zu kurzen Essays, Glossen und Gedichten. Markus Isenegger sieht genau hin: wie die Menschen miteinander umgehen. Er hört zu, wie sie reden. Und er notiert, was daraus entsteht an Verstehen und an Missverständnissen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 168
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für alles gibt es eine Zeit – Buch Kohelet 3,1
Vorwort
WUNDERN
Wegerich
Im Spitalbett
Mittag im Altenheim
Ein Wanderer
Die Rinde am Baum
Atmosphären
Gegenwart
Sehen oder Übersehen
Vom Finden
Was passiert, wenn nichts passiert
Dasselbe anders
Jos. Christen am Anschlag
Blut berausche mich
STREITEN
Am Rand des Moores
Halt auf Verlangen
Daffech Sii öbbis froge
Über Bäume reden bei einem Glas Wein
Das Leben der Möglichkeiten
Versehentlich
Vom Gummi zum Stierengrind
Der Gockel
Der Zonenwechsel
Am kantigen Tisch
Unter die Träumenden geraten
Eine Stunde genügt
Sowohl-als-auch
Ein Rappenzähler wird «Deputy Executive»
Creux du Van
Mont Tendre
So kann es nicht weitergehen
ENTSINNEN
Die Abdankung
Die kalten Monate lagen hinter uns
Marina Marinazzo
Meine Eltern wurden älter und älter
Das angeknabberte Brotmutschli
Tänzerfreuden
Als wär’s ein Stück von mir
Canto Grande
An diesem Tag
Pater Braun
Der Bergwaldpfarrer
Scheitern
Ich gehe nicht heim, ich bleibe
Nenn mir deinen Namen
Vom Verdingbub zum Gefängnispfarrer
Der Sohlenblitz
ERKUNDEN
Tastend in die Zukunft
Die ersten Sätze
Missionshunde
Brotbrechen an der Strasse
C’est magnifique – vous verrez
Felsenfenster
Der Fussgänger
Kraftwerk1-Areal
Mittagsgeläut vom Kirchturm her
Grosse Welt im Kleinen
Weltsprache Tütsch
Lang galt er bloss als Massenware
Häsch Zyt zum ene Znacht?
Chomm emol vorbii zum Ässe
Die Gesichter von Menschen studieren
Metzger – Zubereiter – Koch
Die Sammelstelle
SCHMUNZELN
Quichotterie
Zu früh – zu alt
Die Wäschenummer
Mein letztes Wort
Zweierlei Wartesaal
Spaeter
Suppe ist ein Menschenrecht
Salzen und dann nicht mehr probieren
Liebessehnsucht
Panzerabwehrsoldat Probst
Plädoyer für ein Label
Sand am Meer
Le falta un tornillo
ANHANG
Nachweis
Zu den Textformen
Dank
Es ist morgens. Wieder einmal ein Chaos im Kopf. Gedankenwirrwarr. Wie soll Markus Isenegger damit durch den Tag kommen? – Er weiss, wie er seine Gedanken ordnen kann. Er setzt sich an sein Pult und schreibt einen Aufsatz. Wird es ein Gedicht, ein Essay, etwas Biografisches, Fantasievolles oder bleibt er bei den Tagträumereien; sind es Erinnerungen an jüngste Ereignisse oder an längst vergangene Tage? Ebenso hat er sich zum Schreiben entschlossen, zusammen mit weiteren Schreiberlingen. In dieser Schreibwerkstatt tauscht er gerne seine Sichtweise mit anderen aus und findet dies bereichernd. In der Spanne zwischen den Schreib-Sitzungen liest er Biografien. Braucht er aber andere Nahrung, vertieft er sich in Fachbücher der Philosophie und Theologie.
Und dies ist seine Berufung: Gedanken und Ansichten geordnet an Zuhörer und Zuhörerinnen weitergeben! Seine Worte werden hin und wieder zu einer Predigt mit Tiefgang und literarischer Sorgfalt. Das Tagesgeschehen entnimmt Markus Isenegger aus den Zeitungen, es darf auch mal der «Blick» sein.
Ursula Korner
Schauen und Staunen.
Durch Lückenhaftes und Unfertigeszum Philosophieren anregen.
Zwischen den Steinplatten
Am Weg vom Ortsbus zum Heim
Flach sich ausbreitend
Einst in den Cevennen
Als Rosetten auf dem Trampelpfad
Beharrlich trittfest
Jetzt respektvoll den Wegerich treten
Ahnend auch der Mensch
Ertüchtigt unter dem Leid
Im Krankenhaus die Beine ausgestreckt
Daliegen und Langeweile spüren
Sonnenblumen mit Kamille und Dill
Ein Sommerstrauss steht auf dem Tisch
Sie haben doch an Dich gedacht
Sonnenblumen mit Kamille und Dill
Hinüber schaun und ein Gefühl
Von Würde, Wert, auch Dankbarkeit
Sonnenblumen mit Kamille und Dill
Julius sitzt am Tisch
Und schweigt
Er ist dement
Wiisi sitzt daneben
Und schweigt
Er ist depressiv
So gibt ein Wort das andere
Er wandert gern allein
Bestaunt ein Jurahaus
«Maman, un marcheur!»
Er zingelt um den Kraterrand
Niesel nässt den Creux du Van
Hinunter zur Areuse
Bei Champ-Moulin
Fragt ihn ein Mann
«En haut ou en bas?»
Die Rinde am Baum
Mit Furchen und Schrammen
Die Rinde am Baum
Leben bedecken und bergen
Die Rinde am Baum
Winterschnee vergeht
Krokusse gucken hervor
Nun kommt der Frühling
Ein Kind darf spielen
Grosse müssen arbeiten
Der Greis setzt sich hin
An der Strasse steht
Ein grauer Gaul am Wagen
Der Kutscher ruft Hü
Ochs am Pflug sinkt ein
Der Bauer entdeckt den Schatz
Und kauft den Acker
Draussen windet es
Ein Gewitter naht heran
Es grollt der Donner
Eine Schande sind
Granaten in Syrien
Aus Schweizer Trotyl
Auf dem Zugersee
Fährt das Schiff Richtung Walchwil
Ich bin Passagier
Der Alpenzug rollt
Mit Loki vorn und hinten
Über den Sattel
Der Brief ist fertig
Es braucht noch die Adresse
Und eine Marke
Wär ich noch jünger
Ich würd die Welt erobern
Doch das geht nicht mehr
«Jeté dans le monde»
Ob Wurm ob Mensch
Geschaffen und gewollt
Bist du seitdem
Von der grossen Liebe
Wie am Bezirksbahnhof die Schachtelhalme aus dem kahlen Schotter herauswachsen, bergseits.__ Wenn am offenen Grab der Priester innehält, während der Regen auf die Schirme rieselt, und sagt: «Horcht, wie der Regen rinnt.» __ Bei der Schifflände zum Rütli den Stumpf eines verwitterten Holzpfostens entdecken, der nicht mehr ins Wasser hinunterreicht, aber an der Landerampe oben fixiert ist mit zwei Zimmermanns-Nägeln übers Kreuz. __ Wie das Gewicht am Flaschenzug des Bahnmasts vom leichten Wind bewegt wird, als baumelte da ein Erhängter. __ Im Zug, der Mann gegenüber mit kräftigen Adern, dürfte ein Syrer sein.__ Als er ins Restaurant eintrat, wurde ihm sogleich klar, als Dritter hatte er hier nichts zu suchen.__ Nachts um halb zwölf im Bahnersatz-Bus still warten zum Transfer an die Stadtperipherie. Diese Schicksalsgemeinschaft, als wären wir Indios in einem Collectivo.__ Mit Elementen arbeiten, wie der Schreiner mit dem Fensterkitt.__ Beim Seiteneingang zum Kloster-Landgasthof meinte er den Aushang zu lesen: «Alpeneier aktuell». Als er nähertrat, las er: «Abfalleimer allgemein». __ Besançon. Während die Kellnerin mit durchscheinender Bluse vorbeizieht, verliert der Monsieur im Gespräch am Zweiertisch den Faden; er muss ihn erst wieder finden.__ Er erhebt sich so langsam vom Tisch, als würde eine Lokomotive den eingezogenen Stromabnehmer ausfahren.__ In jener Hotelpension war die WC-Brille von so billiger Qualität, dass sie beim Aufstehen an seinen Oberschenkeln klebte.__ Im Februar kurz vor der Fasnacht beobachten, wie zwei Stadtarbeiter mit Rutenbesen am Strassenrand Laub und Splitt wegwischen, als ob der Frühling schon da wäre.__ Als er das Podium erstieg, flüsterte ich mir zu: «Verbrauchter Mann!»__ Die Ameisen beobachten, welche die Fugen der Stützmauer entlang zwischen den Steinblöcken quer durchrennen.__ Sein Haarwuchs wie das Fell eines gesunden Hundes.__ Am Bahnsteig stehen und dabei die Füsse in den Winter-Bergschuhen spüren und denken: Keine Sekunde ist langweilig.__ Der Busunterstand im dichten Morgennebel.__ Während er auf mich einredet, gestatte ich mir einen Schnauf, den er nicht bemerkt, weil er redet und redet.__ Er starb nachts um zwei Uhr – ohne Todeskampf. __«Hab ich jetzt alles hergebracht?», schaut die Gastgeberin über den noch leeren Abendtisch und hält Arm und Hand ausgestreckt, als ob sie ihre eigenen Gedanken zählen würde.__ Im Frühzug stadteinwärts fahren, derweil die meisten Leute schweigen; beim Ausstieg frische Herbstluft einatmen.__ An der SBB-Station Steinen ein Handwagen mit aufgestellter Deichsel und zwei Handgriffen wie ein Kruzifix, verstärkt durch zwei diagonale Eisenstäbe. __ Auf dem Platz vor dem Monbijoux beobachten, wie eine Rotte Strassenbauer Kopfsteinpflaster setzt.__ Ein paar letzte Rosen am Seepark im Oktober …
Eines Nachts traf Polizist Bieri auf einen Mann, der unter einer Strassenlampe kauerte und nach etwas suchte.
«Was tust du da?»
«Ich suche meine Schlüssel.»
«Bist du sicher, dass du sie hier verloren hast?»
«Nein, aber hier ist es heller.»
Dieser Witz über Dällebach Kari war beliebt in meiner Pfadibubenzeit.
Unsere Männergruppe trifft sich vierzehntäglich zu Austausch und Gespräch. Heute kommt die Frage auf: Wie war es bei der Bekanntschaft mit deiner damals zukünftigen Braut? Wer war der initiative Part? Wer hat gesucht? Wer wurde gefunden?
Friedrich sitzt im Bahnhofbuffet von Wattwil. Er macht sich bereit für den Zug nach Luzern, sieht den Ausgang zur Plattform links und den Ausgang zur Plattform rechts. Einen Augenblick lang zögert er und wählt dann links. Prompt stösst er draussen auf seinen Neffen Philipp, den er schon lange mal sehen wollte; er wartet auf den Zug nach St. Gallen.
Den Kunstmaler Godi Hirschi aus Ebikon traf ich hin und wieder. Woher er die Inspirationen für die abstrakten Werke habe? «Objets trouvés», entgegnete er. Er gehe öfters spazieren, den Bahndamm entlang, an Abfallhalden und Bauplätzen vorbei. Das eine Mal habe er den Anschnitt einer Schiene gefunden, ein anderes Mal eine zerbrochene Schraube.
Gestern Nachmittag fragte Mitbruder Clemens überall herum: «Hed mer öppr vo euch äs Zeiali?», er brauche bei der Predigt eine Heiligenmedaille, wie man sie einst um den Hals zu tragen pflegte. Niemand hatte so was auf sich. Heute früh gehe ich zur Bushaltestelle. Am Strassenrand liegt Laub und da: Plötzlich glänzt etwas, so wie eine Silbermünze. Ich halte an, bewege es mit dem Fuss. Ein Zehnrappenstück? Tatsächlich ist es eine Muttergottesmedaille. «Äs Zeiali».
1970 in Rhodesien. Der Cotton-Farmer McKay führt seinen Pionierbetrieb mit dreihundert Arbeitern. Er selbst ist bloss fünfundzwanzig. Ein Draufgänger. Wann immer er die siebzig Kilometer in die Stadt fährt, hat er die Shoppingliste bei sich, er mag kaum durch mit allen Geschäften vor Einbruch der Nacht. Einmal passiert ihm, dass er – beim Eintreten in den Farmers Coop – unversehens merkt: «Einkaufen mag ich jetzt nicht; nur rumschauen, ohne Drängen, ohne Rackern und Gier.» Er kommt an Maschendraht vorbei, Angelruten, Blumensamen. Vielleicht bringt ihm dieser Moment eine Ahnung von Musse.
Als Student las ich beim Philosophen Josef Pieper: «Musse steht senkrecht zum Ablauf des Arbeitstages.» In der Schöpfungsgeschichte der Bibel fand ich, am siebten Tag habe Gott geruht und gesehen, dass es schön war. So oder ähnlich, vielleicht auch «schön und heilig».
Vor fünfzig Jahren noch pflegte man den Sonntag als Feiertag zu halten. Ich weilte öfters auf Besuch bei meinen zwei Onkeln, die einen Bauernhof bewirtschafteten. Da erlebte ich den Kirchgang, den Umtrunk der Männer, den Spaziergang übers Feld. Innehalten, schauen, zustimmen.
Nicht jedem ist dieser Sinn geschenkt. Was hatte ich einmal im «Tagesanzeiger-Magazin» gelesen? «Es gibt nichts Langweiligeres, als ein Dorf in der Ajoie am Sonntagnachmittag!» Der Journalist schrieb über die Raser aus dem Nordwest-Zipfel, die mit ihrem Auto oder Motorrad Unfälle bauen, aus purer Langweile ...
Ganz anders erlebe ich selbst die Ajoie. Zu Fuss zwischen den Dörfern Vandlincourt und Coeuve treffe ich einen Fussgänger, seiner Mundart nach aus Basel. Er erzählt mir, wie er öfters an Sonntagen dieselbe Wegstrecke entlang der Combe St-Jean abschreite.
Was mag an Erstaunlichem passieren, wenn nichts passiert!
Ich warte jeden Tag sieben bis zehn Minuten lang im Bushäuschen auf der Sitzbank. Meist fährt der Bus zuerst in die Gegenrichtung, um später von der Endstation her zurückzukommen. Ich ruhe auf den Sitzbeinhöckern, die Füsse waagrecht hingestellt, die Beine leicht gegrätscht. Den Strassenverkehr lasse ich an mir vorbeiziehen. Ich atme, schaue das Wetter und beginne ein Gespräch, wenn sich jemand hinzugesellt. Früher hätte ich dies kaum so getan. Ich wäre knapp eingetroffen, hätte zuvor noch anderes erledigen wollen; stets auf Action aus. Jetzt habe ich Freude am Da-Sein. Am Wiederholen. Dasselbe noch einmal. «Isch das diis Alltagsritual?», will Emilio wissen. Vielleicht. Oder ist es bloss Gepflogenheit, Brauch?
Frühmorgens schreite ich durch den Korridor des Wohnheims, steige dann die Treppe hinab, kehre unten durch den Korridor zurück bis zum Frühstücksraum. Es gäbe die Abkürzung über die Personalstiege, den Lift. Aber ich gönne mir diesen Umweg. Gerne nehme ich das Frühstück zur selben Zeit ein und bereite dieselben Speisen und Getränke auf immer die gleiche Weise zu. Ist dies ein Ritual? Was unterscheidet Ritual und Gewohnheit? Ritual und Alltagstrott? Vielleicht ist es die Bewusstheit. Das Freiwillige. Der persönliche Entscheid.
Mich faszinieren die Biografien von Schriftstellern. Neugierig verfolge ich ihr Verhalten. Der Franzose Francis Ponge habe in der Auvergne jeweils nach dem Mittagessen denselben Rundgang im nahen Wald gemacht, danach die Entdeckungen ins Heft eingetragen. Tag für Tag: «Das Notizbuch vom Kiefernwald.» Jedes Mal dasselbe und jedes Mal anders. Vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der ein Ritual ausmacht: Wiederholen des Gleichen und Erfahren von Anderem. Mir scheint, als komme man dadurch mehr und mehr dem Leben auf den Grund.
«In diesem Raum bitte nicht rauchen. Jos. Christen» – Der Anschlag im Altenwohnheim Bethlehem klebt am Schrank des Aktivierungsraums. Frau Vonarburg ist mit ihrem Mann auf Besuch, sie liest und stutzt. Gewiss kennt sie den Direktor Christen und weiss, dass er Josef heisst: «Aber warum den Namen verstümmeln?», wundert sie sich. Hätte der Direktor statt des Punktes ein «e» hingesetzt, wäre zusätzlich noch ein «f» zu tippen gewesen, und schon hätte «Josef» an der Wand geprangt. Der ausgeschriebene, volle Name!
Ich entsinne mich meines Onkels im Heimatdorf, Schreinermeister von Beruf. Er hatte die Werkbude beschriftet mit: «Mech. Schreinerei», was so viel heisst wie Mechanische Schreinerei. Der Onkel musste kürzen, weil seine Hausfassade nicht lang genug war für die volle Aufschrift.
Würde sich hinter dem «Jos.» ein längerer Name verstecken, könnte ich das Kürzel «Jos.» in etwa begreifen, wie bei Josabad, Joschaphat, Josachar, Joschua, Josifias; denn diese Namen würden deutlich mehr Anschläge erfordern. Aber für Josef haut das Argument nicht hin.
Falls man sich beschränken wollte auf einen Teil des biblischen Namens, würde es naheliegen, grad mal den Punkt wegzulassen, dies wäre ökonomischer. Wie es die Englischsprachigen bei ihren Vornamen tun: Rich (für Richard), Rod (für Rodrigo), Phil (für Philipp), Tom, Chris, Mark …
Wieso brauchen wir überhaupt den Punkt? Als ich Militärdienst leistete, wurde ich nach meinem dritten Wiederholungskurs in die Nachrichtenkompanie des «Regiment 20» umgeteilt. Damals war Bundesrat Paul Chaudet Verteidigungsminister. Abkürzungen mussten mit einem Punkt versehen werden. Das sei so, seit Napoleon in Waterloo den Preussen unterlag und wir somit unter deren Einfluss gerieten. In diesem WK-Jahr, 1963, kam ein pfiffiger Bürosoldat der Nachrichtenkompanie auf die Idee, bei den Armee-Abkürzungen den Punkt wegzulassen. Sdt für Soldat (und nicht mehr Sdt.) zu schreiben; Hptm für Hauptmann (und nicht mehr Hptm.), KP für Kommandoposten, Kpl für Korporal, Oblt für Oberleutnant und so fort. Unsere Probe ergab: Alle Meldungen sind ebenso verstehbar! Ein Krieg könnte auch ohne den Punkt gewonnen oder verloren werden. Unser Hauptmann gab die Entdeckung weiter nach oben, bis an den Generalstab und den Bundesrat. Tatsächlich, das Weglassen wurde später zur Norm in der Armee: Operative Meldungen haben es eilig, da brauche es nichts Überflüssiges, keinen Firlefanz. Sondern Kürze.
Anders ist es im privaten Bereich mit dem persönlichen Namen. Wo es mich angeht, werde ich auf jegliche Abkürzung verzichten. Selbst bei Anschlägen an Türe oder Schrank. Nicht «Mar.» hinschreiben und darüber hinaus auch nicht «Mark» (ohne Punkt), sondern wirklich den vollen «Markus Isenegger». Die Bezeichnung ist schön und erfüllt meinen Anspruch auf Würde.
Heute ist Karfreitag. Nachdem die liturgischen Feiern in der Stadt beendet sind, schlendere ich durch die Gassen, betrete noch eine kleinere Kirche am Weg. Entsprechend der katholischen Ordnung bleibt das Kreuz mit dem angenagelten Jesus im Chor «exponiert», den restlichen Tag hindurch und die Nacht. Ausgestellt. Schmucklos.
Ich setze mich auf eine Bank im vorderen Drittel des Schiffs und schaue. Die Kreuzbalken scheinen neu. Hartholz. Der Korpus dürfte älteren Datums sein, aus der Spätrenaissance oder so. Vielleicht ist er bloss eine Kopie.
Um mich herum herrscht Stille, nur das Hupen von Autos aus der Ferne ist vernehmbar. Ich harre. Plötzlich fällt mir ein Vers ein, den ich aus meiner Bubenzeit bewahrt habe: «Blut Christi berausche mich.» Er gehört zu einer Litanei aus dem Mittelalter, die wohl ein Dutzend Zeilen umfasst. «Seele Christ heilige mich …» Ich verrichtete das Gebet jeweils nach Empfang der heiligen Kommunion.
Gewiss, der Satz vom Blut Christi ist für mich ein fast unmögliches Gebet. Vielleicht ist er das Gebet eines Mystikers; der bin ich aber nicht. Dennoch: Die Zeile fällt mir jetzt zu. Immerhin feiere ich beim Abendmahl das Leiden Christi und spreche selber Sätze aus wie: «Mein Blut, vergossen für alle.»
Nur, was soll ich mit dem Rausch in diesem Gebetsvers? Ich bleibe sitzen und lasse die Gedanken kommen: Blutrausch? Wie im Bürgerkrieg von Liberia mit Charles Taylor und seinen Schergen, obschon ich selber nie dort war; in Peru zur Zeit des Sendero, als ich jenes Land bereiste; heute im Nahen Osten mit den IS-Morden, wovon wir täglich hören ...
Ich atme. Der Gasthof von Inwil kommt mir in den Sinn, wo Onkel Jakob wirtete. An Festtagen waren da meine Eltern und alle Tanten und Onkel mütterlicherseits versammelt. Während Frauen und Kinder sich um die Grossmutter auf dem benachbarten Hof scharten, trafen sich die Männer im Wirtshaus zum Jass. Am Stephanstag, an Pfingsten. Mein Vater war stets mit von der Partie. An solchen Festtagen gab es Bockbier mit erhöhten Alkoholprozenten. So geschah es, dass die leidenschaftlichen Jasser erst um fünf Uhr abends merkten, dass sie die Zunge und auch ihre Füsse kaum mehr zügeln konnten, als es darum ging, mit den Familien heimzukehren ...
An Männerzusammenkünften der politischen Gemeinde brauchte Vater Alkohol, um in Fahrt zu kommen oder zu bleiben. Er profilierte sich als Stegreifredner oder beim Sprechduell mit einem Kontrahenten. Dazu benötigte er eine lockere Zunge. Seine Auftritte, von denen ich einen kleinen Teil mitbekam, erzeugten bei mir ein Gemisch aus Bewunderung und Scham ...
Als Jugendlicher blieb ich abstinent bis neunzehn. So erlebte ich die Trinkgelage der Studentenschaft eher als Beobachter denn als Festbruder. Ich musste älter werden, bis ich den Rausch als Entfesselung begriff, als Erfahrung von Freiheit. Aussteigen aus dem Korsett der Alltagsarbeit. Als ich etwa fünfundzwanzig war, entstand im Anschluss an die Feuerwehrprobe ein spontanes Fest. Heiter ging es zu und her. Oder an der Fasnacht in der «Laterne», wo wir festsassen bis in den frühen Morgen hinein ...
Spirituellen Rausch erlebte ich am ehesten auf dem Jakobsweg während des wochenlangen Marsches. Im selben Rhythmus schreiten, dazu die Einsamkeit, die Erschöpfung und Empfänglichkeit, das Getragen-Sein auf der Erde. All dies erzeugte eine Empfindung von Glück. Vielleicht war es einfach der Adrenalinrausch – denke ich jetzt –, ein vom Körper selbst produziertes Opioid, das mir dieses Gefühl ermöglichte. Und mich die Schmerzen zwar nicht vergessen, aber doch ertragen liess. Berauscht war ich von der Weite, der Stille, der Sonnenglut.
«Heiliger Camino, berausche mich!», so etwas mag ich beten. Aber «Heiliges Blut …»? Noch verweile ich vor dem aufgerichteten Kreuz. Blicke auf den Korpus. Den gesenkten Kopf. Die geöffnete Seite. Und weiss um ein Geheimnis, das ich wohl nie ganz ergründen werde.
Erwägen.
Mut fassen und kundgeben.
Einfordern,
ohne zu versteifen.
Aus lauter Langeweile
Eines Sonntags Nachmittag
Am Rand des Moores
Vier Buben hinter Siloballen
Bei der kleinen Scheune
Am Rand des Moores
Foppen aus dem Versteck
Einen älteren Passanten
Am Rand des Moores
Und fordern eine Rüge heraus
Nur damit etwas läuft
Am Rand des Moores
Während der Reise im Regionalzug erschallt die Durchsage: «Wolhusen Weid. Halt auf Verlangen». Ich entdecke den roten Knopf bei der Ausgangstür. Sobald ich ihn drücke, wird er grün. Ansonsten fährt der Zug durch. – Einst fuhr ich mit der Rhätischen Bahn durch die Schlucht des Vorderrheins, da hörte ich: «Fermada sin dumonda». Ein Zürcher Wanderpaar verstand es zu spät und verpasste den Halt. Der Zug rollte weiter bis Ilanz.
Vor Jahrzehnten gab es bei den Bahnen diesen Knopf noch nicht. Es gab den Kondukteur, dem man das Billett zeigte, und der dann die Haltestellen nach vorne meldete. Die Züge fuhren langsam. Wer am Bahnsteig wartete, konnte rechtzeitig erkannt und aufgenommen werden. An einem der Strommasten unterwegs gab es den Grossbuchstaben «H». Wir Schüler hatten zur Wettbewerbsaufgabe: «Wofür steht das «H» auf der Tafel der Seetalbahn?» Heute gibt es schweizweit vor jeder Haltestelle je ein Lichtsignal für den Lokführer. Ungefähr vierhundert Meter vor dem Halt blinkt es; zuvor muss ich als Zusteigender den Knopf am Holzbalken drücken und so den Blinker aktivieren.