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Wohl behütet wächst Jeanne mit ihrem großen Bruder Jando und der kleinen Schwester Teya in Ruanda auf. Die Eltern - beide Lehrer und Angehörige des Volkes der Tutsi - erziehen ihre Kinder mit liebevoller Strenge. Doch kurz nach Jeannes achtem Geburtstag findet ihre sorglose Kindheit ein jähes Ende: Im April 1994 beginnt in Ruanda der Völkermord und in nur 100 Tagen verlieren eine Million Menschen ihr Leben. Unter den Toten sind Jando, Teya und Jeannes Eltern. "Über tausend Hügel wandere ich mit dir" erzählt die Geschichte eines beeindruckenden Mädchens, das vor den Mördern seiner Familie flieht. Das Buch erzählt von Jeannes Angst und Verzweiflung, aber auch von ihrem Mut, ihrem Stolz und dem unbedingten Willen, die Katastrophe zu überleben. Weit weg von Ruanda beginnt sie ein neues Leben. Jeannes Geschichte ist einzigartig und doch ist ihr Schicksal exemplarisch für die Not unzähliger Menschen, die heute Flucht und Vertreibung erleiden.
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Seitenzahl: 352
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Hanna Jansen
ÜBER TAUSEND HÜGEL WANDERE ICH MIT DIR
Roman
Peter Hammer Verlag
Nicht vorüber
Was vorüber ist
ist nicht vorüber
Es wächst weiter
in deinen Zellen
ein Baum aus Tränen
oder
vergangenem Glück
Rose Ausländer
Dies ist die Geschichte von Jeanne d’ Arc Umubyeyi,
Tochter von Florence Muteteli und Ananie Nzamurambaho, Schwester von Jean de Dieu Cyubahiro, genannt Jando, und Catherine Icyigeni, genannt Teya.
Jeanne wurde am zweiten Januar 1986 in Kibungo-Zaza geboren.
Im April 1994 wurden ihre Eltern und Geschwister Opfer des Völkermords in Ruanda.
Jeanne verlor auch ihre Tanten, Onkel, Vettern und Cousinen. Nahezu alle Tutsi, die zu der Zeit in Kibungo lebten, wurden umgebracht.
Jeanne entkam als Einzige ihrer Familie dem Massaker.
Zwei Jahre später, im Februar 1996, wurde sie von einer in Deutschland lebenden Tante in unser Land geholt und zu uns gebracht.
Seitdem gehört Jeanne zu unserer Großfamilie, in der dreizehn Kinder aus aller Welt ein neues Zuhause fanden.
Dieses Buch entstand, weil Jeanne sich erinnern und erzählen wollte. Ich widme meine Arbeit Jeannes erster Familie und ihrem Gedenken.
Hanna Jansen
Il y avait une Maison sur la Colline
Ich höre dir zu.
Ich habe immer geglaubt, dass es Schrecken gibt, die den Mund versiegeln. Nicht nur den Mund. Auch Herz und Sinne, zumindest für lange Zeit. Dass es Schrecken gibt, die alle Geschichten sterben lassen, weil sich die Worte verweigern.
Aber du willst erzählen.
Ich werde dir zuhören wie schon viele Male zuvor. Ich werde versuchen, das Unbegreifliche aufzunehmen, und sehen, was mit mir geschieht.
Wir werden unsere Worte zusammentun und ich werde sie aufschreiben. Vielleicht ist es ja so, dass das einmal in Worte Gefasste von uns weggeht. Oder zu etwas wird, von dem wir selbst einen Schritt zurücktreten können. Wenn uns das gelingt, wird der Schmerz, eingebettet in ein Ganzes, vielleicht irgendwann zur Ruhe kommen.
Lass uns eine Brücke bauen, die uns über Unerträgliches hinwegführt. Ich bin sicher, dass wir, hin- und hergewandert, auf beiden Seiten Liebe finden werden.
Jeanne hockte in der kleinen Blechwanne, die bereits am Nachmittag nach draußen in den Innenhof gebracht worden war, damit die Sonne das Wasser erwärmen konnte.
Das Wasser hatten die Kinder selbst zum Haus getragen. Sie waren im Verlauf des Tages mehrere Male über den schmalen Pfad zu der entfernten, sorgfältig bewachten Wasserstelle gezogen, wo man es an einem Kiosk kaufen konnte. Morgens, mittags und abends wanderten sie in Begleitung der Größeren und einiger Erwachsener dorthin, um den notwendigen Tagesvorrat zu sichern. Im Schatten von Bananenpalmen, die rechts und links den Pfad säumten, legten sie schwatzend, manchmal auch singend den Weg zurück. Vorbei an einem Bambusfeld, dessen armdicke Stäbe meterhoch emporragten, etwas später durch ein Eukalyptuswäldchen, das einen großen Froschteich barg. Der schmutzige Wasserspiegel des Teichs senkte sich selbst in trockenen Zeiten nie, denn er wurde fortwährend durch mehrere aus dem Boden sprudelnde Quellen getränkt. Hier holten sich die ihr Wasser, die das käufliche nicht bezahlen konnten.
Bei einem der vielen Gänge hatte Jeanne unterwegs einmal weit mehr als tausend Schritte gezählt.
Wenn Bananensaft hergestellt werden sollte, brauchte man viel Wasser. Die Jüngeren, zu denen auch Jeanne noch zählte, balancierten die kleineren Plastikkanister auf dem Kopf, gehalten von einem Kranz aus Bananenblättern oder einem um das kurz geschorene Haar geschlungenen Tuch, in dem der harte Boden eingebettet war wie in einem Nest.
Die älteren Kinder– unter ihnen Jeannes Bruder Jando– und die Erwachsenen schleppten die großen Kanister über einen langen, stabilen Stock gehängt, der an beiden Enden gehalten wurde.
Das Wasser kam aus den Bergen. Es gab genug davon. Aber man musste es zu den Häusern bringen. Und so war Wasserholen ein ebenso unabänderlicher Teil des Tagesablaufs wie Aufwachen und Schlafengehen.
Als sich Tante Pascasias kräftige Hand mit dem Schwamm näherte, zog Jeanne den Kopf ein und krümmte ihren Rücken zu einem Katzenbuckel. Die Augenlider so fest wie möglich zusammengekniffen und innerlich vor Ungeduld zappelnd, ertrug sie es, von Kopf bis Fuß eingeseift und abgeschrubbt zu werden, bis ihre Haut glühte. Gegen den Staub des Tages kannte Tante Pascasia kein Erbarmen. Jeanne hasste dieses unvermeidliche abendliche Reinigungsritual, fand es unter ihrer Würde. Sie war sechs und wollte nicht mehr gewaschen werden.
Zu Hause, bei den Eltern, war es ihr einmal gelungen, das noch sehr junge Hausmädchen Julienne zu überreden, sie diese Arbeit selbst tun zu lassen. Allerdings hatte es ihr den lautstarken Spott aller Anwesenden eingebracht, als sie– unübersehbar– einen ihrer Füße vergessen hatte. Und Julienne hatte Ärger bekommen.
Hier, bei der Großmutter auf dem Land, wo Jeanne jedes Jahr zusammen mit allen anderen Enkelkindern die langen Sommerferien von Juni bis September verbrachte, gab es jedoch kein Entkommen.
Jeanne hörte ihre kleine Schwester in einer zweiten Wanne neben sich jammern. Und zwischendurch die gereizte Stimme ihrer Cousine Claire, die schon Frauenarbeit verrichten durfte.
»So halt doch endlich still, Teya!«, fuhr sie die Kleine an.
Teya hat Seife in die Augen bekommen, vermutete Jeanne und kniff vorsichtshalber ihre Augen noch fester zu, weil sie spürte, wie die scharfe Lauge aus den Haaren über ihr Gesicht rann.
Insgeheim war sie froh, dass sie dieses Mal Tante Pascasia für das Bad erwischt hatte. Die Hände der Tante packten zwar hart und entschieden zu, waren dafür aber viel geübter als die von Claire und so hatte Jeanne gute Aussichten, heute früher als Teya davonzukommen.
Erste zu sein, bei allen nur denkbaren Gelegenheiten, war ein Dauerkampf zwischen ihr und der jüngeren Schwester. Nicht selten verlor Jeanne dabei, was sie schrecklich wurmte, weil ihr die beiden Jahre, die sie Teya voraushatte, doch eigentlich einen Vorteil hätten sichern müssen. Aber Teya war gewitzt, manchmal auch ein kleines Biest, wenn es darum ging, die Erwachsenen für sich einzunehmen und auf ihre Seite zu bringen. Wenn Teya die Waffe des durchdringenden, anhaltenden Weinens einsetzte, musste Jeanne das Feld räumen, nur weil sie die Ältere war.
»Hörst du nicht, wie deine kleine Schwester weint!«, warf ihr die Mutter in solchen Fällen vor. »Warum kannst du denn nicht nachgeben?« Und Jeanne fügte sich, wenn auch innerlich grollend. Es ist ungerecht, dachte sie jedes Mal, sprach es aber niemals aus.
Tante Pascasia ließ den Schwamm fallen und schöpfte mit beiden Händen Wasser, um es über Jeannes Kopf auszuschütten, damit die Seife fortgespült wurde. Dies geschah der Gründlichkeit halber ein paarmal hintereinander. Jeanne richtete sich auf und stellte sich hin. Jetzt würde sie es gleich hinter sich haben. Das lauwarme Wasser strömte vom Kopf über den Körper und etwas von der beißenden Lauge drang nun doch in ihre Augen. Es brannte schrecklich, aber Jeanne presste die Lippen zusammen und gab keinen Laut von sich. Auch in Sachen Tapferkeit konnte man schließlich gewinnen.
Außerdem wollte sie durch nichts Tante Pascasias Unmut hervorrufen, kein Risiko eingehen, länger als unbedingt nötig hier festgehalten zu werden. Sie konnte es kaum erwarten, sich vor dem Essen mit den anderen unweit der Feuerstelle einzufinden, wo sich die Kleinen Abend für Abend versammelten. Am Fuß des Großmutterstuhls ließen sie sich auf Strohmatten nieder– alle inzwischen blitzsauber bis zu den Haarspitzen und in bequeme Hauskleider gesteckt– und lauschten den Geschichten der alten Frau, während die Tanten und Véneranda, das Hausmädchen, am Feuer hantierten und das Abendessen zubereiteten.
Jeanne liebte die Geschichten der Großmutter. Wenn sie dem ruhigen, dunklen Fluss der alten Stimme folgte, schloss sie zwischendurch die Augen, damit sie alles genau vor sich sah. Beinah gierig schluckte sie die Sätze, voll Verlangen, sich Wort für Wort einzuprägen, bis sie die meisten Geschichten auswendig kannte. Manchmal ärgerte sie die anderen damit, dass sie sich in eine Erzählung einmischte und etwas vorwegnahm.
»Deine Fingernägel müssen geschnitten werden, Dédé!«, sagte Tante Pascasia mit strenger Miene. Obwohl es noch immer brannte, riss Jeanne entsetzt die Augen auf und eine dicke Träne spülte den Rest der Lauge fort. Fingernägel schneiden bedeutete einen nicht mehr einzuholenden Zeitverlust. »Wie schaffst du es nur, dich jeden Tag so schmutzig zu machen!«, murrte die Tante und neigte ihr breites, energisches Gesicht gefährlich dicht über Jeanne, die jedoch keine Antwort gab. Wovon man so schmutzig wurde, wusste Tante Pascasia schließlich genau. Vom Streunen durch die Bananenhaine, von Kochspielen mit Sand und abgerupften Blättern, vom Versteckspiel, vom Klettern auf die weit ausgebreiteten Äste der Avocadobäume hinter dem Gehöft der Großmutter. Heute war Jeanne auf der Flucht vor Jando beim zu schnellen Abstieg von einem Baum auf den staubigen Boden geplumpst. Glücklicherweise hatten Tante Pascasias kritische Augen die Schürfwunde am Knie bis jetzt übersehen.
Unwillig verschränkte Jeanne ihre Hände hinter dem Rücken. »Meine Nägel sind gerade erst geschnitten worden!«, behauptete sie. Kaum waren die Worte heraus, landete Tante Pascasias Hand schon mit einem schmerzhaften Klaps auf Jeannes Hinterteil. Jeanne senkte stumm den Kopf und schielte aus den spitzen Winkeln ihrer Mandelaugen auf das Gesicht der Tante, wo sie nichts als grimmige Entschlossenheit entdecken konnte. Weitere Widerworte verbot der Respekt, außerdem waren sie zwecklos, konnten sogar die sofortige Verbannung ins Haus zur Folge haben oder ein Verbot, an der Geschichtenrunde teilzunehmen. Schweren Herzens ergab sie sich, wobei sie neidisch zu Teya hinüberblinzelte, die, schon trockengerubbelt, gerade mit Melkfett eingerieben wurde. Die hellbraune Haut in dem kleinen, runden Gesicht der Schwester glänzte im tiefen Leuchten der Abendsonne und ihre Zähnchen strahlten in einem triumphierenden Lächeln auf. Nur mit Mühe konnte Jeanne ihre Zunge zähmen, die wie ein spitzer Dolch aus ihrem Mund stoßen und sich Teya in voller Länge entgegenstrecken wollte.
Einige Zeit später fand sich Jeanne als Letzte in der Runde der sauberen Kinder ein. Dicht beieinander hockten sie auf den Strohmatten, die Augen voller Erwartung auf das Haus der Großmutter gerichtet. Bis sie zum Essen gerufen wurden, durften sie sich nicht mehr von der Stelle rühren. Jeanne stellte erleichtert fest, dass die Großmutter noch nicht erschienen war. Sonst saß sie immer schon da und nahm die Kinder in Empfang, die sich nach und nach bei ihr einfanden. Aber heute war ihr Stuhl leer. Das besänftigte Jeannes bohrendes Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, und auch ihre heimliche Wut. Sie hob das Kinn und blickte über die Runde hinweg in die vordere Reihe, wo ihr ein zweites Mal Teyas Siegeslächeln begegnete. Direkt am Fuß des Großmutterstuhls.
»Pah!«, machte Jeanne. Betont langsam ließ sie sich auf den einzigen noch freien Platz neben ihrer Cousine Saphina sinken, schob die Unterlippe vor und wandte ihr Gesicht der Feuerstelle zu, wo Véneranda in einem der übergroßen Töpfe rührte.
Vor dem Bad hatte Jeanne bei einem raschen Blick in die Töpfe festgestellt, dass es wieder Süßkartoffeln und Gemüsesoße gab. Sie mochte keine Süßkartoffeln. Deshalb hatte sie vorsorglich ein paar von den zuckersüßen roten Bananen und eine safttriefende Mango in sich hineingestopft. Wenn sie sich später mit den Kleinen um die gemeinsame große Schale zum Essen versammeln würde, wollte sie, von den Erwachsenen unbeobachtet, mit spitzen Fingern nur nach ein paar Bohnen fischen.
Véneranda legte den Rührstock beiseite und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie war seit vielen Jahren Hausmädchen bei der Großmutter und Jeanne kannte sie, seit sie auf der Welt war. Aber Vénerandas Zeit als Hausmädchen ging dem Ende zu. Sie war schon zwanzig– viel zu alt für ein Hausmädchen– und sie würde bald heiraten.
Ohne Véneranda konnte sich Jeanne die Ferien bei der Großmutter kaum vorstellen. Sie gehörte einfach dazu. Meist gut gelaunt, trieb sie lauter Unsinn mit den Kindern, lachte ausdauernder und lauter als sie alle und ließ die Kleinen auf ihrem Rücken reiten, wenn sie, mit ihren langen Beinen weit ausholend, den Weg zur Wasserstelle entlanggaloppierte. Ihre Bewegungen schienen einem geheimen Rhythmus zu folgen, oft tanzte oder sang sie und sie konnte es nicht lassen, auf allem herumzutrommeln, was ihr unter die flinken Finger geriet.
Die Kinder foppten sie gerne, sie ließ es sich gutmütig gefallen. Nur wenn es jemand zu bunt trieb, verschaffte sie sich Respekt, indem sie sich die Kleinen kurzerhand schnappte und mit einem Klaps zur Vernunft brachte.
Als Einzige der Hausmädchen durfte Véneranda sich dieses Recht der Erwachsenen herausnehmen. Den jüngeren Hausmädchen war es streng verboten, ihre Hand zu erheben, und sie hatten es oft schwer, sich gegen die Quälgeister durchzusetzen.
Wehmütig betrachtete Jeanne die junge, so vertraute Frau, die schon in wenigen Wochen nicht mehr da sein würde. Auch jetzt sang Véneranda. Oder vielmehr summte sie eine Melodie, die Jeanne schon oft von ihr gehört hatte. Die Kraushaare, zu dünnen, kurzen Schnüren gedreht, standen ihr wie Stacheln eines Kaktusses angriffslustig vom Kopf ab und das wilde Blumenmuster auf ihrem Kleid forderte den Tag heraus, noch ein wenig auszuharren, bevor die Nacht stockdunkel über alle hereinbrechen würde.
Als Véneranda Jeannes Blick bemerkte, schenkte sie ihr ein hintergründiges Lächeln, das die Farbe des Abends hatte. Es wirkte wie Melkfett auf Jeannes kleine, durch die eben erlittene Niederlage geschundene Seele. Mit einem leichten Zittern um die Mundwinkel gab sie das Lächeln zurück.
In diesem Augenblick kündigte das Geräusch der sich öffnenden Tür die Großmutter an. Jeanne fuhr herum und stimmte in die Begrüßung der anderen ein.
»Guten Abend, Nyogokuru!«, riefen die Kinder.
Aufrecht, eine Hand auf ihren blank geschnitzten Stock gestützt, in der anderen die Tabakpfeife haltend, trat die ungewöhnlich große, alte Frau aus dem Haus, um sich Schritt für Schritt der Schar ihrer Enkel zu nähern. Dabei zeigte ihr Gesicht den angespannten Ausdruck unterdrückten Schmerzes. Seit einiger Zeit steckte eine schlimme Krankheit in ihren Knochen, die sie zeitweilig auf ihr Lager zwang und jede ihrer Bewegungen zur Qual werden ließ. Die Arbeit auf ihren Feldern konnte sie schon lange nicht mehr selbst verrichten und auch andere Tätigkeiten forderten so viel Kraft von ihr, dass ihre Töchter für sie einspringen mussten oder Leute, die vorübergehend Unterkunft bei ihr fanden. Dennoch versammelten sich Jahr für Jahr die Enkel in den Ferien auf ihrem Anwesen außerhalb des Ortes Kibungo und noch erfüllte sie mit Freude die Aufgabe, die Kinder zu hüten und vor dem Abendessen mit Geschichten wach zu halten.
Wie immer hatte sich Nyogokuru für den Abend sorgfältig gekleidet. Heute trug sie ein leuchtend blaues Umucyenyero, ein um den Körper geschlungenes Tuchgewand, das bis zu den in bequemen Pantoffeln steckenden Füßen hinunterfiel. Darüber das Umwitero, eine breite, schräg über die Schulter gebundene Schärpe, auf deren warmen Gelb- und Erdtönen sich ein Vogelmuster vom leuchtenden Blau des Unterkleides wiederfand. Aus demselben bunt gemusterten Stoff war auch das Igitambaro, ein um den Kopf gewundenes Tuch, das die Großmutter wie einen Turban trug.
Bevor sich Nyogokuru auf ihrem Stuhl niederließ, wanderten ihre Augen prüfend über die Köpfe der Enkelkinder. Es waren wache, dunkelbraune Augen über breiten, vorstehenden Wangenknochen in einem beinahe faltenlosen Gesicht. Die ungewöhnliche Form der Wangen, die den unteren Teil des Gesichtes wie ein Dreieck erscheinen ließ, war ein Merkmal der Frauen in der Familie. Auch Jeanne hatte es geerbt, deshalb fehlten ihrem Gesicht schon jetzt alle kindlichen Rundungen.
Nachdem sich Nyogokuru gesetzt hatte, zündete sie sich mit Bedacht ihre Pfeife an. Den klaren Blick auf die Kinder gerichtet, nahm sie einen tiefen Zug daraus. Gespannt warteten alle auf das, was sie sagen würde. Und als sie endlich den Mund öffnete, um zu sprechen, sah Jeanne ihre Worte mit einer kleinen Rauchwolke in den Abend davonsegeln.
»Nun, wie habt ihr den Tag verbracht?«, fragte die Großmutter. Viele Münder öffneten sich gleichzeitig, plapperten lebhaft durcheinander und über dem Gewirr der Antworten erhob sich Teyas klares, helles Stimmchen, das für alle hörbar verkündete: »Dédé ist vom Baum gefallen!«
Verräterin!, dachte Jeanne, von stürmischen Rachegedanken erfüllt. Na, warte! Rasch senkte sie die Lider, um das wütende Funkeln in ihren Augen zu verbergen. Denn wenn sie das Schicksal oder den Zorn der Großmutter zu sehr herausforderte, konnte es passieren, dass sie ihre Sachen packen und vorzeitig zu ihren Eltern zurückkehren musste.
Es fiel Jeanne nicht leicht, so zu sein, wie man es von einem Mädchen ihres Alters erwartete. Sanft und nachgiebig war sie nicht. Auch nicht immer gehorsam. In ihr lebte der Widerspruch, eine kleine, ständig flackernde Flamme, die plötzlich hell auflodern und in hitzigen Worten aus ihr hervorzischen konnte. Worte, die besser ungesagt geblieben wären.
Jetzt zog Jeanne verstohlen den Saum ihres Kleides über die Schürfwunde am Knie und beugte den Nacken, weil sie erwartete, dass im nächsten Moment eine scharfe Zurechtweisung auf sie herunterfallen würde. Doch die Rüge blieb aus.
»Was möchtet ihr denn heute hören?«, fragte Nyogokuru stattdessen. Jeanne hob überrascht den Kopf und sah die Großmutter lächeln.
»Das Märchen von Blanche Neige!«, krähte Teya.
»Nicht schon wieder!«, maulte Saphina. »Lieber die Geschichte von dem Mädchen aus der Kalebasse, die bei ihrem Prinzen bleiben musste. Die haben wir schon schrecklich lange nicht gehört. Bitte, Nyogokuru!«
Lionson, einer der beiden einzigen Jungen in der Runde, sprang auf. Er war Tante Pascasias Jüngster, einen halben Kopf kleiner als Jeanne, aber er machte seinem Namen »Sohn des Löwen« alle Ehre. Nichts konnte ihm grausig und gefährlich genug sein. Jetzt bleckte er die Zähne und meldete sich lautstark zu Wort: »Die Geschichte vom Untier, das seine zehn Kinder aufgefressen hat!«, forderte er, mit den Augen rollend.
»Ih, nein, doch nicht die!«, kreischten die Mädchen.
Das Klingeln einer Glocke und das dumpfe Trampeln von Hufen mischten sich ein. Gleichzeitig verriet ein leichtes Vibrieren des Bodens, dass Gatori, der Hirtenjunge, mit den Kühen aus den Bergen zurückgekehrt war und jeden Augenblick durch das große Tor einziehen würde. Die Kleinen vergaßen den Streit um ihre Geschichten und wandten die Köpfe, um das bevorstehende Schauspiel zu verfolgen.
Wenig später erschien Nyampingas geschecktes Haupt mit den langen, gebogenen Hörnern im Eingang. Als älteste Kuh übernahm sie die Führung, schritt den anderen mit prall gefülltem Euter schwerfällig voraus und steuerte auf das Stallhaus zu, wo sie von Muzehe, dem alten Hilfsarbeiter mit den dicken Füßen, bereits erwartet wurde.
Muzehe war einer derjenigen, die sich das Recht, bei der Großmutter zu wohnen und zu essen, durch Arbeit verdienen mussten. Eines Tages war er gekommen und geblieben. Seine Aufgabe war vor allem das Melken der Kühe. Er nahm Nyampinga in Empfang und führte sie in den Stall, in der Gewissheit, dass die anderen drei ihr folgen würden, ebenso die beiden Kälber.
Jetzt ließ sich auch Gatori blicken. Eilig trat er durch das Tor, ein hoch aufgeschossener, magerer Vierzehnjähriger, dessen bloße Arme und Beine von einer dicken Staubschicht bedeckt waren. Mit einem Stöckchen trieb er die Kälber vor sich her, sorgsam darauf bedacht, dass keines von ihnen aus der Reihe tanzte. Seine Tagesarbeit war getan. Gleich nach dem Waschen würde er sich mit den großen Jungen treffen. Jando und seine beiden Cousins warteten schon am Zaun auf ihn. Als Gatori zur Begrüßung das Stöckchen hob und ihnen zugrinste, riefen sie etwas und winkten.
Jeanne sah die Kühe im Stallhaus verschwinden und sandte ihnen einen sehnsüchtigen Blick nach. Noch lieber, als still auf der Strohmatte zu Nyogokurus Füßen zu hocken, wäre sie jetzt im Stall gewesen. Sie wollte ihre Lieblingskuh Tsembatsembe streicheln und sich von ihrer rauen Zunge sanft über den Kopf lecken lassen.
»Ich werde euch heute eine Geschichte erzählen, die ihr noch nicht kennt«, kündete Nyogokuru an. Jeanne drehte sich um, schlang die Arme um die Knie und hob aufmerksam das Gesicht. Und ein zweites Mal traf sie das Lächeln der Großmutter. »Es ist die Geschichte der Trommeln«, sagte die alte Frau. »Ich erzähle euch, wie sie auf die Welt gekommen sind.« Einen Augenblick lang schwieg sie, als wollte sie den Kindern Gelegenheit geben, sich dem, was nun folgen würde, in Gedanken zu nähern. Die Augen der Enkel hingen begierig an ihren Lippen, die sich zunächst noch einmal um das Mundstück der Pfeife schlossen. In die eingetretene Stille drang Jandos Ruf nach Gatori und gleich darauf erklang das vielstimmige Quaken der Frösche aus dem nahe gelegenen Wäldchen.
»Vor sehr, sehr langer Zeit lebte einmal ein König, der über ganz Afrika regierte«, begann Nyogokuru. »Es war eine Zeit des Friedens und Wohlstands, denn jeder im Land besaß genug, um zu leben, und auch der König hatte alles, was er brauchte. Und weil er ein sehr weiser und gerechter König war, wollte er dafür sorgen, dass es allen Untertanen immer gut ging und niemand neidisch auf den anderen sein musste. Aber das Reich war ungeheuer groß und so dauerte es oft viel zu lange, bis eine Nachricht zum König gelangte, oder eine Nachricht des Königs zu seinen Untertanen. Wenn irgendwo Hilfe gebraucht wurde oder sich etwas Besonderes ereignet hatte, kamen seine Boten oft zu spät. Immer wieder sann der König darüber nach, wie er Abhilfe schaffen könnte, doch ihm fiel nichts ein.
So wandte er sich eines Tages an den großen Himmelskönig und bat ihn um Rat.
›Ich werde dir etwas schenken, was euch dazu dienen soll, Nachrichten in Windeseile überall im Land zu verbreiten‹, versprach der Himmelskönig. ›Sende deine klügsten, tapfersten und friedlichsten Boten zu mir, um die Gabe in Empfang zu nehmen. Sie müssen bergauf und bergab über tausend Hügel wandern, bis sie den einen erreichten, der direkt in den Himmel führt.‹
Der Herrscher Afrikas dankte dem Himmelskönig und rief sogleich zehn seiner besten Boten herbei, um sie auf den Weg zu schicken. Er gab ihnen reichlich zu essen und zu trinken mit und befahl ihnen, sich dem großen Himmelskönig friedvoll und demütig zu nähern.
Aber die Boten dachten an die Gefahren, die ihnen unterwegs begegnen konnten, und brachen gegen den Befehl ihres Königs von Kopf bis Fuß mit Speeren und Macheten bewaffnet auf. Tagelang, wochenlang wanderten sie bergauf und bergab, überwanden einen Hügel nach dem anderen, doch sie gelangten nie zu dem, der Himmel und Erde miteinander verbindet. Und sie kehrten niemals zurück.«
Nyogokuru unterbrach sich, um ein paarmal genussvoll an ihrer Pfeife zu saugen. Erst nach einer Weile erzählte sie weiter: »Da beschloss der König, selbst zu gehen. Noch einmal rief er zehn seiner besten Männer zusammen, die ihn begleiten sollten, und dieses Mal gingen sie, seinem Wunsch gemäß, unbewaffnet. Sieben Tage und sieben Nächte wanderten sie bergauf und bergab, bis sie am Abend des achten Tages endlich an den Fuß des Hügels gelangten, der Himmel und Erde verbindet. Dort legten sie sich zur Ruhe und schliefen schon bald vor Erschöpfung ein.
Als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlugen, sahen sie auf der Kuppe des Hügels eine furchtbare Spinne, deren riesige Gestalt den Himmel verdunkelte. Aus acht glühenden Augen starrte sie drohend zu ihnen hinunter.«
Wieder verstummte Nyogokuru. Jetzt ging ein Raunen durch die Reihen ihrer Zuhörer. Lionson stupste den kleinen Blando neben sich an, der sich mittlerweile der Länge nach auf der Strohmatte ausgestreckt hatte und eingeschlafen war. Blando richtete sich auf, blinzelte kurz und ließ sich wieder zurückfallen. Lionson rüttelte empört an seinem Arm. Endlich wurde es doch spannend!
»Der König musste all seinen Mut zusammennehmen«, fuhr die Großmutter fort. »Langsam begann er den Hügel hinaufzusteigen, Auge in Auge mit dem scheußlichen Untier, das auf ihn wartete, und hinter sich seine Männer, die sich zu Tode fürchteten.
›Was wollt ihr?‹, rief die Spinne und ihre Stimme hallte donnernd und tausendfach von den Hügeln zurück, sodass die Männer sich erschrocken zu Boden warfen. Der König aber blieb stehen.
›Wir kommen in friedlicher Absicht‹, erklärte er, ›der große Himmelskönig erwartet uns.‹ Und bat das Untier, ihnen den Weg zu weisen.
›Wenn ich euch helfe… ‹, fragte die Spinne lauernd, ›wirst du mir dann etwas dafür geben, etwas, das dir besonders kostbar ist?‹ Der König zögerte nicht lange. Leichten Herzens versprach er, dass sie sich vor seiner Heimkehr etwas von ihm wünschen dürfe.
Da begann die Spinne in kürzester Zeit ein Netz zu weben, das von der Erde bis in den Himmel reichte. Der König und seine Boten kletterten daran hinauf bis zum Eingang, wo der große Himmelskönig sie freudig empfing. Er gab ihnen zu Ehren ein großes Fest, drei Tage und drei Nächte feierten sie mit köstlichen Speisen und Getränken und am Ende nahm der Himmelskönig den Erdenkönig beiseite.
›Ich weiß, dass du ein weiser und gerechter König bist‹, sagte er. ›Deshalb gebe ich dir etwas, das in Zukunft alle Teile deines großen Reiches zusammenhalten wird. Ich schenke dir die Stimme Afrikas, deren Klang einzigartig ist. Sie wird euch sagen, wenn ein Mensch zur Welt gekommen ist, sie wird die Toten singend in ihr Reich begleiten, sie wird euch rufen, wenn sich Bräutigam und Braut vereinen. Und ihr werdet tanzen, wenn sie mit euch spricht.‹
Gleich darauf erschienen zehn Diener, die zehn Trommeln vor sich hertrugen, aus edlem Holz geschnitzt und mit prächtigen Tierfellen bespannt, eine schöner als die andere. Die größte von ihnen setzten sie dem Erdenkönig zu Füßen. ›Das ist Kalinga, die Königstrommel‹, sagte der Himmelskönig. ›Sie gehört nun dir und wird deinen Ruf verbreiten.‹
Dann begann einer der Diener auf seiner Trommel zu spielen, ein anderer stimmte mit ein und schon folgte der nächste und wieder der nächste, jeder Trommler auf seine ganz eigene Weise, bis alle Stimmen sich zu einem gewaltigen Klang vereinten, der den Himmel erfüllte.
›Nehmt die Trommeln mit!‹, sagte der Himmelskönig. ›Was auch geschieht, von nun an wird die Stimme der Trommel überall zu hören sein und jeder wird sie verstehen, denn sie spricht zu den Herzen.‹
Vor Freude überwältigt bedankte sich der Erdenkönig tausendmal für das wunderbare Geschenk, und kurz danach brachen sie auf.
Am Ausgang wartete schon die Spinne auf sie, bereit, wieder ihr Netz zu spannen, dieses Mal bis zur Erde, damit die Besucher heimkehren konnten.
Als sie unten angekommen waren, verlangte die Spinne ihren Lohn. ›Bringe mir deine Tochter, und gib sie mir zur Frau!‹, befahl sie dem König.«
Hier füllte Nyogokuru ein weiteres Mal ihren Mund mit Tabakqualm, den sie in einer gelbgrauen Fahne zwischen ihren Lippen hervorkriechen ließ. Jeanne kannte das schon. Mit Vorliebe unterbrach die Großmutter ihre Erzählungen, wenn es gerade unerträglich spannend wurde. Saphina stöhnte. Lionson ballte die Faust. Doch die Großmutter dehnte die Pause dieses Mal endlos, bis die Kleinsten schließlich zu hampeln anfingen und jemand ungeduldig »Weiter!« krähte.
Nyogokuru räusperte sich. »Von Entsetzen gepackt sank der König auf die Knie. ›Das kannst du nicht von mir verlangen!‹, flehte er. ›Ich gebe dir hundert meiner besten Kühe, mein schönstes Stück Land sollst du haben, sogar Haus und Hof, aber bitte lass mir meine Tochter!‹ Doch die Spinne beharrte darauf, dass er sein Königswort halten müsse.
Schweren Herzens machte der König sich auf den langen Weg zurück in sein Reich, um seine einzige Tochter zu holen und sie mit der abscheulichen Spinne zu vermählen. Seiner Tochter aber, die ihm voller Vertrauen folgte, wagte er nicht zu sagen, was ihr bevorstand. Sieben Tage und sieben Nächte waren sie unterwegs, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto unglücklicher wurde der König. Als sie am achten Tag endlich den Fuß des Hügels erreichten, der Himmel und Erde miteinander verbindet, war es bereits Abend wie beim ersten Mal. Voller Furcht blickte der König sich um, doch er konnte das Untier nirgendwo entdecken. So legte er sich mit seiner Tochter zur Ruhe und bald darauf schliefen beide vor Erschöpfung ein.
Am nächsten Morgen wurden sie von einer unbekannten Stimme geweckt. ›So hast du dein Versprechen also wirklich wahr gemacht‹, sagte sie freundlich. Als der König und seine Tochter die Augen aufschlugen, erblickten sie einen riesenhaften jungen Mann mit kräftigen Gliedern und vollkommen ebenmäßigen Gesichtszügen. Seine nachtschwarze Haut glänzte wie Ebenholz und seine Augen glichen dunklen Edelsteinen. Die Hüften waren umhüllt von einem fein gegerbten Tierfell, Beine und Arme reich geschmückt mit kostbaren Perlenschnüren.
›Vor dir steht der Sohn des großen Himmelskönigs‹, erklärte er dem verwirrten König. ›Als Wächter seines Reiches nehme ich manchmal die Gestalt einer Spinne an, um Besucher, die nach oben wollen, zu prüfen. Wenn sie willkommen sind, spinne ich mein Netz für sie. Du warst uns willkommen und deine Tochter wird es auch sein, wenn sie sich mit mir vermählen und mir folgen will. Sie soll selbst entscheiden.‹
Das Mädchen, das sich auf den ersten Blick in den schönen jungen Mann verliebt hatte, stimmte mit Freuden zu. Und auch der König tat es. Auf diese Weise vereinten sich die Familien des großen Himmels- und des Erdenkönigs und es begann eine segensreiche, friedvolle Zeit.– So, nun wisst ihr, wie die Trommeln auf die Erde kamen. Noch immer kann man hören, dass sie ein Geschenk des Himmels sind. Denn ihre Stimmen reichen so weit wie er.«
An dieser Stelle sanken Nyogokurus Worte auf ihren dunkelsten Ton herab und ihr Mund blieb geschlossen wie ein zugeschlagenes Buch.
Jeanne seufzte tief. Wie immer fühlte sie sich enttäuscht. Nicht über den Ausgang des Märchens, den sie sich nicht besser hätte wünschen können, sondern weil es viel zu schnell zum Ende gekommen war. Brennend wünschte sie sich mehr zu erfahren. Vor allem über die Hochzeit! Wie sie gefeiert wurde und wie es danach weitergegangen war. Ob der Sohn des Himmelskönigs und die Tochter des Erdenkönigs Kinder bekommen hatten und ob sie glücklich geworden waren. Sie reckte sich und gähnte.
Kaum merkbar begann die Dunkelheit über die Hügel zu steigen, es war kühler geworden. Das Leuchten am Himmel war längst erloschen und das Orange der Sonne schien ins Feuer gefallen zu sein, wo es langsam verglimmte.
Überall auf dem Hof hatten sich kleine Gruppen auf dem Boden zum Essen zusammengesetzt. Blando war wieder eingeschlafen. Als Véneranda sich mit einer großen Schale näherte, erhob sich Nyogokuru steif von ihrem Stuhl.
»Gute Nacht, Kinder«, sagte sie. »Es ist Zeit zum Essen.« Und mit diesen knappen Worten zog sie sich in ihr Haus zurück, wo sie mit Tante Pascasia in aller Ruhe ihr Mahl einnehmen wollte.
Kann man ein Gefühl vergessen?
Zum Beispiel das Gefühl einer ganz anderen, viel größeren Sonne auf der Haut?
Und vergisst man den Geschmack von Süßkartoffeln? So, wie sie schmecken sollten? Eigentlich!
Nicht weit von unserem Haus gibt es seit Kurzem einen Asiashop. Dort kann man beinah alles kaufen, was die Welt erzeugt. Auch Süßkartoffeln.
»Nein, so haben sie nicht wirklich geschmeckt«, sagst du, nachdem wir sie zum ersten Mal gegessen haben. »Ein bisschen so, ja, aber irgendwie doch ganz anders.«
Heute schmecken sie dir besser.
»Aber wie haben sie geschmeckt?«, frage ich. »Beschreibe es mir bitte ganz genau!«
Wir essen jetzt aus einem Topf.
Und greifen nach den Kindertagen deines Lebens wie nach Süßkartoffeln. Wir suchen nach Geschichten. Auch sie sind nicht mehr ganz so, wie sie einmal waren, doch wir holen sie heran, nah genug, dass wir sie schmecken können.
»Urugo ruhirwe«– Segen für das Haus– stand auf einem der Korbteller, die Jeannes Eltern zu ihrer Hochzeit geschenkt bekommen hatten und die, neben gerahmten Familienfotos, die Wände des Salons schmückten.
Das Elternhaus lag etwas außerhalb am Ortsrand von Kibungo. Doch man konnte das Zentrum zu Fuß in kurzer Zeit erreichen. Jeanne beobachtete die Menschen in Kibungo mit wachen Augen, die sie nur in Begleitung ihrer Mutter traf: Auf dem Weg zur privaten Grundschule– wo Florence in den Klassen vier bis sechs unterrichtete–, beim Gang zur Post, wenn man Briefe abholen oder abgeben wollte, sonntags in der Messe oder bei einem der häufigen Besuche im Krankenhaus. Keinem von ihnen jedoch begegnete sie wirklich, es sei denn, es waren Freunde oder Kollegen ihrer Eltern oder Kinder, die sie aus der Schule kannte.
Florence ermahnte ihre Kinder immer wieder, sich von Fremden fernzuhalten. Denn hinter freundlichen Gesichtern konnte sich das Unheil selbst verbergen: böse alte Frauen, die vergiftetes Essen anbieten, Vergewaltiger, die kleine Kinder mit Bonbons anlocken, oder Leute, die einem eine schlimme Krankheit anhexen. Niemals etwas annehmen! Niemals eine fremde Toilette benutzen! Niemals mit jemandem allein bleiben, der nicht zur Familie gehört! Die Mädchen auch nicht mit dem Hausjungen. Man konnte nie wissen.
Jeannes, Teyas und Jandos Leben spielte sich überaus behütet im Bannkreis der dicht gewachsenen Zypressenhecke ab, die ihr Elternhaus weitläufig umzäunte und nach außen sicher abschirmte. Selbst zu den Nachbarn durften sie nicht gehen, wenn sie dort nicht eingeladen waren. Das war einfach ungehörig. Doch das Haus war groß, der Garten riesig und das Leben voller Abenteuer.
An einem Tag im Mai, beinah ein Jahr nach dem Sommerbesuch bei der Großmutter– dem letzten, weil Nyogokuru kurz nach Weihnachten an ihrer schweren Krankheit gestorben war– fuhr Eugène, der Chauffeur, wie an jedem Schulmorgen gegen sechs mit dem Dienstwagen vor, um Ananie zu seiner Schule, einem zwanzig Kilometer entfernt liegenden privaten Gymnasium, zu bringen. Die Straßen, die über Land führten, waren in einem schlechten Zustand, sodass man nur sehr langsam fahren konnte. Deshalb musste der Vater schon in aller Herrgottsfrühe aufbrechen, wenn er rechtzeitig ankommen wollte.
Jeanne und Jando standen einträchtig am Gartentor und blickten der langen, schmalen Gestalt nach, die den gepflasterten Weg hinuntereilte.
Die Sonne, eben erst aufgegangen, hing noch tief am Himmel und verbreitete einen sanften Schimmer oberhalb der Schatten. Als sich der Vater winkend nach den Kindern umwandte, blinkte sie verheißungsvoll in den Gläsern seiner Brille auf.
Kurz darauf hatte Ananie das Auto erreicht. Er bückte sich, zog den Kopf ein, um auf den Beifahrersitz zu rutschen, schlug die Tür hinter sich zu und schon brauste der Wagen, ein Fünfsitzer mit offener Ladefläche, davon. Unterwegs würde er ein paarmal anhalten, um Mitfahrer einzusammeln: Schüler, die im Ort Kibungo wohnten und sich eine Unterbringung im Internat nicht leisten konnten. Oder auch Nachbarn, die ein kleines Stück mitgenommen werden wollten.
Nur wenige Leute besaßen ein eigenes Fahrzeug. Deshalb waren viele auf Mitfahrmöglichkeiten angewiesen. Ananie hatte das Glück, dass ihm und der Familie Dienstwagen und Chauffeur jederzeit zur Verfügung standen. Er selbst fuhr nicht Auto, sondern nur Motorrad.
Jeanne hatte das Gefühl, als wäre ihr Vater immer ein Stück weit entfernt. Nur flüchtig grüßend, jedoch freundlich, wenn er kam und ging. Wenn er da war, gewöhnlich hinter einem Buch verschanzt und in ruhiges Schweigen eingeschlossen. Auf Spaziergängen allen einen Schritt voraus oder nahe den Wolken, hoch über den Köpfen der Kinder.
Nur wenn Jeanne dicht hinter ihm auf dem Rücksitz seines Motorrads saß, konnte und musste sie ihn sogar richtig anfassen, um sich an ihm festzuhalten. Aber selbst dann war es nur sein Rücken, der in ihrer Nähe war.
»Auf die Plätze, fertig, los!«, kommandierte Jeanne, stupste ihren Bruder übermütig in die Seite und flitzte davon, weil sie als Erste das Haus erreichen wollte. In wenigen Sätzen hatte Jando sie eingeholt. Er packte sie am Ausschnitt ihres T-Shirts und zog sie mit einem Ruck zu sich heran.
»Wo hast du wieder meinen Schuh versteckt?«, fragte er grollend. Seine Augen blitzten wie die Brillengläser des Vaters. Jeanne stierte kichernd auf das ungleiche Paar Füße hinunter. Einer steckte bereits in der Sandale, der andere war nackt. »Selber suchen! Selber suchen!«, rief sie lachend.
Schnell schlang Jando beide Arme um ihre Brust und nahm sie in den Schwitzkasten. »Ich zähle bis drei!«, zischte er.
»Aua, ich krieg keine Luft mehr«, keuchte sie, wand sich und strampelte, aber es war kein ernsthafter Befreiungsversuch, denn sie wusste, dass Jando ihr niemals wehtun würde. Der Schwitzkasten gehörte zum Spiel, sie würde ihn ertragen und gleichzeitig genießen und natürlich kein Sterbenswörtchen über das Schuhversteck verraten. Irgendwann würde Jando sie loslassen und sich schimpfend auf die Suche begeben. Dieses Mal würde er lange brauchen, bis er den Schuh fand! Wenn überhaupt. Aber sie hatten ja Zeit.
Denn heute war ein Ausnahmetag. Einer der seltenen Tage mitten in der Woche, an dem sie nicht zur Schule mussten, weil Lehrerkonferenz war. Nur Florence musste hin und die Kinder in der Obhut von Julienne, dem Hausmädchen, zurücklassen.
»Dédé! Jando! Wo steckt ihr? Könnt ihr mal nach Teya schauen?« Wie immer kurz vor ihrem Aufbruch klang Florence aufgeregt und atemlos, weil ihr die Zeit davonlief. Vor Schulbeginn besuchte sie zuerst die Messe, und Tag für Tag schien der Morgen sich ihren Plänen zu entziehen. Oft geriet sie so in Eile, dass sie nicht einmal Zeit fürs Frühstück fand. Jeanne kannte ihre Mutter nur als ruhige und beherrschte Frau, die niemals laut wurde. Um diese Zeit jedoch war sie sehr gereizt und man ahnte, dass sogar sie aus dem Gleis geraten konnte.
Jetzt lief sie auf die Tür zu. In einem ihrer hellen Sommerkleider für die Schule. Sie kämmte sich noch. Mit der Spitze ihres Stielkamms zerrte sie ungeduldig an ihrem Kraushaar, versuchte es Strähne für Strähne zu glätten, damit es nicht in alle Himmelsrichtungen stand. Die Bewegungen ihrer mageren Arme wirkten zornig, als wollte sie das Haar für seine Widerspenstigkeit bestrafen.
»Seht mal nach, wo Teya ist!«, forderte sie. »Und geht nach dem Frühstück bitte zu Zingiro, ich schaff es jetzt nicht mehr, mit ihm zu sprechen. Sagt ihm, er soll heute Mittag Kochbananeneintopf mit Hühnerfleisch und Erbsen machen. Ich bringe Bernadette zum Essen mit.«
Jeanne verdrehte die Augen. Sie hatte keine Lust, nach Teya zu sehen. Sie hatte auch keine Lust auf ein Frühstück, denn so früh am Morgen rebellierte ihr Magen gegen alles, was dort hineinwandern sollte. Vor allem aber hatte sie keine Lust, zu Zingiro zu gehen.
Er war erst seit Kurzem Hausjunge in der Familie und sie mochte ihn nicht. Einmal abgesehen davon, dass sich der Siebzehnjährige als Anfänger oft ungeschickt anstellte und über vieles nicht Bescheid wusste, hatte er etwas ungeheuer Träges an sich. Scheinbar ohne eigenen Antrieb schleppte er sich durch den Tag und wirkte von Grund auf mürrisch.
»Nun macht schon, ihr beiden!«, befahl Florence. »Ich muss gleich gehen.«
Nach Teya Ausschau zu halten erübrigte sich, denn sie stolzierte im selben Augenblick mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit und vollständig angekleidet aus ihrem Zimmer. In ihrer Schuluniform.
Obwohl Teya als Fünfjährige noch nicht regulär die Schule besuchte, sondern, wie auch Jeanne in den Jahren davor, von der Mutter nur als Gast mitgenommen wurde, hatte sie auf einer Schuluniform bestanden. Und sich wie üblich durchgesetzt.
Florence sah ihre Jüngste entgeistert an. »Was hast du denn vor?«, fragte sie. Teya sperrte die Augen auf und bohrte ihren Blick in den der Mutter. »Ich will mit«, antwortete sie fest.
»Unsinn!«, schimpfte Florence. »Du kannst nicht mit. Ich muss zu einer Konferenz.«
»Ich auch«, behauptete Teya.
Florence verbiss sich ein Lächeln. Dann seufzte sie unwillig. »Jetzt mach, dass du ins Haus kommst, und zieh die Uniform wieder aus!«, befahl sie.
Teya rührte sich nicht von der Stelle. »Ich will aber mit!«, beharrte sie.
Florence runzelte die Stirn. »Te-ya«, sagte sie. Nicht mehr. Aber der Klang sagte alles. Teya, die immer das letzte Wort haben musste, überhörte das Signal. »Warum darf ich nicht? Du gehst ja auch!«, quengelte sie.
Wortlos und in voller Härte klatschte die Antwort der Mutter auf Teyas Hinterteil.
In der ersten Schrecksekunde herrschte absolute Stille. Ein kurzer Blickwechsel, dann legten Jeanne und Jando die Hände auf die Ohren, weil sie schon wussten, was jetzt kam. Und im selben Augenblick ertönte das erwartete Sirenengeheul. Teya schrie und hörte nicht mehr auf. Ihre runden Backen bebten, während sie in schrillen Tönen ihre Wut hinausblies, die kleinen, stämmigen Beine in den Boden gerammt. Verärgert fasste Florence sie bei den Schultern und schob sie ins Haus.
»Julienne!«, rief sie. »Komm und kümmere dich um Teya, ich habe keine Zeit mehr!« Ohne ihre schreiende Tochter noch eines Blickes oder Wortes zu würdigen, wandte sie sich ab und ging rasch in ihr Arbeitszimmer, wobei sie sich hastig wieder zu kämmen begann.
Als Julienne aus ihrem Zimmer stürzte, machten auch Jeanne und Jando achselzuckend kehrt, um sich auf den Weg zum Küchenhaus zu begeben, Teyas Geschrei noch im Nacken.
Sie verließen das Haus durch die Tür an seiner Rückseite und schlenderten über die Terrasse in den großen Hinterhof. Hier standen noch ein paar kleinere Gebäude: Ein Stromhäuschen lag zwischen dem Küchenhaus und einem Vorratshaus mit Nebenzimmer, in dem der Hausjunge wohnte. Ein schmaler Weg führte zu einem winzigen Toilettenhaus, wo sich ein Plumpsklo befand.
Der Hinterhof war das Versorgungszentrum der Familie. Gleich neben dem Küchenhaus hatte Florence üppige Gemüsebeete angelegt, von denen nach Bedarf alles Notwendige für die Mahlzeiten frisch geerntet werden konnte: Tomaten, Zwiebeln, Kohl, Salat, Möhren, Schnittbohnen, Spinat und Sellerie gediehen hier unter der Pflege des Hausjungen und Florence’ wachsamer Aufsicht. Neben der Terrasse ragte ein Avocadobaum empor, der das ganze Jahr hindurch Schatten und Früchte spendete. Als Jeanne und Jando den Hinterhof überquerten, beugte sich Jando über den niedrigen Drahtzaun zwischen Hof und Obstgarten, streckte seine Hand nach einer Cœur de Bœuf aus, die in erreichbarer Höhe vom Baum hing, und riss sie vom Zweig.
»Gib mir auch was ab!«, bettelte Jeanne. Bereitwillig brach Jando die hellgrüne, weiche Frucht in zwei Teile und reichte eine Hälfte Jeanne, die ihre Finger tief ins Innere grub, um die harten, glänzenden Kerne herauszupulen. Schwarze Tränen, dachte sie und schnippte die Kerne achtlos auf den Boden. Bei anderen Gelegenheiten hatte sie die kleinen Dinger schon eifrig gesammelt und aufbewahrt, denn man konnte eine ganze Menge damit anfangen: Schachern und Rechnen, Wettbewerbe im Weitspucken veranstalten oder sie beim Vater-Mutter-Kind-Spiel zum Kochen verwenden.
Jeanne presste ihre Lippen auf das süße Fruchtfleisch und saugte es aus seiner Schale. Ein paar der feinen Fasern blieben an ihren Wangen kleben. Sie versuchte sie mit der Zungenspitze zu beseitigen. Dabei fiel ihr Blick auf Jando, der, wie sie selbst, die Zunge eifrig um die Lippen kreisen ließ. Sie grinsten sich an. Mittlerweile hatten sie das Küchenhaus erreicht.
Teyas Geschrei, das sie bis hierher pausenlos begleitet hatte, verstummte. Wahrscheinlich hatte Florence gerade das Haus verlassen.
»Mal sehen, was er macht«, sagte Jando. Er meinte Zingiro, den sie schon häufig beim Faulenzen erwischt hatten.
Hausjungen hatten die Aufgabe, frühmorgens, bevor alle aufstanden, die frische Milch vom Bauern entgegenzunehmen und das Frühstück vorzubereiten. Sie mussten einkaufen und kochen, Wasser holen, die Küche in Ordnung halten und dafür sorgen, dass die Lebensmittel ordnungsgemäß und für Mäuse unerreichbar aufbewahrt wurden. Abends sollten sie das Haus bewachen.
Hausmädchen übernahmen den anderen Teil der Hausarbeit: das Putzen, Aufräumen, Wäschewaschen und die zeitweilige Betreuung der Kinder.
Jando stieß die Tür auf.
Zingiro saß am Arbeitstisch vorm Fenster, den kräftigen Rücken der Tür zugewandt. Er frühstückte. Der Geruch von gebratenen Eiern erfüllte den Raum– und laute Musik aus dem Kassettenrekorder. Als die beiden seinen Namen riefen, um sich bemerkbar zu machen, wandte Zingiro den Kopf und blickte sie unter halb geschlossenen Lidern an. In seiner Miene regte sich nichts.
»Mama lässt dir sagen, du sollst Bananeneintopf mit Hühnerfleisch und Erbsen kochen«, sagte Jando. »Sie bringt ihre Freundin Bernadette zum Essen mit. Und Teya und ich möchten gleich frühstücken. Ich will auch ein Ei!« Etwas Unverständliches in sich hineinbrummend widmete sich Zingiro in aller Seelenruhe wieder seinem Frühstück.
An der Seite ihres Bruders wagte Jeanne es ausnahmsweise, in die große Küche einzudringen. Es reizte sie, in dem für