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Über das Leben, den Zufall und die Freiheit, einen Entschluss zu fassen.
In diesen 13 Geschichten geht es meist um einen entscheidenden Moment, das Leben entweder zu verlieren – im übertragenen oder ganz konkreten Sinn – oder es in neue Bahnen zu lenken. Dabei spielen zufällige Begebenheiten eine folgenreiche Rolle. Es bleibt uns überlassen, dahinter Zusammenhänge zu vermuten, die mal so, mal anders ausfallen und sich unserer Beeinflussung entziehen.
Wolfgang Kügel, Dr. phil., geb. 1953, Studium der Geschichte und Anglistik in München, langjähriger Mitarbeiter in einem internationalen Konzern, lebt heute – nach vielen Jahren in München und Berlin – in Baden.
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Wolfgang Kügel
ÜBERLEBEN
13 Geschichten
© 2022 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220127042
Erstausgabe: August 2022
Gedruckt in Italien von Rotomail Italia
Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Überleben
13 Geschichten
Der Blick von der Hochebene aus war bezaubernd, Fernsicht bis weit in die Berge hinein, bis zu den entlegenen schneebedeckten Zacken am Horizont. Die Personalstelle hatte mich vor die Wahl gestellt, meinen Resturlaub – sechs Wochen, der gesamte Urlaub des letzten Geschäftsjahres – entweder auf der Stelle anzutreten oder verfallen zu lassen. Ich stand dort oben eine ganze Weile, vollkommen allein, entspannt und erwartungsvoll zugleich. Bis ich mich entschloss, ins Tal abzusteigen, hinunter und hinein in den Wald, mehrheitlich Tannen, keine Fichten, streckenweise aufgeforstet mit Laubbäumen, der heißen Sommer wegen.
Als der Pfad, dem ich gefolgt war, in eine Mountainbike Piste mündete, warf ich einen Blick auf die Karte und beschloss, hinüberzuqueren zur Höllschlucht. Es gab dort einen Hinweis auf Unpassierbarkeit aufgrund von Baumbruch, was meine Absicht, die Klamm hinunterzusteigen, nicht infrage stellte. Der Weg, nichts weiter als Trittsteine hier und da, abgesehen von umgestürzten Baumriesen und einigen schroffen Abstürzen leidlich zu begehen, führte steil hinunter, teils längs des Hangs, teils einem Wildbach folgend, welcher ausgetrocknet und von allerhand Schwemmholz übersät war.
Unten im Tal öffnete sich die Schlucht, und ich geriet auf eine Schneise, die in einen Forstweg überging, breit und befestigt genug, um mit Traktoren, Raupenschleppern und anderem größeren Gerät, das man im Holz brauchte, befahren werden zu können. Längs des Weges Baumstämme über Baumstämme, säuberlich aufgestapelt, dann ein, zwei Lagerhallen, ein Schuppen, eine Werkstatt mit allerhand Zeug. Eingezäunt ein Areal mit Maschinen, Traktoren, Anhängern, Autos ohne Nummernschild. Am Bach eine brüchige Mühle, längst nicht mehr in Gebrauch.
Und dann der Hof selbst. Das Haupthaus, hier nun auch Stallungen, jedoch ohne Vieh, soweit ich sah. Nicht weiter verwunderlich, wo sollte das Vieh auch sonst sein als auf der Weide. Der Blick hinaus ins Grüne, ins flache Sonnige war einladend. Ich studierte die Inschrift über der Tür: ein uralter Hof. Ein Geräusch ließ mich aufsehen, da stand eine Luke offen im Dach – und wir musterten einander, der Alte, kaum dass sein Kopf durch das Loch passte, und ich drunten vor dem Haus. Ich grüßte. Da war der Kopf auch schon verschwunden und die Luke verriegelt, nach einer Weile vernahm ich Schritte im Haus, es wurde von innen gesperrt an der Tür, und wieder starrte der Alte mich an, geistesabwesend, verstört, bis er mir bedeutete einzutreten.
Ich dachte sogleich, dass es ein Fehler sei, ihm ins Haus zu folgen. Schon als wir uns niederließen an dem großen Holztisch und er mir gegenüber saß, ich auf der Ofenbank, er auf einem der Stühle, als die Stille im Haus mich zu würgen begann, begriff ich, dass es um mehr ging als eine gewöhnliche Unterhaltung. Ich wartete. Aus jeder Ecke Not. „Kaffee?“, fragte er. Ich nickte, und er stand auf, ging hinüber zum Herd, nahm eine Kanne von der Platte, griff zwei Tassen, füllte sie, trug sie herüber zum Tisch, stellte sie ab, setzte sich und sagte: „Wenn du nicht gekommen wärst – “
Ich trank einen Schluck. „Zufall“, sagte ich. Um die Stille zu verscheuchen, redete ich weiter, „den Zähren Hof“, sagte ich, „diesen Hof hier, deinen Hof, hätte ich nie gefunden, wenn ich nicht diese Abkürzung genommen hätte durch die Höllschlucht oben im Wald.“
Es wäre nun angebracht gewesen, irgendetwas Nettes zu sagen über den Hof, das Mühlrad am Bach, aber mir fiel nichts Gescheites ein.
„Es sah hier nicht immer so aus“, sagte er. „Du bist erschrocken, es graut dir, nicht wahr, vor all dem Elend.“
„Ein großer Hof“, sagte ich, „immerhin.“
„Frank“, meinte er. Wir gaben uns die Hand. „Meine Frau hat heute Spätschicht, bis 22 Uhr“, sagte er. „Im Supermarkt drunten an der Schnellstraße.“
„All das Gerät in der Scheune, am Bach längs, auch drüben im Wald, bei der Lichtung mit dem Steinbruch“, fragte ich, „das hat doch mal ein Vermögen gekostet, was ist damit?“
Er sah mich eine Weile an, wischte dabei wie abwesend mit den Händen über die Tischplatte, stand auf, ging hinüber zu einem Schrank, kramte darin, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. "Hier!“, sagte er, legte ein paar Fotos auf den Tisch, „das ist Anne, unsere Älteste, arbeitet in der Stadt als Verkäuferin.“ Er nahm ein weiteres Foto auf, „Max“, sagte er, „er kam bei der Polizei unter.“ Ich sah mir die restlichen Fotos an, die auf dem Tisch lagen. „Wie lange ist das her?“ fragte ich. Er besah die Aufnahme, die ich ihm zeigte. Etwas geschah mit seinem Gesicht, er lehnte sich zurück, sah sich scheinbar um im Raum, stand auf, blickte mich an: „Was hätte ich denn tun können!“, rief er. „Was?!“
Er setzte sich mir schräg gegenüber hin, musterte die Wand mit dem Tellerbord und dem Kruzifix und
schwieg. Als er sich wieder im Griff zu haben schien, erklärte er: „Das da auf dem Foto, da waren wir alle noch beisammen, meine Frau, ich, Anne, Max und Rudolf, unser Jüngster. Da gab es noch einen Gasthof im Dorf, einen Laden, Holzeinschlag, Forst- und Landwirte. Ich arbeitete gelegentlich unten in der Fabrik, der Wald, das bisschen Land, Hühner, Kühe, die Sägemühle, das reichte schon damals nicht mehr.“
„Ich verstehe“, sagte ich.
„Nichts verstehst du“, meinte er, nicht grob, nur so dahin gesagt.
„Rudolf schickten wir aufs Gymnasium“, sagte er. „Als er dann fort war zum Studium, als Max eine Anstellung bekam bei der Polizei, da wussten wir, meine Frau und ich, dass es zu Ende ging mit dem Hof, dem Vieh, dem Holz. Wie hätten wir es denn stemmen sollen? Und jetzt“, schloss er, „jetzt ist es aus.“
„Alles, was dort draußen herumsteht an schwerem Gerät“, fuhr er fort, „ist überaltert, der Betrieb verbraucht mehr, als er abwirft. Mit dem Lohn meiner Frau, Kassieren und Waren verräumen im Supermarkt, mit dem, was ich ranschaffen kann – das treibt uns nur in den Bankrott.“
Er räumte die Fotos zusammen, legte sie zurück in den Schrank und blickte mich erneut an: „Der Hof hat doch einen Wert“, rief er, „das muss doch was abwerfen, wenn wir das alles verkaufen – oder etwa nicht?“
Ich zögerte. In dieser Lage, überschlug ich, hier im Wald, an einem Bach, der bei Starkregen überschwoll, bei dem Zustand der Gebäude, mal abgezogen noch, was aufgewandt werden müsste für die Räumung des Hauses, der Scheune, der Stallungen, der Werkstatt – ohne regelmäßigen Verdienst, fand ich, wäre der Erlös bald aufgezehrt.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: „Finde mal Arbeit, wenn du über fünfzig bist!“
„Ich wollte mich erschießen“, fuhr er fort, „als du aufgetaucht bist. Ich hatte Schritte gehört. Ich dulde es nicht, wenn jemand ums Haus herumschleicht.“
„Und Anne?“, fragte ich. „Hast du nicht daran gedacht, was aus ihr wird, denkst du, sie freut sich, wenn du tot bist?“
„Anne ist jung genug, um nochmal von vorn anzufangen. Sie soll einen nehmen, der einen Beruf hat und ein Auskommen. Ich falle ihr nur zur Last.“
Ich verkniff es mir, irgendwas zu sagen von wegen Liebe, und wie die Kinder damit zurechtkämen.
„Ich bin kein Mechatroniker, kein IT-Spezialist, kein Projektmanager“, fuhr er fort. „Auf dem Arbeitsmarkt bin ich zu nichts nütze. Selbst als Fensterputzer brauchst du eine Ausbildung.“
Er klang aufgebracht. „Ich habe den Hof bewirtschaftet über Jahre und Jahrzehnte. Soll ich mich verdingen für einen Hungerlohn? Als Fahrer – Auslieferung, Zustelldienst?“
Ich hätte nun irgendwas Banales sagen können wie, es gibt immer einen Ausweg, glaub an dich, tu dir nichts an, du schaffst das, wirst sehen, es wird auch wieder mal anders werden, wirf nicht hin, deine Frau liebt dich, denk an deine Kinder, freu dich auf deine Enkel.
Stattdessen sagte ich: „Du gehörst auf den Hof. Ich an deiner Stelle würde eine Pension aufmachen. Ein paar Zimmer herrichten, einen Spielplatz, Streichelzoo für die Kleinen, Wanderführungen, Naturerlebnis, Bäume umarmen, Kraftplätze aufsuchen, alte Geschichten erfinden, Brauchtum, verstehst du, für die Gäste. Und nach und nach kommt Geld rein. Es geht voran. Wenn du willst, bleib ich eine Weile hier. Helfe beim Entrümpeln, programmiere eine Website, erstelle einen Prospekt, vernetze euch mit der Welt, Touristenverein, Gemeindeverein, Trachtengruppen, Musikanten, Fitness-Trainer, Wellness, Yoga – das volle Programm.“
Er starrte mich eine Weile an. Dann stand er auf, ging zu einem Wandschränkchen neben dem Kruzifix, holte zwei Gläser heraus, ging hinüber zum Kühlschrank, packte eine Flasche Obstler, stellte die Gläser auf den Tisch und goss ein. Ich erhob mich.
Wir stießen an. Tranken aus. Knallten die Gläser auf den Tisch. Dann nickten wir uns zu – dann ging es treppauf, treppab durchs Haus: Sehen, was getan werden müsste.
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Ich blieb fünf Wochen auf dem Hof. Die wichtigste Zeit meines Lebens. Bis heute weiß ich nicht, ob Frank tatsächlich abgedrückt hätte damals. Ich mag es nicht, wenn das Leben von Zufälligkeiten abhängt anstatt von einem selbst.