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Vom Mond kehrte Glen Runciter nur als Toter zurück. Aber wer schreibt dann die Botschaften auf Streichholzbriefchen und aufgerissenen Zigarettenpackungen? Die Dinge haben sich selbständig gemacht, sie reisen in ihre eigene Zeit zurück – das Auto ist ein Modell aus den Dreißigern, der Fahrstuhl aus den Zwanzigern. Und was soll Ubik sein – Biermarke, Pfandhaus oder Raumspray? Oder ist Ubik die Rettung gegen den Zerfall der Realität? Mit unseren simulierten Wirklichkeiten und virtuellen Wahrnehmungen waren wir ›Ubik‹ (1969) nie näher als heute. Dick lässt Raum- wie Zeitblasen platzen und stellt so die Existenz einer durchgängigen Realität in Frage.
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Seitenzahl: 311
Philip K. Dick
Ubik
Fischer Klassik PLUS
Aus dem Amerikanischen von Michael Nagula
FISCHER E-Books
Ich sih die heide
in gruoner varwe stan
dar suln wir alle gahen
die sumerzit enphahen
Carmina Burana
Freunde! Wir räumen – und verschleudern alle unsere geräuschlosen Elektro-UBIKS zu einem Spottpreis. Ja, wir werfen sie förmlich weg. Und denken Sie daran: Jeder unserer UBIKS ist nur nach Vorschrift verwendet worden.
Um drei Uhr dreißig in der Nacht des 5. Juni 1992 verschwand der Spitzentelepath des Sonnensystems von der Landkarte, die im Büro von Runciter Associates in New York City hing. Das brachte die Videophone zum Klingeln. Die Runciter-Gruppe hatte in den letzten zwei Monaten zu viele von Hollis’ Psis aus den Augen verloren; dieses ständige Verschwinden konnte man nicht länger hinnehmen.
»Mr. Runciter? Entschuldigen Sie bitte die Störung.« Der Techniker, der Nachtschicht hatte, hustete nervös, als der massige, ungepflegte Kopf von Glen Runciter auftauchte und den ganzen Bildschirm ausfüllte. »Wir haben eine Nachricht von einer unserer Inerten bekommen. Einen Augenblick.« Er hantierte aufgeregt an dem Gerät herum, das die eingehenden Nachrichten aufzeichnete. »Miss Dorn hat sie geschickt. Sie wissen ja, dass sie ihm bis Green River, Utah, gefolgt ist, wo …«
Verschlafen knirschte Runciter: »Ich kann nicht ständig im Kopf haben, welcher Inerte gerade hinter welchem Telepathen oder Präkog her ist.« Er strich sich mit der Hand seinen grauen Bürstenhaarschopf glatt. »Sparen Sie sich den Rest und sagen Sie mir nur, welcher von Hollis’ Leuten jetzt verschwunden ist.«
»S. Dole Melipone«, sagte der Techniker.
»Was? Melipone ist weg? Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«
»Nein, wirklich nicht. Edie Dorn und zwei weitere Inerte folgten ihm bis ins Motel ›Zur Fessel polymorpher Liebeserfahrung‹, einer unterirdischen Anlage mit sechzig Zimmern, wo man sich der Wünsche von Geschäftsleuten und ihrer Mädchen annimmt. Edie und ihre Kollegen glaubten zwar nicht, dass er aktiv sein würde, doch zur Sicherheit schickten wir einen von unseren eigenen Telepathen, Mr. G.G. Ashwood, hin, um ihn zu scannen. Ashwood stellte fest, dass Melipone ein Störschema im Kopf hat, und konnte daher nichts weiter tun. Er kehrte nach Topeka, Kansas, zurück, wo er im Augenblick eine neue mögliche Mitarbeiterin prüft.«
Runciter, der jetzt etwas munterer wurde, zündete sich eine Zigarette an. Dann saß er mit finsterem Blick da, das Kinn in die Hand gestützt, während der Rauch über den Bildschirm zog. »Sind Sie sicher, dass es Melipone war? Keiner scheint zu wissen, wie er eigentlich aussieht. Offenbar setzt er sich jeden Monat ein neues Gesicht auf. Wie steht es denn mit seinem Kraftfeld?«
»Wir haben Joe Chip gebeten, sich darum zu kümmern und die Ausschläge im Umfeld des Motels ›Zur Fessel polymorpher Liebeserfahrung‹ zu messen. Chip meldete, dass die Höchstwerte 68,2 blr-Einheiten telepathischer Aura erreichten, was unter allen uns bekannten Telepathen nur Melipone vermag. Also steckten wir dort für Melipone ein Markierungsfähnchen auf die Landkarte. Aber nun ist er – ist es – verschwunden.«
»Haben Sie mal auf dem Fußboden nachgesehen? Haben Sie hinter der Karte gesucht?«
»Es ist elektronisch verschwunden. Den Menschen, für den es stand, gibt es nicht mehr. Zumindest nicht auf der Erde. Und auch nicht, soweit wir feststellen können, in einer der Kolonien.«
Runciter sagte: »Ich werde meine verstorbene Frau befragen.«
»Es ist mitten in der Nacht. Die Moratorien sind alle geschlossen.«
»Nicht die in der Schweiz«, erwiderte Runciter mit einem verzerrten Lächeln, als ob ihm eine widerwärtige Flüssigkeit in den alten Hals geraten wäre. »Guten Abend.« Er schaltete ab.
Als Besitzer und Leiter des Moratoriums »Unsere lieben Anverwandten« nahm Herbert Schönheit von Vogelsang selbstverständlich immer früher als seine Angestellten die Arbeit auf. In diesem Augenblick, als das kühle, hallende Gebäude gerade erwachte, stand eine verwirrt aussehende Gestalt mit nahezu undurchsichtigen Brillengläsern, in einer scheckigen Pelzjacke und gelben, spitz zulaufenden Schuhen, wartend am Empfangstresen, eine Kontrollmarke in der Hand. Offenbar wollte der Mann einem Verwandten einen Feiertagsbesuch abstatten. Auferstehungstag – der Tag, an dem die Halblebenden öffentlich geehrt wurden – stand kurz bevor; der Ansturm würde bald beginnen.
»Guten Morgen«, wandte sich Herbert mit leutseligem Lächeln an ihn. »Kann ich die Nummer sehen?«
»Es handelt sich um eine ältere Dame«, sagte der Kunde. »Etwa achtzig, sehr klein und ziemlich verschrumpelt. Meine Großmutter.«
»Ich bin gleich wieder da.« Herbert ging zu den Kaltpackungsregalen hinüber, um die Nummer 3054039-B herauszusuchen.
Als er das Fach ausfindig gemacht hatte, prüfte er die beiliegenden Unterlagen. Danach verblieben nur noch vierzehn Tage im Halbleben. Nicht sehr viel, dachte er, während er den transportablen Protophasen-Verstärker in die durchsichtige Plastikumhüllung des Sarges drückte, einstellte und lauschte, auf welcher Frequenz sich die Gehirntätigkeit anzeigte.
Eine schwache Stimme kam aus dem Lautsprecher: »… und dann verstauchte Tillie sich den Knöchel und wir dachten, das würde niemals heilen. Sie führte sich ganz verrückt auf, wollte damit herumlaufen …«
Zufrieden zog Herbert den Verstärker wieder heraus und beauftragte einen seiner Angestellten, die Nummer 3054039-B in das Besuchszimmer zu bringen, wo die Verbindung zwischen dem Gast und der alten Dame hergestellt werden würde.
»Sie haben sie überprüft, nicht wahr?«, fragte der Kunde, während er die fälligen Poscreds bezahlte.
»Höchstpersönlich«, antwortete Herbert. »Sie funktioniert tadellos.« Er drückte auf einige Sensoren und trat dann zurück. »Einen frohen Auferstehungstag wünsche ich.«
»Danke.« Der Kunde nahm dem Sarg gegenüber Platz, dessen Kaltpackungshülle dampfte. Er steckte sich eine Hörkapsel ins Ohr und sprach mit fester Stimme in das Mikrophon. »Flora, kannst du mich hören? Ich kann dich bereits hören, glaube ich. Flora?«
Wenn ich einmal sterbe, sagte sich Herbert Schönheit von Vogelsang, werde ich meine Erben testamentarisch bitten, mich jedes Jahr einmal wieder ins Leben zurückzurufen. Auf diese Weise kann ich das Schicksal der Menschheit mitverfolgen. Allerdings würde das für die Erben ziemlich hohe Unterhaltskosten bedeuten – er wusste, wovon er sprach. Früher oder später würden sie rebellieren, seinen Körper aus der Kaltpackung nehmen und – Gott behüte – begraben.
»Begräbnisse sind etwas Barbarisches«, murmelte Herbert. »Überreste der primitiven Anfänge unserer Kultur.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm seine Sekretärin an der Schreibmaschine bei.
Im Besuchszimmer unterhielten sich jetzt mehrere Kunden, in angemessener Entfernung voneinander, entrückt dem jeweiligen Sarg gegenübersitzend, mit ihren halblebenden Verwandten. Es war ein friedvoller Anblick – diese treuen Seelen, die regelmäßig kamen, um den Angehörigen ihre Ehre zu erweisen. Sie brachten Neuigkeiten mit, Nachrichten, was immer sich draußen in der Welt ereignet hatte. Sie munterten die betrübten Halblebenden für die kurze Zeit ihrer Gehirnaktivität auf. Und – sie zahlten an Herbert Schönheit von Vogelsang. So ein Moratorium war ein einträgliches Geschäft.
»Mein Vater scheint ein bisschen schwächlich.« Ein junger Mann sprach Herbert an. »Vielleicht hätten Sie einen Moment Zeit, ihn kurz durchzuprüfen. Das wäre wirklich sehr freundlich.«
»Natürlich«, sagte Herbert und folgte dem Kunden zu seinem Angehörigen. Die Daten für diesen Halblebenden wiesen nur noch ein paar Tage aus – was die nachlassende Gehirntätigkeit erklärte. Und doch … Herbert drehte den Protophasen-Verstärker so hoch es ging, und die Stimme des Halblebenden kam jetzt ein wenig stärker aus dem Kopfhörer. Er ist ziemlich am Ende, dachte Herbert. Es schien ihm verständlich, dass der Sohn die Unterlagen nicht zu sehen wünschte, nicht wahrhaben wollte, dass der Kontakt mit seinem Vater allmählich zu Ende ging. Deshalb sagte Herbert nichts. Er entfernte sich und überließ den Sohn dem Gespräch mit seinem Vater. Weshalb sollte er ihn darauf aufmerksam machen, dass er wahrscheinlich zum letzten Mal hier war? Er würde es ja doch früh genug selbst merken.
In diesem Moment fuhr ein Lastwagen an der Plattform auf der Rückseite des Moratoriums vor und zwei Männer in blassblauer Uniform sprangen herunter. »Atlas Interplan Transport und Lagerung«, las Herbert und dachte: Bringen sicher einen gerade verstorbenen Halblebenden oder transportieren einen ab, der seinen letzten Atemzug getan hat. Gemächlich schlenderte er zu der Rampe, um die Tätigkeit zu überwachen. Doch da wurde er von seiner Sekretärin zurückgerufen. »Herr Schönheit von Vogelsang, tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber ein Kunde bittet um Ihre Hilfe bei der Wiederbelebung eines Angehörigen.« Ihre Stimme bekam eine eigenartige Färbung, als sie hinzufügte: »Der Kunde ist Mr. Glen Runciter, der eigens aus der Nordamerikanischen Konföderation hierhergekommen ist.«
Ein hochgewachsener älterer Mann mit großen Händen kam schnellen Schrittes auf Herbert zu. Er trug einen mehrfarbigen Dacron-Waschanzug, eine gestrickte Schärpe und eine soßenfarbene Musselinkrawatte. Seinen massiven Kopf, der dem eines Katers ähnelte, reckte er vor, während er aus leicht hervorstehenden, runden, warmen Augen blickte. Sein Gesicht hatte einen geschäftsmäßigen Begrüßungsausdruck angenommen, eine wache Aufmerksamkeit, die sich zunächst auf Herbert richtete, dann aber an ihm vorbeiglitt, als konzentrierte sich Runciter bereits ganz auf zukünftige Angelegenheiten. »Wie geht es Ella?«, dröhnte er; seine Stimme klang wie elektronisch verstärkt. »Kann man sie für eine Unterhaltung ankurbeln? Sie ist erst zwanzig und müsste in besserer Form sein als wir beide zusammen.« Er kicherte, aber es klang nicht ganz echt; er lächelte und kicherte ständig, und auch seine Stimme dröhnte ständig, doch im Grunde nahm er von niemandem wirklich Notiz, war ihm sein Gegenüber egal. Es war nur sein Körper, der lächelte, nickte und Hände schüttelte, sein Inneres blieb zurückgezogen. Auf diese verbindliche Art abwesend, zog er Herbert in langen Schritten mit sich, hinüber zu den Kabinen, in denen die Halblebenden, darunter auch seine Frau, lagerten.
»Sie sind lange nicht hier gewesen, Mr. Runciter«, bemerkte Herbert. Er konnte sich nicht erinnern, wie viel Zeit Mrs. Runciter in diesem Zustand zwischen Leben und Tod noch blieb.
Runciter schob Herbert mit seiner breiten, flachen Hand vor sich her und sagte: »Das ist ein wichtiger Augenblick, von Vogelsang. Wir, meine Geschäftspartner und ich, sind in einer Situation, in der keine vernünftige Überlegung mehr weiterhilft. Ich bin nicht befugt, Ihnen im Moment Näheres mitzuteilen, nur so viel: Die Angelegenheit ist für uns in diesem Stadium bedrohlich, aber nicht aussichtslos. Es gibt keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben – in keiner Weise. Wo ist Ella?« Er machte halt und sah sich hektisch um.
»Ich werde sie aus der Kabine ins Besuchszimmer bringen«, erwiderte Herbert; die Kunden sollten nicht in die Kabinen vorgelassen werden. »Haben Sie Ihre Kontrollmarke mit der Nummer, Mr. Runciter?«
»Gott, nein! Die habe ich vor einem Monat verloren. Aber Sie kennen doch meine Frau, Sie finden sie auch so. Ella Runciter, ungefähr zwanzig. Braune Haare und Augen.« Runciter blickte sich ungeduldig um. »Wo ist das Besuchszimmer? Früher habe ich es immer gleich gefunden.«
»Zeigen Sie Mr. Runciter bitte das Besuchszimmer«, sagte Herbert zu einem seiner Mitarbeiter, der sich gerade – neugierig darauf, den weltberühmten Besitzer einer Anti-Psi-Organisation zu sehen – an ihnen vorbeischlängelte.
Kurz darauf warf Runciter einen Blick in das Besuchszimmer und sagte voller Abscheu: »Da drinnen ist es voll. Da kann ich mich mit Ella nicht unterhalten.« Er heftete sich an Herberts Fersen, der auf dem Weg zur Buchhaltung war. Im Gehen ließ er seine große Pranke auf Herberts Schulter fallen. Herbert spürte sowohl das Gewicht der Hand als auch ihre Überzeugungskraft. »Gibt es hier nicht ein Allerheiligstes für eine vertrauliche Unterredung? Was ich mit meiner Frau zu besprechen habe, ist keine Angelegenheit, die wir von Runciter Associates zu diesem Zeitpunkt der Welt mitteilen wollen.«
Bedrängt durch Runciters nachdrückliche Stimme und seine aufdringliche Nähe hörte sich Herbert murmeln: »Ich werde Mrs. Runciter in einem unserer Büros für Sie bereitstellen.« Er hätte wirklich gern gewusst, was passiert war, auf welchen Druck hin sich Runciter gezwungen sah, seinen Einflussbereich zu verlassen und sich auf die denkwürdige Pilgerfahrt zum Moratorium »Unsere lieben Anverwandten« zu begeben, um seine halblebende Frau anzukurbeln, wie er es respektlos nannte. Eine Geschäftskrise, vermutete Herbert. Seit einiger Zeit verkündeten verschiedene Anti-Psi-Schutzgesellschaften im Fernsehen und in den Zeitungen schrill ihre Werbebotschaft: Verteidigen Sie Ihr Privatleben! Werden Sie von einem Fremden überwacht? Sind Sie tatsächlich völlig allein? Das zu den Telepathen. Und dann die furchtbare Angst vor den Präkogs: Werden Ihre Handlungen von jemandem vorausgesagt, dem Sie nie begegnet sind? Von jemandem, dem Sie auch nie begegnen möchten, den Sie nie in Ihr Haus lassen würden? Machen Sie der Angst ein Ende! Nehmen Sie Verbindung mit einer der Schutzgesellschaften auf, die zunächst feststellt, ob Sie wirklich ein Opfer unerlaubter Übergriffe sind, und dann, wenn Sie den Auftrag dazu erteilen, diese Übergriffe unterbindet – die Kosten für Sie sind gering …
Schutzgesellschaften. Herbert gefiel diese Bezeichnung; sie strahlte Würde aus und war überaus zutreffend. Er hatte da so seine Erfahrungen: Vor zwei Jahren hatte sich ein Telepath in die Moratoriumsbelegschaft eingeschlichen – warum, hatte er nie herausgefunden. Vermutlich, um insgeheim vertrauliche Unterhaltungen zwischen den Halblebenden und ihren Besuchern aufzuzeichnen, vielleicht auch die Unterhaltung eines ganz bestimmten Halblebenden. Wie auch immer, ein Späher aus einer der Anti-Psi-Gesellschaften hatte das telepathische Kraftfeld gescannt und die Aktivitäten des Telepathen entdeckt. Nach Vertragsunterzeichnung wurde ein Anti-Telepath losgeschickt, der sich im Moratorium niederließ. Der Telepath konnte zwar nicht aufgespürt, aber er konnte unschädlich gemacht werden – genau wie es der Werbespot versprochen hatte. Und so hatte sich der geschlagene Telepath nach einer Weile davongemacht. Das Moratorium war jetzt Psi-frei, und damit es dabei blieb, führte die Anti-Psi-Gesellschaft zweimal im Monat eine gründliche Überprüfung durch.
»Vielen Dank, Mr. Vogelsang.« Runciter folgte Herbert in eines der nicht besetzten inneren Büros, wo es nach staubigen Mikrodokumenten roch.
Natürlich, dachte Herbert, habe ich ihnen geglaubt, dass hier ein Telepath war. Als Beweis haben sie mir eine Kurve gezeigt, die sie gemessen hatten. Aber vielleicht haben sie die Kurve ja in ihren eigenen Labors erstellt. Und ich habe mich darauf verlassen, dass der Telepath verschwunden ist. Er kam, er ging – und ich habe zweitausend Poscreds dafür bezahlt. Konnte das Betrug gewesen sein? Weckten sie vielleicht Bedarf an ihren Diensten, wenn in Wirklichkeit gar kein Bedarf bestand?
Mit solchen Überlegungen ging er schließlich wieder in Richtung Buchhaltung. Diesmal folgte ihm Runciter nicht. Stattdessen zappelte er geräuschvoll umher und versuchte, es seinem riesigen Körper in einem schmalen Stuhl bequem zu machen. Runciter seufzte – und plötzlich wurde Herbert klar, dass dieser massige Mensch trotz aller Kraftdemonstrationen sehr müde war.
Vermutlich muss man sich, wenn man in diese Einkommensgruppe kommt, so verhalten, dachte Herbert, muss man den Anschein erwecken, als sei man mehr als nur ein Wesen mit ganz gewöhnlichen Fehlern. Möglicherweise enthielt Runciters Körper ein Dutzend K-Organe – künstliche Organe, die ihm eingepflanzt worden waren, nachdem die echten, originalen, ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Die Medizin sorgt für die materielle Grundausstattung – und durch die Kraft seines Geistes fügt Runciter den Rest hinzu. Ich möchte wissen, wie alt er ist. Nach dem Äußeren lässt sich das heutzutage nicht mehr beurteilen, vor allem nicht, wenn man über neunzig ist.
»Miss Beason«, wies er seine Sekretärin an, »suchen Sie bitte Mrs. Ella Runciter heraus und bringen Sie mir die Kennnummer. Sie soll dann in das Büro 2-A gebracht werden.« Er setzte sich ihr gegenüber und nahm eine Prise Fribourg & Treyer-Princes-Schnupftabak, während Miss Beason sich an die relativ einfache Arbeit machte, Glen Runciters Frau zu finden.
Haben Sie Lust auf ein erfrischendes, wohlschmeckendes Bier? Dann bestellen Sie ein UBIK. Hergestellt aus hochwertigem Hopfen und feinem Quellwasser, lange gelagert, damit es einen perfekten Geschmack bekommt – das ist UBIK, die Nummer eins unter den Bieren. Wird nur in Cleveland gebraut.
Ella Runciter lag ausgestreckt, umgeben von Eisdunst, mit geschlossenen Augen in ihrem durchsichtigen Sarg, die Hände starr an ihr regloses Gesicht gedrückt. Runciter hatte seine Frau vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen und natürlich hatte sie sich nicht verändert. Sie würde sich jetzt auch nicht mehr verändern, zumindest nicht so, dass es äußerlich sichtbar würde. Doch mit jeder Wiederbelebung zu aktivem Halbleben, bei jeder noch so kurzen Rückkehr zu zerebraler Aktivität, starb Ella etwas mehr. In der ihr noch verbleibenden Zeit wurde ihr Pulsschlag immer schwächer.
Runciter wusste das, und deshalb hatte er sich auch nicht getraut, sie öfter auf Touren zu bringen. Er sagte sich, dass es eine Sünde wäre, sie allzu häufig zu aktivieren – weil sie das dem endgültigen Untergang immer näher brachte. Ihr eigener, vor dem Tod und bei früheren Halbleben-Kontakten erklärter Wille hatte sich dabei in seiner Erinnerung angenehm vernebelt. Aber er musste es ja auch besser wissen, er war schließlich viermal so alt wie sie … Was war ihr Wunsch gewesen? Gemeinsam mit ihm für Runciter Associates zu wirken, irgend so etwas Unbestimmtes. Gut, er erfüllte ihr diesen Wunsch ja in diesem Moment; und hatte ihn schon bisher sechs- bis siebenmal erfüllt. Tatsächlich konsultierte er sie jedes Mal, wenn das Unternehmen in eine Krise geriet. Wie auch jetzt.
Diese verdammten Kopfhörer, dachte er, während er die Plastikscheiben seitlich an seinem Kopf anbrachte. Und dieses Mikrophon – alles Hindernisse für eine natürliche Kommunikation. Ungeduldig setzte er sich auf dem unzulänglichen Stuhl zurecht, den Vogelsang – oder wie immer er hieß – ihm angeboten hatte, und beobachtete, wie Ellas Wahrnehmungsfähigkeit allmählich zunahm. Er wünschte, sie würde sich ein wenig beeilen, und plötzlich überfiel ihn Panik bei dem Gedanken, sie würde es nicht mehr schaffen. Vielleicht ist sie schon verbraucht und sie haben es mir nur nicht gesagt? Oder sie wissen es selbst nicht. Ich muss diesen Vogelsang herholen – womöglich ist etwas Schreckliches passiert.
Ella war eine hellhäutige Schönheit. Als ihre Augen noch offen waren, hatten sie in einem wunderbaren Blau geleuchtet. So würde es nie wieder sein. Er konnte zwar weiter mit ihr sprechen, konnte sie antworten hören … aber er würde sie nie wieder mit geöffneten Augen sehen und wie ihr Mund sich bewegte. Sie würde bei seinem Eintreffen nicht lächeln und nicht weinen, wenn er fortging. Lohnt sich das alles überhaupt?, fragte er sich. Ist das hier besser als die alte Art, als der direkte Weg vom Leben in den Tod? In gewisser Weise ist sie immer noch bei mir, entschied er. Die Alternative war wertlos.
In seinem Kopfhörer erklangen nun langsam und undeutlich Worte – kreisende Gedanken ohne Bedeutung, mysteriöse Fragmente des Traumes, in dem sie gefangen war. Wie mag es sein, wenn man sich im Zustand zwischen Leben und Tod befindet? Aus dem, was Ella ihm bisher erzählt hatte, ließ es sich jedenfalls nicht ergründen. Das Grundlegende, das Erlebnis selbst, ließ sich nicht vermitteln. Die Schwerkraft, hatte sie ihm einmal erklärt, verliert an Wirksamkeit. Man hat immer mehr das Gefühl zu schweben. Und wenn der Zustand zwischen Leben und Tod vorüber ist, hatte sie gesagt, wird man dieser Welt wohl ganz und gar entschweben, den Sternen entgegen. Allerdings wusste sie es auch nicht genau, sie malte es sich so aus, stellte Vermutungen an. Aber sie schien keine Angst zu haben und wirkte auch nicht unglücklich. Das erleichterte ihn.
»Hallo, Ella«, sagte er unsicher in das Mikrophon.
»Oh«, ertönte ihre Stimme an seinem Ohr. Sie schien aufgeschreckt, und doch blieb ihr Gesicht unbewegt, keine Gefühle zeichneten sich ab; er sah weg. »Hallo, Glen«, sagte sie mit etwas kindlichem Staunen, überrascht, verwundert, ihn hier anzutreffen. »Was …« Sie zögerte. »Wie viel Zeit ist vergangen?«
»Drei Jahre.«
»Erzähl mir, was los ist.«
»Ach, alles geht den Bach runter, die ganze Organisation. Deshalb bin ich gekommen. Du wolltest bei anstehenden größeren Entscheidungen hinzugezogen werden, und weiß der Himmel, das haben wir nun bitter nötig, eine neue Strategie, zumindest einen verbesserten Aufbau unseres Kundschaftersystems.«
»Ich habe geträumt«, sagte Ella. »Ich sah ein rauchiges rotes Licht, ein fürchterliches Licht. Und doch bewegte ich mich unaufhörlich darauf zu. Ich konnte nicht anhalten.«
»Ja.« Runciter nickte. »Das Bardo Thödol, das Tibetische Totenbuch, berichtet davon. Weißt du noch, wie du es gelesen hast? Die Ärzte ließen es dich lesen, als du …« Er zögerte. »… im Sterben lagst«, sagte er schließlich.
»Das rauchige rote Licht ist böse, nicht wahr?«
»Ja, du möchtest ihm aus dem Weg gehen.« Er räusperte sich. »Hör zu, Ella, wir haben Probleme. Fühlst du dich in der Lage zuzuhören? Ich meine, ich will dich nicht überanstrengen oder so. Sag nur, wenn du zu müde bist oder wenn du irgendetwas anderes hören oder diskutieren möchtest.«
»Es ist so unheimlich. Ich habe das Gefühl, die ganze Zeit geträumt zu haben, seit du das letzte Mal mit mir sprachst. War das wirklich vor drei Jahren? Weißt du, was ich glaube, Glen? Dass die anderen Menschen, die um mich herum sind … dass wir immer mehr zusammenwachsen. Viele Träume handeln gar nicht von mir. Manchmal bin ich ein Mann, manchmal ein kleiner Junge, manchmal eine dicke alte Frau mit Krampfadern … Ich komme an Orte, wo ich niemals gewesen bin, tue Dinge, die ohne jeden Sinn sind.«
»Nun, wie es heißt, bewegst du dich auf einen neuen Mutterschoß zu, um noch einmal geboren zu werden. Und das rauchige rote Licht – das ist ein ungemütlicher Mutterschoß, du willst nicht dorthin. Es ist ein erniedrigender, ein gemeiner Mutterschoß. Offenbar siehst du schon dein neues Leben voraus oder so ähnlich.« Er kam sich albern vor, während er das sagte. Eigentlich hatte er keinerlei religiöse Überzeugung. Doch die Erfahrung des Halblebens war authentisch und machte sie alle auf gewisse Weise zu Theologen. »Ella, lass mich dir erzählen, was vorgefallen ist, weshalb ich hergekommen bin und dich behellige. S. Dole Melipone ist verschwunden.«
Zuerst war es einen Augenblick lang still, dann lachte Ella. »Wer oder was ist ein S. Dole Melipone? So etwas gibt es doch gar nicht.« Das Lachen, mit dieser einzigartigen, vertrauten Wärme, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Das kannte er an ihr, immer noch, nach so vielen Jahren. Er hatte Ella seit mehr als zehn Jahren nicht lachen gehört.
»Vielleicht hast du es vergessen«, sagte er.
»Ich habe das nicht vergessen. Ich würde ein S. Dole Melipone doch nicht vergessen! Ist es so etwas wie ein Hobbit?«
»Melipone ist Raymond Hollis’ Spitzentelepath. Wir hatten mindestens einen Inerten ständig an ihm dran, nachdem Ashwood ihn vor anderthalb Jahren aufgespürt hatte. Wir verlieren Melipone nie, das können wir uns einfach nicht leisten. Er ist fähig, wenn nötig, ein Psi-Feld zu erzeugen, das doppelt so groß ist wie das jedes anderen Hollis-Angestellten. Und Melipone ist nur einer aus einer ganzen Reihe von Hollis’ Leuten, die verschwunden sind – jedenfalls für uns verschwunden, das heißt für alle Schutzgesellschaften innerhalb unseres Verbandes. Also dachte ich, sei’s drum, jetzt gehe ich zu Ella und frage sie, was los ist und was wir tun sollen. So wie du es dir in deinem Testament gewünscht hast – erinnerst du dich?«
»Ich erinnere mich.« Ihre Worte schienen nun von weit entfernt zu kommen. »Bring deine Werbespots ins Fernsehen. Warne die Leute. Sag ihnen …« Dann verwehte ihre Stimme.
»Das langweilt dich alles, nicht wahr?«, sagte Runciter düster.
»Nein, ich …« Sie zögerte und er merkte, wie sie wieder davontrieb. »Sind es alles Telepathen?«, fragte sie nach einer Pause.
»Vorwiegend Telepathen und Präkogs. Sie sind nicht mehr auf der Erde, das weiß ich. Wir haben ein Dutzend Inerte, die nichts zu tun haben, weil die Psis, die sie sonst außer Gefecht gesetzt haben, nicht unterwegs sind. Und was mich noch mehr beunruhigt, ist, dass die Nachfrage nach Anti-Psis gesunken ist – was zu erwarten war, da so viele Psis verschwunden sind. Doch ich weiß, dass sie sich auf ein einziges Projekt konzentrieren, das heißt, ich glaube es zu wissen, irgendwie bin ich mir da sicher. Irgendjemand hat die ganze Truppe angeheuert und nur Hollis weiß, wer es ist und wo es stattfindet. Und was das alles zu bedeuten hat.« Runciter verfiel in brütendes Schweigen. Wie konnte Ella ihm helfen, das herauszufinden, fragte er sich. Hier, in ihrem Sarg, aus der Welt herausgefroren, wusste sie ja nur das, was er ihr erzählte. Und doch – er hatte immer auf ihren Scharfsinn in seiner besonderen weiblichen Ausprägung vertraut, auf eine Weisheit, die sich nicht auf Wissen oder Erfahrung gründete, sondern angeboren war. Zu ihren Lebzeiten war es ihm nicht gelungen, das zu ergründen. Nun, da sie in eisiger Unbeweglichkeit lag, würde es ihm noch weniger gelingen. Andere Frauen, die er nach ihrem Tod kennengelernt hatte – es waren einige –, hatten davon nur ganz wenig, Spuren vielleicht, Andeutungen größerer Fähigkeiten, die in ihnen niemals so hervorgetreten waren wie bei Ella.
»Sag mir, wie sieht dieser Melipone aus?«, fragte sie.
»Wie ein komischer Kauz.«
»Arbeitet er für Geld? Oder aus Überzeugung? Man muss sich hüten, wenn sie diese Psi-Mystik haben, dieses Sendungsbewusstsein, diesen Sinn für kosmische Identität. Wie der fürchterliche Sarapis damals, erinnerst du dich?«
»Sarapis gibt es nicht mehr. Angeblich hat Hollis ihn umgelegt, weil er ihm Konkurrenz machen wollte. Einer seiner Präkogs hat Hollis einen Tipp gegeben. Aber Melipone ist viel widerstandsfähiger als Sarapis. Wenn er richtig in Fahrt ist, brauchen wir drei Inerte, um sein Kraftfeld auszubalancieren, und dafür bekommen – oder bekamen – wir das gleiche Honorar wie für einen Inerten. Denn der Verband hat jetzt Honorarsätze festgelegt, an die wir gebunden sind.« Der Verband missfiel ihm von Jahr zu Jahr mehr, ja er war mit seiner Nutzlosigkeit, seinen Kosten, seiner Prahlerei zu einer chronischen Zwangsvorstellung für ihn geworden. »Soweit wir es beurteilen können, ist Melipone ein Psi, der für Geld arbeitet. Beruhigt dich das? Ist das weniger schlimm?« Er wartete, doch es kam keine Antwort. »Ella«, sagte er. Schweigen. Nervös fing er wieder an: »Ella, kannst du mich hören? Was ist los?« Mein Gott, dachte er, es ist vorbei mit ihr.
Eine Pause, dann materialisierten sich Gedanken in seinem rechten Ohr: »Mein Name ist Jory.« Nicht Ellas Gedanken, eine andere Art von Elan, vitaler und doch schwerfälliger. Ohne ihren flinken Scharfsinn.
»Gehen Sie aus der Leitung«, rief Runciter erschrocken. »Ich habe mit meiner Frau Ella gesprochen. Woher kommen Sie?«
»Ich bin Jory«, meldeten sich die Gedanken wieder, »und niemand unterhält sich mit mir. Ich würde gerne auch eine Weile mit Ihnen reden, wenn es Ihnen recht ist. Wie heißen Sie?«
Runciter stotterte: »Ich will mit meiner Frau Ella Runciter sprechen. Ich habe für das Gespräch mit ihr bezahlt und will mit ihr reden, nicht mit Ihnen.«
»Ich kenne Mrs. Runciter.« Die Gedanken klammerten sich in seinem Ohr fest, viel stärker jetzt. »Sie unterhält sich mit mir, aber nicht so wie mit Ihnen, mit jemandem in der Welt. Mrs. Runciter ist hier bei uns und weiß auch nicht mehr als wir. Welches Jahr haben wir? Ist das große Schiff nach Proxima inzwischen gestartet? Das alles interessiert mich brennend, vielleicht können Sie mir davon berichten. Und wenn es Ihnen recht ist, erzähle ich es später Mrs. Runciter. Einverstanden?«
Runciter riss den Kopfhörer herunter, stürzte aus dem stickigen, verstaubten Büro und lief die Reihen der Tiefkühlsärge entlang, die alle fein säuberlich nach Nummern sortiert waren. Moratoriumsangestellte kamen an ihm vorbei, während er auf der Suche nach dem Besitzer umherirrte.
»Was ist los, Mr. Runciter?«, fragte von Vogelsang, der ihn beobachtet hatte. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Da ist irgendetwas in der Leitung«, schnaufte Runciter und blieb stehen. »Es ist nicht Ella. Verdammt, ihr mit euren schäbigen Geschäftspraktiken. Das dürfte nicht passieren. Was hat das zu bedeuten?« Er folgte dem Moratoriumsbesitzer, der nun in Richtung Büro 2-A ging. »Wenn ich meinen Laden auch so führen würde …«
»Hat sich die Person vorgestellt?«
»Ja, er nannte sich Jory.«
Von Vogelsang runzelte ahnungsvoll die Stirn. »Das muss Jory Miller sein. Er liegt, glaube ich, neben Ihrer Frau.« »Aber ich sehe doch, dass es Ella ist!« »Bei längerer unmittelbarer Nähe kann mitunter eine Art Osmose eintreten, eine gegenseitige geistige Durchdringung der beiden Halblebenden. Jory Millers zephale Aktivität ist außerordentlich hoch, im Gegensatz zu der Ihrer Frau. Dadurch ergibt sich unglücklicherweise eine recht einseitige Bewegung der Protophasen.«
»Können Sie das korrigieren?«, fragte Runciter heiser. Er fühlte sich erschöpft, rang immer noch nach Luft, zitterte. »Sorgen Sie dafür, dass das Zeug aus dem Kopf meiner Frau entfernt wird, und holen Sie sie zurück.«
Zögernd erwiderte von Vogelsang: »Wenn dieser Zustand andauert, bekommen Sie selbstverständlich Ihr Geld zurück.«
»Was nützt mir das Geld? Ich pfeife auf das Geld.«
Sie hatten jetzt das Büro 2-A erreicht. Unsicher nahm Runciter wieder Platz. Sein Herz schlug derart, dass er kaum sprechen konnte. »Wenn es Ihnen nicht gelingt, diesen Jory aus der Leitung zu werfen«, keuchte er, »mache ich Ihnen den Prozess. Dann werde ich dieses Unternehmen schließen lassen.«
Den Blick auf den Sarg gerichtet, setzte sich von Vogelsang den Kopfhörer auf und sprach mit fester Stimme ins Mikrophon. »Geh aus der Leitung, Jory, sei ein guter Junge.« Er sah Runciter an. »Jory starb mit fünfzehn Jahren, daher ist er so vital. Übrigens ist das auch schon früher passiert. Jory ist schon öfter uneingeladen in Erscheinung getreten.« Dann sagte er wieder ins Mikrophon: »Das ist nicht nett von dir, Jory. Mr. Runciter hat eine lange Reise auf sich genommen, um mit seiner Frau zu sprechen. Überlagere ihr Signal nicht, Jory, das gehört sich nicht.« Von Vogelsang machte eine Pause und lauschte. »Ja, ihr Signal ist schwach, das weiß ich.« Wieder lauschte er, feierlich beinahe, wie ein Frosch. Schließlich nahm er den Kopfhörer ab und stand auf.
»Was hat er gesagt?«, fragte Runciter. »Geht er endlich aus der Leitung und lässt mich mit Ella weitersprechen?«
»Leider kann Jory daran nichts ändern. Stellen Sie sich zwei Radiosender vor, einen ganz in der Nähe, mit einer Stärke von nur fünfhundert Watt. Dann den anderen, weit weg, aber auf derselben oder nahezu derselben Frequenz sendend, und das mit fünftausend Watt. Wenn es Nacht wird …«
»Und Nacht ist es inzwischen«, unterbrach ihn Runciter. Zumindest für Ella. Und vielleicht auch für ihn selbst, dann nämlich, wenn Hollis’ verschwundene Telepathen, Parakinetiker, Präkogs, Wiederaufersteher und Animatoren unauffindbar bleiben würden. Er hatte nicht nur Ella verloren, er hatte auch ihren Rat verloren – dieser Jory hatte sich eingeschaltet, bevor sie ihm einen Rat geben konnte.
»Wenn wir sie in ihr Fach zurückbringen«, fuhr von Vogelsang fort, »werden wir sie nicht wieder in Jorys Nähe legen. Und wenn Sie einverstanden sind, monatlich eine etwas höhere Gebühr zu bezahlen, können wir sie sogar in einem isolierten Raum unterbringen, mit Wänden, die einen Überzug und eine Teflon-26-Verstärkung haben, um so jegliche heteropsychische Einwirkung zu vermeiden – ob durch Jory oder wen auch immer.«
»Ist es denn dafür nicht bereits zu spät?«, fragte Runciter, der jetzt erst aus der Depression auftauchte, in die ihn die Ereignisse gestürzt hatten.
»Nein, sie kann sich wieder melden – wenn Jory erst einmal aus ihr verschwunden ist. Und jeder andere, der aufgrund ihres schwachen Zustands in sie eingedrungen sein mag. Sie leistet ja keine Gegenwehr.« Von Vogelsang biss sich auf die Lippe und dachte kurz nach. »Vielleicht mag sie eine derartige Isolation aber auch nicht, Mr. Runciter. Die Behälter – die Särge, wie sie von Laien genannt werden – sind aus gutem Grund eng beieinander. Durch den Kopf eines anderen spazieren zu gehen, gibt den Halblebenden die einzige …«
»Bringen Sie sie unverzüglich in Einzelverwahrung«, rief Runciter. »Es ist besser, sie ist isoliert, als wenn sie überhaupt nicht existiert.«
»Sie existiert«, korrigierte ihn von Vogelsang. »Sie kann Sie nur nicht erreichen. Das ist ein Unterschied.«
»Ein metaphysischer Unterschied, mit dem ich nichts anfangen kann.«
»Gut, ich werde sie gesondert verwahren. Aber womöglich haben Sie recht und es ist wirklich zu spät. Jory hat sie die ganze Zeit über durchdrungen, jedenfalls zu einem großen Teil. Es tut mir leid.«
»Mir auch«, erwiderte Runciter scharf.
Instant-UBIK hat den belebenden Geschmack von frisch aufgegossenem Filterkaffee. Ihr Mann wird sagen: Wow, Sally, ich fand immer, dein Kaffee schmeckt so lala. Aber dieser hier, alle Achtung! Nur ungefährlich bei Anwendung nach Vorschrift.
Noch im clownhaft buntgestreiften Pyjama und ziemlich verkatert setzte sich Joe Chip an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und ging, nachdem er ein Zehncentstück eingeworfen hatte, die Programme seiner Nachrichtenmaschine durch, die er sich erst vor kurzem geliehen hatte. Er landete bei den Interplan-Meldungen, schaltete dann weiter auf Innenpolitik und wählte schließlich Klatsch.
»Guten Morgen, Sir«, meldete sich die Nachrichtenmaschine fröhlich. »Klatsch … Was hat wohl Stanton Mick, der zurückgezogen lebende, interplanetarisch bekannte Spekulant und Finanzier, in diesem Moment vor?« Die Anlage surrte und ein Streifen Papier kam aus dem Schlitz heraus – vierfarbig bedruckt, mit großen Buchstaben versehen –, der sich über die Oberfläche des Neo-Teakholztischs kringelte und dann auf den Fußboden fiel. Mit brummendem Schädel bückte sich Chip, hob ihn auf und strich ihn auf dem Tisch glatt.
MICK BEANTRAGT BEI DER WELTBANK EINE MILLIARDE
(AP) London. Was hat Stanton Mick, der zurückgezogen lebende, interplanetar bekannte Spekulant und Finanzier vor? Das fragt sich die Geschäftswelt seit Bekanntwerden eines Gerüchts aus Whitehall, wonach der ebenso tatkräftige wie eigenwillige Industriemagnat – der einmal angeboten hatte, auf seine Kosten eine Raumflotte bauen zu lassen, mit der es Israel möglich sein würde, eigentlich unbewohnbare Marsgegenden zu kolonisieren und fruchtbar zu machen – eine Anleihe in schwindelerregender, noch nie dagewesener Höhe beantragt hat und möglicherweise auch erhalten wird …
»Das ist doch kein Klatsch«, sagte Joe Chip zur Nachrichtenmaschine. »Das sind irgendwelche Finanzgeschichten. Ich will wissen, welcher TV-Star mit wessen drogensüchtiger Frau ins Bett gegangen ist.« Wie gewöhnlich hatte er schlecht geschlafen; er hatte kein Schlafmittel nehmen können, weil sein wöchentlicher Vorrat an Medikamenten, den er von der zu seinem Wohnblock gehörenden automatischen Apotheke bezog, schon aufgebraucht war. Zugegeben, weil er zu gierig danach war – aber so war es eben. Und nach dem Gesetz durfte er sich erst nächsten Dienstag wieder bei seiner Apotheke melden. Das waren noch zwei Tage, zwei lange Tage.
Die Nachrichtenmaschine erwiderte: »Wählen Sie ›Gewöhnlicher Klatsch‹.«
Chip tat es und ein weiteres Papier quoll aus dem Apparat – eine wunderbare Karikatur von Lola Herzburg-Wright. Er leckte sich genüsslich die Lippen angesichts der frechen Zurschaustellung ihres rechten Ohrs und ergötzte sich dann am Text:
Lola Herzburg-Wright verpasste gestern Abend in einem noblen New Yorker Szenelokal einem Taschendieb, der sie behelligt hatte, eine gestochene rechte Gerade und wirbelte ihn damit geradewegs auf den Tisch, an dem König Egon, genannt Silbergroschen, von Schweden saß, neben einer unbekannten Schönen mit aufregend großen …
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Chip schreckte auf, griff nach seiner Zigarette, die beinahe die Resopaloberfläche des Neo-Teakholztisches angesengt hätte, und schlurfte dann müde zur Sprechanlage, die neben der Tür angebracht war. »Wer ist da?«, brummte er und sah auf seiner Armbanduhr, dass es noch nicht einmal acht Uhr war. Es konnte der Roboter sein, der die Miete kassierte, überlegte er. Oder ein Gläubiger. Er ließ die Tür geschlossen.
Eine begeisterungsgeladene männliche Stimme tönte durch die Sprechanlage: »Ich weiß, es ist noch ziemlich früh, Joe, aber ich bin gerade in der Stadt. G.G. Ashwood hier. Ich glaube, dass mir in Topeka etwas in die Falle gegangen ist – eine ziemlich große Sache. Ich wollte nur deine Bestätigung, bevor ich mich bei Runciter melde. Er ist ohnehin in der Schweiz.«
»Ich habe meine Testausrüstung nicht hier«, sagte Chip.
»Ich laufe schnell in den Laden und hole sie dir.«
»Sie ist nicht im Laden«, sagte Chip und fügte zögerlich hinzu: »Sie ist in meinem Auto. Ich habe es gestern Abend nicht mehr geschafft, sie auszuladen.« Tatsächlich war er zu blau gewesen, um den Kofferraum seines Schwebeautos zu öffnen. »Hat das nicht Zeit bis nach neun?« G.G. Ashwoods erratische, energiegeladene Besessenheit ging ihm ohnehin auf die Nerven – um sieben Uhr vierzig morgens war sie absolut unerträglich, schlimmer als jeder Gläubiger.
»Chip, mein Freund, ich habe hier etwas wirklich Reizendes, ein umherwandelndes Wunderwerk, das deinen Messapparat zum Vibrieren bringen und der Firma neues Leben einhauchen wird, was sie ja dringend brauchen kann. Und außerdem …«
»Was für ein Anti ist es denn? Telepath?«
»Das erzähle ich dir alles. Ich weiß es auch nicht genau. Hör zu, Chip.« Ashwoods Stimme wurde leiser. »Das ist vertraulich. Ich kann unmöglich hier unten stehen und laut vor mich hin reden. Es könnte jemand zuhören. Ich fange schon die Gedanken irgendeines Kerls im Parterre auf. Er …«
»Na gut«, sagte Chip resignierend. Wenn G.G. Ashwood erst mit einem seiner Monologe begonnen hatte, konnte man ihn ohnehin nicht bremsen. »Gib mir fünf Minuten, damit ich mich anziehen und nachsehen kann, ob ich irgendwo in der Wohnung ein bisschen Kaffee finde.« Er konnte sich vage erinnern, dass er gestern Abend noch im Supermarkt der Wohnanlage eingekauft hatte, ja dass er die grüne Bezugsmarke verwendet hatte – was bedeutete, dass er entweder Kaffee, Tee, Zigaretten oder Importschnupftabak gekauft hatte.
»Sie wird dir gefallen«, stellte Ashwood mit energischer Stimme fest. »Obwohl sie, wie es öfter passiert, die Tochter von einem …«
»Sie?«, fragte Chip alarmiert. »Meine Wohnung ist nicht zur Besichtigung geeignet. Ich bin mit meinen Zahlungen an die Gebäudereinigung im Rückstand – sie sind seit Wochen nicht mehr hier gewesen.«
»Ich werde sie fragen, ob sie das stört.«
»Du brauchst sie nicht zu fragen. Mich stört es. Ich werde sie unten im Laden testen, und zwar während der Arbeitszeit.«
»Ich habe ihre Gedanken gelesen – es macht ihr nichts aus.«
»Wie alt ist sie?« Vielleicht ist sie noch ein Kind, dachte Chip. Eine ganze Reihe neuer, begabter Inerter waren Kinder, die ihre Fähigkeit entwickelt hatten, um sich vor ihren Psi-Eltern zu schützen.
»Wie alt bist du, Herzchen?«, hörte er Ashwood jemanden neben sich fragen. »Sie ist neunzehn«, tönte es kurz darauf aus der Sprechanlage.
Na gut, kein Kind. Aber nun war Chip doch neugierig. G.G. Ashwoods aufgeregte Beharrlichkeit hing meistens mit einer attraktiven Frau zusammen und womöglich auch in diesem Fall. »Gib mir fünfzehn Minuten«, sagte er. Wenn er schnell machte, sich eine gründliche Reinigung sparte und das Frühstück ausfallen ließ, könnte er vielleicht bis dahin eine halbwegs ordentliche Wohnung zustande bringen. Zumindest schien es ihm einen Versuch wert zu sein.
Er schaltete ab und suchte dann im Küchenschrank nach einem Besen (Handbedienung oder Automatik) oder einem Staubsauger (Heliumbatterie oder Netzanschluss). Nichts davon war zu finden. Offenbar hatte ihm die Materialausgabe des Gebäudes nie derartige Geräte ausgehändigt. Schön, das jetzt herauszufinden, dachte er. Er wohnte ja gerade mal vier Jahre hier.
Er griff zum Videophon und wählte 214