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Nach dem Unfalltod ihres Zwillingsbruders ist die Welt der neunzehnjährigen Claire völlig aus den Fugen geraten. Will sie überhaupt noch Medizin studieren? Und wenn nicht, was könnte sie sonst mit ihrem Leben anfangen? Claire fühlt sich unvollständig und haltlos, probiert sich aus, lässt sich treiben … bis zu jener denkwürdigen Nacht, in der sie IHN sieht. Der junge Mann fasziniert sie auf den ersten Blick – doch dann steigt er aus dem Bus aus, bevor sie Gelegenheit hat, ihn anzusprechen. Und lässt seinen Rucksack liegen! Wenn das kein Zeichen ist … Claire nimmt den Rucksack mit und hofft, dass der Inhalt mehr über den Unbekannten verrät. Doch bis auf eine Einkaufsliste, ein Sweatshirt, ein Päckchen Streichhölzer und einen Kugelschreiber findet sie darin lediglich ein Notizbuch mit einem einzigen Tagebucheintrag. Sie geht den wenigen Hinweisen nach, die sie hat – in der Hoffnung, dem mysteriösen Unbekannten wieder zu begegnen. Spontan macht Claire sein Tagebuch zu ihrem eigenen und hält ihre Suche darin fest, dabei adressiert sie ihre Einträge direkt an den Unbekannten, sie erzählt ihm von ihren Ängsten, ihrem Leben und natürlich ihrer großen Sehnsucht nach ihm. Werden sie sich jemals gegenüberstehen?
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Seitenzahl: 312
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Bis ich dich finde
Auf dem Nachhauseweg im Bus sieht sie IHN! Claire spürt sofort, dass sie den Fremden mit den traurigen Augen und den Wuschelhaaren kennenlernen muss. Doch er steigt aus, bevor sie den Mut findet, ihn anzusprechen. Zurück lässt er seinen Rucksack – Schicksal? Claire entdeckt zwei Hinweise auf seine Identität: einen Einkaufszettel und ein Tagebuch mit nur einem Eintrag. Die wenigen Worte, die der Fremde geschrieben hat, sprechen ihr direkt aus der Seele – genau wie sie hat auch er gerade jemanden verloren. Ist es möglich, nach dem denkbar Schlimmsten wieder sein Glück zu finden? Claires Suche beginnt …
Eine schicksalhafte Begegnung, die zu einer Reise zu sich selbst wird – warmherzig und einfühlsam erzählt Heike Abidi von Liebe auf den ersten Blick, Trauer und Freundschaft.
Je ratloser ich bin, desto mehr Besserwisser texten mich voll. »Jetzt kannst du das Singleleben genießen.« »Andere Mütter haben auch schöne Töchter.« »Schreib dir den ganzen Müll von der Seele.« »Du bist doch noch so jung, Samuel.« »Und wie wäre es mit einem Haustier?«
Leute, ich wurde verlassen!
Von der Liebe meines Lebens.
Das ist, als ob einem jemand das Herz brutal aus dem Leib reißt. Nichts, was man mit einem Schlaumeier-Spruch heilen könnte!
Okay, vielleicht ist an der Sache mit dem Sich-den-Kummer-von-der-Seele-Schreiben was dran. Ich bezweifele zwar, dass das viel bringt, womöglich tut danach alles nur noch mehr weh. Aber Versuch macht kluch, heißt es schließlich.
Was hab ich schon zu verlieren? Schließlich habe ich schon alles verloren, was mir etwas bedeutet.
Unser gemeinsames Jahr war offenbar ein großer Irrtum. Was ich für wahre Gefühle gehalten habe, war für sie eine Übergangslösung, bis was Besseres kommt. Und wie es aussieht, kam was Besseres. Ein Job in New York und ein dämlicher Businesskasper mit Penthouse. Da kann ich nicht mithalten mit meiner mickrigen Studentenbude und mehr BAföG-Schulden, als ich in den nächsten Jahren verdienen kann.
Ich wusste nicht, dass sie auf Luxus steht. Nie habe ich daran gezweifelt, dass ihr dieselben Dinge wichtig sind wie mir. Nächtelange Gespräche führen. Indie-Bands entdecken. Ins Programmkino gehen. Einsame Hunde spazieren führen. Unsere gemeinsame Zukunft planen.
Die gibt es ja jetzt auch nicht mehr.
Deshalb ist mein Leben gerade wie ein Novembertag. Grau, dunkel und trostlos.
Auf einmal war Claire hellwach. Vorhin noch hatte sie befürchtet, gleich im Stehen einzuschlafen, doch jetzt hatte sie den toten Punkt wohl überwunden. Okay, sie fühlte sich immer noch völlig ausgelaugt, die Füße schmerzten, der Rücken nicht minder. So wie immer nach einer langen Nacht hinter der Theke. Und gleichzeitig irgendwie anders. Regelrecht aufgekratzt. Ihre Sinne waren geschärft, als wären sie in Alarmbereitschaft. Was im Grunde lächerlich war, denn welche Gefahr sollte schon drohen in diesem schmuddeligen alten Stadtbus, der wie immer um diese Zeit fast menschenleer war?
Claire schaute sich um. Dort hinten saß ein Pärchen, das frisch verliebt wirkte. Die beiden hatten nur Augen füreinander und wirkten ungefähr so bedrohlich wie ein Schmetterling. Oder – in Anbetracht der Uhrzeit – ein Nachtfalter.
Ganz vorne links, direkt hinter dem Fahrer, hatte sich eine Frau mittleren Alters niedergelassen. Sie trug einen Trenchcoat und praktische Schuhe. Claire kannte sie vom Sehen. Die Frau arbeitete bei einer Putzkolonne und war schon auf dem Weg zur Frühschicht. Dabei verrieten ihre hängenden Schultern, wie müde sie schon allein beim Gedanken an den harten Arbeitstag war, der vor ihr lag. Claire hätte nicht mit ihr tauschen wollen. In aller Herrgottsfrühe aufstehen zu müssen, empfand sie als pure Folter. Lieber arbeitete sie die halbe Nacht durch und schlief dann bis Mittag.
So langsam hatte sie sich an diesen Rhythmus gewöhnt. Auch an den Lärmpegel in der Bar, an die zweideutigen Sprüche mancher Gäste, die stickige Luft, das viele Stehen, die rauen Spülhände … Sie hatte inzwischen nicht nur die Preise der gängigsten Getränke im Kopf, sondern auch die Rezepturen aller Cocktails, die auf der Karte standen. Wenn sie etwas machte, dann richtig. Selbst bei einem vorübergehenden Aushilfsjob.
Wobei – so ganz stand ja noch nicht fest, wie lange ihre Kellnerinnenkarriere dauern würde. Ursprünglich hatte sie geplant, nur bis zum Semesterbeginn zu jobben und dann erst wieder in den Ferien. Oder höchstens hin und wieder am Wochenende. Schließlich wollte sie sich voll und ganz auf die Uni konzentrieren. Die Regelstudienzeit sollte doch zu schaffen sein! Natürlich mit einem brillanten Abschluss …
»Wir müssen uns nur gegenseitig anfeuern und motivieren, dann klappt das schon«, hatte Colin gesagt, und sie hatte genickt. Beim Abitur war diese Taktik schließlich auch aufgegangen. Sie und Colin waren eben ein unschlagbares Team.
Gewesen.
Claire schluckte und schaute durch die schmutzige Scheibe hinaus in die Nacht. Als könnte irgendetwas dort draußen sie aufmuntern. Das konnte nichts und niemand. Das Einzige, was einigermaßen funktionierte, war Ablenkung, am besten durch Arbeiten bis zur völligen Erschöpfung.
Der Job in der Bar war da im Grunde goldrichtig. Er ließ ihr keine Sekunde Zeit zum Grübeln und machte sie so richtig müde, sodass sie anschließend meist sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel, anstatt stundenlang wach zu liegen und an jenen Tag vor inzwischen fast drei Monaten zu denken, der alles verändert hatte.
Aber jetzt, während der nächtlichen Busfahrt nach Hause, machten ihre Gedanken, was sie wollten. Und natürlich wollten sie sich um Colin drehen. Ihre andere Hälfte. Ihren Zwillingsbruder.
Neunzehn Jahre waren sie eine Einheit gewesen. Colin und Claire. Unzertrennlich, hatte man sie immer genannt.
Von wegen.
Während sich ihre Augen gegen ihren Willen mit Tränen füllten, wanderten Claires Gedanken zurück zu jenem Horror-Tag im Juni, an dem sie von einem Anruf geweckt worden war.
Zuerst hatte sie das leise Summen gar nicht gehört, denn in der Nacht stellte sie ihr Handy immer auf Vibration. Im Halbschlaf hielt sie das Geräusch für das Brummen der Kaffeemaschine. Doch als sie die Augen aufschlug, stellte sie fest, dass es draußen noch dunkel war. Es würde noch Stunden dauern, bis sich jemand in der Küche zu schaffen machte. Also doch ein Anruf. Sie warf einen Blick aufs Display. Vier Uhr siebenunddreißig. Und eine unbekannte Nummer. Es überlief sie eiskalt. Entweder war das ein Telefonstreich oder …
Es war Phil, der beste Kumpel ihres Bruders. Zuerst erkannte sie seine Stimme überhaupt nicht. Sie klang rau und tonlos zugleich. Und das lag nicht allein daran, dass der Anruf von der anderen Seite des Atlantiks kam.
»Claire, es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte er. Da wusste sie es schon. Obwohl sie noch hoffte, dass er übertrieb und den beiden bloß das Mietauto geklaut worden war. Oder dass sie ihr Gepäck verloren hatten. Oder …
»Colin hatte einen Surfunfall«, fuhr Phil fort und brach erneut ab.
Warum sagt er denn nicht, was los ist? Hat er sich ein Bein gebrochen? Den Arm? Oder beides? Claires Gedanken rasten. Dabei kannte sie längst die Antwort.
Als Phil sie schließlich bestätigte, wurde die Ahnung zur schrecklichen Gewissheit. »Er hat das Brett an die Schläfe bekommen und ist ohnmächtig geworden. Colin … er ist ertrunken. Man hat fast eine Stunde lang versucht, ihn wiederzubeleben, aber es war nichts zu machen. Es tut mir so leid.«
Dieser Moment hatte sich tief und unauslöschlich in Claires Gedächtnis eingegraben. Vielleicht sogar reingefräst. Oder geätzt. Mit der alles zerstörenden Säure der Realität.
Nein, es war kein böser Traum gewesen, sosehr sie es manchmal noch immer hoffte. Die Wirklichkeit war nun mal gnadenlos, das Schicksal ein Spielverderber und ihre Zukunft ein Scherbenhaufen.
An die ersten Tage danach konnte sie sich kaum noch entsinnen. Da war nur Dunkelheit, unterbrochen von ein paar Erinnerungsfetzen. Die meisten davon unscharf, als hätte ihr Gedächtnis auch die Tränen mit abgespeichert, die jetzt die Bilder in ihrem Kopf verwässerten. Das Gespräch mit dem Bestatter. Die Telefonate wegen der Überführung der Leiche. Ihr ungläubiges Staunen darüber, wie selbstverständlich Colin auf einmal so bezeichnet wurde. Die Menschenmenge, alle ganz in Schwarz. Die Eltern, starr vor Entsetzen. Und sie selbst, die verheulten Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, innerlich leer und zugleich voller Schmerz – und unausgesprochener Fragen.
Was sollte sie denn nun mit sich anfangen, als übrig gebliebene Hälfte? Ihr Plan war so gut gewesen. Er hatte festgestanden, seit sie ungefähr zwölf waren. Da hatten Colin und sie beschlossen, nach der Schule Medizin zu studieren und irgendwann die Praxis ihrer Eltern zu übernehmen. Auf diese Weise würden sie ihr Leben lang zusammenbleiben. Erst an der Uni, dann im Beruf. Auch wenn sie irgendwann heiraten und eigene Familien gründen würden, wären sie doch zumindest im Job ein unzertrennliches Team.
Hatte sie geglaubt.
Inzwischen wusste sie es besser. Genauer gesagt: Sie wusste gar nichts mehr.
Die Tränen strömten jetzt ungehindert über ihre Wangen, und sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Wie so oft, wenn sie die Erinnerungen zuließ, wurde sie von Trauer übermannt. Sie umhüllte ihr Herz wie kalter Nebel. Es fühlte sich an, als bestünde Claire nur aus dieser Trauer – und der Sehnsucht nach der Zeit, als ihr Leben noch in Ordnung war. Als Colin noch lebte und alles einen Sinn hatte.
Wieder hielten sie an. Die Putzfrau verließ den Bus, und eine junge Frau im dunkelblauen Kostüm mit Handgepäcktrolley stieg ein. Sicher eine Stewardess auf dem Weg zum Flughafen. Eine Kollegin also – nur dass sie in zehn Kilometern Höhe kellnerte und nicht in den Niederungen einer Bar. Sie warf Claire einen besorgten Blick zu. Kein Wunder, sie bot sicher ein Bild des Elends.
Bitte nicht ansprechen, dachte Claire, zwang sich zu einem kleinen Lächeln und wischte rasch die Tränen ab, bevor sie noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Irgendwie musste sie es schaffen, sich zusammenzureißen. Zumindest, bis sie zu Hause war. Wenn sie die Tür ihres WG-Zimmers hinter sich geschlossen hatte, konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Verdammt, warum schlich sich die Trauer auch immer genau dann an, wenn sie so kraft- und wehrlos war? Dagegen half erfahrungsgemäß nur ein Ablenkungsmanöver.
Unauffällig schaute Claire hinüber zu der vermeintlichen Stewardess. Wohin ihre Reise heute wohl ging? Vielleicht nach Bali. Oder Südafrika. Auf keinen Fall nach Hawaii. Seit Colins Unfall wollte Claire an diesen Albtraumort nicht mehr denken. Lieber an fremde, unbelastete Orte. Warum nicht die Malediven? Das wäre doch ein schönes Ziel für die Frau mit dem Trolley. Wie sie wohl hieß? Jenny vielleicht. Oder Jacqueline. Irgendwas mit J. Zum Beispiel Jasmin? Nein, das war zu blumig. Nicht tough genug. Jana? Julia? Nein, Jessica passte perfekt, beschloss Claire, und ein kleines Lächeln huschte über ihr verheultes Gesicht. Solche Gedankenspiele hatten ihr schon immer Spaß gemacht. Und jetzt erwiesen sie sich als perfekte Taktik, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Sie dichtete der Frau, die vielleicht Jessica hieß, noch diverse Hobbys an (Handlettering, Zumba, Fotografieren), außerdem Lieblingsspeisen (Seezunge, Brokkolicremesuppe, Schokoeis) und -getränke (Espresso, Bitter Lemon, Bloody Mary). In Claires Fantasie hatte Jessica einen Ex-Freund in New York und einen aktuellen Lover in Havanna. Sie las gern Thriller, doch ihr Lieblingsfilm war nach wie vor Titanic. Dicht gefolgt von Shape of Water.
Claire selbst war schon seit einiger Zeit nicht mehr im Kino gewesen. Genauer gesagt, seit Colins Tod. Früher hatten sie gemeinsam keine Sneak Preview verpasst. Colin liebte Überraschungen und sagte immer, man könne keinen Film unvoreingenommen genießen, über den man zu viel weiß.
Auf diese Weise hatte Claire ihren absoluten Lieblingsfilm kennengelernt: Arrival. Hätte sie geahnt, was auf dem Programm stand, hätte sie den Kinobesuch garantiert abgesagt. Eigentlich mochte sie nämlich überhaupt keine Geschichten über Außerirdische. Die waren ihr entweder zu brutal oder zu albern. Nicht so dieser Film. Arrival war klug, tiefgründig, fast poetisch.
Ausnahmsweise war Colin nicht ihrer Meinung gewesen. Er fand den Film lahm. »Da fehlt die Action«, hatte er gemosert.
Ach, Colin. Wärst du nicht so verrückt nach Action gewesen, könntest du noch leben.
Und schon hatte sie ihr eigenes Ablenkungsmanöver boykottiert. Es war wie verhext heute Nacht. Als wollte sich Colin um jeden Preis in ihr Bewusstsein drängen.
Wieder bremste der Bus. Claire schaute hinaus. Haltestelle Hauptbahnhof. Die Frau, die vielleicht Jessica hieß, schob ihren Trolley in Richtung Ausgang – sicher stieg sie hier um in die S-Bahn zum Flughafen.
Kaum war der Bus wieder angefahren, stand ein weiterer Fahrgast auf, um sich schon mal in Richtung Tür zu bewegen. Offenbar hatte er es eilig. Wo er wohl hinwollte? Claires Neugier war geweckt. Schade, dass sie den Mann nur von hinten sah – wie sollte sie sich da einen Namen und eine fiktive Biografie für ihn ausdenken?
Als hätte sie ihn nur mit der Kraft ihrer Gedanken beeinflusst, drehte er sich für einen Moment um, und ihr blieb fast das Herz stehen – nur um danach umso heftiger zu pochen.
War das etwa …?
Claire spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten. Hatte sie da gerade eine Erscheinung?
Das konnte doch nicht sein!
Ihr wurde heiß und kalt zugleich, und vor lauter Anspannung hielt sie die Luft an. Erst als sie erkannte, dass sie sich getäuscht hatte, stieß sie den Atem heftig aus.
Nur ein Fremder.
Aber er sah ihm ähnlich. Irgendwie. Allerdings auch nur auf den allerersten Blick. Colin war viel größer als dieser Typ. Und blonder. Eigentlich war die Ähnlichkeit gar nicht so besonders groß, wenn man genau hinschaute.
Und das tat Claire. Wie paralysiert musterte sie ihn. Vergessen das Ziel, möglichst nicht aufzufallen. Es war, als müsste sie innerhalb kürzester Zeit versuchen, seinen Anblick für alle Zeiten abzuspeichern – seine Statur, seine Haltung, sein Blick, alles strahlte eine tiefe Traurigkeit aus, die ihr nur zu bekannt war. In gewisser Weise war es, als blickte sie in den Spiegel ihrer eigenen Seele. Wäre der Bus voll besetzt gewesen, hätten sich die anderen Fahrgäste bestimmt über die junge Frau gewundert, die so hemmungslos einen Typen anstarrte. Normalerweise hätte sie dem Unbekannten höchstens einen verstohlenen Blick zugeworfen. Doch in diesem Moment war sie nicht sie selbst. Sondern wie ferngesteuert.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell: Der Bus öffnete die Türen und spuckte ihn aus, hinaus ins Dunkel der Nacht, die ihn innerhalb weniger Sekunden verschlang. Claire schaute ihm durchs Fenster hinterher und konnte kaum fassen, was gerade geschehen war.
Dann wanderte ihr Blick zu dem Platz, auf dem der Typ bis vor wenigen Augenblicken gesessen hatte, und da sah sie ihn. Seinen Rucksack.
Ohne lange nachzudenken, sprang sie nun selbst auf, rannte zur Tür und drückte auf den Knopf, um sie zu öffnen. Nichts passierte. Was war los? War der Türöffner etwa defekt? Hektisch drückte sie wieder und wieder, doch es war zu spät – der Bus fuhr schon weiter.
Obwohl sie wusste, dass es nutzlos war, probierte Claire es weiter, diesmal fester, als könnte sie damit die Technik überlisten. Sie musste dem Unbekannten folgen, unbedingt!
»Hey, du hast da was vergessen!«, rief sie ihm halblaut hinterher. Ohnehin ein sinnloses Unterfangen, das war ihr klar. Auch dass sie sich gerade vor den Mitfahrenden ziemlich lächerlich gemacht hatte. Aber das war ihr vollkommen egal.
Wie in Trance ging sie zu dem Platz, auf dem der Unbekannte gerade noch gesessen hatte. Der Sitz hatte seine Körperwärme gespeichert. Claire nahm seinen Rucksack auf den Schoß und schloss die Augen, um sich sein Aussehen in Erinnerung zu rufen. Irgendetwas an ihm hatte in ihr eine ganze Flut von Empfindungen ausgelöst.
Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein Gesicht mit traurigen Augen auf. Eine leicht gebogene Nase. Ein von Bartstoppeln umrahmter Mund. Dunkelblonde Haare, die weder glatt noch lockig waren, sondern irgendwie widerspenstig und auf attraktive Weise unfrisiert. Dann löste sich das Bild wieder auf, und zurück blieb ein Gefühl – das der Verbundenheit mit dem Unbekannten.
Dabei kannte sie ihn doch überhaupt nicht!
Und überhaupt – wie konnte da eine Verbundenheit bestehen? Er hatte sie ja gar nicht richtig angeschaut. Sicher hatte er sie nicht mal registriert und war ausgestiegen, ohne ihren verblüfften Blick wahrzunehmen.
Der Unbekannte hatte gehetzt gewirkt. Und irgendwie abwesend. Ja, er musste in Gedanken gewesen sein, sonst hätte er bestimmt nicht seinen Rucksack liegen lassen.
Ob er ihn inzwischen schon vermisste?
Claire schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Scheibe. Sie war angenehm kühl und vibrierte leicht, weil der Bus gerade über Kopfsteinpflaster fuhr. Jetzt bremste er ab, und das Vibrieren wurde schwächer. Claire fragte sich, warum der Unbekannte wohl noch so spät unterwegs gewesen war. Kam er von einer Feier mit Freunden? So hatte er nicht gewirkt. Oder von einem Job? Vielleicht kellnerte er ebenfalls. War das womöglich eine Gemeinsamkeit? Hatte sie sich deshalb so mit ihm verbunden gefühlt?
Sie hörte Schritte und öffnete die Augen. Es war das Pärchen. Die beiden hatten inzwischen den Ausstieg erreicht. Die Tür öffnete sich mit einem leisem Zischen. Claires Blick wanderte hoch zur Digitalanzeige. Marienstraße. Mist, hier musste sie auch raus! Aber natürlich – das Kopfsteinpflaster hätte ihr bekannt vorkommen müssen! Eilig sprang sie auf, stürmte los und erreichte den Ausstieg gerade, als sich die Tür langsam wieder zu schließen begann. Irgendwie schaffte sie es, sich hindurchzuquetschen.
Heftig atmend schaute sie den Rücklichtern des Busses hinterher. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie den Rucksack noch umklammert hielt. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn mitzunehmen? Natürlich hätte sie ihn abgeben müssen. Dann hätte ihn der Busfahrer im Fundbüro abgeben und der Unbekannte ihn dort abholen können.
Unentschlossen blieb Claire am Straßenrand stehen. Die LED-Anzeigetafel kündigte den nächsten Bus dieser Linie in sieben Minuten an.
Sieben Minuten. Das war überschaubar. Sollte sie einfach so lange hier warten? Vielleicht hatte der Unbekannte seinen Verlust ja sofort bemerkt und würde …
Aber nein, das war natürlich Unsinn. Er konnte schließlich nicht wissen, dass sie hier ausgestiegen war und seinen Rucksack bei sich trug. Viel wahrscheinlicher war es doch, dass er den Bus auf seinem Rückweg abzupassen versuchte, in der Hoffnung, der Rucksack wäre noch da.
Kurz entschlossen wechselte Claire die Straßenseite. Wenn sie die nächste Verbindung in die Gegenrichtung nahm, könnte sie ihn vielleicht erwischen. Die Wahrscheinlichkeit war zwar gering, aber man konnte ja nie wissen. Wenn das Schicksal einem eine Chance wie diese gab, musste man sie schließlich ergreifen, oder?
Sie fand es nicht sonderlich angenehm, hier allein im Dunkeln herumzustehen. Es waren kaum Autos unterwegs, und Fußgänger schon gar keine. Wenigstens stand gleich neben der Haltestelle eine Straßenlaterne. Auch die Schaufenster der umliegenden Geschäfte waren beleuchtet. Eine Reinigung, ein Backshop, ein Optiker, ein Handyladen. Natürlich alle geschlossen. Überhaupt war die Gegend völlig verlassen. Hoffentlich kam der Bus bald! So langsam wurde es Claire hier regelrecht unheimlich. Außerdem fror sie. Warum nur hatte sie nichts zum Überziehen dabei? Der Unbekannte war in dieser Hinsicht vorausschauender gewesen. Ob er ihr seine Jeansjacke leihen würde, wenn er jetzt neben ihr stünde?
Claire begann, auf und ab zu gehen, um sich ein bisschen aufzuwärmen. Um diese Uhrzeit war von der Hitze, die zurzeit tagsüber herrschte, nicht viel zu spüren. Mit dem August waren auch die tropischen Nächte vergangen.
Colin hatte den Spätsommer geliebt. Sie früher auch, doch dieser war der erste, den sie ohne ihn erlebte, und es hatte sich so angefühlt, als ließe sie ihn im Stich, als sie neulich einen freien Nachmittag im Park verbracht hatte, um die warmen Sonnenstrahlen zu genießen.
Colin …
Wäre er jetzt bei ihr, würde er sie garantiert aufziehen. Du könntest längst zu Hause im Warmen sein, Schwesterherz.Stattdessen stehst du hier bibbernd rum und gruselst dich, und all das nur wegen eines Kerls, den du überhaupt nicht kennst!
Vermutlich hätte er ihr die ganze Aktion längst ausgeredet. Statt den Unbekannten zu suchen, hätte er den Rucksack ordnungsgemäß abgegeben und das Thema abgehakt. Vielleicht sogar die Polizei gerufen, schließlich galt ein herrenloses Gepäckstück heutzutage als Terrorgefahr.
Doch Claire wusste, dass dieser Rucksack keine Bombe enthielt. Sie umklammerte ihn wie ein Baby, während sie zitternd auf den Bus wartete.
Als er endlich kam, schlug ihr Herz schneller. In wenigen Minuten würde sie den Unbekannten wiedersehen. Vielleicht. Andererseits: Wenn er nicht dort wartete, wo sie ihn vermutete, würde sie ihm vielleicht nie wieder begegnen.
Das durfte einfach nicht sein!
Natürlich war er nicht da. Was hatte sie sich da nur eingeredet? Sie könnte längst im Bett liegen. Müde genug war sie. Nun stand sie wieder auf der Straße, erneut mutterseelenallein. Das Ganze war eine Schnapsidee gewesen. Völlig verrückt.
Und nun? Auf den nächsten Bus warten? Wieder eine Viertelstunde frierend herumlungern? Claire zögerte. Wenn wenigstens der Kiosk dort drüben geöffnet hätte. Dann könnte sie sich einen Kaffee besorgen und wäre nicht ganz so allein. Aber der Laden war natürlich längst geschlossen.
Bis nach Hause war es eine knappe halbe Stunde zu Fuß. Wenigstens würde die Bewegung sie aufwärmen. Seufzend machte sie sich auf den Weg.
Eigentlich verlangte ihr Körper nach Schlaf. Doch dazu war sie viel zu aufgewühlt. Sie ging, so schnell sie konnte. Zum Glück trug sie bequeme Sneakers, wie immer, wenn sie in der Bar arbeitete, und keine Schuhe mit Absätzen, die auf dem Asphalt laut geklappert hätten. Es wäre ihr unangenehm gewesen, um diese Zeit so einen Radau zu veranstalten. Doch angesichts der Stille um sie herum erschienen ihr schon das Rauschen des Blutes in ihren Ohren und ihr Keuchen extrem laut. Wenigstens konnte das außer ihr niemand wahrnehmen. Und warum atmete sie überhaupt so heftig? Sie rannte ja fast! Wenn sie sich nicht bremste, würde sie es in diesem Tempo gar nicht bis nach Hause schaffen. Die letzten hundert Meter ging sie etwas langsamer, obwohl sie es kaum erwarten konnte, endlich in ihr Zimmer zu kommen.
Noch bevor der Altbau, in dem sie seit ein paar Wochen wohnte, in Sichtweite war, kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Das Schloss ging ein bisschen schwer auf, sie musste leicht gegen die Tür drücken und gleichzeitig am Knauf ziehen, während sie den Schlüssel umdrehte. Immerhin funktionierte der Bewegungsmelder im Treppenhaus, sodass sie nicht umständlich nach dem Lichtschalter tasten musste.
In der Wohnung war alles ruhig. Die anderen schliefen längst. Überhaupt hatte sie einen ziemlich anderen Rhythmus als ihre Mitbewohner – meistens trafen sie sich nur zwischen Tür und Angel oder höchstens mal in der Küche. Claire fand das ein bisschen schade. Jetzt allerdings war sie froh, dass sie niemandem begegnete. Sie wollte allein sein mit sich und ihren Gedanken.
Als sie wenig später ihr Zimmer betrat, war sie entschlossener denn je, den Unbekannten zu finden. Vielleicht nicht heute Nacht, aber bald. Und wenn sie Glück hatte, würde ihr der Rucksack dabei helfen …
Kurz entschlossen öffnete sie ihn und leerte den Inhalt auf dem Boden aus. Dann ließ sie sich im Schneidersitz nieder und begutachtete, was vor ihr ausgebreitet lag: eine Einkaufsliste, ein Sweatshirt mit dem Bandlogo der Arctic Monkeys, ein Päckchen Streichhölzer, ein Kugelschreiber und ein Notizbuch.
Mit anderen Worten: nicht sonderlich viel. Wie sollte sie diesen kümmerlichen Habseligkeiten bloß Informationen über die Identität ihres Besitzers entlocken?
Zögernd schlug sie das Notizbuch auf. Nur die ersten zwei Seiten waren beschrieben. Die Handschrift wirkte schwungvoll und unverschnörkelt zugleich.
Je ratloser ich bin, desto mehr Besserwisser texten mich voll. »Jetzt kannst du das Singleleben genießen.« »Andere Mütter haben auch schöne Töchter.« »Schreib dir den ganzen Müll von der Seele.« »Du bist doch noch so jung, Samuel.« »Und wie wäre es mit einem Haustier?«
Leute, ich wurde verlassen!
Von der Liebe meines Lebens.
Das ist, als ob einem jemand das Herz brutal aus dem Leib reißt. Nichts, was man mit einem Schlaumeier-Spruch heilen könnte!
Nach diesen Zeilen war ihr sofort klar, dass es sich um einen Tagebucheintrag handelte. Wenn sie jetzt weiterlas, verletzte sie seine Privatsphäre. Wenn sie es jedoch nicht tat, blieben ihr nur der Einkaufszettel, die Streichhölzer und das Sweatshirt als Hinweise. Reichlich mager.
Er würde doch sicher auch wollen, dass sie ihn fand und ihm seine Sachen zurückgeben konnte?
Na also!
Claire gab sich einen Ruck. Okay, sie war neugierig, das musste sie sich eingestehen. Aber das Ganze war schließlich für einen guten Zweck.
Und so las sie weiter …
Als sie fertig war, begann sie noch einmal von vorn. Voller Mitgefühl für diesen traurigen Menschen, der sein Leben mit einem grauen Novembertag verglich. Oh, wie gut sie das nachempfinden konnte! Auch ihr Herz war gebrochen, wenn auch aus einem anderen Grund. Dennoch – seine Zeilen erreichten ihr Herz und berührten sie in ihrem tiefsten Inneren.
Nachdem Claire den Eintrag ein drittes Mal gelesen hatte, nahm sie seinen Kugelschreiber zur Hand und begann selbst zu schreiben.
Gute Idee, sich die Sorgen von der Seele zu schreiben. Warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen?
Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich vorhin diesen Rucksack gefunden habe – mit dem Tagebuch darin.
Okay, ich glaube nicht an Bestimmung. Jedenfalls nicht mehr.
Früher schon. Da folgte mein ganzes Leben einem durchgeplanten, perfekten Drehbuch. Glückliche Kindheit, wohlhabendes Elternhaus, hervorragendes Abitur. Der Rest war im Grunde sonnenklar: Wir würden Medizin studieren und eines Tages die Praxis unserer Eltern übernehmen, Colin und ich.
Verdammt, warum musste er auch unbedingt diesen blöden Surfkurs machen? Wieso ist er überhaupt nach Hawaii geflogen? Weshalb hat er das Geld, das er zum Abitur geschenkt bekommen hatte, für eine Reise verjubelt, statt fürs Studium zu sparen? Warum war Colin der Einzige, der im Laufe des Sommers an diesem Surfspot verunglückt ist?
Und so stand ich gerade mal zwei Wochen nach unserer Abifeier am Grab meiner anderen Hälfte, ohne die ich einfach unvollständig bin. Schwarz gekleidet und innerlich grau.
Dieser Tag war das Ende meiner strahlenden Zukunft und der Anfang von etwas, das vermutlich der Rest meines Lebens wird.
Also, wie gesagt: Ich habe nicht mehr an Bestimmung geglaubt. Denn das Schicksal ist eine Scheißhausfliege.
Aber dann kamst du ins Spiel, Samuel.
Ich vermute, es lag am Schlafmangel, den man als Kellnerin nun mal hat, und an den zwei, drei Absackern nach Feierabend, dass ich dich im ersten Moment für eine Reinkarnation meines Zwillingsbruders gehalten habe. Auf den zweiten wurde mir sofort klar, dass das unmöglich ist. Und überhaupt – Colin sah völlig anders aus! Aber du hast seine Lässigkeit.
Sein Charisma.
Du scheinst von alldem nichts mitbekommen zu haben. Vermutlich hast du mich gar nicht bemerkt, sondern an sie gedacht. Die Frau, die dein Herz gebrochen hat.
Jedenfalls war mir auf einmal glasklar, dass es eben doch so etwas wie Vorsehung gibt. Und jetzt weiß ich auch, was meine Aufgabe ist. Ich werde wieder Licht und Freude in dein Leben bringen. Und du in meins.
Doch zuerst muss ich dich finden. Was nicht gerade einfach wird, denn ich weiß ja fast nichts von dir – wenn man von den wenigen Zeilen, die du geschrieben hast, absieht.
Es ist dir doch hoffentlich recht, dass ich dein Tagebuch weiter benutze, um meine Suche nach dir zu dokumentieren?
Denn auch wenn ich nicht weiß, ob ich Medizinerin, Kellnerin oder Buchhändlerin werden will, eins ist sicher: Dich zu finden, ist Punkt eins in meinem neuen Lebensplan.
Als Claire gegen Mittag die Küche betrat, war schmutziges Frühstücksgeschirr das Einzige, was von ihren Mitbewohnern zu sehen war. Sie ließ es links liegen und steuerte den Kaffeeautomaten an – das luxuriöseste und zugleich unverzichtbarste Haushaltsgerät im Besitz der WG, deren jüngstes Mitglied sie war, und das sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ben war schon im fünften Semester und Jenny sogar im siebten. Nachdem ihr dritter Mitbewohner sein Studium abgeschlossen hatte und weggezogen war, hatten sie genau zu dem Zeitpunkt einen »Zimmer frei«-Aushang ans Schwarze Brett gehängt, als Claire davorstand, um nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Die Suche hatte sich damit für beide Seiten umgehend erledigt.
»Man kann auch mal Glück haben«, hatte Ben grinsend kommentiert, und sie hatte genickt. Irgendwie war es ihr gelungen, Freude vorzutäuschen. In Wahrheit war sie dazu nicht in der Lage gewesen. Schließlich war Colins Tod erst dreieinhalb Wochen her.
Jetzt, weitere sieben Wochen später, begriff sie durchaus, was für ein Wahnsinnsglück sie bei der Wohnungssuche wohl gehabt hatte. Doch echte Freude darüber empfand sie noch immer nicht. Wie könnte sie auch! Wahres Glück hätte anders ausgesehen. Auf jeden Fall hätte einer ihrer Mitbewohner Colin geheißen. Wahrscheinlich hätten sie gemeinsam eine Zweier-WG gegründet. Never change a winning team, hieß es nicht so? Tja, aber dann war alles so anders gekommen.
Ursprünglich hatten sie vorgehabt, nach Colins Rückkehr aus Hawaii auf Wohnungssuche zu gehen. Und sich dann in Ruhe in der neuen Stadt einzuleben, bevor das Semester im Herbst startete. Diesen Plan nun allein durchzuziehen und tatsächlich schon so lange vor Vorlesungsbeginn umzuziehen, war eine ganz spontane Entscheidung gewesen. Zu Hause hatte Claire es einfach nicht länger ausgehalten. Dort hatte sie alles an Colin erinnert. Überall hatte er seine Spuren hinterlassen: seine Zeitschriften, seine Sportsachen, seine Lieblingskaugummis. Und dann der leere Stuhl am Tisch …
Ihre Eltern ertrugen die Trauer nur, indem sie sich noch mehr als sonst in die Arbeit stürzten. Da hatte Claire beschlossen, es ebenfalls mit dieser Strategie zu probieren.
Und hier war sie nun. In dieser verwohnten Küche, in der es mehr schmutziges Geschirr auf der Arbeitsplatte als sauberes im Schrank gab. Die grasgrüne Kaffeetasse in ihrer Hand trug die Aufschrift »Morgenmuffel«. Sie hatte ihrem Vormieter gehört, und Claire hatte sie mitsamt seiner wackeligen Bücherregale, dem zerschrammten Schreibtisch und dem halb vertrockneten Gummibaum übernommen.
Die Tasse passte perfekt zu ihr. Sie war morgens keine gute Gesprächspartnerin. Zum Glück erwartete das hier auch niemand von ihr. Ihre Mitbewohner waren zwar nett, aber selten zu Hause, und wenn doch, ließen sie Claire meist in Ruhe. Sie schienen zu spüren, dass sie weder auf Small Talk aus war noch ausgefragt werden wollte.
Vielleicht war sie ihnen auch gleichgültig? Ben war vollauf mit seinen wechselnden Freundinnen beschäftigt, und Jenny trieb in jeder freien Minute Sport. So auch jetzt. Noch im Bett liegend, hatte Claire mitbekommen, wie Ben und seine aktuelle Eroberung ins Schwimmbad aufgebrochen waren und Jenny ihr Rennrad durch den Flur gerollt hatte, um wenig später die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zu ziehen. Claire hätte weder mit dem einen noch mit der anderen tauschen wollen. Ihre helle Haut vertrug keine Sonne, und Radfahren war so überhaupt nicht ihr Ding. Schon gar nicht um diese Uhrzeit.
Nach der zweiten Tasse kam ihr Gehirn langsam in die Gänge. Und die Erinnerungen kehrten zurück. An den Rucksack, den Unbekannten, das Tagebuch, ihren Plan.
Zurück in ihrem Zimmer las sie noch einmal durch, was sie am frühen Morgen geschrieben hatte. Offenbar hatte sie sich vorgenommen, den Fremden, der nun immerhin einen Namen hatte, um jeden Preis zu finden – und das nicht nur, um ihm seinen Rucksack zurückzugeben, sondern auch, um »Licht und Freude in sein Leben zu bringen«. Wie war sie denn nur auf diese pathetische Formulierung gekommen? Und überhaupt – als hätte ausgerechnet sie Licht und Freude im Überfluss …
Dennoch – irgendetwas hatte sie dazu gebracht, genau so zu empfinden. Und wenn es nur die Müdigkeit war – oder ihre Verzweiflung.
Heute Morgen kam Claire die Entschlossenheit, mit der sie vor wenigen Stunden ihr neues Lebensziel formuliert hatte, reichlich albern vor.
Andererseits hatte sie auch keinen Alternativplan. Weder für ihr Leben noch für den heutigen Tag, an dem sie freihatte. Mit anderen Worten: viel Zeit zum Grübeln. Was ihr nicht guttat, so viel war klar.
Es war immer besser, sich irgendwie zu beschäftigen. Und wenn es nur mit Putzen war.
Nachdem Claire den Inhalt des Rucksacks, der immer noch verstreut auf dem Boden herumlag, wieder eingeräumt hatte, machte sie ihr Bett und saugte den Dielenboden ihres Zimmers und den bunten Flickenteppich. Weil sie schon mal dabei war, auch gleich noch den Flur und die Küche. Dann spülte sie das dreckige Geschirr, trocknete es ab und räumte alles in den alten Küchenschrank, den irgendjemand einmal hellblau lackiert hatte, doch an einigen Stellen schimmerte das Naturholz durch. Vielleicht lohnte es sich, ihn irgendwann einmal abzuschleifen und zu ölen – dann könnte daraus ein richtiges Schmuckstück werden, überlegte sie. Anschließend putzte sie das Bad und wischte den Kühlschrank aus.
Leider war sie schon nach einer knappen Stunde mit allem fertig. Noch so viel vom Tag übrig – und so wenig zu tun.
Was nun? Eine weitere Tasse Kaffee? Lieber nicht – ihr war es auch ohne Heißgetränk schon warm genug.
Unentschlossen ließ sich Claire auf ihren Schreibtischstuhl sinken und schaute sich ratlos um. Sie konnte wohl schlecht den Rest des Tages in ihrer trostlosen Fünfzehn-Quadratmeter-Bude verbringen!
Was im Fernsehen lief, konnte sie nicht ertragen. Das meiste war belangloser Schrott. Und Lesen war auch keine Alternative. Sie konnte sich einfach nicht darauf konzentrieren. Spätestens nach einer halben Seite verlor sie den Faden, und ihre Gedanken gingen auf Wanderschaft. Weg von der Geschichte, hin zu Colin und ihrer Trauer.
Und das Internet hatte seit jenem dunklen Tag im Juni keinen Reiz mehr für Claire, im Gegenteil – die vielen Trauerpostings auf Facebook zu lesen, war für sie unglaublich schmerzhaft gewesen. Bestimmt hatten es alle nur gut gemeint, aber Claire ertrug es einfach nicht, immer wieder nachzulesen, welche Betroffenheit Colins Tod ausgelöst hatte. Was waren das überhaupt für Leute, die ihre Pinnwand mit Beileidsbekundungen vollschrieben? Sie kannte die wenigsten davon. Ein bisschen hatte sie auch das Gefühl, dass bei einigen Sensationsgier mit im Spiel war. Sie sonnten sich in der makabren Tatsache, einen tragisch Verunglückten gekannt zu haben. Irgendjemand hatte geschrieben: »RIP Colin. Du fehlst. Meine Tränen wollen nicht versiegen.« Das war ihr schlichtweg unverschämt vorgekommen. Sie war doch diejenige, die litt, die weinte, die nicht mehr ein noch aus wusste. Wie konnte eine entfernte Bekannte, die mit Colin nur ganz lose befreundet gewesen war, so etwas Theatralisches posten? Danach hatte sie die Nase von Facebook gestrichen voll gehabt.
Jetzt aber beschloss sie spontan, ihre Social-Media-Abstinenz zu unterbrechen. Sie zog ihr Handy hervor, loggte sich bei Facebook ein und tippte »Samuel« ins Suchfenster ein.
Das Ergebnis war niederschmetternd. Natürlich gab es unzählige User mit diesem Namen! Selbst in Kombination mit der Ortsangabe waren es noch unglaublich viele. Dennoch machte sich Claire die Mühe, sämtliche Seiten genau durchzugehen und jedes einzelne Profilbild anzuklicken. Es waren über hundert, und es dauerte über eine Stunde, sie alle zu checken, doch keiner sah aus wie der Unbekannte von heute Nacht.
Das hätte ich mir auch sparen können, dachte Claire und warf ihr Handy aufs Bett.
Dann blieb ihr Blick an dem Rucksack hängen. Sofort meldete sich das schlechte Gewissen. Sie hätte das Ding wirklich abgeben sollen! Theoretisch konnte sie das auch immer noch tun. Oder noch besser: Sie könnte sich tatsächlich auf die Suche nach Samuel machen.
Aber wo?
Sicher fuhr er öfter mit dem Stadtbus. Jedenfalls hatte er nicht wie jemand gewirkt, der das nicht gewohnt war. Solche Leute erkannte man an der nervösen Art, wie sie die Haltestellenanzeige im Blick behielten, am zögernden Nachdruck, mit dem sie den Stopp-Knopf betätigten, und an ihrer unübersehbaren Sorge, die Tür könnte klemmen.
Keins dieser Symptome traf auf Samuel zu. Er musste wohl ein regelmäßiger Fahrgast sein. Wenn also irgendwo die Chancen gut standen, ihm wieder zu begegnen, dann in einem Bus der Linie acht.
Warum eigentlich nicht? Sie hatte schließlich nichts Besseres vor. Und besaß eine Monatskarte. Also schnappte sie sich den Rucksack und machte sich auf den Weg.
Linie acht pendelte zwischen dem Waldfriedhof im Osten der Stadt und der Fünfzigerjahre-Wohnsiedlung ganz im Westen, nahe der Autobahnauffahrt. Die Fahrzeit von einer zur anderen Endhaltestelle betrug genau eine Stunde und vierzehn Minuten. Nachdem sie zum zweiten Mal hin und wieder zurück gefahren war, kannte sie die meisten der siebenunddreißig Haltestellen mit Namen.
Der Fahrer kommentierte ihren Linie-acht-Marathon nicht – jedenfalls nicht mit Worten. Aber mit einem Stirnrunzeln und immer häufigeren Blicken in den Rückspiegel.
Was er wohl von ihr dachte? Dass sie obdachlos war? Nein, sicher nicht, denn dann hätte sie es in einem Park unter einem Schatten spendenden Baum sicher bequemer gehabt als in diesem nicht klimatisierten Stadtbus.
Vielleicht hielt er sie für ein bisschen verrückt? Nun ja, damit hätte er ja nicht einmal so ganz unrecht. Es war schon ziemlich schräg, was sie hier veranstaltete. Aber sie hatte sich nun mal dazu entschlossen, also blieb sie auch dabei. Es musste ja nicht unbedingt in diesem Bus sein. Bevor der Fahrer die Pause am nächsten Endpunkt der Linie womöglich dazu nutzte, sie auszuhorchen, verließ Claire ihn lieber auf halber Strecke, ohne darauf zu achten, wie die Haltestelle hieß.
Es war dieselbe, an der Samuel heute Nacht ausgestiegen war. Sie erkannte das nicht auf Anhieb – erst als sie sich umschaute und den Kiosk mit dem unverwechselbaren Namen Prost Mahlzeit entdeckte, der jetzt zum Glück geöffnet war. Sie hatte einen Riesendurst, wie ihr auf einmal bewusst wurde, und kaufte sich eine große Flasche Wasser.
Der Kioskbesitzer machte eine launige Bemerkung über das heiße Spätsommerwetter. Claire lächelte geistesabwesend. Sie hatte gar nicht richtig zugehört, aber der Mann war sehr nett, so viel hatte sie mitbekommen.
Ich könnte ihn nach Samuel fragen, schoss ihr durch den Kopf. Schließlich konnte es gut sein, dass er hier öfter mal abhing. Vielleicht war er sogar Stammkunde. Aber wie hätte sie ihn beschreiben sollen? Junger Mann mit traurigen Augen, ohne Hipster-Bart und Undercut, dafür mit Zu-faul-zum-Rasieren-Stoppeln und Wuschelmähne? Nach diesem Steckbrief würden ihn womöglich nicht mal seine eigenen Eltern erkennen.
Sie steckte also nur ihr Wechselgeld ein, nickte und ging ohne ein weiteres Wort.
Während sie das Wasser trank und auf den nächsten Bus wartete, behielt sie die Passanten im Auge. Vielleicht war Samuel ja darunter? Sie hätte ihn sofort erkannt, da war sie sicher. So schwierig es gewesen wäre, sein Gesicht zu beschreiben, so einfach gelang es ihr, es vor ihrem inneren Auge heraufzubeschwören.