Und plötzlich warst du fort - Alison Espach - E-Book

Und plötzlich warst du fort E-Book

Alison Espach

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Beschreibung

Eine große Geschichte über die unerklärlichen Wege, auf denen Liebe uns findet und alte Wunden heilt  Sally hat ihre große Schwester schon immer bewundert. Kathy scheint alles zu wissen, über die Liebe und das Leben und über ihren Freund Billy, von dem auch Sally heimlich fasziniert ist. Als Kathy durch einen Autounfall viel zu früh aus dem Leben gerissen wird, bricht Sallys Welt zusammen. Sie muss lernen, ohne Kathy zu sein. Und sie muss akzeptieren, dass sie selbst älter wird, weiterlebt und weiterliebt. Ausgerechnet Kathys Exfreund Billy ist derjenige, der Sallys Verlust am besten verstehen kann. Er füllt die Lücke in Sallys Innerem, und doch scheint es ausgeschlossen, dass er mehr für sie sein könnte als ein guter Freund – immerhin ist er Kathys Ex, dem alle die Schuld an ihrem Tod geben. Über Jahre kreuzen sich Sallys und Billys Wege immer wieder, fast, als dürften sie einander nicht verlieren.  »Tief bewegend, ausgezeichnet geschrieben und mit feinem Humor« Emily St. John Mandel 

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Und plötzlich warst du fort

Die Autorin

Alison Espach ist in Trumbull, Connecticut aufgewachsen und hat Kreatives Schreiben an der Washington University in St. Louis studiert. Ihre Texte sind in McSweeney's, Five Chapters, Glamour, Salon, The Daily Beast, Writer's Digest und anderen Zeitschriften erschienen. Heute unterrichtet sie selbst Kreatives Schreiben in New York. Ihr Debütroman The Adults ist 2011 bei Scribner erschienen (New York Times Editor’s Choice). Notes on Your Sudden Disappearance ist ihr zweiter Roman und ein wichtiger Titel für Amy Einhorn und Holt im Frühjahr 22.

Das Buch

»In unserem Zimmer war es still. Zu still. Und ich wusste, dass ich, wenn Billy mich nie wieder anrief, für den Rest meines Lebens allein sein würde.Und so sagte ich: ›Kathy?‹ Nur einmal, in die Dunkelheit. ›Bist du da?‹Natürlich warst du nicht da. Du warst auf dem Friedhof, wo wir dich begraben hatten. Wieso vergaß ich das immer? Ich kletterte auf dein Bett und entfernte deinen Namen von der Decke, riss jeden einzelnen Stern ab, wobei sich etwas Farbe ablöste. Aber mir war das egal. An irgendeinem Punkt in jenem Sommer konnte ich den Anblick deines Namens einfach nicht mehr ertragen.«

Alison Espach

Und plötzlich warst du fort

Roman

Aus dem Englischen von Simone Jakob

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-3053-2

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Paperback1. Auflage Oktober 2023© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© 2022 Alison EspachDie amerikanische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Notes on your sudden disappearance bei Henry Holt, New York.

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Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka unter Verwendung einer Vorlage von © Nicolette Seeback Ruggiero

Umschlagabbildung: © claramh / Shutterstock

Autorinnenfoto: © Rachel Turner

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

ZUR LAGE DER UNION1998

DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION(UND ANDERE ÄUSSERST WICHTIGE MOMENTE DER GESCHICHTE)

WATCH HILL

WETTERMELDUNG

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

ZUR LAGE DER UNION1998

Widmung

Für meinen Bruder Michael

ZUR LAGE DER UNION1998

   

Du bist am Abend vor einem Schultag verschwunden, was niemanden mehr überrascht hat als mich. Wenn ich mit dreizehn an irgendetwas geglaubt habe, dann an die Unveränderlichkeit unserer Abendroutine vor einem Schultag. Ich glaubte an das heilige Ritual von Hausaufgaben und Abendessen, gefolgt vom Herauslegen der Sachen, die wir am nächsten Tag tragen wollten – etwas, worauf Mom immer großen Wert gelegt hat. Sie sagte immer, es sei wichtig, dass man schon entschieden habe, was man anziehen wolle, bevor man aufstand.

Danach putzten wir uns die Zähne. Schauten uns im Spiegel an, während sich mehr und mehr Schaum in unserem Mund bildete, bis eine von uns das Schweigen brach. »Hallo«, hast du zum Beispiel gesagt, was – aus Gründen, die ich heute nicht mehr ganz nachvollziehen kann – unglaublich witzig war. Dann hast du losgeprustet, hast Schaum gespuckt wie eine Konfettikanone – und ich musste ebenfalls lachen, ein so gefährlich klingendes, ersticktes Nach-Luft-Schnappen, dass Mom ins Zimmer platzte und »Sally, ist alles in Ordnung?« rief, woraufhin wir noch lauter lachten.

»Sie lacht doch nur, Mom«, hast du dann gesagt.

Dann gingen wir ins Bett. Sahen zur Decke auf, wo im Dunkeln leuchtende Sterne zu Buchstaben arrangiert waren, sodass sie unsere Namen bildeten – eine Idee, die mir anfangs nicht gefallen hatte, denn mir wäre eine naturgetreue Abbildung des Himmels lieber gewesen. Aber du hast gesagt: »Sally, der ganze Himmel an der Decke, das geht doch gar nicht«, und ich habe nicht widersprochen, denn egal, wie alt ich war, du warst immer drei Jahre älter als ich. Du wusstest Dinge, die ich nicht wusste, wie zum Beispiel, dass es achtundachtzig Sternbilder am Himmel gibt und dass nur zweiundzwanzig Leuchtsterne in der Packung waren. Gerade genug, um unsere Namen zu formen. Und so haben wir die Sterne an die Decke geklebt, und ich habe den Rest meiner Kindheit damit verbracht, zu ihnen aufzuschauen und zuzuhören, was »KATHY« »SALLY« über all die Dinge zu erzählen hatte, die sie wusste: dass der Himmel eigentlich gar nicht blau ist. Dass Regen verdunstet und wieder zum Himmel aufsteigt.

»Und wusstest du, dass Bäume Schmerz empfinden können?«, hast du einmal gefragt.

»Nein«, antwortete ich.

Aber es überraschte mich nicht. Ich hatte schon so etwas vermutet, seit Dad uns von dem alten Ahornbaum vor unserem Fenster erzählt hatte, der fast abgestorben war. Er sei so alt, sagte Dad, dass er noch von einem echten Puritaner gepflanzt worden sein könnte, eine Tatsache, die mich eher erschreckte als beeindruckte. Ich sah den knorrigen, verwachsenen Baum auf unserem Rasen ebenso ungern an wie die Knochensporne am Fuß meines Vaters, wenn er am Strand die Socken auszog. Oder Moms gelbe untere Zahnreihe, die nur sichtbar wurde, wenn sie lauthals lachte. All das war der Tod, der, wie ich wusste, an unerwarteten Orten lauerte – ob in Moms Lachen, an Dads Zehen oder in den leuchtend grünen Blättern vor unserem Fenster, die nicht lebendiger hätten wirken können. Und so zog ich jeden Abend die Jalousien zu, bevor ich zu dir ins Bett kroch. Damals hast du es mir erlaubt. Du mochtest das Gefühl, wenn ich dir behutsam eine Haarsträhne flocht.

»Ja, können sie. Hat zumindest Billy Barnes behauptet«, fuhrst du fort. »Und der kennt sich mit so was aus. Sein Vater ist Blumenhändler.«

Damals war ich eine gute Zuhörerin, sehr aufmerksam, wie meine Lehrer oft in meinen Zeugnissen vermerkten. Und ich stellte immer viele Fragen.

»Wer ist Billy Barnes?«, fragte ich sie jetzt.

»Wer Billy Barnes ist?«, hast du gesagt, als hätte ich das wissen müssen. Aber ich kannte niemanden außer meinen Mitschülern aus meiner Klasse. Man hielt uns von den älteren Kindern fern; wir waren sicher in unserem eigenen privaten Schultrakt untergebracht. »Ich tanze morgen den Footballtango mit ihm.«

»Was ist der Footballtango?«, wollte ich wissen.

»Irgendein Tanz, den sich die Lehrer für die Thanksgiving-Feier ausgedacht haben«, hast du gesagt. »Ich versteh‘s auch nicht ganz. Aber wen kümmert‘s? Das ist nicht der Punkt.«

Der Punkt war, du warst eine Klasse unter ihm, und ihr hättet eigentlich keine Tanzpartner sein sollen, wart es aber trotzdem, weil ihr genau gleich groß wart. »Schicksal«, hast du gesagt. Und das war es wohl – denn am nächsten Morgen ist es passiert. Du hast dich als Cheerleaderin verkleidet, er als Footballspieler, ihr habt Tango tanzend die Turnhalle durchquert, er hat dir ein Kompliment über deine Haare zugeflüstert, und da war es um dich geschehen. Du warst verknallt.

»Was genau gefällt ihm denn an deinen Haaren?«, fragte ich.

Ich entdeckte allmählich, dass ich die falsche Art von Haar hatte. Ganz anders als deins, das nach dem Duschen praktisch sofort richtig fiel. Meins war lockig, schwer zu bändigen und erinnerte an einen dieser bösen Cartoonbäume, die jeden packten, der ihnen zu nahe kam. Hatte zumindest Rick Stevenson im Bus behauptet, bevor er mir von seinem Chinchilla erzählte, das vor Kurzem angefangen hatte, seine Jungen zu fressen.

»Weiß nicht«, hast du geantwortet. »Das hat Billy nicht so genau gesagt.«

Nach eurem Footballtango hast du mir oft den ganzen Abend von Billy erzählt. In der Schule hast du nie mit ihm gesprochen.

»Worüber sollte ich denn mit ihm reden?«, hast du gefragt.

Ich war überrascht, dass du mir diese Frage stellst – was wusste ich damals schon darüber, wie man mit Jungs spricht? Ich wusste noch nicht mal, was ich zu meinen Großeltern sagen sollte, wenn sie an Weihnachten auf unserer Couch saßen. Ich zupfte nur stumm an meinem Kleid herum; du dagegen hast sie nach ihrem alten Kohleofen gefragt, den Milchflaschen, die ihnen immer noch vor die Tür gestellt wurden. Und du hast ihre Geschenke mit einer Begeisterung entgegengenommen, die ich nicht vortäuschen konnte. »Vielen, vielen Dank für das ›Kaugummi-zum-Selbermachen‹-Set«, hast du zu Grandma gesagt, als würdest du es wirklich so meinen. Ich konnte es nicht fassen. Freuten wir uns jetzt ernsthaft darüber, dass wir unsere Kaugummis selbst machen sollten? Schwer zu sagen. Du warst eben echt gut – ein Naturtalent, wie Dad sagte, nachdem wir dich als Peter Pan in Peter Pan gesehen hatten.

Aber mit Billy zu reden fiel dir nicht leicht.

»Billy ist eine Stufe über mir«, hast du gesagt. »Und er wird mal ein berühmter Basketballer. Das sagen alle Lehrer.«

Und so hast du ihn nur aus der Ferne beobachtet, ihn in der Pause nicht aus den Augen gelassen. Hast Informationen gesammelt und sie mir abends weitererzählt. Hast all die Dinge aufgelistet, die Billy gern mochte: Salamipizza. Die Chicago Bulls. Gottesanbeterinnen. Und seinen Dad, der sich kürzlich den Hals gebrochen hatte.

»Das war echt ein Drama«, hast du gesagt und mir dann die Geschichte erzählt, als wärst du dabei gewesen, als Billys Dad in seiner Blumenhandlung Bill’s Tree and Garden von der Leiter gestürzt ist. »Er ist mindestens sechs Meter tief gefallen, Sally! Total irre! Hat sich zwei Wirbel gebrochen.«

»Wird er sterben?«, fragte ich.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand, der sich den Hals bricht, nicht stirbt. Vor meinem geistigen Auge sah ich Billys Vater mit einem rechtwinkligen Knick im Hals.

»Nein«, meintest du. »Er wird wieder gesund. Trotzdem. Es ist schon beängstigend. Ich meine, wer hätte gedacht, dass man als Blumenhändler so gefährlich lebt?«

Ich weiß noch, dass du irgendwie stolz klangst, als hättest du dir den Hals gebrochen.

Du hast mir so viel von Billy erzählt, dass es mir fast surreal vorkam, als ich ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Wir waren auf dem Parkplatz von Bill’s Tree and Garden aus Dads Wagen ausgestiegen, und du hast meinen Arm gepackt, wie du es sonst nur getan hast, wenn wir einen Fuchs sahen.

»Da ist Billy Barnes«, hast du geflüstert.

Wir wussten, dass es im Wald Füchse gibt, waren aber immer überrascht, wenn einer in unserem Garten aufkreuzte. Wir lebten schließlich in Connecticut. In der Vorstadt. Wir wohnten nur eine Straße von Dunkinʼ Donuts entfernt. Wir erwarteten einfach nie, das Glück zu haben, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. So wie jetzt, auf demselben Parkplatz, auf dem Billy kleine weiße Bäume von einem Transporter ablud.

Dad ging ins Geschäft, um Ringelblumen für das Beet zu besorgen, in dem unser Briefkasten stand, doch wir blieben am Eingang zurück. Pflückten Rosenblütenblätter von einem Busch und taten so, als würden wir ihn nicht beobachten, obwohl wir es natürlich sehr wohl taten. Wir ließen ihn nicht aus den Augen. Heute kann ich mich trotzdem kaum an den Moment erinnern. Ich weiß nur noch, dass seine Haare dick und braun waren, als wären sie aus Plastik. Wie bei meinen Spielzeugfiguren von Fisher-Price.

»Was treibt ihr denn noch hier draußen, Mädels?«, fragte Dad, der mit zwei goldgelben Topfblumen aus dem Geschäft kam. Der Moment war vorbei.

»Nichts«, hast du gesagt, aber wir fühlten uns ertappt, als hätten wir etwas angestellt. Wir stopften die roten Blütenblätter in unsere Taschen, damit Dad sie nicht sah, und du hast mir später versichert, das sei kein Diebstahl, denn die Blütenblätter würden wieder nachwachsen, wie die beiden Hälften der Würmer, die wir manchmal im Wald zerschnitten. Als Dad losfuhr, hast du ein Blütenblatt aus deiner Tasche genommen und dir damit über die Unterlippe gestrichen.

»Das ist so was von weich«, hast du gesagt und es mir gegeben. »Fühl mal.«

Ich presste es mir an die Lippen und spürte seine Weichheit. Du hattest recht.

Über Billy zu reden gehörte in jenem Jahr bald zu unserem Abendritual. Wie ein Gebet vorm Schlafengehen. Wir schalteten das Licht aus, ich zog die Jalousie herunter, und du hast mir berichtet, wie er dir im Flur einfach so einen Stift geschenkt hat. Oder in der Pause, ebenfalls einfach so, eine Hummel verspeist hat. Wie er am Valentinstag für alle Nelken mitgebracht hat.

»Ist das nicht nett?«, hast du gefragt.

»Na ja, ist sein Dad nicht Blumenhändler?«, sagte ich.

Manchmal spekulierten wir über die Dinge, die wir nicht über ihn wussten, vielleicht nie über ihn wissen würden. Wie fühlte es sich an, ihn zu küssen, wäre er ein guter Ehemann?

Natürlich, entschieden wir.

»Ich wette, er macht mit seinen Töchtern Abstecher zum Grand Canyon«, hast du gesagt.

»Und er gibt ihnen einen ganzen Dollar, wenn ihnen ein Zahn ausfällt«, ergänzte ich. »Nicht so wie Dad.«

Morgens, wenn wir aufwachten, waren wir immer enttäuscht über die Sachen, die wir uns am Vorabend rausgelegt hatten. Wir änderten ständig unsere Meinung, was wir anziehen wollten; das durfte man, hast du gesagt, trotzdem hatte ich beim Frühstück ein schlechtes Gewissen gegenüber den verschmähten Kleidungsstücken, habe mich sogar bei ihnen entschuldigt, wenn wir zum Bus aufbrechen mussten. Du hast immer gelacht, wenn du das gehört hast. »Das sind doch nur Schuhe, Sally!«, hast du gesagt. Oder: »Es ist doch nur ein T-Shirt!« Aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie mehr waren als das, dass sie insgeheim lebendig waren; aus demselben Grund verabschiedete ich mich auch von den Heizungen, bevor wir aus dem Haus gingen.

Nachdem sein Dad sich den Hals gebrochen hatte, wurde Billy dafür berühmt, Dummheiten anzustellen. Zum Beispiel steckte er vor dem Mittagessen eine Möhre in den elektrischen Anspitzer oder sprang nach der Schule vom Dach.

»Wer traut sich noch runterzuspringen?«, rief Billy uns vom Teerpappdach aus zu.

Niemand meldete sich. Nicht einmal Rick Stevenson, der die ganze Mittagspause damit verbracht hatte, süßsaure Drops zu einem feinen Pulver zu zerstoßen, das er anschließend die Nase hochzog. Jetzt machte er ein besorgtes Gesicht.

»Das ist zu hoch!«, rief er. Zu uns sagte er: »Billy wird draufgehen.«

Wir sahen zu Billy auf, hoch oben auf dem Dach, wie die amerikanische Flagge. Zum ersten Mal in seinem Leben würde Rick wahrscheinlich recht haben. Billy würde draufgehen. Ich wechselte verstohlen einen Blick mit dir.

»Billy ist so ein Idiot«, hast du zu mir gesagt, aber du hast dabei gelächelt, als könnte man nichts Tolleres sein.

Der Fall war kurz, der Aufprall hart. Wir rannten zu ihm, hatten jedoch Angst, ihn zu berühren. So wie er da bewusstlos auf dem Gehsteig lag, sah Billy gar nicht aus wie Billy. Er war völlig reglos, was keinen Sinn ergab, denn sonst war er immer in Bewegung, wie ein Auto mit ständig laufendem Motor. Aber je länger ich mich über ihn beugte, desto weniger vertraut erschien er mir, und ich hatte dasselbe Gefühl wie damals bei Grandpas Totenwache. Er hatte in seinem Sarg wie ein Fremder ausgesehen, steif und mit der Schminke eines anderen im Gesicht.

»So hilf ihm doch jemand!«, hast du gerufen.

Ich rannte los, um Hilfe zu holen. Aber während ich durch den Flur eilte, war ich verwirrt. Wenn wir Billy jetzt immer noch nicht richtig kennen, dachte ich, wen kennen wir dann überhaupt? Ich rannte zur Schulkrankenschwester, die, wie du sagtest, keine echte Krankenschwester war.

»Was ist sie dann?«, habe ich dich gefragt.

Wir sahen zu, wie sie das Blut von Billys Armen und Beinen abwischte.

»Das ist nur Priscilla Mountains Mom«, hast du geantwortet.

Danach blieben wir noch lange auf dem Gehsteig stehen – zwei Perlen, aufgereiht auf Billys Lebensfaden.

Billy hatte einen zweifachen Beinbruch, was ihn in der Schule zum Star machte. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde und wieder zur Schule kam, standen alle Schlange, um auf seinem Gips zu unterschreiben, selbst die Lehrerinnen und Lehrer. Ein paar Mädchen malten rosa Herzen neben ihre Namen, andere kritzelten ihre Telefonnummer darauf, wie Priscilla, die sie ihm aufs Knie schrieb.

»Wieso hast du das gemacht?«, hast du Priscilla gefragt, nicht als wärst du sauer, sondern als hättest du es selbst tun sollen.

»Ich mag ihn halt«, sagte Priscilla und zuckte die Achseln, als wäre es keine große Sache. Trotzdem ärgerte es mich, aus demselben Grund, aus dem es mich störte, wenn sie bei uns übernachtete, ihren Schlafsack zwischen unseren Betten ausbreitete, ein gerahmtes Foto von ihren Eltern auf unseren Nachttisch stellte und von Billy sprach, als würde er ihr gehören.

»Wir mochten Billy schon lange, bevor er sich das Bein gebrochen hat«, bemerkte ich.

»Sally!«, hast du gesagt.

Aber das erschien mir wichtig – in Billy verliebt gewesen zu sein, bevor er vom Dach sprang. Mit ihm schon vor einer Ewigkeit den Footballtango getanzt zu haben. Doch Priscilla wirkte ungläubig.

»Du magst Billy?«, fragte sie. »Du hast doch noch nie ein Wort über ihn verloren.«

Jetzt war es an dir, die Achseln zu zucken. »Er ist ganz okay«, hast du gesagt.

Damals warst du tatsächlich schüchtern, etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden habe, weil du in meiner Gegenwart nie zurückhaltend warst. Abends in unserem Zimmer warst du immer am meisten du selbst.

»Ich hab das Gefühl, dass ich dir alles erzählen kann«, hast du mir gestanden, nachdem Priscilla gegangen war.

Aber Billy sei zu beliebt, um mit dir zu reden, sagtest du. Und nachdem sein Beinbruch verheilt war, war Billy ständig von Jungs umringt, spielte in der Pause mit ihnen auf dem Sportplatz. Football. Fußball. Dann Basketball. Billy war nicht daran interessiert, mit Mädchen zu reden. Er interessierte sich für nichts außer die Chicago Bulls und wie viele Klimmzüge jemand im Sportunterricht schaffte. Und Hunde. Billy liebte Hunde. Brachte den Hund seines Vaters einmal zu einer Präsentation in die Schule mit, und wir folgten ihm den ganzen Tag durch die Flure. Doch Billy warf keinen Blick zurück, beugte sich nur vor, um dem Hund den Kopf zu kraulen. Ein goldener Labrador.

Du hast versucht, auf andere Art seine Aufmerksamkeit zu erregen. Gegen Ende des Jahres hast du dich für A Disney Spectacular beworben. Und du hast dich bei der »Berühmte Frauen der Geschichte«-Veranstaltung am Halbjahresende als Annie Oakley verkleidet. Während alle anderen Mädchen als berühmte Prinzessinnen oder Königinnen kostümiert waren, hast du einen Cowboyhut aufgesetzt und eine Plastikpistole mit in die Schule genommen, was man damals noch durfte. Wir gingen in die Cafeteria, wo unsere Lehrer Knöpfe mit der Aufschrift »Drück mich« verteilten. Wenn die Leute auf den Knopf drückten, bist du zum Leben erwacht, hast die Pistole um den Finger gewirbelt und mit deinem breitesten Westernakzent gesprochen. Alle haben geklatscht, außer Billy. Der hat nach deiner Pistole gegriffen und sie wieder und wieder in der Hand gedreht und gewendet, als wäre er ein Antiquitätenhändler, der ihren Wert schätzen will.

Ich dagegen stand, ganz in Schwarz gekleidet, am anderen Ende der Cafeteria. Die Leute beäugten meinen Knopf, auf dem aus unerfindlichen Gründen »Brück mich« statt »Drück mich« stand. Die Jungs aus meiner Klasse gingen im Saal herum, und Rick Stevenson sagte: »Haha, brück mich. Sally will gebrückt werden.« Kerzengerade, schmallippig stand ich da, eine Hand in die Hüfte gestützt. Ich kam mir mit meiner Haube ziemlich streng vor. Ich wusste zwar nicht, was »brücken« war, aber ich wusste, ich wollte nicht, dass es irgendjemand mit mir macht. Annie Oakley wäre so was nicht passiert, dachte ich. Diehat eine Pistole.

»Und, wen stellst du dar?«, fragte Billy.

Nach unseren allabendlichen Gesprächen war mir nie in den Sinn gekommen, dass Billy eines Tages tatsächlich mit mir reden würde. Ich liebte ihn so, wie ich Hawaii oder Paris liebte, zwei Orte, über die wir uns ebenfalls unterhielten und die wir besuchen wollten, obwohl ich wusste, dass ich sie wahrscheinlich nie zu Gesicht kriegen würde, weil Dad behauptete, er sei zu groß, um sich so lange in ein Flugzeug zu quetschen. Und so hängten wir in unserem Zimmer Poster von Paris auf und schwärmten von den Croissants, die wir am Fuß des Eiffelturms essen würden – das genügte uns.

Doch jetzt stand Billy vor mir und wartete auf eine Antwort.

»Ich bin Florence Nightingale«, sagte ich schließlich.

Das war Moms Vorschlag gewesen, und er hatte damals gut geklungen, doch jetzt, als Billy »Ist das nicht irgendeine Blume?« fragte, kam ich mir plötzlich dumm vor.

»Nein. Sie war eine berühmte Krankenschwester«, sagte ich. »Im Krimkrieg.«

Ich hatte einen langen Vortrag darüber vorbereitet, wie heldenhaft sie gewesen war und dass ihr größtes Talent ihre genaue Beobachtungsgabe gewesen sein soll. Ich hatte sogar so tun wollen, als würde ich eine Wunde nähen. Doch Billy sagte: »Sorry, nie von ihr gehört«, dann ging er mit seinen Freunden zum Brunnen und tauchte den Kopf hinein, sodass seine Haare nass wurden. Es sah erfrischend aus. Es war Mitte Juli. Zu heiß, um in der Schulcafeteria in einer Krankenschwesternuniform zu schwitzen, die in Wirklichkeit ein altes Chorgewand war. Als Billy auf dem Weg nach draußen die Doppeltür aufstieß und eine kühle Brise hereinließ, war ich erleichtert.

Ich sollte Billy jahrelang nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er wechselte auf die Mittelschule, und dann, ein Jahr später, bist du ihm dorthin gefolgt. So kam es mir jedenfalls vor. Als hättet ihr mich zurückgelassen. Jeden Tag freute ich mich darauf, nach Hause zu kommen und Neuigkeiten über Billy zu erfahren.

Aber an manchen Abenden hattest du keine große Lust zu reden. Dann hast du Kopfhörer aufgesetzt, dich über deine Hausaufgaben gebeugt und »Schschsch« gezischt, wenn ich dich angesprochen habe. Aber wenn ich dich nach Billy gefragt habe, hast du mir immer geantwortet. Konntest nicht widerstehen, mir von euren zufälligen Begegnungen in der Schlange vor der Essensausgabe zu berichten; wie er dir auf der Science Fair erlaubt hat, sein Eulen-Gewölle zu sezieren; oder wie er dir die Tür aufgehalten hat.

»Das hätte er nicht zu tun brauchen«, hast du gesagt. »Er war am anderen Ende des Flurs.«

Doch Billy wartete an der Tür auf dich; er trug Anzug und Krawatte, was für die Jungs auf der Mittelschule an Spieltagen Pflicht war. Er habe dadurch älter gewirkt, hast du gesagt. Größer. Dir war der Gedanke gekommen, dass das, was Mom gesagt hatte, stimmte: »Ihr werdet respektvoller behandelt, wenn ihr euch kleidet, als würdet ihr es verdienen.« Denn wenn Billy an Spieltagen im weißen Hemd mit Krawatte durch die Flure ging, gaben die Lehrer ihm High Five. »Hey, tolle Leistung beim Spiel gestern Abend«, sagten sie. »Dalton hast du’s richtig gezeigt.« Er stolzierte durch die Flure, als würden sie ihm gehören, und vielleicht stimmte das ja irgendwie auch. Vielleicht hielt er deswegen allen die Tür auf.

»Er hat einfach zugesehen, wie ich durch den leeren Flur auf ihn zukam«, hast du gesagt. »Und es hat verdammt lange gedauert, bis ich ihn erreicht hatte.«

»Wie peinlich«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt: ›Hey, danke.‹ Und er so: ›Kein Ding.‹«

Dann bist du unter seinem Arm hindurchgetaucht, und in dem Moment hast du gespürt, wie dich etwas durchlief. Du hattest, vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben, das Gefühl, dass Billy dich wirklich sieht.

»Habt ihr heute ein Spiel?«, hast du zu ihm gesagt. Eine überflüssige Frage, wie du wusstest, denn das war offensichtlich.

»Japp«, sagte er, was deinen Erzählungen zufolge fast alles war, was er je von sich gab. Japp. Nö. Vielleicht. Keinen Schimmer. Anscheinend brauchte er nicht zu sprechen. Sein Körper sprach für ihn. Ich konnte es selbst auf die Entfernung von unserem Kinderzimmer aus hören.

»Heißt das, er mag dich?«, fragte ich.

»Nein. Billy mag niemanden«, hast du erwidert.

In der Mittelschule hatte Billy nichts als Basketball im Kopf. Manchmal nahm er den Ball nachts sogar mit ins Bett, wie du mir mal erzählt hast. Irgendwann hörte ich auf, mich zu fragen, woher du all diese Dinge über Billy wusstest, und nahm das, was du mir über ihn erzähltest, einfach für bare Münze.

»Wieso?«, fragte ich.

»Weil er lernen muss, ihn zu lieben«, hast du gesagt. »Hat zumindest sein Dad gesagt.«

Ich hatte dir abends nie viel zu berichten, außer von meinen schulischen Leistungen. Die Jungs hielten mir nie die Tür auf. Allerdings hielten sie sie nicht mal für sich selbst auf. Rick Stevenson fand es wahnsinnig lustig, Türen so heftig aufzutreten, dass sie ihm zurück ins Gesicht prallten. Die Jungs, die ich kannte, waren alle ziemlich grob, sogar die netten wie Peter Heart, der auf der Rückfahrt vom Mystic-Seaport-Freilichtmuseum im Bus so tat, als wäre ich bei einem schlimmen Autounfall verletzt worden.

»Du hast schreckliche Schmerzen, Sally«, sagte Peter und beugte sich über mich. »Hier, nimm dieses heilende Pflaster.«

Er klebte es mir über den Mund. Drückte es fest. Einen Moment lang dachte ich, er würde mich küssen – hatte sogar gehofft, er würde es tun –, aber dann riss er mir das Pflaster mit einem Ruck wieder ab.

»Ah, guck mal, du hast da immer noch eine Wunde«, hast du gesagt, nachdem ich dir davon erzählt hatte. »Eine schreckliche Fleischwunde am Bein. Ich glaube, da hilft nur Amputieren.«

»Das war ziemlich komisch«, sagte ich.

»Ach, so seltsam auch wieder nicht«, meintest du. »Es heißt nur, dass er dich mag.«

Du hattest recht. Ein paar Wochen später ließ mir Peter in der Englischstunde ein Zettelchen zukommen, auf dem er mich fragte, ob ich mit ihm gehen wolle.

»Und was hast du geantwortet?«, wolltest du wissen.

Ich sagte natürlich Ja. Aber dann haben wir monatelang nicht mehr miteinander gesprochen. Bis ich den Buchstabierwettbewerb gewann, bei dem ich E-L-E-K-T-R-O-N buchstabierte. Das ärgerte Peter, weil er sonst immer der Sieger war. »Weißt du überhaupt, was ein Elektron ist?«, fragte er mich, und ich hatte keine Antwort darauf. Abends, als alle schon schliefen, schlug ich es im Lexikon nach. Ich las den Eintrag zweimal durch, verstand ihn jedoch immer noch nicht. Was war ein negativ geladenes Elementarteilchen?

»Hm? Wovon sprichst du?«, hast du gesagt, nachdem ich dich geweckt hatte.

Ich ließ mich auf mein Bett sinken.

»Ich hab keine Ahnung, was ein Elektron ist!«, gestand ich. »Ich bin eine Betrügerin.«

»Ach Gott, Sally«, hast du gesagt. »Niemand weiß, was ein Elektron ist.«

Dann hast du hinzugefügt: »Und darum geht’s auch nicht bei einem Buchstabierwettbewerb. Es geht darum, das Wort zu buchstabieren, und genau das hast du getan. Deshalb hast du ein Eis bekommen, deshalb haben sie für die Zeitung ein Foto von dir gemacht, und alle, die es sehen, werden über dich sagen: ›Sally Holt! Mann, ist die clever.‹«

Und wieder solltest du recht behalten. Das sagten die Leute nach dem Buchstabierwettbewerb tatsächlich. Aber bei ihnen hörte es sich komplett anders an. Als Rick Stevenson es an der Bushaltestelle zu mir sagte, klang es, als wäre das meine schlimmste Eigenschaft. Bei Mom klang es besorgt, als wäre das der Grund, warum ich so oft allein mit einem Buch in einer Ecke saß. Und Grandma sagte es meist, nachdem sie dir ein Kompliment über deine Schönheit gemacht hatte.

»Du bist so hübsch, Kathy«, bemerkte Grandma zum Beispiel. »Du könntest eines Tages sogar Nachrichtenmoderatorin im Fernsehen werden!«

Dann wandte sie sich mir zu. Ich muss ziemlich verzweifelt ausgesehen haben, während ich neben dir stand und auf mein Kompliment wartete.

»Und du, kleine Sally«, fuhr sie fort. »Du bist so klug, still und brav. Ich wette, eines Tages wirst du eine gute Nonne sein.«

Ich erstarrte. Wie konnte Grandma so etwas zu mir sagen? Wieso sollte ich Nonne werden wollen? Erkannte sie denn nicht, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als du zu sein? Ich wollte unbedingt älter sein, mir Ohrlöcher stechen und mir die Haare bis zur Taille wachsen lassen. Aber Mom erlaubte es nicht. Sie schleifte mich immer noch alle sechs Wochen zum Friseur, nachdem sie es bei dir aufgegeben hatte.

»Steig in den Wagen«, sagte Mom dann zu mir.

Auf der Fahrt versicherte sie mir, Haare würden schneller nachwachsen, wenn man sie regelmäßig kürzte, und obwohl mir das unmöglich erschien, nahm ich – im Vertrauen auf Moms Zaubertrick – im Friseursessel Platz und stellte, wenn ich hinterher in den Spiegel schaute, jedes Mal enttäuscht fest, dass meine Haare wieder ein gutes Stück kürzer waren, knapp über den Schultern endeten und mein Gesicht einrahmten wie ein brauner Schleier. Ich fühlte mich tatsächlich wie eine Nonne.

»Was, wenn ich gar keine Nonne werden will?«, fragte ich dich später am Abend.

»Wie kommst du darauf, dass du Nonne werden musst?«, hast du gefragt.

Nonnen hatten keine andere Wahl – das hatte Valerie Mitt im Religionsunterricht gesagt. Ihre Tante hatte auch keine Wahl gehabt. Hatte auf irgendeiner Parkbank gesessen, ein Buch gelesen und sich um ihren eigenen Kram gekümmert, als Gott plötzlich zu ihr gesprochen und sie dazu berufen hatte, dem Herrn zu dienen. Und so wurde sie Nonne.

Noch Jahre nach Grandmas Bemerkung hatte ich Angst, Gott würde mich ebenfalls heimsuchen. Immer wenn wir unterwegs waren, zum Auto oder durch die Mall schlenderten, achtete ich darauf, immer drei Schritte hinter dir zu gehen, damit Gott dich zuerst auserkor.

Als du auf die Highschool kamst, wurdest du tatsächlich auserkoren, und zwar dazu, die Annie in Annie zu spielen. Die Cinderella in Cinderella. Im Chor den ersten Sopran zu singen. Vor dem Highschool-Basketballspiel der Jungs die Nationalhymne zu singen, obwohl du erst in der Zehnten warst. Ich konnte es nicht fassen.

»Also musst du vor Billy singen?«, fragte ich.

Du hast dich geweigert zuzugeben, dass das eine große Sache war. »Jetzt krieg dich wieder ein«, hast du gesagt. »Alle im Chor kommen irgendwann mal dran.«

Dann, auf der Fahrt zum Spiel, hast du auf dem Rücksitz atmen geübt.

»Wozu musst du atmen üben?«, fragte ich. »Du weißt doch, wie das geht.«

»Es gibt richtige und falsche Arten zu atmen«, hast du erklärt. Mr Fiske, der Chorleiter, habe dir beigebracht, wie man aus dem Bauch heraus singt, wie man richtig atmet, damit die Stimme fest klingt, und dass man an sich glauben und wissen muss, dass man eine Chance verdient hat. »Besonders, wenn man singt.«

Als wir die Turnhalle betraten, fühlte sie sich an wie ein Paralleluniversum, das ich bisher nur aus der Zeitung kannte. Wenn Mom uns vor der Schule Frühstück machte, hast du mir laut daraus vorgelesen, Billy sei ein angehender Star, während wir unsere Pfannkuchen aßen. Das, was Billy dazu brachte, Dummheiten anzustellen, machte ihn auch zu einem großartigen Sportler – Billy hatte vor nichts Angst. »Der Junge würde noch einen Dreipunktwurf hinkriegen, wenn ein tobender Stier auf ihn zu rast«, sagte der Coach.

Ich dagegen fürchtete mich damals vor allem und jedem. Als du auf das Mikro in der Mitte der Turnhalle zugingst und Billy und die anderen Jungs sich von der Bank erhoben, war ich nervös – obwohl es keinen Grund dazu gab. Du hast das Mikro genommen und die Nationalhymne genau so gesungen, wie du es schon unzählige Male unter der Dusche getan hast, auch wenn es in der Turnhalle besonders schön klang. Vielleicht lag es am Mikro, vielleicht an der großen Halle, vielleicht aber auch an dem Wissen, dass Billy dir zuschaute, dich ebenso bewunderte wie ich.

Oder es lag an der Nationalhymne, die das perfekte Lied war, wie du immer gesagt hast. Sie enthält fast alle Noten. Und ich muss zugeben, als du das letzte C gesungen hast und das gesamte Team für dich klatschte und pfiff, bekam ich eine Gänsehaut. Du hast so strahlend gelächelt, dass du eine Sekunde lang gar nicht ausgesehen hast wie du. Dann bist du zu uns auf die Tribüne zurückgekehrt.

»Ich setz mich zu Priscilla und Margaret, okay?«, hast du gesagt.

»Natürlich«, erwiderte Dad.

Das Spiel fing an, und Dad rief den Spielern Ratschläge zu, als würde er sie kennen.

»Schnapp dir den Ball, Barnes!«, schrie er. Zu mir sagte er: »Siehst du, wie der Junge sich Hals über Kopf auf den Ball stürzt, Sally? So war dein Vater früher auch. Komplett durchgeknallt.«

Was ich sah, war Folgendes: Billy verpatzte an jenem Abend fast alle Würfe. Er spielte so schlecht, dass sein Team am Ende verlor. Später würde Billy mir erzählen, es habe daran gelegen, dass du zugesehen hast. Würde mir gestehen, dass er sich Hals über Kopf in dich verliebt hatte, als du gesungen hast. Zu wissen, dass du irgendwo auf der Tribüne saßt, habe ihn abgelenkt.

Aber damals schien er sich nicht einmal darüber bewusst zu sein, dass du existierst. Als wir nach dem Spiel zum Ausgang gingen, würdigte er uns keines Blickes. Er versammelte sein Team an der Grundlinie, um die Sit-ups und Push-ups zu machen und Runden zu laufen, mit denen der Coach sie bestrafte, wenn sie ein Spiel verloren.

Billy schien uns nicht zu bemerken, als wir zusahen, wie sie Liegestütze machten, auf und ab, auf und ab, so gleichförmig, dass es aussah wie Atmen. Ich war überrascht, wie diszipliniert Billy im Stillen war. Er war ein grottenschlechter Schüler, wie du mir erzählt hattest, schlief ständig im Unterricht ein. Aber hier machte er fünfzig Liegestütze hintereinander, nur weil jemand es ihm befohlen hatte. Er sah aus wie eine Maschine; als wäre er kein Junge mehr, sondern nur noch ein Körper mit einer Funktion.

Die anderen Jungs ebenfalls. Fred Jenkins, der Furzgeräusche mit der Armbeuge machte. Drew Miller, der in der Pause immer in der Nase bohrte, wenn keiner hinsah. Alle sprinteten, so schnell sie konnten, in einer geraden Linie, was dasselbe Gefühl in mir weckte wie die Dias über die Hitlerjugend, die unser Geschichtslehrer uns gezeigt hatte – in den braunen Uniformen sahen alle gleich aus. Über Nacht in Killer verwandelt, einfach so, hatte mein Lehrer gesagt und dabei mit den Fingern geschnipst. Nach dem Motto: Hier, Jungs, eure Uniform. Herzlichen Glückwunsch. Ihr seid jetzt alle Monster.

   

Erst als ich in die siebte Klasse kam, wurde mir wirklich klar, wie wenig meine Klassenkameraden mit mir redeten. Wenn man an meinem Schließfach vorbeiging, hätte man meinen können, dass ich eine Menge Freunde hatte, aber das stimmte nicht. Wenn man genauer hinhörte, was meine Mitschüler sagten, war es immer etwas wie: »Wie bitte, du hast drei verschiedene Quellen benutzt?« Oder: »Was, der Geschichtstest ist heute?«

Es war immer eine Erleichterung, nach der Schule nach Hause zu kommen und dich vor dem Fernseher vorzufinden, auf dem großen Sofa, das dich fast verschluckt hat.

»Komm, wir gucken zusammen«, hast du gesagt.

Wir haben uns Sendungen angeschaut, die wir nur sehen konnten, wenn Mom und Dad nicht da waren. Trashige Talkshows. Jillian Williams. Dann kuschelte ich mich neben dich aufs Sofa, und wir sahen zu, wie eine Frau ihrem Mann im Studio irgendein Geständnis machte.

»Die ganze Zeit, in der wir verheiratet waren«, sagte sie, »hatte ich insgeheim zwei Vaginen.«

Der Mann hatte nichts geahnt. »Ich bin dir nicht böse«, wiederholte er wieder und wieder. »Wirklich, kein bisschen. Ich bin nur verwirrt. Wo ist die andere?«

Seine Frau gab ihm eine schallende Ohrfeige. Anscheinend war das eine zutiefst beleidigende Frage, wenn man zwei Vaginen hatte. Das Publikum schnappte nach Luft, wir dagegen nicht. Wir waren zu abgeklärt, hatten die Sendung schon zu oft gesehen, um sie noch glaubwürdig zu finden, was, wie wir entdeckt hatten, die einzige Art war, sie unterhaltsam zu finden.

»Also echt«, hast du gesagt. »Wie konnte er nicht merken, dass seine Frau zwei Vaginen hat?«

Es machte ganz den Eindruck, als würdest du mich das ernsthaft fragen.

»Zwei Vaginen, so was gibt’s doch gar nicht«, sagte ich im Brustton der Überzeugung, mit dem wir früher Santa Claus abgetan hatten, nachdem wir herausfanden, dass es Dad war, der jedes Jahr »Frohe Weihnachten! Ho, ho, ho! Alles Liebe, Santa« auf die Geschenke schrieb.

»Natürlich gibt’s das«, hast du gesagt. »Das hier ist Amerika. Sei nicht dumm, Sally.«

Ich wollte nicht dumm sein. Ich wollte alles wissen, was du wusstest. Und nahm ich an, dass du recht haben könntest – dass alles möglich war. Dass das hier Amerika war, wo einige Frauen zwei Vaginen hatten und stolz darauf waren.

Und genau das erklärte ich allen in der Aula, in die die Schulkrankenschwester uns bestellt hatte, um uns über die Periode aufzuklären. Ein paar Mädchen wussten immer noch nichts darüber. »Alle achtundzwanzig Tage?«, fragten sie entgeistert. »Für den Rest unseres Lebens?« Das konnte doch nicht sein.

Ich dagegen weigerte mich, überrascht zu sein, denn ich wusste es ja besser. Ich hob die Hand. »Und was ist, wenn man zwei Vaginen hat?«, fragte ich. »Kriegt man dann zweimal seine Tage?«

Ich hatte gedacht, meine Mitschülerinnen wären beeindruckt. Hatte mir vorgestellt, wie sie sich um mich scharten, mir neugierige Fragen stellten. Aber sie sahen sich nur an, zogen die Augenbrauen hoch und schütteten sich aus vor Lachen.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was du meinst, Sally«, sagte die Krankenschwester. »Niemand hat zwei Vaginen.«

Nur Valerie Mitt fragte mich später im Bus danach.

»Und wenn man zwei Vaginen hat, pinkelt man dann aus beiden?«, wollte sie wissen. Ich antwortete: »Wahrscheinlich schon?«, und wir mussten lachen. Valerie interessierte sich für seltsame Dinge. Zum Beispiel für Wissenschaft. Ihr Vater sei Wissenschaftler, erklärte sie mir, und er habe eine Chemikalie erfunden, die Weißbrot noch weicher machte.

Später an jenem Abend hast du dich für mich geschämt. »Ich kann nicht glauben, dass du das gefragt hast«, hast du gesagt, als wir in unseren Betten lagen.

»Aber die Krankenschwester wollte doch, dass wir Fragen stellen!«

»Hör zu, Sally, du bist jetzt kein Kind mehr. Regel Nummer eins im Aufklärungsunterricht: Niemand stellt Fragen, nicht mal dann, wenn die Krankenschwester euch eine halbe Stunde lang anfleht: ›Bitte, bitte, stellt mir Fragen.‹«

Dann hast du mir erzählt, wie Priscilla Mountain mal gefragt hat, ob man, wenn man einen langen Zeigefinger hat, lesbisch ist, und dass alle sie seitdem für lesbisch halten.

»Ist Priscilla denn lesbisch?«, fragte ich.

»Siehst du? Deshalb stellt man keine Fragen.«

Du hattest wieder recht. Ein paar Tage später sah ich, dass jemand SALLY HOLT HAT ZWEI VAGINEN an eine Toilettentür geschrieben hatte. Ich konnte nicht mehr pinkeln, als ich es sah – wie lange stand das schon da? Wer hatte es geschrieben? Panisch versuchte ich, es mit einem Kuli zu überkritzeln.

Gedemütigt schlich ich zurück in den Unterricht. Ich hatte das Gefühl, alle in der Klasse würden mich und meine zwei Vaginen anstarren, als ich mich setzte. Für den Rest des Tages sprach ich kein Wort mehr, nicht einmal dann, als Mr Briggs mich aufrief.

»Welche Erfindung hat während der industriellen Revolution eine wichtige Rolle gespielt, Sally?«, fragte er mich; er nahm mich immer dran, wenn sich sonst keiner meldete. Er verließ sich auf mich. Und er wusste, dass ich die Antwort kannte: die Dampfmaschine. Das hatten wir schon hunderttausendmal durchgenommen. Aber ich zuckte nur mit den Schultern.

Nachdem ich mich zwei Wochen lang nicht am Unterricht beteiligt hatte, gab es Ärger. Es war das erste Mal, dass ich in der Mittelschule Probleme hatte. Lehrkräfte mochten es nicht, wenn man sich nicht meldete, selbst wenn man einen Buchstabierwettbewerb gewonnen hatte und nichts als Einsen schrieb. Schweigen war ihnen unangenehm. Es war wie eine endlose Wasserfläche, die einem das widerspiegelte, wovor man am meisten Angst hatte.

»Mr Briggs befürchtet, dass sein Unterricht dir nicht mehr gefällt«, sagte Mom, als sie vom Elternsprechtag nach Hause kam. »Er sagt, du wärst regelrecht schüchtern geworden. Was ist mit dir los, Sally?«

Mom war Gemeindevorsteherin und gehörte dem Lehrer-Eltern-Komitee an. Sie war eine wichtige Nummer in der Telefonkette. Wie war es möglich, dass eine ihrer Töchter stolz vor Hunderten von Menschen sang und die andere nicht einmal eine einfache Frage beantworten konnte?

Dad schien das weniger Kopfzerbrechen zu bereiten. Während des gesamten Abendessens zählte er Genies auf, die angeblich Spätzünder gewesen waren. Einstein habe erst mit vier Jahren angefangen zu sprechen, sagte er. Vielleicht sogar erst mit fünf. Er verteidigte Einstein und mich, als würde er sich selbst verteidigen.

Doch Mom wollte nichts davon wissen.

»Sie ist zwölf, Richard«, sagte sie. »Es wird Zeit.«

Mom kaufte ein Buch über Schüchternheit. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber das Buch hieß Das schüchterne Kind, und sie stellte es ganz offen ins Regal; das Einzige, was sie damit erreichte, war, mich daran zu erinnern, dass meine Schüchternheit problematisch war, und so wurde ich noch verschlossener. Ich weigerte mich, für das Schultheaterstück vorzusprechen. Lief knallrot an, wenn ein Lehrer mich drannahm, selbst wenn ich die Antwort wusste, und Mom und Dad wurden wegen meiner Schüchternheit zu noch mehr Eltern-Lehrer-Gesprächen in die Schule beordert.

»Du musst dich aktiver am Unterricht beteiligen, Sally«, wiederholte Mom in jenem Jahr ständig. Und sie rief all ihre Bekannten an, als könne sie das Problem durch ihre eigene aktive Beteiligung lösen.

»Wir haben wirklich alles versucht«, sagte sie zu Tante Beatrice.

»Sie ist so still, so ganz anders als Kathy«, erklärte sie Priscillas Mom.

»Ich weiß nicht, wie ich zu zwei so unterschiedlichen Kindern kommen konnte«, sagte sie zu einer Wildfremden im Lebensmittelgeschäft.

Der Verdacht, dass wir beide sehr verschieden, zwei komplett gegensätzliche Mädchen waren, kam mir nicht zum ersten Mal, aber dass Mom darüber Besorgnis äußerte, war neu. Ich behielt Moms Bemerkungen über mich im Hinterkopf. Danach beobachtete ich dich noch genauer, um zu sehen, wie du es machst. Wenn Priscilla und Margaret uns besuchten, saß ich in unserem Zimmer und staunte, wie mühelos dir die Worte über die Lippen sprudelten, wenn du Lieder geprobt oder bei Stop & Shop Scherzanrufe gemacht hast.

»Öh, ‘allo«, sagtest du mit französischem Akzent in den Hörer. »Was ist Ihr Käse du jour?«

Dann hast du aufgelegt und dich mit deinen beiden Freundinnen ausgeschüttet vor Lachen. Natürlich nur, bis dir auffiel, dass ich noch im Zimmer war und alles mitbekommen hatte.

»Sally«, hast du gesagt. »Geh runter zu Mom.«

In jenem Jahr fieberte ich den Sommerferien entgegen wie nie zuvor. Priscilla würde weit weg in Italien sein und Margaret im Norden in einem Musik-Ferienlager, und wir würden die erste Juliwoche wie immer zusammen in Watch Hill in Rhode Island verbringen. Die Fahrt dauerte nicht lange – vierzig Minuten auf der Interstate 95 Richtung Norden, eine Tankfüllung Benzin hin und zurück, wie Dad sagte –, aber es kam uns immer vor wie eine andere Welt. »Es ist eine andere Welt«, hast du gesagt. »Es ist das Meer.«

Wir liebten es, am Meer zu sein. Mom las unter dem Sonnenschirm ihre dicken Romane und machte ihren berühmten Bay Breeze Cocktail, aber wofür er genau berühmt war, hat sie nie näher ausgeführt. Dad trank Bier, das er aus einer Kühlbox holte, und brauchte unheimlich lange, um ein Kreuzworträtsel zu lösen; wenn mir ein Wort eher einfiel als ihm, war ich immer stolz. Du hast deinen Namen in den Sand geschrieben und mich gefragt, ob ich lieber extrem reich oder extrem witzig wäre, riesig groß oder winzig klein, eine erfolgreiche Ärztin oder eine berühmte Autorin, und ich entschied in einer Geschwindigkeit, die ich heute beeindruckend finde.

»Reich«, sagte ich.

»Riesig.«

»Ärztin!«

Danach rannten wir in die Brandung und schauten zurück auf die großen Häuser am Strand.

»Da will ich eines Tages leben«, hast du gesagt und auf eine Villa mit dramatischen geometrischen Formen gezeigt. Du mochtest moderne Strandhäuser. Ich nicht. Sie wirkten am Rand des majestätischen Steilufers fehl am Platz.

»Außerdem machen Strandhäuser zu viel Arbeit«, sagte ich; das hatte Dad einmal bemerkt, nachdem sich in Grandmas Haus Schimmel an den Wänden gebildet hatte und sie sich geweigert hatte umzuziehen. »Das Haus bringt dich buchstäblich um«, hat Dad zu ihr gesagt. Aber das war Grandma egal. Es sei ihr Haus, und sie wolle darin sterben, sagte sie, und genau das tat sie auch.

»Ach, Mensch, Sally.« Du hast gelacht und bist wieder zum Strand zurückgewatet. »Das hat doch mit der Realität nichts zu tun. Es ist nur ein Traumhaus.«

Nach der Heimfahrt hielt Dad immer an der Tankstelle in der Stadt an, um den Tank aufzufüllen. »Hier, Mädels, nehmt vierzig Dollar zum Bezahlen«, sagte Dad, und ich freute mich, denn das bedeutete, wir durften uns vom Wechselgeld kaufen, was wir wollten.

Wir rannten durch den Mini-Mart bis ganz nach hinten zu den Kartoffelchips. Dort blieben wir einen Augenblick vor dem Regal stehen und versuchten, uns zwischen den verschiedenen Geschmacksrichtungen zu entscheiden, als plötzlich Billy mit einem Mädchen hereinkam, das ich nicht kannte.

»Ach, du Schande«, hast du geflüstert. »Shelby Meyers.«

»Wer ist das?«

»Bloß irgendein Mädchen aus meiner Chemieklasse«, hast du gesagt.

Ich war überrascht, wie anders Billy aussah, wenn er neben einem Mädchen im Mini-Mart stand. Als würde er in einem Stück die Rolle von Shelbys Ehemann spielen. Er griff nach einer Dose Bohnen und drehte sie wieder und wieder in der Hand, als würde er sich fragen, sind das die, die meine Mom auch immer kauft? Wir beobachteten, wie er die Hand in Shelbys Gesäßtasche schob, als sie zur Kasse gingen, und sie ihre in seine.

»Wieso gehen die so komisch?«, fragte ich dich. »Sieht aus, als würde das irgendwann ganz schön nerven.«

»Weil sie verliiiebt sind«, hast du gesagt. »Wenn man verliiiebt ist, muss man die Finger in die Arschtasche des anderen stecken.«

»Mom und Dad machen das nie«, wandte ich ein.

»Mom und Dad sind ja auch verheiratet«, hast du gesagt, als könnten verheiratete Leute unmöglich ineinander verliebt sein.

Aber als wir zum Wagen zurückgingen, sah ich mich bestätigt. Mom und Dad knutschten. »Ihr habt uns erwischt!«, sagte Mom, aber es schien ihr kein bisschen peinlich zu sein. Ihre Haut war nur leicht gerötet, weil sie eine Woche in der Sonne gelegen hatte.

»Igitt!«, hast du gerufen.

»Nehmt euch ein Zimmer!«, fügte ich hinzu, weil ich wusste, dass ich über den Anblick entsetzt sein sollte. Aber Dad drehte sich zu uns um und sagte: »Nehmt ihr euch doch selbst ein Zimmer! Ich habe euer Zimmer bezahlt. Also ist es mein Zimmer.«

»Da hat euer Vater nicht ganz unrecht, Mädels«, sagte Mom.

Bevor Dad losfuhr, beugte er sich zu Mom hinüber und küsste sie theatralisch. Diesmal wurde Mom tatsächlich rot. Sie lächelte, als sie sich schließlich von ihm abwandte, um aus dem Fenster zu schauen. Keine Ahnung, warum mir das wie eine Offenbarung vorkam, aber genauso war es: Mom ist Dads Frau, dachte ich. Und Dad ist Moms Mann. Und sie lieben sich, so wie wir Billy Barnes lieben.

Gegen Ende Juli wurde es so heiß, dass die Klimaanlage den Geist aufgab. »Tja, das war’s dann wohl, Leute«, sagte Dad und tätschelte sie.

Aus irgendeinem Grund ließ er sie in der Wand stecken und weigerte sich, sie zu reparieren. Vor der Arbeit lief er in Boxershorts herum, und Mom gab Gurkenscheiben ins Wasser, als ob es dadurch kühler würde.

»Ist doch gar nicht so übel, oder?«, sagte Mom und hielt das Glas hoch, als wäre es ein Cocktail.

»So lässt sich’s leben!«, sagte Dad.

»Ich versteh nicht, warum wir keine Klimaanlage haben können«, hast du gesagt.

»Klimaanlage!«, sagte Dad. »Wer braucht schon eine Klimaanlage?«

»Alle«, hast du gesagt.

»Au contraire«, sagte Dad. »Nicht alle. Glaubst du etwa, die alten Ägypter hätten eine Klimaanlage gehabt, als sie die mächtigen Pyramiden erbaut haben?«

Dad wurde nie laut, wenn er uns etwas beibringen wollte; er sei schließlich auf die Uni gegangen, wie er uns oft erinnerte. Stattdessen erzählte er uns von den Leiden der Menschheit im Laufe der Geschichte.

»Aber wir sind keine alten Ägypter«, hast du gesagt.

Das sei nicht der Punkt.

»Was denn dann?«, hast du gefragt.

»Ihr Mädels müsst euch mal abhärten!«

Dann ging er zur Arbeit (wo es eine Klimaanlage gab, wie du einwandtest), und Mom sagte, wir müssten uns alle zusammenreißen.

»Euer Vater arbeitet sehr hart«, sagte Mom. »Er hat sich die Klimaanlage verdient.«

»Was arbeitet er überhaupt?«, fragte ich.

Das hatte ich nie ganz begriffen. Dads Job war verwirrend, obwohl du ihn mir zigmal erklärt hast.

»Er ist Sicherheitsberater«, hast du gesagt. »Er sorgt dafür, dass Menschen in Sicherheit sind.«

»Was für Leute?«

»Telefon-Menschen«, hast du gesagt.

»Was sind Telefon-Menschen?«

»Du weißt schon, diese Typen, die die Mobilfunkmasten hochklettern, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Die, die bis in den Himmel reichen.«

Nein. Wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ein Mobilfunkmast war. Und ich hatte noch nie von den Telefon-Menschen gehört. Aber du hattest keine Lust, es mir weiter zu erklären.

»Es ist zu heiß zum Reden«, hast du gesagt.

Und so schlug Mom vor, ins Freibad zu gehen. Wir zogen unsere Badesachen an und trafen uns in der Garage.

»Kann ich fahren?«, hast du gefragt.

Du warst fast sechzehn, hattest einen Lernführerschein, und seit Kurzem ließ Mom dich manchmal ans Steuer.

»Willst du dir nicht noch was drüberziehen?«, fragte Mom.

»Wieso muss ich mir was drüberziehen?«, hast du gefragt. »Ich trag doch einen Bikini. Wir fahren nur zum Freibad.«

»Was, wenn wir in einen Unfall verwickelt werden?«, fragte Mom. »Dann stehst du da in deinem Bikini.«

»Dann bau ich halt keinen Unfall«, hast du geantwortet.

Aber Mom wollte dich nicht fahren lassen, bis du nach oben gehst und dir ein Shirt und Shorts anziehst. Du hast die Jeansshorts nicht zugeknöpft und den Hosenbund nach unten gekrempelt, sodass man das Bikinihöschen sehen konnte. Ich erwartete, dass der Streit weitergehen würde, aber Mom verlor kein Wort darüber. Wir schwiegen, während du uns zum Freibad fuhrst, und ich starrte wie gebannt deine Hände an, die auf dem Lenkrad wie Moms aussahen. Die Nagelspitzen waren im selben Farbton lackiert wie ihre: Like Linen.

Du hast auf dem Parkplatz gehalten. »Ziehst du die Shorts jetzt endlich richtig an?«, fragte Mom.

Du warst gerade dabei, den Wagen abzuschließen. »Hab ich doch.«

»Du hast sie nicht zugeknöpft.«

»Niemand knöpft Shorts heute noch zu.«

»Niemand knöpft Shorts heute noch zu?«, wiederholte Mom. »Im Ernst?«

»Ja. Ist der neueste Trend.«

»Ach, wirklich?«, sagte Mom. »Und wie genau heißt dieser Trend?«

»Keine Ahnung«, hast du gesagt. »Trends haben keine Namen. Trends sind Trends.«

»Sally«, sagte Mom. »Bitte, sei ehrlich zu mir. Hat deine Schwester das gerade erfunden?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, entgegnete ich. Das war die ehrlichste Antwort, die ich ihr geben konnte. Du hattest mir zwar eine Menge über die Highschool erzählt, aber nie erwähnt, ob die Leute dort ihre Shorts zuknöpften oder nicht, und mir war es nie in den Sinn gekommen, dich danach zu fragen. Ich schaute aus dem Fenster und hielt nach Telefon-Menschen Ausschau, konnte aber keine entdecken. Mom seufzte.

»Ich weigere mich, meiner Tochter zu sagen, dass sie ihre Shorts zuknöpfen soll. Das müsste selbstverständlich sein. Kinder sollten so etwas tun, ohne dass man darum bittet.«

Sie schien gar nicht mehr mit uns zu reden. Es klang eher, als würde sie sich bei unserem Hersteller beschweren.

»Ist ja gut«, hast du gesagt. »Ich knöpf sie schon zu.«

Du warst genervt, bis wir das Tor öffneten, das Freibad betraten und ihn entdeckten. Billy stand hoch oben auf dem Turm, bereit zu springen. Du hast meinen Arm gepackt und mich näher zu dir gezogen. Du brauchtest nicht mal seinen Namen zu sagen.

»Vorhersehbar, aber perfekt«, hast du nach dem Sprung gesagt, als würden wir uns die Olympischen Spiele ansehen. »Wie lautet dein Urteil, Sally?«

»Klassischer Kopfsprung«, verkündete ich mit meiner besten Sportreporterinnenstimme. »Stil neun, Technik zehn.«

Ich wäre gern im Schwimmbecken geschwommen wie im Meer. Wäre am liebsten auch vom Turm gesprungen, durch die Luft geflogen wie Billy und die anderen Jungs, aber du nicht. Hier im Freibad, wo Billy und der Rest der Stadt uns sehen konnten, warst du anders.

Du wolltest dich in die Sonne legen – weit weg von Moms Liegestuhl –, und da ich keinen Sinn darin sah, irgendwo zu sein, wo du nicht bist, breitete ich mein Handtuch neben deinem aus. Ich ließ mich in meinem unförmigen Badeanzug darauf sinken, während du in deinem Bikini mit der amerikanischen Flagge auf deinem lagst, mit einem Auge Billy im Blick, der so perfekte Bahnen schwamm, dass er kaum ein Geräusch zu verursachen schien. Danach ließ er sich auf einem großen aufblasbaren Reifen dahintreiben und hörte Walkman. Als seine Pause vorbei war, kehrte er an die Snackbar zurück, wo er Süßigkeiten verkaufte.

Das war unsere Chance.

»Komm, Sally«, hast du zu mir gesagt.

Wir gingen zum Fenster der Snackbar.

»Ich nehme ein Eis-Sandwich«, hast du zu Billy gesagt.

»Klar doch«, antwortete er.

Billys Gesicht war breiter und flacher geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Es erinnerte mich an die Bilder der Prärieebene, die ich einmal in meinem Geschichtsbuch in der Schule gesehen hatte, und ich stellte mir Farmhäuser darauf vor.

»Und was möchtest du?«, fragte er mich.

»Einen Jolly Rancher.«

»Welche Sorte?«, fragte er.

»Wassermelone.«

Du hast nichts gesagt, als Billy uns die Sachen reichte. Deine Hand zitterte nicht, und du hast auch nicht mit dem Eis herumgespielt; deine Gelassenheit überraschte mich. Es rief mir in Erinnerung, wie ruhig du warst, bevor du die Nationalhymne gesungen hast; du hast dir einfach die Haare zurückgestrichen und losgelegt.

»Hey, danke«, hast du gesagt.

»Kein Ding«, sagte Billy. »Ist mein Job.«

Billy trommelte mit dem Daumen auf die Theke. Musik ertönte aus einem Ghettoblaster, gerade so laut, dass er sie hören konnte, aber so leise, dass er nicht gefeuert wurde: Nirvana, dann Ace of Base. Unsere Lieblingsband.

»Du machst das echt gut«, hast du gesagt.

Er lachte. »Ich weiß. Bin hochbegabt.« Er öffnete die Kasse und ließ jeden Vierteldollar dramatisch in deine offene Hand fallen. »Man sollte mir einen Preis verleihen.«

»Das mit dem Wechselgeld kriegt nicht jeder so gut hin wie du«, hast du gesagt.

Dann sind wir zu unseren Handtüchern zurückgegangen; als du dich auf deins gesetzt hast, warst du wieder du selbst.

»Hast du das mitgekriegt, Sally?«, wolltest du wissen.

»Was?«

»Billy hat mir zugezwinkert, als er mir das Wechselgeld gegeben hat.«

Das war mir entgangen, weil ich damit beschäftigt war, meinen Jolly Rancher auszuwickeln – notorisch schwierig. Manchmal verschmolz die Plastikfolie mit dem Eis beziehungsweise das Eis mit der Folie, das war schwer zu sagen. Mom meinte, das wäre ein Grund, die Finger davon zu lassen – man sollte nichts essen, was nicht von Plastik zu unterscheiden war. Aber ich aß es trotzdem, weil Dad immer sagte, wir wären ohnehin verloren – unsere Körper würden praktisch schon halb aus Plastik bestehen.

»Wieso hat er dir zugezwinkert?«, fragte ich, während ich die süße Geschmacksexplosion in meinem Mund genoss.

»Genau das frag ich mich auch«, hast du gesagt.