Und wenn es kein Morgen gibt - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Und wenn es kein Morgen gibt E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Die Zeit für die Liebe ist jetzt ...

Lena liebt Sebastian aus ganzem Herzen. Aber liebt Sebastian sie zurück? Die beiden sind zwar beste Freunde, doch mehr wird daraus nicht werden, glaubt Lena. Als sie Sebastian endlich die Wahrheit gesteht, schlägt das Schicksal zu: Von einem Moment auf den anderen ist nichts mehr, wie es war. Lena muss jetzt kämpfen – gegen die Schuld und für die Liebe mit Sebastian …

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Seitenzahl: 474

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DIE AUTORIN

Foto: © Vania

Jennifer L. Armentrout schreibt Romane für Jugendliche und Erwachsene und wurde bereits vielfach ausgezeichnet. Ihre Bücher kletterten mehrfach auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und ihr Spiegelbestseller »Obsidian« wird derzeit verfilmt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Hund Loki in West Virginia. Wenn sie nicht gerade liest oder schlechte Zombie-Filme anschaut, arbeitet sie an ihrem neuesten Roman.

Mehr über die Autorin auch auf www.jenniferarmentrout.com

Von der Autorin sind außerdem bei cbt erschienen:

Dämonentochter

Verbotener Kuss (Band 1)

Verlockende Angst (Band 2)

Verführerische Nähe (Band 3)

Verwunschene Liebe (Band 4)

Verzaubertes Schicksal (Band 5)

Morgen lieb ich dich für immer

Mehr über cbj/cbt auch auf Instagram unter @hey_reader

Jennifer L. Armentrout

Und wenn

es kein

Morgen gibt

Aus dem Amerikanischen

von Anja Hansen-Schmidt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2018

© 2017 by Jennifer L. Armentrout

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»If there’s no Tomorrow« bei Harlequin Teen.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Anja Hansen-Schmidt

Lektorat: Ulrike Hauswaldt

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie,

unter Verwendung mehrerer Motive von

© Shutterstock (Tasiania, Eka Miller, Olga Zakharova)

he · Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20479-2V002

www.cbj-verlag.de

Mir tat alles weh und ich konnte mich nicht bewegen. Meine Haut spannte, meine Muskeln brannten, als stünden sie in Flammen, und meine Knochen schmerzten bis ins Mark.

Verwirrung überkam mich. Mein Gehirn fühlte sich wie benebelt an. Ich versuchte die Arme anzuheben, doch sie waren bleischwer und wollten sich nicht rühren.

Ich meinte, ein Piepen zu hören, und Stimmen, aber weit entfernt, so als würde ich an einer Tunnelöffnung stehen und die Geräusche drängten vom anderen Ende zu mir herüber.

Ich konnte nicht sprechen. Da … da war etwas in meinem Hals, ganz hinten in meiner Kehle. Mein Arm zuckte ohne Vorwarnung und irgendetwas zupfte an meinem Handrücken.

Warum ließen sich meine Augen nicht öffnen?

Panik stieg in mir auf. Warum konnte ich mich nicht bewegen?

Etwas Schlimmes war passiert. Etwas sehr Schlimmes. Ich wollte doch einfach nur die Augen öffnen. Ich wollte …

Ich liebe dich, Lena.

Ich liebe dich auch.

Stimmen hallten durch meinen Kopf, eine davon gehörte mir, das wusste ich genau, und die andere …

»Sie wacht auf.« Eine weibliche Stimme drang durch den Tunnel zu mir und unterbrach meine Gedanken.

Schritte näherten sich, ein Mann sagte: »Ich gebe jetzt das Propofol.«

»Das ist schon das zweite Mal, dass sie aufwacht«, erwiderte die Frau. »Eine echte Kämpferin. Ihre Mutter wird sich freuen.«

Kämpferin? Ich begriff nicht, worüber sie redeten, warum sie meinten, dass meine Mutter sich freuen würde …

Wär’s nicht besser, wenn ich fahre?

Wärme strömte durch meine Adern, flutete von meinem Hinterkopf aus durch meinen ganzen Körper, und dann gab es keine Träume mehr, keine Gedanken und keine Stimmen.

Gestern

1

Donnerstag, 10. August

»Ich will damit nur sagen, dass du fast Sex mit dem da hattest!«

Ich schaute mit gerümpfter Nase auf das Handy, das Darynda Jones, kurz Dary genannt, mir fünf Sekunden nachdem sie ins Joanna’s gekommen war, unter die Nase hielt.

Schon seit meinen Kindergartentagen war das Joanna’s eine feste Größe in der Innenstadt von Clearbrook. Das Restaurant schien irgendwie in der Vergangenheit stecken geblieben zu sein, in einer absurden Zwischenwelt aus Glam-Metal-Bands und Britney Spears’ ersten Charthits, aber es war sauber und gemütlich und hatte eine Speisekarte, die fast ausschließlich aus frittierten Gerichten bestand. Außerdem bekam man hier den besten Eistee in ganz Virginia.

»Oh Mann«, murmelte ich. »Was macht er da bloß?«

»Nach was sieht’s denn aus?« Darys Augen hinter dem weißen Plastik-Brillengestell waren weit aufgerissen. »Er vögelt einen aufblasbaren Plastikdelfin.«

Ich kniff die Lippen zusammen. Yap, genau so sah es aus.

Sie zog ihr Handy weg und legte den Kopf schief. »Wie konntest du nur?«

»Er sieht eben süß aus – ich meine, er sah süß aus«, erklärte ich lahm und schaute mich um. Zum Glück war sonst niemand in Hörweite. »Und außerdem habe ich nicht mit ihm geschlafen.«

Sie verdrehte die dunkelbraunen Augen. »Dein Mund klebte an seinem und seine Hände …«

»Na schön!« Ich wedelte abwehrend mit den Händen. »Ich hab’s kapiert. Es war ein Fehler, mit Cody rumzumachen. Das ist mir klar. Glaub mir. Und ich bemühe mich auch sehr, das Ganze aus meinem Gedächtnis zu tilgen. Wobei du mir im Moment keine große Hilfe bist.«

Sie beugte sich über den Tresen zwischen uns und flüsterte: »So leicht kommst du mir nicht davon!« Ich kniff die Augen zusammen und sie grinste. »Aber ich kann dich schon verstehen. Seine Muskelpakete sind echt krass. Er ist ein bisschen dämlich, aber dafür lustig.« Sie machte eine dramatische Pause.

Alles an Dary war dramatisch, von ihren scheußlich bunten Klamotten bis hin zu den superkurzen Haaren, die an den Seiten abrasiert waren und sich oben am Kopf wild lockten. Momentan waren sie schwarz, letzten Monat waren sie noch lila gewesen. In zwei Monaten war vermutlich Pink an der Reihe.

»Und er ist Sebastians Freund.«

Mein Magen zog sich zusammen. »Das hat nichts mit Sebastian zu tun.«

»Ach nee.«

»Du hast echt Glück, dass ich dich so gut leiden kann.« Nun ging ich ebenfalls zum Angriff über.

»Ich hab keine Angst vor dir. Du liebst mich, das weiß ich.« Sie klatschte mit den Händen auf den Tresen. »Musst du am Wochenende arbeiten?«

»Ja. Warum? Ich dachte, du fährst mit deiner Familie zwei Tage nach Washington?«

Sie seufzte. »Zwei Tage? Schön wär’s. Wir fahren die ganze Woche hoch. Morgen früh geht’s los. Mom kann es kaum erwarten. Ohne Witz, sie hat einen richtigen Zeitplan für die Reise erstellt, mit sämtlichen Museen, die sie besichtigen will, wie lange wir in jedem davon sein werden und wann genau wir jeden Tag zu Mittag und zu Abend essen.«

Meine Mundwinkel zuckten. Bei Darys Mutter musste immer alles zwanghaft bis ins letzte Detail durchorganisiert sein, bis hin zu beschrifteten Körben für Handschuhe und Schals. »Die Museen sind bestimmt toll.«

»War ja klar, dass du das sagst. Du bist so eine Streberin!«

»Stimmt. Das streite ich auch gar nicht ab.« Ich hatte kein Problem damit, das zuzugeben. Nach der Schule wollte ich unbedingt aufs College und Anthropologie studieren. Die meisten Leute hatten vermutlich keine Ahnung, was sich mit so einem Abschluss anfangen ließ, aber da gab es jede Menge Möglichkeiten. Man konnte in der Gerichtsmedizin arbeiten oder in einem Unternehmen, an der Uni unterrichten und noch vieles mehr. Mein Traum war es, später mal an einem Museum unterzukommen, deshalb hätte ich so eine Reise in die Hauptstadt sehr verlockend gefunden.

»Schon gut.« Dary rutschte von dem roten Barhocker. »Ich muss los, bevor Mom ausflippt. Wenn ich nur fünf Minuten zu spät komme, ruft sie sofort die Polizei, weil sie denkt, ich bin entführt worden.«

Ich grinste. »Schick mir nachher noch eine Nachricht, okay?«

»Mach ich.«

Ich winkte zum Abschied, dann nahm ich einen feuchten Lappen und wischte damit über den schmalen Tresen. Aus der Küche tönte das Scheppern und Klappern von Kochtöpfen, ein Zeichen dafür, dass der Laden bald schließen würde.

Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mir unter der Dusche den Gestank von frittiertem Hähnchen und angebrannter Tomatensuppe abzuwaschen. Und dann würde ich endlich den neuesten Fantasyschmöker um Feyre und das Reich der Sieben Höfe zu Ende lesen. Anschließend wollte ich mit dieser zeitgenössischen Liebesgeschichte anfangen, über die in dem Facebook-Buchklub, in dem ich mich herumtrieb, so viel gesprochen wurde. Eine Geschichte über ein Mädchen und eine reiche Familie mit fünf (!) sexy Söhnen.

Ganz mein Fall.

Ungelogen ging die Hälfte des Geldes, das ich als Bedienung im Joanna’s verdiente, für Bücher drauf, anstatt auf meinem Sparbuch zu landen. Ich konnte einfach nicht anders.

Nachdem ich auch unter den Serviettenständern sauber gemacht hatte, hob ich den Kopf und pustete mir die braune Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Knoten gelöst hatte. Da erklang die Türglocke und eine schlanke Gestalt betrat das Lokal.

Überrascht ließ ich den Zitrusduft verströmenden Lappen fallen. Vor Staunen wäre ich fast umgekippt.

Wenn überhaupt mal jemand unter sechzig ins Joanna’s kam, dann nur freitagabends nach einem Footballspiel oder auch samstagabends. Auf keinen Fall an einem stinknormalen Donnerstag. Das Joanna’s verdiente sein Geld vor allem mit Rentnern, was einer der Gründe war, weshalb ich während der Sommerferien hier kellnerte. Die Arbeit war nicht besonders anstrengend und ich brauchte das Geld.

Dass Skylar Welch auf einmal im Joanna’s stand, ganz allein und zehn Minuten bevor wir schlossen, war ein echter Schock. Sie kam sonst nie hierher. Nie!

Draußen durchschnitten grelle Scheinwerfer die Dunkelheit. Der Motor ihres BMWs lief noch, und ich hätte wetten können, dass ihr Auto voll mit Mädchen war, alle so hübsch und perfekt wie sie.

Aber lange nicht so nett.

Was Skylar Welch betraf, wütete schon seit ewigenZeiteneine fanatische, bittere Eifersucht in mir. Nur war sie leider eine so liebe, freundliche Person, dass meine Abneigung gegen sie wie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wirkte, mindestens so schlimm, wie Hundewelpen zu hassen oder Regenbogen.

Sie strich sich die hellbraunen Haare mit den blonden Spitzen aus dem Gesicht und trat zögernd näher, als könnte der schwarz-weiße Linoleumboden jeden Moment aufreißen und sie verschlingen. Ihre Sommerbräune sah selbst in dem fiesen Neonlicht makellos aus.

»Hallo, Lena.«

»Hi.« Ich richtete mich auf und hoffte inständig, sie würde keine Bestellung aufgeben. Wenn sie etwas essen wollte, wäre Bobby stinksauer, und ich würde ihn erst fünf Minuten lang überreden müssen, das Gewünschte zuzubereiten. »Was geht?«

»Nicht viel.« Sie biss sich auf ihre glänzende, kaugummipinke Unterlippe, blieb vor den Barhockern mit dem roten Plastiküberzug stehen und holte tief Luft. »Ihr macht gleich zu, oder?«

Ich nickte langsam. »So in zehn Minuten.«

»Entschuldige. Ich mach’s auch kurz. Ich wollte eigentlich gar nicht hier anhalten.« Worauf mir nur ein sarkastisches Ach wirklich? durch den Kopf schoss. »Die Mädels und ich fahren raus zum See. Ein paar Jungs schmeißen dort ’ne Party und da sind wir hier vorbeigekommen«, erklärte sie. »Ich dachte, ich komme kurz rein und frage … na ja, ob du vielleicht weißt, wann Sebastian nach Hause kommt.«

Natürlich.

Ich presste die Zähne zusammen. In dem Moment, als Skylar durch diese Tür gekommen war, hätte mir sofort klar sein müssen, dass sie wegen Sebastian hier war. Warum sollte sie sonst mit mir reden? Klar, sie war ein nettes Mädchen, aber wir verkehrten in der Schule in völlig verschiedenen Kreisen. Die meiste Zeit war ich für sie und ihre Freundinnen einfach Luft.

Was mich übrigens nicht weiter störte.

»Keine Ahnung.« Das war eine Lüge. Sebastian sollte am Samstagmorgen aus North Carolina zurückkommen, wo er mit seinen Eltern Verwandte besuchte.

Ein verqueres Gefühl breitete sich in mir aus, eine Mischung aus Sehnsucht und Panik – beides war mir nur allzu vertraut, wenn es um Sebastian ging.

»Wirklich?« Sie klang überrascht.

Ich zog ein möglichst unbeteiligtes Gesicht. »Ich glaube, dass er irgendwann am Wochenende zurückkommt.«

»Ja, alles klar.« Sie senkte den Blick und zupfte am Saum ihres aufreizenden schwarzen Tanktops. »Er hat mich nicht … Ich meine, ich habe nichts von ihm gehört. Ich habe ihm Nachrichten geschickt und ihn angerufen, aber …«

Ich wischte meine Hände an meinen Shorts ab. Was sollte ich darauf nur sagen? Das Ganze war mir furchtbar unangenehm. Ein Teil von mir hätte sich zu gern wie eine fiese Kuh aufgeführt und sie darauf hingewiesen, dass Sebastian sich schon gemeldet hätte, wenn er mit ihr reden wollte, aber so was war einfach nicht meine Art.

Ich gehörte zu den Menschen, die ihre Gedanken lieber für sich behielten, anstatt sie laut auszusprechen.

»Bestimmt hat er einfach viel um die Ohren«, meinte ich schließlich. »Sein Vater wollte, dass er sich da unten ein paar Unis anschaut, außerdem hat er seine Cousins seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Draußen drückte jemand energisch auf die Hupe des BMWs. Skylar drehte sich um. Ich beobachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen und betete stumm, dass diejenigen, die im Auto saßen, auch bitte darin sitzen blieben. Ein Moment verging, dann strich Skylar sich ihre glatten, seidigen Haare hinter das Ohr und schaute mich wieder an. »Kann ich dich was fragen?«

»Klar.« Ich konnte schlecht ablehnen, auch wenn ich dabei schon bildlich vor mir sah, wie sich ein schwarzes Loch auftat und mich in seinen Abgrund zog.

Ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ist er mit einer anderen zusammen?«

Ich starrte sie an und fragte mich, ob ich da vielleicht etwas nicht mitbekommen hatte, was Sebastian und Skylar betraf.

Von der ersten Sekunde an, seit Skylar in unser ödes Kaff gezogen war, hatte sie sich an Sebastian gehängt. Was man ihr allerdings nicht übel nehmen konnte. Sebastian hatte schon von Geburt an alle um ihn herum verzaubert. Am Ende der Mittelschulzeit kamen die beiden dann zusammen und waren die ganze Highschool über ein Paar, das absolute Dreamteam der Schule. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, irgendwann zu ihrer Hochzeit eingeladen zu werden.

Doch dann kam der Frühling …

»Du hast dich doch von ihm getrennt«, erinnerte ich sie so sanft wie möglich. »Das soll jetzt nicht fies klingen, aber was geht es dich da an, ob er eine neue Freundin hat?«

Skylar schlang ihren dünnen Arm um ihre Taille. »Ich weiß. Aber ich würde es trotzdem gern wissen. Ich will nur … Hast du noch nie einen Riesenfehler gemacht?«

»Jede Menge«, erwiderte ich trocken. Die Liste war zu lang, als dass ich sie an meinen Fingern hätte abzählen können.

»Also dass ich mich von ihm getrennt habe, war ein Fehler von mir. Glaube ich wenigstens.« Sie trat vom Tresen zurück. »Jedenfalls, wenn du ihn siehst, kannst du ihm bitte sagen, dass ich vorbeigekommen bin?«

Das war so ziemlich das Letzte, auf das ich Lust hatte, trotzdem nickte ich. Natürlich würde ich es ihm sagen. So war ich nun mal.

Ich verdrehte innerlich die Augen über mich.

Da lächelte Skylar. Es wirkte aufrichtig und löste in mir jäh den Drang aus, ein besserer Mensch zu werden. »Danke«, sagte sie. »Dann sehen wir uns übernächste Woche wieder in der Schule? Oder auf einer der Partys?«

»Klar.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, das sich brüchig anfühlte und vermutlich leicht wahnsinnig aussah.

Skylar winkte mir zum Abschied und ging zur Tür. Als sie nach dem Knauf griff, drehte sie sich noch mal zu mir um. Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Weiß er das von dir?«

Meine Mundwinkel sackten nach unten. Was gab es an mir, das Sebastian nicht schon wusste? Ich war die Langeweile in Person. Ich las lieber, als mit anderen Menschen zu kommunizieren, und stand total auf den History Channel und Serien wie Ancient Aliens. Nebenbei spielte ich noch Volleyball, und weil unsere Schulmannschaft so mies war, hatte ich es sogar ins Team geschafft, obwohl ich nicht besonders gut war. Ehrlich, hätte Megan mich nicht im ersten Highschooljahr dazu überredet, hätte ich niemals mit Volleyball angefangen. Es machte Spaß – das schon –, trotzdem war mein Leben insgesamt ungefähr so interessant wie eine Scheibe Toastbrot.

Es gab buchstäblich keine Geheimnisse, die man hätte entdecken können.

Abgesehen vielleicht von meiner panischen Angst vor Eichhörnchen. Die Viecher sahen aus wie Ratten mit buschigen Schwänzen und sie waren böse. Aber davon wusste niemand, weil das superpeinlich war. Ich bezweifelte allerdings, dass Skylar darauf anspielte.

»Lena?«

Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich blinzelte. »Was ist mit mir?«

Sie schwieg kurz. Dann: »Weiß er, dass du in ihn verliebt bist?«

Meine Augen wurden groß, mein Mund war wie ausgetrocknet. Mein Herz blieb stehen, sämtliche Muskeln in meinem Rücken verkrampften sich, und mein Magen zog sich zusammen. Panik brach wie eine Welle über mich herein. Ich zwang ein heiseres Lachen aus meinem Mund. »Ich … ich bin nicht in ihn verliebt. Er ist wie … wie ein Bruder, den ich nie haben wollte.«

Skylar lächelte schwach. »Ich will mich nicht in etwas einmischen, das mich eigentlich nichts angeht.«

Tust du aber.

»Ich habe nur gesehen, wie du ihn angeschaut hast, als wir noch zusammen waren.« Ihr Ton war weder scharf noch anklagend. »Aber vielleicht habe ich mich auch geirrt.«

»Sorry, da irrst du dich wirklich«, erklärte ich ihr und klang dabei sogar ziemlich überzeugend, wie ich fand.

Ich hatte doch ein Geheimnis, nur war ich davon ausgegangen, dass niemand davon wusste. Eine verborgene Wahrheit, die genauso peinlich war wie meine Angst vor Eichhörnchen, auch wenn sie sich damit nicht wirklich vergleichen ließ.

Ich hatte sie gerade angelogen.

2

Unser Haus lag ungefähr eine Viertelstunde vom Stadtzentrum entfernt, in fußläufiger Entfernung von der Grundschule, in der ich als Kind meine Tage verträumt hatte. In unserer Straße gab es Häuser in allen Größen, von winzig klein bis riesig groß. Meine Mutter und ich wohnten in einem mittelgroßen Haus, das Mom sich von ihrem Gehalt als Versicherungsvertreterin nicht wirklich leisten konnte. Wir hätten in eine kleinere Wohnung ziehen können, vor allem jetzt, wo Lori zum Studieren weggezogen war und ich ihr bald folgen würde, aber Mom schien nicht bereit zu sein, das Haus und die Erinnerungen und die Träume, die es verkörperte, aufzugeben.

Ein Umzug wäre vermutlich für uns alle besser gewesen, aber wir waren geblieben, und mittlerweile waren die Ereignisse von damals sowieso längst Schnee von gestern.

Ich bog in unsere Einfahrt ein, vorbei an dem gebrauchten Kia, den Mom am Straßenrand abgestellt hatte. Dann schaltete ich den Motor aus und sog den Kokosgeruch des zehn Jahre alten silbernen Lexus, der früher meinem Vater gehört hatte, ein. Mom und Lori hatten ihn beide nicht haben wollen und so war er bei mir gelandet.

Der Wagen war aber nicht das Einzige, was Dad mir hinterlassen hatte.

Ich nahm meine Tasche vom Beifahrersitz, stieg aus und zog leise die Tür hinter mir zu. Grillen zirpten, und irgendwo bellte ein Hund, als ich zu dem großen Haus neben unserem hinübersah. Sämtliche Fenster waren dunkel und die Blätter an den Ästen des mächtigen Ahornbaums im Vorgarten raschelten.

In einem Jahr könnte es nicht mehr passieren, dass ich hier stand und wie ein Loser auf das Nachbarhaus glotzte. Ich würde im College sein, hoffentlich an der University of Virginia, meiner ersten Wahl. Und falls ich dort im Frühzulassungsverfahren keinen Platz bekäme, würde ich im Frühjahr auch andere Colleges mit Bewerbungen bombardieren. Auf jeden Fall wäre ich weg von hier.

Und das wäre wirklich das Beste.

Die Stadt verlassen. Dem immer gleichen Trott entfliehen. Endlich den dringend benötigten Abstand zu diesem Nachbarhaus gewinnen.

Ich zwang mich, den Blick von dem Gebäude zu lösen, ging die gepflasterte Auffahrt entlang und schlüpfte ins Haus. Weil Mom schon im Bett war, bemühte ich mich, möglichst leise zu sein, als ich mir etwas zu trinken aus dem Kühlschrank holte und zum Duschen nach oben ging. Jetzt, wo Lori ans College gegangen war, hätte ich auch in ihr Zimmer ziehen können. Es war größer als meins und hatte ein eigenes Bad. Aber mein Zimmer lag so schön abgeschieden vom restlichen Haus und besaß einen wunderschönen Balkon, den ich aus verschiedenen Gründen auf keinen Fall aufgeben wollte.

Gründe, über die ich lieber nicht genauer nachdachte.

In meinem Zimmer stellte ich das Glas auf den Nachttisch und ließ das Handtuch neben der Tür fallen. Ich zog mein absolutes Lieblings-Schlafshirt aus der Kommode und streifte es über. Dann knipste ich die Nachttischlampe an, die das Zimmer in ein weiches buttergelbes Licht tauchte, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein. Es lief der History Channel mit stumm gestelltem Ton.

Ich schaute auf die vollgekritzelte Weltkarte, die über meinem Schreibtisch an der Wand hing. Auf ihr waren sämtliche Orte markiert, die ich irgendwann mal besuchen wollte, und die roten und blauen Kreise darauf zauberten wie immer ein Lächeln auf mein Gesicht. Dann nahm ich das Buch mit dem rot-schwarzen Einband von meinem Schreibtisch, der mittlerweile hauptsächlich als Buchablage diente. Die Bücherregale, die Dad bei unserem Einzug neben dem Fernseher und der Kommode an die Wand geschraubt hatte, quollen schon seit Jahren über. Und auch auf jedem freien Fleck in meinem Zimmer stapelten sich Bücher – vor dem Nachttisch, zu beiden Seiten der Kommode und sogar in meinem Kleiderschrank, wo sie mehr Platz beanspruchten als meine Kleider.

Ich hatte Bücher schon immer geliebt und las wahnsinnig viel, vorzugsweise Liebesgeschichten mit einem klassischen Happy End. Lori hänselte mich deswegen immer und behauptete, ich hätte einen kitschigen Buchgeschmack, aber das scherte mich nicht. Ich stand nun mal nicht auf so pseudointellektuelles Zeug wie sie, und manchmal wollte ich einfach … keine Ahnung, dem Leben irgendwie entfliehen. Mich kopfüber in eine ganz alltägliche Geschichte stürzen und neue Erkenntnisse gewinnen oder in ein fantastisches, völlig fremdes Universum eintauchen. Eine Fabelwelt mit Feenkriegen oder herumziehenden Vampirclans. Ich wollte etwas Neues erleben, aber dabei immer, immer! das Buch nach der letzten Seite mit einem zufriedenen Gefühl zuklappen können.

Weil für mich ein Happy End eben nur in meinen Büchern existierte.

Ich setzte mich aufs Bett und wollte gerade anfangen zu lesen, da klopfte es leise an meine Balkontür. Eine Schrecksekunde lang saß ich da wie erstarrt. Mit klopfendem Herzen sprang ich auf und ließ das Buch auf mein Bett fallen.

Das konnte nur einer sein: Sebastian.

Ich schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Unwillkürlich breitete sich ein strahlendes Lächeln auf meinem Gesicht aus. Auch mein restlicher Körper war nicht zu bremsen, und so warf ich mich, ohne groß nachzudenken, durch die Türöffnung.

Dort prallte ich mit einem größeren und deutlich härteren Körper zusammen. Sebastian brummte, als ich die Arme um seine breiten Schultern schlang und mein Gesicht an seine Brust presste. Glücklich sog ich den vertrauten, frischen Geruch des Waschmittels ein, das seine Mutter schon seit ewigen Zeiten verwendete.

Auch Sebastian schlang ohne jedes Zögern die Arme um mich.

Wie immer.

»Lena.« Seine Stimme klang tief – tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte. Dabei war er nur einen Monat weg gewesen. Aber ein Monat konnte sich wie eine Ewigkeit anfühlen, wenn man jemanden sonst fast jeden Tag sah. Wir waren den Sommer über in Kontakt geblieben, hatten uns Nachrichten geschickt und sogar ein paarmal telefoniert, aber das war nicht das Gleiche, wie ihn hier zu haben.

Sebastian erwiderte meine Umarmung und hob mich ein paar Zentimeter vom Boden hoch, bevor er mich wieder absetzte. Er neigte den Kopf zu mir, worauf sich sein Brustkorb fest gegen mich drückte. Eine Hitzewelle schoss bis zu den Zehen durch mich hindurch.

»Du hast mich vermisst, was?«, sagte er und wickelte meine nassen Haare um seine Finger.

Ja. Und wie ich ihn vermisst hatte. Ich hatte ihn viel zu sehr vermisst.

»Nein.« Meine Stimme wurde von seiner Brust gedämpft. »Ich dachte nur, du wärst der sexy Typ, den ich vorhin im Restaurant bedient habe.«

»Ja, klar.« Er lachte leise in mein Haar. »Es gibt keine sexy Typen im Joanna’s.«

»Woher willst du das wissen?«

»Es gibt zwei Gründe: Erstens bin ich der einzige heiße Typ, der dort hingeht, und ich war nicht da«, erklärte er.

»Wow. Wie bescheiden, Sebastian.«

»Ich sage nur die Wahrheit.« Sein Tonfall war unbekümmert und fröhlich. »Und zweitens: Wenn du mich mit jemand verwechselt hättest, würdest du längst nicht mehr wie eine Klette an mir kleben.«

Okay, da hatte er recht.

Ich trat zurück und ließ die Arme sinken. »Ach, halt die Klappe.«

Wieder lachte er leise. Ich liebte dieses Lachen. Es war ansteckend, selbst wenn man schlechte Laune hatte. Man musste einfach mitlachen.

»Ich dachte, du kommst erst am Samstag zurück«, sagte ich und trat in mein Zimmer.

Sebastian folgte mir. »Dad hat entschieden, dass ich bei dem Trainingsspiel morgen Abend dabei sein soll, obwohl ich nicht mal aufgestellt bin. Aber er hatte alles schon mit dem Coach vereinbart. Du kennst ja Dad.«

Sein Vater war einer dieser typischen Football-besessenen Väter, die ihre Söhne unaufhörlich anpeitschten, wenn es um den Sport ging. Deshalb war ich auch richtig perplex gewesen, als Sebastian verkündet hatte, sie würden während der Trainingszeit verreisen. Aber wie ich seinen Vater kannte, hatte er Sebastian bestimmt jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang zu Ausdauerläufen und Fangübungen aus dem Bett gezerrt.

»Schläft deine Mutter schon?«, fragte er, während ich die Balkontür schloss.

»Ja …« Ich drehte mich um und konnte ihn nun im Licht des Zimmers richtig sehen. Es war mir etwas peinlich, es zuzugeben – und ich würde es auch nie tun! –, aber sein Anblick brachte mich völlig aus dem Konzept.

Sebastian war … er war einfach bildschön, und das, ohne es auch nur im Geringsten darauf anzulegen. Was man nicht über viele Jungs sagen konnte – und auch nicht über viele Mädchen.

Seine Haare hatten eine Farbe irgendwo zwischen Braun und Schwarz, sie waren kurz an den Seiten und oben etwas länger, sodass ihm immer eine leicht zerzauste Strähne in die Stirn fiel. Außerdem hatte er verboten lange Wimpern und Augen so tiefblau wie Jeans. Sein Gesicht war kantig, mit hohen Wangenknochen, einer schmalen Nase und einem markanten Kinn. Eine Narbe zog sich durch seine Oberlippe, direkt neben dem wohlgeformten Amorbogen. Sie stammte von einem Footballtraining im zweiten Highschool-Jahr, als er nach einem Treffer den Helm verloren hatte. Sein Schulterpolster war gegen seinen Mund geknallt und hatte die Lippe aufgerissen.

Aber das machte sein Gesicht noch interessanter.

Während er sich in meinem Zimmer umsah, konnte ich den Blick nicht von seinen Basketballshorts und dem schlichten weißen T-Shirt abwenden. Vor ein paar Jahren in der Mittelschule war er noch schlaksig und groß gewesen und hatte nur aus Armen und Beinen bestanden, aber mittlerweile hatte er überall Muskeln bekommen und einen wohlgeformten Körper entwickelt, der jeder griechischen Statue Konkurrenz gemacht hätte. Vermutlich aufgrund des jahrelangen Footballtrainings.

Sebastian war eben nicht mehr einfach nur der süße Typ von nebenan für mich.

Wenn er mich besuchte, nahm er schon seit Jahren den Weg über den Balkon, weil es einfach bequemer war, als durch die Haustür zu kommen. Er brauchte nur sein Haus durch die Hintertür verlassen, durch ein Gatter in unseren Garten kommen und die Treppe zu meinem Balkon hochklettern.

Unsere Eltern wussten davon, aber weil wir quasi zusammen aufgewachsen waren, waren wir in ihren Augen – genau wie für Sebastian auch – wie Geschwister.

Außerdem hatten sie mit Sicherheit keine Ahnung davon, dass die Besuche auch spätabends stattfanden. Das hatte erst angefangen, als wir beide dreizehn waren, und zwar in der Nacht, nachdem mein Vater uns verlassen hatte.

Ich lehnte mich gegen die Tür und biss mir auf die Innenseite meiner Wange.

Sebastian Harwell gehörte zu den beliebtesten Jungs unserer Schule, was bei seinem guten Aussehen nicht weiter überraschend war. Außerdem war er begabt. Lustig. Klug. Nett. An ihn kam einfach keiner heran.

Und er war einer meiner besten Freunde.

Aus Gründen, über die ich nicht genauer nachdenken wollte, kam mir mein Zimmer immer viel kleiner vor, wenn er da war. Das Bett zu schmal, die Luft zu stickig.

»Was schaust du dir an?«, fragte er leise und sah zum Fernseher.

Ich musterte den Bildschirm. Ein Typ mit buschigen, zerzausten Haaren gestikulierte wild mit den Händen. »Ähm … eine Wiederholung von Ancient Aliens.«

»Aha. Na ja, wenigstens nicht so morbide wie diese Gerichtsmedizin-Serie, die du sonst immer guckst. Manchmal mache ich mir echt Sorgen …« Seine Stimme erstarb und er musterte mich mit schief gelegtem Kopf. »Ist das nicht … mein Shirt?«

Oh. Oh nein!

Meine Augen wurden groß vor Schreck, als mir einfiel, was ich da anhatte: ein altes Trainingsshirt von ihm aus seinem Freshman-Jahr. Aus irgendeinem Grund hatte er es vor ein paar Jahren hier bei mir liegen gelassen und ich hatte es behalten.

Wie eine Stalkerin.

Erst wurde mein Gesicht knallrot, dann breitete sich die Röte über meinen ganzen Körper aus. Von dem übrigens nicht gerade wenig zu sehen war. Der weite Halsausschnitt des Shirts war mir über die Schulter gerutscht und ich trug keinen BH. Ich bekämpfte den Drang, den Saum zurechtzuzupfen.

Stattdessen befahl ich mir, cool zu bleiben. Schließlich hatte er mich schon oft genug in einem Badeanzug gesehen. Das war auch nicht viel anders.

Nur – irgendwie schon.

»Das ist mein Shirt.« Seine Augen waren hinter dichten Wimpern verborgen, als er sich auf mein Bett setzte. »Hab mich schon gewundert, wo das abgeblieben ist.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie gelähmt klebte ich auf einmal an der Tür. Fand er es merkwürdig, dass ich sein Shirt zum Schlafen trug? Weil – ein bisschen seltsam war es schon, das ließ sich nicht leugnen.

Er warf sich aufs Bett und fuhr gleich wieder hoch. »Au. Was ist das denn?« Er rieb sich den Rücken und drehte sich um. »Du meine Güte.« Er hob mein Buch auf. »Liest du das?«

Ich blinzelte. »Ja. Wieso?«

»Das könnte auch gut als Waffe durchgehen. Wenn du mir damit den Schädel einschlägst, könntest du in einer dieser Serien über Kriminaltechniker landen, die du so toll findest.«

Ich verdrehte die Augen. »Übertreibst du da nicht ein bisschen?«

»Egal.« Er warf das Buch auf die andere Betthälfte. »Wolltest du schon ins Bett?«

»Eigentlich wollte ich das Buch lesen.« Ich zwang mich, von der Tür wegzutreten, und ging langsam zum Bett, auf dem er sich mittlerweile ausgestreckt hatte, gemütlich auf der Seite liegend, die Wange auf die Faust gestützt, als würde es ihm gehören. »Aber ein gewisser Jemand hält mich gerade davon ab.«

Seine Mundwinkel schoben sich nach oben. »Soll ich gehen?«

»Nein!«

»Hab ich mir doch gedacht.« Er klopfte auf den freien Platz neben sich. »Komm her und unterhalt dich mit mir. Erzähl mir, was ich alles verpasst habe.«

Ich befahl mir, mich nicht wie eine Vollidiotin aufzuführen, und hockte mich zu ihm aufs Bett, was wegen meines Shirts nicht gerade einfach war. Auf keinen Fall wollte ich ihm mit meinem halb nackten Körper zu nahe kommen. Oder vielleicht doch? Vermutlich hatte er sowieso kein Interesse daran.

»Nicht viel«, sagte ich und schaute zu meiner Zimmertür. Zum Glück hatte ich sie vorhin zugemacht. »Es gab ein paar Partys bei Keith …«

»Und du bist ohne mich hin?« Theatralisch drückte er die Hand auf sein Herz. »Oh. Das schmerzt!«

Ich grinste und schlug die Beine übereinander. »Ich war mit den Mädels dort. Na und?«

Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Hat er auch mal unten am See gefeiert?«

Ich schüttelte den Kopf, zupfte an meinem T-Shirt-Saum und wackelte mit den Zehen. »Nein. Nur bei sich zu Hause.«

»Cool.« Ein Blick zu ihm verriet mir, dass er die Augen gesenkt hatte. Seine freie Hand lag zwischen uns auf dem Bett, seine Finger waren lang und dünn und die Haut leicht gebräunt von der Sonne. »Hast du sonst was gemacht? Triffst du dich mit irgendwem?«

Meine Zehen erstarrten und mein Kopf fuhr zu ihm herum. Was für eine seltsame Frage. »Nicht wirklich.«

Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Hastig wechselte ich das Thema. »Übrigens, rate mal, wer heute Abend im Joanna’s vorbeigekommen ist und nach dir gefragt hat?«

»Wer würde nicht vorbeikommen und nach mir fragen?«

Statt einer Antwort sah ich ihn mit leerer Miene an.

Er grinste. »Wer denn?«

»Skylar. Anscheinend hat sie dir geschrieben und du hast ihre Nachrichten ignoriert.«

»Ich habe sie nicht ignoriert, ich habe nur nicht geantwortet.« Er schob seine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ist das nicht das Gleiche?«

»Was wollte sie denn?«, fragte er, anstatt zu antworten.

»Mit dir reden.« Ich lehnte mich an das Kopfende und legte das Kissen auf meinen Schoß. »Sie sagte … Sie hat mich gebeten, dir zu sagen, dass sie nach dir gefragt hat.«

»Okay, was du hiermit auch getan hast.« Er hielt inne und sein Grinsen wurde noch breiter. »Ausnahmsweise.«

Ich beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren. »Sie hat auch gesagt, dass es ein Fehler war, mit dir Schluss zu machen.«

Sein Grinsen verblasste. »Das hat sie gesagt?«

Mein Herz fing an zu klopfen. Er klang überrascht. War das eine schöne Überraschung für ihn oder eine schlechte? Hing er vielleicht immer noch an ihr? »Ja.«

Einen Moment lang rührte sich Sebastian nicht, dann schüttelte er den Kopf. »Egal.« Mit einer blitzschnellen Bewegung riss er mir das Kissen weg und schob es sich unter den Kopf.

»Bitte, nimm ruhig«, murmelte ich und zog mein Shirt zurecht.

»Schon passiert.« Er lächelte zu mir hinauf. »Übrigens hast du eine neue Sommersprosse bekommen.«

»Was?« Ich drehte den Kopf zu ihm. Schon seit ich denken konnte, sah mein Gesicht so aus, als wäre es mit einer Sommersprossen-Kanone beschossen worden. »Du kannst doch unmöglich erkennen, ob ich eine neue habe.«

»Klar kann ich das. Beug dich mal vor. Ich kann sie dir sogar zeigen.«

Ich zögerte.

»Komm schon.« Er winkte lockend mit dem Finger.

Ich atmete flach ein und beugte mich zu ihm. Meine Haare rutschten über meine Schulter, während er die Hand hob.

Das Grinsen war zurück und umspielte seine Lippen. »Direkt hier …« Er drückte seine Fingerspitze mitten auf mein Kinn. Ich holte scharf Luft. Seine Wimpern senkten sich. »Die hier ist neu.«

Einen Moment lang konnte ich mich nicht rühren. Ich saß einfach stocksteif da, den Oberkörper leicht zu ihm geneigt, und spürte seine Fingerspitze an meiner Haut. Die Berührung war so zart, dass diese Reaktion eigentlich total absurd war. Trotzdem konnte ich sie in jeder Faser meines Körpers spüren.

Er senkte die Hand und legte sie wieder zwischen uns.

Ich atmete zitternd aus. »Du bist … du bist so doof!«

»Aber du liebst mich trotzdem«, sagte er.

Ja!

Wahnsinnig und aus tiefstem Herzen und bis ans Ende aller Tage. Ich hätte noch tausendmal mehr Beschreibungen dafür finden können. Ich war schon in Sebastian verliebt, seit … ach Gott, seit er sieben war und mir die schwarze Schlange, die er in seinem Garten gefunden hatte, geschenkt hatte. Keine Ahnung, wie er darauf kam, ich könnte sie haben wollen, aber er trug sie zu mir und ließ sie vor mir fallen wie eine Katze, die ihrem Besitzer einen toten Vogel bringt.

Ein verdammt merkwürdiges Geschenk – die Art von Geschenk, die ein Junge einem anderen Jungen machen würde – und damit eigentlich eine perfekte Beschreibung unserer Beziehung. Ich liebte ihn, ein schmerzhaftes, schamvolles Begehren, während er mich immer nur wie einen seiner Kumpels behandelte. So war es von Anfang an gewesen und so würde es vermutlich bis in alle Ewigkeit bleiben.

»Ich kann dich nicht ausstehen«, widersprach ich.

Er rollte sich auf den Rücken, streckte die Arme aus und schlug lachend die Hände zusammen. Sein T-Shirt rutschte nach oben und enthüllte einen flachen Bauch und zwei Muskelstränge an seinen Hüften. Keine Ahnung, woher er die hatte.

»Du lügst dir doch was vor«, sagte er. »Aber vielleicht glaubst du das ja eines Tages wirklich.«

Er konnte nicht wissen, wie nahe er der Wahrheit damit kam.

Wenn es um Sebastian und meine Gefühle für ihn ging, war mein ganzes Leben eine Lüge.

Lügen war übrigens die andere Sache, die mein Vater mir vererbt hatte.

Darin war er richtig gut gewesen.

3

Frühsport war echt nichtmeinDing. Ich stand hinter Megan und hoffte inständig, ich würde mit der Wand verschmelzen und übersehen werden und so vielleicht noch die Chance auf ein kleines Nickerchen haben. Sebastian war bis drei Uhr morgens bei mir geblieben und ich war viel zu müde für jede Form von körperlicher Aktivität.

Coach Rogers, auch als Sergeant Rogers oder General Drecksack bekannt, verschränkte die Arme und zog wie üblich eine finstere Miene. Ich hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Nicht mal, als wir es letztes Jahr in die Play-offs geschafft hatten.

Weil er außerdem als Ausbilder für das Reserveoffizierkorps tätig war, führte er sich die meiste Zeit auf wie auf einem Kasernenhof. Das war heute nicht anders.

»Auf die Tribüne«, befahl er. »Zehn Sets.«

Seufzend zog ich meinen Pferdeschwanz fest, während Megan fröhlich vor mir auf und ab hüpfte. »Wer Letzte wird, muss nach dem Training einen Smoothie ausgeben.«

Ich verzog den Mund. »Das ist unfair. Du bist auf jeden Fall schneller als ich.«

»Ich weiß.« Kichernd stürmte sie zu den Tribünenreihen.

Seufzend zog ich meine schwarzen Trainingsshorts hoch und bereitete mich seelisch auf einen Herzinfarkt vor. Bestimmt würde ich noch vor der fünften Runde vor Anstrengung tot umkippen.

Die Mannschaft erreichte die Metallsitze und sprintete unter dröhnendem Getrampel durch die Reihen nach oben. Dort angekommen schlug ich wie verlangt mit der flachen Hand gegen die Wand. Wer das vergaß, konnte die Runde gleich wiederholen. Auf dem Rückweg heftete ich meinen Blick auf die Reihen vor mir, während meine Knie und Arme angestrengt arbeiteten. Nach der fünften Runde brannten meine Beinmuskeln und meine Lunge wie Feuer.

Ich lag im Sterben. Nur dass ich – leider! – nicht lag, sondern so was von herumgehetzt wurde.

Eine Runde nach der anderen. Ohne Erbarmen.

Hinterher gesellte ich mich mit puddingweichen Knien zu Megan auf das Spielfeld. »Ich hätte gern einen Erdbeer-Banane-Smoothie«, sagte sie mit gerötetem Gesicht. »Und vielen Dank auch.«

»Klappe«, keuchte ich und warf einen Blick zur Tribüne hinüber. Wenigstens war ich nicht Letzte geworden. Ich drehte mich zu ihr. »Ich hol mir lieber was bei McDonald’s.«

Megan schnaubte nur. »War ja klar.«

»Da ist immerhin Ei drin«, erklärte ich. Vermutlich hätte ich deutlich muskulösere Beine und einen flacheren Bauch, wenn ich mir nach dem Training einen gesunden Smoothie reinziehen würde anstatt eines bösen McMuffin mit Röstis.

Sie rümpfte die Nase. »So was zählt doch nicht als Ei.«

»Lästere nicht über McDonald’s. Das ist ein Sakrileg!«

»Du weißt doch nicht mal, was das Wort bedeutet«, gab sie zurück.

»Und du weißt nicht, wann du besser die Klappe halten solltest!«

Lachend warf Megan ihre blonde Haarmähne zurück. Manchmal fragte ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass wir so gut befreundet waren. Wir waren komplett gegensätzliche Typen. Sie las – wenn überhaupt – nur die Flirttipps in der Cosmopolitan oder die Horoskope in den Zeitschriften ihrer Mutter. Ich dagegen verschlang jedes Buch, das ich in die Finger bekam. Ich würde mich um ein Studiendarlehen bemühen müssen, sie bekam ihr Studium von ihren Eltern bezahlt. Megan ging nur dann zu McDonald’s, wenn sie betrunken war, was fast nie vorkam. Ich aß so oft dort, dass ich die Frau, die morgens am Drive-in-Schalter saß, mit Vornamen kannte.

Sie hieß Linda.

Megan war viel kontaktfreudiger als ich und immer bereit, Neues auszuprobieren, während ich erst sämtliche Vor- und Nachteile gründlich abwog, bevor ich handelte. Und so ziemlich in allem mehr Nachteile als Vorteile sah. Megan wirkte deutlich jünger als siebzehn und führte sich die meiste Zeit wie ein hyperaktives Kätzchen auf, das an den Vorhängen hochklettert. Außerdem war sie furchtbar kindisch. Aber was wie komplette Planlosigkeit aussah, war alles nur Oberfläche. In Wirklichkeit war sie ein Mathe-Genie, ohne groß dafür lernen zu müssen. Von außen wirkte es häufig so, als würde sie nichts ernst nehmen, aber in Wahrheit war sie ebenso klug wie temperamentvoll.

Wir hatten geplant – oder besser: wir hofften –, zusammen an die University of Virginia zu kommen und uns dort ein Wohnheimzimmer zu teilen. Ansonsten gaben wir uns alle Mühe, Dary das Leben möglichst schwer zu machen und ihr nach allen Regeln der Kunst auf den Wecker zu gehen.

Ich beschloss, zwei Portionen Rösti zu bestellen und sie direkt vor Megans Augen zu verdrücken, und drängelte mich auf dem Weg zu unserer Mannschaftskapitänin, die bereits auf uns wartete, vor sie.

Das Training war mörderisch.

Weil Vorsaison war und Freitag noch dazu, stand nur Krafttraining auf dem Programm. Ausfallschritte. Kniebeugen. Sprints. Sprünge. Nie fühlte ich mich beim Training so außer Form wie bei solchen Übungen. Am Ende konnte ich nur noch durch die Halle kriechen und schwitzte an Stellen, an die ich nicht mal denken wollte.

»Die Seniors bleiben bitte noch kurz da«, rief Coach Rogers. »Alle anderen können gehen.«

Wir hievten uns hoch. Megan sah mich fragend an. Mein Bauch schmerzte von den Sit-ups und am liebsten hätte ich mich vornübergebeugt und geheult wie ein Baby.

»Bis zu unserem ersten Spiel haben wir noch ein paar Wochen Zeit, genau wie zu den ersten Turnieren, aber ich möchte mich trotzdem vergewissern, dass ihr kapiert, wie wichtig diese Saison für euch ist.« Der Coach zog sich den Schild seiner Baseballkappe tiefer in die Stirn. »Das ist nicht nur euer letztes Jahr in der Mannschaft, es ist auch die Zeit, in der die Scouts zu den Turnieren kommen. Eine Menge Colleges hier in Virginia und in den umliegenden Bundesstaaten suchen nach Nachwuchsspielerinnen.«

Ich presste die Lippen zusammen und verschränkte locker die Arme. Ein Volleyball-Stipendium wäre eine feine Sache, und ich hatte auch vor, mich um eines zu bemühen, aber es gab weitaus bessere Mädchen im Team, zum Beispiel Megan.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir beide einen Platz in der Mannschaft der UVA bekommen würden, war mehr als gering.

»Ich kann nicht genug betonen, wie entscheidend eure Leistung in dieser Saison sein wird«, schwadronierte der Coach weiter. Dabei blieb sein dunkler Blick so vielsagend an mir hängen, dass ich fürchtete, er könnte meine lausigen Sprints bemerkt haben. »Es wird keinen zweiten Versuch geben. Ihr habt nur diese eine Chance, um bei den Scouts einen guten Eindruck zu hinterlassen. Nächstes Jahr ist es zu spät.«

Megan sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Das klang doch ein bisschen sehr dramatisch.

Der Coach schwafelte noch Ewigkeiten weiter über kluge Lebensentscheidungen und ähnlichen Quark, dann war er endlich fertig. Unsere Gruppe durfte gehen, und wir trotteten zu den restlichen dunkelrot-weißen Trainingstaschen, die an der Hallenwand lagen.

Megan stieß mich mit der Schulter an, als sie nach der Wasserflasche auf ihrer Tasche griff. »Du warst heute echt mies.«

»Danke«, erwiderte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Es tut so gut, das zu hören.«

Sie grinste hinter der Flaschenöffnung hervor, doch bevor sie etwas erwidern konnte, brüllte der Coach meinen Nachnamen.

Ich unterdrückte ein Stöhnen, machte kehrt und trabte zurück zu dem Netz, vor dem wir immer unsere Sprungübungen machten. Wenn der Coach einen beim Nachnamen rief, war das ungefähr so, wie wenn man von der eigenen Mutter mit sämtlichen Vornamen angesprochen wurde.

Coach Rogers’ ordentlich gestutzter Bart hatte einige weiße Strähnen, aber der Typ war fit und erschreckend gut in Form. Er rannte die Tribünenrunde in der halben Zeit, die Megan brauchte. Jetzt sah er mich so an, als würde er mich am liebsten noch einen Durchgang absolvieren lassen. Da könnte er mir auch gleich einen Grabstein bestellen.

»Ich habe dich heute beobachtet«, verkündete er.

Hilfe.

»Hat nicht so ausgesehen, als wärst du mit dem Kopf bei der Sache.« Er verschränkte die Arme, und ich wusste, dass ich mich auf eine Standpauke gefasst machen konnte. »Arbeitest du immer noch im Joanna’s?«

Ich erstarrte. Dieses Gespräch hatten wir schon häufiger geführt. »Ich hatte gestern Abend die letzte Schicht.«

»Nun, das erklärt einiges. Du weißt doch, was ich davon halte, wenn du am Abend vor einem Training arbeitest«, sagte er.

Ja, das wusste ich. Coach Rogers war der Ansicht, dass jemand, der ernsthaft Sport trieb, möglichst nicht arbeiten sollte, weil einen das ablenkte. »Es ist nur für den Sommer.« Das war eine Lüge. Ich hatte fest vor, auch während des Schuljahrs weiter am Wochenende dort zu arbeiten. In meiner McDonald’s-Kasse musste es klimpern, aber das brauchte er ja nicht zu wissen. »Tut mir leid wegen dem Training heute. Ich bin ein bisschen müde …«

»Verdammt müde, so wie du aussiehst«, unterbrach er mich seufzend. »Du hast dich ja durch jede Übung zwingen müssen.«

Leider würde er mir diese Anstrengung wohl kaum positiv anrechnen.

Er hob den Kopf und starrte an seiner Nase vorbei auf mich hinab. Der Coach war ein echtes Scheusal im Training und bei den Spielen, aber sonst konnte ich ihn gut leiden. Er kümmerte sich um seine Spielerinnen. Sehr sogar. Letztes Jahr hatte er eine Spendensammlung für eine Schülerin organisiert, deren Familie bei einem Brand ihren gesamten Besitz verloren hatte. Und er mochte Tiere und trug meistens ein T-Shirt mit dem Logo einer Tierschutzorganisation. In diesem Moment konnte ich ihn jedoch nicht ausstehen.

»Hör zu«, fuhr er fort. »Ich weiß, es geht bei euch zu Hause etwas klamm zu, seit dein Vater … na ja, wegen dieser Sache eben.«

Ich presste so fest die Zähne zusammen, dass mir der Kiefer schmerzte, und bemühte mich, möglichst gleichgültig zu schauen. Alle wussten über meinen Vater Bescheid. Das Leben in einer Kleinstadt konnte manchmal ganz schön nervig sein.

»Du und deine Mutter, ihr könnt das Geld gut gebrauchen – das verstehe ich ja –, aber du solltest auch deine Gesamtsituation nicht aus dem Blick verlieren. Wenn du das Training ernst nimmst und etwas mehr Zeit und Energie darauf verwendest, könntest du dein Spiel dieses Jahr deutlich verbessern. Vielleicht fällst du dann ja einem Scout auf«, erklärte er, »und bekommst ein Stipendium angeboten. Dann bräuchtest du keinen so hohen Studienkredit aufzunehmen. Darauf solltest du dich konzentrieren – auf deine Zukunft.«

Obwohl er es nur gut meinte, hätte ich ihm am liebsten ins Gesicht geschleudert, dass meine Mutter und ich und meine Zukunft ihn überhaupt nichts angingen. Aber das tat ich natürlich nicht. Stattdessen trat ich von einem Fuß auf den anderen und stellte mir in Gedanken eine Riesenportion Rösti vor, schön kross und fettig.

Oh Gott, ich würde sie in Ketchup ertränken.

»Du hast Talent.«

Ich blinzelte. »Wirklich?«

Sein Gesichtsausdruck wurde weich und er legte mir seine schwere Hand auf die Schulter. »Ich glaube, du hättest gute Chancen auf ein Stipendium.« Er drückte sie sanft. »Denk einfach immer auch an morgen. Gib dir Mühe, dann schaffst du das schon. Verstanden?«

»Ja.« Ich sah zu Megan, die immer noch auf mich wartete. »Ein Stipendium würde … es wäre wirklich eine große Hilfe.«

Eine verdammt große sogar.

Und es wäre schön, sich nach dem Uniabschluss nicht zehn Jahre damit abrackern zu müssen, die finanziellen Daumenschrauben eines Studiendarlehens wieder loszuwerden. Davor hatten mich genügend Leute gewarnt.

»Dann sorg dafür, dass es auch so kommt, Lena.« Der Coach ließ seine Pranke fallen. »Das Einzige, was dir dabei im Weg steht, bist du selbst.«

»Mir doch egal, was du sagst. Chloe war trotzdem die bessere Tänzerin«, keifte Megan, die auf meinem Bett hockte. Ich fürchtete schon, ihre Haare würden sich jeden Moment in Schlangen verwandeln und sie würde jedem, der ihr zu widersprechen wagte, die Augen auskratzen.

Okay, vielleicht hatte ich in letzter Zeit doch zu viele Fantasyromane gelesen.

»Und wenn du mir nicht zustimmst, kündige ich dir die Freundschaft!«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

»Dir geht es doch gar nicht darum, wer die bessere Tänzerin ist. Du bist ja nur für Chloe, weil du denkst, dass Blondinen zusammenhalten sollten.« Abbi mit ihrem zerzausten, dunklen Lockenkopf lag bäuchlings auf dem Bett. »Ich bin ehrlich gesagt eher für Team Nia.«

Megan warf frustriert die Hände in die Höhe. »Ach, denk doch, was du willst.«

Das Handy auf meinem Schreibtisch klingelte. Als ich sah, wer dran war, leitete ich den Anruf, ohne groß nachzudenken, an die Mailbox weiter.

Heute nicht, Satan.

»Ihr müsst endlich mal aufhören, euch ständig Wiederholungen von Dance Moms reinzuziehen.« Ich drehte mich zu meinem Schrank und suchte weiter nach einer kurzen Hose für meine Schicht im Joanna’s. Ich musste ein Gähnen unterdrücken und sehnte mich nach einem kurzen Nickerchen, aber Megan war nach dem Training direkt mit zu mir gekommen, und in einer Stunde musste ich sowieso wieder zur Arbeit.

»Du siehst aus wie durchgekaut und ausgespuckt«, bemerkte Abbi, und es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass sie mich meinte. »Hast du letzte Nacht nicht geschlafen?«

»Vielen Dank für das Kompliment«, beschwerte ich mich. »Sebastian ist gestern Abend zurückgekommen und hat noch bei mir vorbeigeschaut. Wir haben eine Weile gequatscht.«

»Ooh, Sebastian«, gurrte Megan und klatschte in die Hände. »Hat er dich die ganze Nacht wach gehalten? Falls ja, bin ich stinksauer, weil du uns das nicht gleich erzählt hast. Außerdem will ich alle Einzelheiten wissen. Sämtliche schmutzigen, schlüpfrigen Details!«

Abbi schnaubte. »Ach, da gibt es doch keine schmutzigen, schlüpfrigen Details!«

»Sollte ich jetzt beleidigt sein?«, meinte ich.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass zwischen euch irgendwas läuft«, erwiderte Abbi mit einem Schulterzucken.

»Es ist mir ein Rätsel, wie du so viel Zeit mit ihm verbringen kannst, ohne dich wie ein läufiges Pumaweibchen auf ihn zu stürzen«, sagte Megan nachdenklich. »Ich würde mich da nicht so beherrschen können.«

Ich lehnte den Kopf zurück. »Wow.« Meine Freundinnen waren mal wieder echt krass. Vor allem Megan. »Ich dachte, du bist wieder mit Phillip zusammen?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Keine Ahnung. Wir reden zumindest wieder miteinander.« Megan kicherte. »Aber selbst wenn, heißt das nicht, dass ich dieses Prachtexemplar von einem Jungen, das zufällig neben dir wohnt, nicht zu schätzen wüsste.«

»Tu dir keinen Zwang an«, murmelte ich.

»Ist euch schon mal aufgefallen, dass sich hübsche Menschen immer irgendwie zusammenrotten? Zum Beispiel Sebastians Freunde – Keith, Cody, Phillip. Die sehen alle gut aus. Das Gleiche gilt für Skylar und ihre Freundinnen. Wie Vögel, die im Winter in den Süden fliegen«, fuhr Megan fort.

Abbi murmelte leise: »Was laberst du für einen Müll?«

»Jedenfalls werde ich mich für meine ganz und gar un-freundschaftlichen Gedanken Sebastian gegenüber nicht schämen. Alle stehen auf ihn«, verteidigte sich Megan. »Ich stehe auf ihn. Abbi steht auf ihn –«

»Was?«, rief Abbi. »Niemals!«

»Oh, tut mir leid. Stimmt. Du bist ja scharf auf Keith. Hab mich vertan.«

Ich drehte mich zur Seite, um Abbis Reaktion auf diese Bemerkung zu sehen, und wurde nicht enttäuscht.

Sie stemmte sich auf die Ellbogen hoch und starrte Megan wütend an. Wenn Blicke töten könnten, wäre Megans gesamte Familie in diesem Moment tot umgekippt.

»Pass bloß auf, du Fliegengewicht. Ich wieg mindestens zehn Kilo mehr als du und kann dich wie einen Schokoriegel in der Mitte durchbrechen.«

Grinsend wandte ich mich wieder meinem Schrank zu und durchwühlte die Bücher und Jeans im untersten Fach. »Keith ist echt süß, Abbi.«

»Ja, das ist er; außerdem vögelt er alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist«, bemerkte sie.

»Mich nicht«, meinte Megan.

»Mich auch nicht.« Endlich hatte ich meine abgeschnittenen Jeansshorts gefunden und richtete mich auf. »Keith versucht schon, bei dir zu landen, seit du Brüste hast.«

»Seit der fünften Klasse also.« Megan lachte und Abbi warf ihr mein armes Kissen an den Kopf. »Wieso? Das ist die Wahrheit.«

Abbi schüttelte den Kopf. »Ihr seid doch alle komplett verrückt. Keith steht nur auf Mädchen mit heller lilienweißer Haut wie eure Hintern.«

Ich schnaubte nur und ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, woraufhin die Rücklehne gegen die Tischplatte krachte und sämtliche Bücherstapel wackelten. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Keith auf Mädchen aller Hautfarben, Kleidergrößen und was weiß ich was abfährt.« Ich bückte mich und hob die Stifte und Leuchtmarker auf, die vom Tisch gerollt waren.

Abbi prustete verächtlich. »Mir doch egal. Und ich will jetzt nicht mehr über mein nicht existierendes Interesse an Keith reden.«

Ich drehte mich zu ihr. »Gestern ist übrigens Skylar im Joanna’s vorbeigekommen und hat mich gefragt, ob Sebastian wüsste, dass ich ihn verliebt wäre.« Ich bemühte mich, möglichst ungezwungen zu lachen. »Ganz schön crazy, was?«

Megans Augen wurden groß wie Planeten. Und nicht wie der Pluto … eher wie der Jupiter. »Was?«

Nun merkte auch Abbi auf. »Einzelheiten, Lena.«

Ich berichtete ihnen, was Skylar am vergangenen Abend gesagt hatte. »Ganz schön merkwürdig, finde ich.«

»Na ja, offenbar will sie wieder mit ihm zusammenkommen.« Abbi blinzelte nachdenklich. »Aber warum fragt sie dich das? Selbst wenn es stimmt – wieso solltest du das ausgerechnet seiner Ex-Freundin gegenüber zugeben?«

»Eben. Das hab ich auch gedacht.« Ich stieß mich mit den Zehen ab und drehte mich langsam auf dem Stuhl im Kreis. »Klar, ich hatte schon viel mit ihr zu tun, weil sie ja mit Sebastian zusammen war, aber wir sind keine Freundinnen. Ich würde ihr niemals ein Geheimnis anvertrauen.«

Abbi legte den Kopf schief. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, schwieg dann aber.

»Oh! Das hätte ich fast vergessen«, rief Megan, die schon beim nächsten Thema war. Ihr herzförmiges Gesicht lief rosa an. »Cody und Jessica sind angeblich wieder zusammen.«

»Wundert mich nicht.« Cody Reece war der umjubelte Quarterback der Mannschaft, während Sebastian der umjubelte Runningback war. Eine Freundschaft wie aus dem Footballhimmel sozusagen. Und Jessica war, na ja … nicht gerade die netteste Person auf der Erde.

»Hat Cody nicht versucht, dich auf Keith’ Party im Juli rumzukriegen?«, fragte Abbi und legte sich auf den Rücken.

Ich warf ihr einen vernichtenden Blick zu, tödlicher als der Laserstrahl des Todessterns. »Das hatte ich längst vergessen. Vielen Dank, dass du mich wieder daran erinnert hast.«

»Gern geschehen«, witzelte sie.

»Ich kann mich noch gut an die Party erinnern. Cody war total betrunken.« Megan drehte ihre Haare zu einem Strang, eine Lieblingsbeschäftigung von ihr schon seit Kindheitstagen. »Er erinnert sich vermutlich nicht mal mehr daran, dass er dich angemacht hat, aber bete lieber, dass Jessica das nicht erfährt. Dieses Mädchen ist so unfassbar eifersüchtig. Sie wird dir sonst das letzte Schuljahr zur Hölle machen.«

Um Jessica machte ich mir keine Sorgen. Wie könnte sie ernsthaft sauer sein, nur weil Cody mal auf einer Party mit mir geflirtet hatte, zu einer Zeit, als sie gar nicht zusammen gewesen waren? Das wäre doch total bescheuert.

Megan sprang fluchend auf. »Mist. Ich hätte mich schon vor zehn Minuten mit meiner Mutter treffen sollen. Sie will mit mir Klamotten für das neue Schuljahr kaufen gehen, sprich, sie wird versuchen, mich wie eine Fünfjährige einzukleiden.« Sie griff nach ihrer Tasche und ihrem Sportzeug. »Übrigens ist heute Freitag. Glaub ja nicht, dass ich meine wöchentliche Gardinenpredigt vergessen hätte.«

Ich seufzte tief. Ging das schon wieder los …

»Es wird höchste Zeit, dass du dir wieder einen Freund zulegst. Und inzwischen ist es wirklich total egal, wen du dir aussuchst. Hauptsache, es ist ein echter Mensch und keine Fantasiegestalt aus deinen Büchern.« Megan ging zur Tür.

Genervt schaute ich ihr hinterher. »Warum bist du so besessen davon, dass ich einen Freund haben soll?«

»Warum bist du so besessen davon«, äffte Abbi mich nach.

Ich achtete nicht darauf. »Du weißt schon, dass ich bis vor Kurzem noch einen Freund hatte, oder?«

»Ja.« Megan hob den Kopf. »Die Betonung liegt auf hatte. Vergangenheitsform!«

»Abbi hat doch auch keinen Freund!«, wandte ich ein.

»Hier geht es aber nicht um Abbi. Und ich weiß schon, warum du dich für keinen interessierst.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Ich weiß es.«

»Oh mein Gott.« Ich schüttelte den Kopf.

»Merk dir meine Worte: Nicht lesen – leben. Sonst wirst du mit dreißig einsam und allein in deiner Wohnung sitzen, nur mit einem Haufen Katzen als Gesellschaft, und jeden Abend Thunfisch essen. Und nicht mal den guten Thunfisch, sondern diesen fettigen, öligen Billigscheiß. Dann wird es dir leidtun, dass du jede wache Minute mit deinen Büchern verbracht hast, anstatt auf die Piste zu gehen und den zukünftigen Vater deiner Kinder kennenzulernen.«

»Ich finde, du übertreibst«, murmelte ich mit einem Seitenblick zu ihr. »Und was ist so schlecht an Thunfisch in Öl?« Hilfe suchend schaute ich zu Abbi. »Der schmeckt doch viel besser als der in diesem wässrigen Sud.«

»Stimmt«, gab sie zurück.

»Und ich habe einfach kein Interesse daran, den Vater meiner zukünftigen Kinder kennenzulernen«, fügte ich hinzu. »Ich glaube nicht, dass ich überhaupt Kinder will. Ich bin siebzehn. Und Kinder sind mir unheimlich.«

»Du enttäuschst mich«, verkündete Megan. »Aber ich bin eine gute Freundin und liebe dich trotzdem.«

»Was würde ich nur ohne dich tun?« Ich drehte mich wieder auf meinem Stuhl im Kreis.

»Als langweiliges Mauerblümchen enden. Was sonst?« Megan grinste frech.

Ich presste mir die Hand gegen das Herz. »Aua.«

»Ich muss los.« Sie winkte. »Ich melde mich.«

Dann stolzierte sie aus dem Zimmer. Buchstäblich. Den Kopf zurückgeworfen, mit schwingenden Armen und gestelzten Schritten wie ein Dressurpferd.

»Mauerblümchen?« Abbi schaute kopfschüttelnd auf die leere Türöffnung.

»Ich kapier echt nicht, warum sie immer so an meinem Singlesein herummacht.« Ich schaute Abbi an. »Kein bisschen.«

»Wer begreift schon Megan.« Abbi hielt inne und runzelte die Stirn. »Was anderes … du, ich glaube, meine Mutter geht fremd.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »Warte mal. Wie bitte?«

Abbi stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ja. Du hast ganz richtig gehört.«

Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich meine Zunge wieder bewegen konnte. »Und wie kommst du darauf?«

»Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe, dass Dad und Mom in letzter Zeit viel mehr streiten als sonst?« Sie trat zu dem Fenster, das zum Garten hinausging. »Sie bemühen sich zwar, leise zu sein, damit mein Bruder und ich es nicht hören, aber sie zoffen sich ganz schön heftig. Kobe hat schon Albträume deswegen.«

Abbis Bruder war erst fünf oder sechs. Der Arme.

»Ich glaube, sie streiten, weil Mom immer bis spät im Krankenhaus arbeitet und, na ja, warum sie so lange arbeitet. Und damit meine ich richtig