Under Flowing Stars - April Wynter - E-Book

Under Flowing Stars E-Book

April Wynter

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Beschreibung

»Warum fließen nachts die Sterne?« »Weil sie uns Hoffnung schenken. Wenn die Sterne uns nicht allein gelassen haben, besteht die Chance, dass wir diese Insel wieder verlassen werden.« Nach einem herben beruflichen Rückschlag erhält die achtundzwanzigjährige Sara eine zweite Chance. Dank einer Erbschaft kann sich die alleinerziehende Mutter erneut eine Existenz als Inhaberin eines Eventcafés aufbauen. Doch dann kommt alles anders: Eine verheerende Flut zerstört nicht nur ihren Traum, sondern ihr komplettes Leben. Sara ist kurz davor zu kapitulieren, als sie Jonas trifft, der seinen Job riskiert, um den Menschen im Ahrtal zu helfen. Seine Solidarität und Hilfsbereitschaft lassen sie hoffen, dass das Leben sie doch noch nicht aufgegeben hat. In "Under Flowing Stars" erzählt Autorin April Wynter die Geschichte einer von der Flutkatastrophe im Ahrtal Betroffenen. Dabei verarbeitet sie ihre eigenen Eindrücke als Helferin bei einer der schlimmsten Naturkatastrophen Deutschlands in diesem Jahrhundert. Nominiert für den Selfpublishing-Buchpreis 2024!

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April Wynter

Under Flowing Stars

(Another Life Trilogie – Band 2)

Impressum

 

 

www.april-wynter.de

[email protected]

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

1. Auflage November 2022

c/o Fakriro GbR

Bodenfeldstr. 9

91438 Bad Windsheim

 

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Tawng, Olga_C, Ekaterina-P – depositphotos.com

Lektorat: Tamara Leonhard – www.tamaraleonhard.de/lektorat

Korrektorat: Helen Biermann

Illustrationen Känguru: Angela Gothe

Illustration Dachboden: Marie Zoubek

Überarbeitung Kängurugeschichte: A.L. Kahnau und Susanna Wenzel

Über das Buch

Nach einem herben beruflichen Rückschlag während des ersten Lockdowns erhält die achtundzwanzigjährige Sara eine zweite Chance. Dank einer Erbschaft kann sich die alleinerziehende Mutter erneut eine Existenz als Inhaberin eines Eventcafés aufbauen. Doch dann kommt alles anders: Eine verheerende Flut zerstört nicht nur ihren Traum, sondern ihr komplettes Leben. Sara ist kurz davor zu kapitulieren, als sie Jonas trifft, der seinen Job riskiert, um den Menschen im Ahrtal zu helfen. Seine Solidarität und Hilfsbereitschaft lassen sie hoffen, dass das Leben sie doch noch nicht aufgegeben hat.

 

Band 2 der Another Life Trilogie – Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar

 

Über die Autorin

Als Weltenwandlerin bekannt, reist April Wynter nicht nur durch unsere fünf Kontinente, sondern erweckt mit ihren Büchern neue Welten zum Leben. In ihren Geschichten verarbeitet sie die Eindrücke und Erfahrungen ihrer Reisen und bringt Eindrücke aus ihrer Selbstständigkeit mit ein. Wenn sie nicht gerade auf Weltreise ist, lebt sie in der einzigen Stadt, die zwischen Rhein und Mosel liegt, verbringt ihre Freizeit in der Natur oder verliert sich in einer der unzähligen Bücherwelten.

 

Weitere Bücher der Autorin

Nach oben führt auch ein Weg hinab

Das Gift der Mondlilie (Mondlilien und Drachenfeuer – Band 1)

Die Töchter des Meeres (Mondlilien und Drachenfeuer – Band 2)Lock Down Under (Another Life Trilogie – Band 1)

 Vorwort

Will überhaupt jemand ein Buch über eine der schlimmsten Naturkatastrophen des Jahrhunderts in Deutschland lesen? Interessieren sich die Menschen für die vielen Schicksale, die bereits nach wenigen Wochen in den Medien in Vergessenheit gerieten? Und warum beschäftigen mich die Ereignisse der Flut auch ein Jahr nach der Katastrophe, obwohl ich selbst nur ein paar Mal als Helferin vor Ort war?

 

In besagter Julinacht war ich nicht im Ahrtal und trotzdem ließ mich das Erlebte nicht mehr los. Ich saß nach meinen ersten Helfereinsätzen nachts bei Regen in meiner damaligen Erdgeschosswohnung und wiegte mich panisch hin und her, checkte den Wetterbericht, rechnete die Höhe der Liter pro Quadratmeterzahl durch und kalkulierte, ob die Mosel den halben Kilometer bis zur Wohnung kommen würde. Unmöglich eigentlich – aber das hatten die Menschen im Ahrtal auch gedacht. Sicher ist sicher. Wenige Wochen später zog ich zum Glück sowieso um.

 

Ich schreibe diese Geschichte, um zu verarbeiten. Ich schreibe sie aber auch, um Aufmerksamkeit zu schaffen. Kaum sind ein paar Monate vergangen, wird in den Medien nur noch wenig von der Flutkatastrophe berichtet. Doch bist du selbst vor Ort, sieht es auch nach Monaten aus wie in einem Kriegsgebiet.

 

Mays Schwester Sara bot sich hervorragend für diese Geschichte an. Bereits beim Schreiben von ›Lock Down Under‹ war mir klar, dass Sara ein weitaus schlimmeres Schicksal ereilen würde, als nur ihr Café während des Lockdowns zu verlieren.

 

Diese Geschichte wartet mit einem Happy End auf euch, das so happy sein kann, wie das im Falle einer Katastrophe möglich ist. Trotzdem wirst du während des Lesens mit vielen beängstigenden Situationen und Gefühlen konfrontiert werden. Solltest du ein Triggerthema haben, schau in meinen Inhaltshinweisen zum Buch vorbei und wäge ab, ob du aktuell psychisch in der Lage bist, dich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Solltest du keine Triggerwarnung brauchen, schau bitte erst nach dem Lesen des Buches in die Inhaltshinweise, da diese spoilern könnten. Ein Blick hinein lohnt sich, denn ich habe einige Recherchequellen zusammengestellt. Außerdem findest du einige Links zu Spendenkonten und Aktionen, bei denen du selbst vor Ort helfen kannst. Hilfe wird noch immer dringend benötigt!

 

www.april-wynter.de/tw-ufs

 

Nun wünsche ich dir erst mal viel Spaß beim Lesen. Freu dich auf Saras und Jonas’ Geschichte rund um Liebe, Existenzängste und eine der schlimmsten Naturkatastrophe Deutschlands in diesem Jahrhundert.

 

Deine April

 Kapitel 1

Sara

 

Fange niemals etwas mit deinem Geschäftspartner an. Niemals.

Die Internetportale geben nicht viel her, wenn man auf der Suche nach einer technisch begabten Person ist, die mich bei den Livestreams meiner Events unterstützen kann. Michaels Kündigung, die heute per Post kam, erreichte mich nicht völlig unerwartet. Und trotzdem ärgere ich mich tierisch. Über ihn, darüber, dass er nicht mehr von Leipzig ins Ahrtal fahren will, um mich bei der Hybridvariante meiner Events zu unterstützen, aber vor allem über mich selbst, weil ich gewusst habe, dass man Geschäftliches und Privates trennen sollte.

Vor zwei Wochen haben wir uns im Guten getrennt. Zumindest dachte ich das. Nun habe ich nicht nur den Mann verloren, der ab und an mit mir das Bett geteilt hat, sondern auch den, der mir während der dritten Welle geholfen hat, weiterhin Einkommen zu erzielen. Vielleicht sollte ich mir das mit dem Streamen selbst beibringen. Die nächste Welle kommt. Da bin ich mir sicher.

»Schau mal, da sitzt die Mama. Zeig ihr das Bild, das du heute gemalt hast.« Meine Angestellte Laura trägt ihren quengelnden Sohn auf dem Arm, als sie meiner Tochter Marie die Tür zum Café aufhält. Marie entdeckt mich an einem der Tische, der eigentlich von Gästen besetzt sein sollte, und rennt auf mich zu. Um sie zur Begrüßung zu umarmen, stehe ich auf und gehe in die Hocke. In ihrer Hand flattert ein zerknittertes und verwaschenes Blatt Papier.

»Danke fürs Aufpassen.« Ich lächle Laura herzlich an, die mir kurz zuwinkt und dann mit ihrem inzwischen schreienden Sohn auf dem Arm nach draußen verschwindet. Meine ehemalige Schulfreundin arbeitet vormittags als Bedienung im Café und holt nach Feierabend meine Tochter Marie zusammen mit ihrem Sohn Justus von der Grundschule ab. Ich wüsste nicht, wie ich all das ohne Laura gehändelt bekommen sollte. Dabei steckt sie mitten in der Scheidung von ihrem Mann und kämpft darum, im gemeinsamen Haus in Liers wohnen bleiben zu dürfen.

Marie sieht mich unsicher an. Sie weiß, dass ich um diese Zeit arbeite und sie sich solange mit Hausaufgaben oder in ihrer Malecke beschäftigen soll. Doch da aufgrund des nervtötenden Regens keine Gäste im Café sind, drängt es sie, mir von ihrem Tag zu erzählen.

»Was hast du da gemalt?«, breche ich unsere Regel, um ihr zu zeigen, dass wir heute eine Ausnahme machen.

Stolz hält mir Marie ihr Bild hin. Ich greife es vorsichtig mit beiden Händen, aus Sorge, das nasse Papier könnte reißen. Die Farben sind verschwommen, doch ich wüsste vermutlich auch ohne die Einwirkung des Regens nicht, was meine Tochter da fabriziert hat.

»Das sind Sachen für den Koffer.«

»Für welchen Koffer denn, Mäuschen?«

»Den ich mit auf eine einsame Insel nehme.«

Ich betrachte das Bild erneut. Das Braune unten am Rand könnte in der Tat einmal ein Koffer gewesen sein, doch die anderen Motive in schwarz, grau, gelb und rot lassen sich nach wie vor nicht identifizieren.

»Solltet ihr das heute malen? Dinge, die ihr mit auf eine einsame Insel nehmen würdet?«

Marie nickt. »Und wir dürfen nur drei Sachen mitnehmen.«

»Da hast du eine gute Auswahl getroffen. Warum hast du dich ausgerechnet für diese drei Dinge entschieden?« Ich komme mir richtig schlau vor, weil ich meiner Tochter durch diese offene Frage nicht zeigen muss, dass man ihr Geschmiere nicht erkennt.

Marie kichert. »Das ist doch klar. Das Handy, weil du ohne es nicht aus dem Haus gehst und dich, weil du unbedingt mit auf die Insel musst. Dort hast du keine Gäste, um die du dich kümmern musst. Dann können wir spielen. Wenn ich schlafe, kannst du ja am Handy arbeiten. So wie Tante May das macht.«

Das schlechte Gewissen sticht in meiner Brust. Eigentlich hatte ich das Café eröffnet, um besser für Marie da sein zu können. In einem Teilzeitjob verdiene ich als alleinerziehende Mutter einfach nicht genug und Vollzeit ginge nur, wenn ich Marie mit auf die Arbeit nehmen dürfte. Welche Firma erlaubt das schon? Mit dem Café bleibt mir die Freiheit, meine Tochter während der Arbeit bei mir zu haben, was vor allem bei dem aktuell herrschenden Wechselunterricht hilfreich ist. Jetzt fangen aber erst mal die Ferien an und ich muss herausfinden, was Nummer drei auf dem Bild meiner Tochter ist. Vielleicht gibt mir das einen Hinweis, was sie sich für den Sommer wünscht, außer mehr Zeit mit mir zu verbringen.

»Und warum hast du dich für den dritten Gegenstand entschieden?« Innerlich bete ich, dass es sich auch wirklich um einen Gegenstand handelt und nicht um eine weitere Person.

»Mr. Känguru kann doch ohne mich nicht in Deutschland überleben.« Marie sagt diesen Satz mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als sollte mir klar sein, warum das Stofftier, das Maya ihr mitgebracht hat, nicht allein für sich sorgen kann.

»Und wo ist Mr. Känguru jetzt?«

»Oben. Es ist doch Nacht in Australien. Der schläft noch.« Marie verdreht die Augen.

Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Klar, die Zeitverschiebung ist für eine Siebenjährige eine Selbstverständlichkeit. Zumindest, wenn man eine digitale Nomadin zur Tante hat. Aktuell ist meine Schwester Maya mit ihrem australischen Freund Troy in Portugal, weil er das Surfen so sehr vermisst hat. Maya kann in ihrem Online-Business arbeiten, von wo aus sie will, und Troy ist als freier Journalist für einen norwegischen Nachrichtensender unterwegs, um Dokumentationen und Reportagen zu schreiben. Die beiden haben sich wirklich gesucht und gefunden. Etwas, das bei mir unmöglich zu sein scheint.

Seufzend denke ich an Michael, als Marie die Treppe hoch in unseren Wohnbereich stürmt, um Mr. Känguru für eine Nachthüpferei zu wecken. Ich habe Mayas ehemaligen Schulfreund wirklich ins Herz geschlossen. Aber ihm wird die Pendelei von Leipzig zu anstrengend und er möchte seine Familie dort nicht allein lassen, um zu mir ins Ahrtal zu kommen. Das sagt er zumindest. Insgeheim glaube ich, dass es ihm auf die Nerven ging, neben Marie und dem Café nur die dritte Geige zu spielen.

Das Glöckchen der Eingangstür klingelt. Überrascht, dass sich bei dem Wetter doch noch ein Gast hierher verirrt, drehe ich mich um.

Tropfen perlen von der schwarzen Kapuze, die das Gesicht der eintretenden Person verdeckt. Obwohl ich nicht viel von ihr erkennen kann, weiß ich sofort, wen ich vor mir habe. Die Atmosphäre im Raum schlägt automatisch in etwas Düsteres um und mein Magen verkrampft sich.

»Was für ein Dreckswetter«, donnert meine Nachbarin von gegenüber, die ich innerlich ›Die Hexe‹ getauft habe, weil sie ein dickes Muttermal auf ihrer Nase trägt und immer mit einem Reisigbesen den Bordstein fegt. Selbst Marie hat mich gefragt, ob sie auf dem Besen nicht irgendwann davonfliegen würde. Dass die Räumlichkeiten des Cafés automatisch ein paar Lichtstufen dunkler zu werden scheinen, wenn sie es betritt, bestätigt meine Theorie. Zum Glück ist das nicht häufig der Fall. Wie eine waschechte Klischeehexe, hat sie mit niemandem aus dem Ort gern etwas zu tun. Außer, wenn sie etwas von einem braucht oder Gerüchte verbreiten will. Abwartend sehe ich sie an.

»Kommen Sie, Sie sind noch jung. Helfen Sie mir die Sandsäcke vor mein Kellerfenster zu stapeln. Ich bin völlig erledigt, weil ich Stunden im Baumarkt verbracht habe, um überhaupt noch welche zu bekommen.«

Mein Blick schweift an ihr vorbei durch die geöffnete Tür nach draußen. Klar, es regnet schon den ganzen Tag, aber brauchen wir wirklich Sandsäcke, um die Keller zu schützen?

»Glauben Sie, das Wasser kommt bis hierher?«, will ich von der alten Dame wissen, die in Bad Neuenahr aufgewachsen ist und daher bereits das ein oder andere Hochwasser mitbekommen hat. Andererseits ist sie nicht unbedingt die beste Quelle, immerhin hat sie die Fenster auf der Nordseite zumauern lassen, aus Angst vor der Sintflut. Würde mich nicht wundern, wenn sie auch noch ein Schlauchboot im Haus hat.

»Was weiß ich? In der Wettermeldung haben sie was von zweihundert Liter den Quadratmeter gesagt. Bis hierher ist die Ahr schon lange nicht mehr gekommen, nicht mal im Januar nach der Schneeschmelze. Aber schaden kanns nicht«, gibt sie brummend von sich.

Ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie viele Liter normalerweise pro Quadratmeter fallen. Wenn Marie irgendwann auf die weiterführende Schule geht, kann ich daraus eine Übungsaufgabe machen: Rechne aus, wie hoch ein Aquarium sein müsste, wenn es einen Quadratmeter groß ist und wir zweihundert Liter reinfüllen.

Die Alte dreht sich um und verlässt das Café. Die Eingangstür lässt sie offen stehen, als wäre sie sich sicher, dass ich ihr nach draußen folge. Seufzend gebe ich nach. Zahlungswillige Gäste kommen heute bestimmt nicht mehr.

Schnell rufe ich nach Marie, die sofort die Treppe runtergepoltert kommt. Im Arm hält sie Mr. Känguru. Als ich ihr erkläre, dass sie sich die Gummistiefel anziehen und mir nach draußen folgen soll, legt sie das Stofftier in der Malecke ab und nimmt ihre Regenjacke vom Haken neben der Tür. Ich gehe voran. Gleich darauf ertönt ein lautes Platsch, gefolgt von einem Kichern, das sich ganz danach anhört, als ob wenigstens eine von uns Spaß im Regen hat.

Mit einer Zigarette in der Hand steht die Hexe unter der geöffneten Kofferraumklappe ihres Kombis. Erwartungsvoll sieht sie mir entgegen und deutet auf die gefüllten Säcke. »Die müssen da vor die Fenster.«

Ein ›Bitte‹ wäre nett. Aber gut, was erwarte ich von einem Menschen, der mich regelmäßig beim Ordnungsamt anschwärzt. Insgeheim habe ich sie im Verdacht, mir meine Einnahmequelle für das Vermieten von Campingstellplätzen hinterm Haus zunichtegemacht zu haben. Jetzt dürfen nur noch Maya und Troy dort stehen, wenn sie mich privat besuchen. Das regt die Hexe jedes Mal so sehr auf, dass sie mit ihrem Fahrzeug meine Einfahrt zuparkt, damit auch ja niemand mehr rauskommt. Warum helfe ich ihr nochmal die Sandsäcke auszuladen?

Ächzend lasse ich den ersten Sack vor ihrem Kellerfenster fallen. Marie hat sich auf die Schaukel im Hinterhof verzogen. Ich kann verstehen, dass sie der Hexe keinesfalls zu nahe kommen will.

»In Koblenz ist die Feuerwehr schon durch die Altstadt gefahren. Notfalltaschen sollen die Leute packen! Als ob eine Evakuierung notwendig wäre. Aber gut, die haben auch Rhein und Mosel dort, wir nur die Ahr. Was eine Panikmache.« Die Hexe schnippt ihren Zigarettenstummel in eine der zahlreichen Pfützen auf der Straße. Obwohl sie fertig geraucht hat, macht sie keine Anstalten, mir beim Ausladen der Sandsäcke zu helfen.

Ein paar Säcke später stemme ich meine Arme in die Hüften und atme geräuschvoll aus. Neben dem Regenwasser läuft mir der Schweiß über das Gesicht. Das Salz brennt in meinen Augen und ich blinzle.

»Machen Sie etwa schon schlapp?« Die Hexe gackert. Durch das Rauschen des Regens höre ich die quietschende Schaukel meiner Tochter.

»Was sagt die Feuerwehr denn zu den Regenfällen hier?«, lenke ich ab, um zu Atem zu kommen.

»Keine Ahnung. Scheint nicht relevant zu sein. Bis hierhin kommt das Wasser nicht.« Gleichgültig starrt die Hexe auf die Sandsäcke, die ich bereits vor ihren Kellerfenstern aufgestapelt habe.

Dann brauche ich mich ja gar nicht weiter abschuften, will ich sagen, mache ich aber nicht. Wenn morgen das Gerücht über die zickige Cafébesitzerin durch die Stadt geht, habe ich noch weniger Gäste als ich dank der Pandemie eh schon habe.

»Kommen Sie, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit«, drängt die Hexe und deutet auf die verbleibenden Säcke.

Ich verdammt nochmal auch nicht. Im Gegensatz zu Ihnen, bin ich noch nicht in Rente! Auch diese Worte spreche ich nicht laut aus. Von meiner Oma weiß ich, dass im Alter alles langsamer geht, weshalb man gar nicht so viel mehr Zeit hat, obwohl man nicht mehr arbeiten muss.

Mit feuchten Fingern lade ich auch die letzten Säcke aus dem Auto. Die Hexe schließt die Kofferraumklappe und fährt den Wagen ohne ein Wort des Dankes auf den Stellplatz vor ihrem Haus. In meinem Magen hat sich die Wut wie eine Faust zusammengeballt. Doch ich zwinge mich zu lächeln und stapfe zu der quietschenden Schaukel. Das Geräusch verschafft mir Genugtuung. Ich habe sie mit Absicht noch nicht geölt, um mich zumindest mit einer Sache an dem unmöglichen Verhalten der Hexe zu rächen.

Ich strecke die Hand nach meiner Tochter aus. »Komm, wir schließen das Café für heute und fahren in den Baumarkt.«

 

Im Baumarkt ist so viel los wie an einem sonnigen Tag im Phantasialand. Menschenschlangen drängen sich bis zur Kasse und die Regale wirken stellenweise wie leergefegt. Auch das Regal, vor dem ein Schild mit der Aufschrift ›Sandsäcke‹ steht. Ich weiß nicht, ob ich belustigt oder beunruhigt darüber sein soll. Das bisschen Sommerregen löst so eine große Panik aus, dass Sandsäcke ausverkauft sind? Ist ja wie mit dem Klopapier während der Pandemie.

»Mama, guck mal.« Marie deutet auf eine große Hängematte aus Naturfasern, deren Liegefläche mit Hanfseilen an einem Holzbrett befestigt sind. Sie wäre ideal, um die nicht mehr von Campern besetzte Fläche zwischen den zwei Bäumen im Garten zu füllen.

»Die sieht toll aus, Schatz, aber sie passt bestimmt nicht ins Auto.«

»Doch!« Marie ist bereits hinter die cremefarbene Liegemöglichkeit geklettert und deutet stolz grinsend auf einen Karton, der sehr wohl ins Auto passen würde. Der Preis ist aufgeklebt und lässt mich schlucken.

»Puh, die ist aber teuer.«

»Aber wir könnten abends zusammen darin liegen und du liest mir Geschichten vor.«

Zustimmend nicke ich. Das würde sich fast anfühlen wie Urlaub, den wir uns in den nächsten Jahren nicht werden leisten können. Mit der Entscheidung, mich selbstständig zu machen, habe ich einige Freiheiten aufgegeben. Ich bin an diesen Ort gebunden und deshalb sollte ich ihn mir so schön wie möglich machen. Wenn das Wetter wieder besser ist und wir die nächsten sechs Wochen Ferien haben, wird im Café mehr los sein. Das Ahrtal ist eine Touristenregion, die nicht in dieses allbekannte Sommerloch fällt. Zumindest nicht meine Branche. Die nächsten Tage habe ich noch Zeit die Hängematte aufzubauen, danach werde ich im Arbeitsstress versinken.

»Du hast recht. Komm, lass uns einen Wagen holen und sie mitnehmen.«

»Juhu!« Marie nickt eifrig und rennt vor. Sie kennt sich hier bald besser aus als ich. Schnell ist ein Wagen gefunden und ich wuchte den Karton mit unserer Sommerauszeit rein.

Draußen regnet es nach wie vor. Ich werde die Hängematte daheim gleich auspacken müssen, denn der Karton weicht auf dem Weg zum Auto durch und fällt beim Einladen auseinander. Mit seinen Löchern und herunterhängenden Pappstücken erinnert er mich irgendwie an mein zerbrochenes Leben. Aus Versehen während des Studiums schwanger geworden von einem Mann, von dem ich lediglich den Vornamen kenne. Ein Café pünktlich zum Beginn der Pandemie eröffnet und pleitegegangen. Und dann ein Verhältnis mit meinem Geschäftspartner gehabt, der nie was Ernstes wollte und mich jetzt nicht nur im Bett, sondern auch mit dem Geschäft sitzen lässt.

Ich werde diese Hängematte aus ihrer matschigen Verpackung befreien, sie aufbauen und ihr zu einem neuen Zuhause verhelfen. Genau so, wie ich die Probleme mit meinem Eventcafé inmitten einer Pandemie auch ohne ein digitales Genie lösen werde.

 Kapitel 2

Jonas

 

Am liebsten würde ich kontrollieren, ob sich jemand ins System gehackt hat und mir die Überwachungskamera deshalb ein Standbild anzeigt. Vermutlich habe ich zu viele Superheldenfilme gesehen und meine Fantasie geht mit mir durch. Aber stundenlang den unveränderten Monitor der Parfümabteilung des Kaufhauses anstarren, lässt eindeutig zu viel Zeit zum Fantasieren.

Noch eine halbe Stunde, dann habe ich Mittagspause. Da ich neben der Ladenüberwachung zusätzlich den Frühschließdienst hatte, knurrt mein Magen gewaltig. Auch meine Augenlider werden schwer, weshalb ich vorsorglich nach der Tasse vor dem Monitor greife.

Fast verschlucke ich mich an meinem Kaffee, als doch noch eine Person ins Bild tritt. Eine junge Frau, blonder Dutt, mit einem großen, roten Rucksack, der bis zum Bersten vollgestopft ist. Die Schultergurte liegen jedoch locker auf. Zu locker, für die Füllmenge. Seufzend stelle ich meine Kaffeetasse weg.

»Daniel? Ich bin unten im EG. Verdächtige Person in der Parfümabteilung.« Während ich zum Aufzug haste, spreche ich in mein Funkgerät, damit mein Kollege für mich übernimmt.

»Alles klar, ich halte die Stellung«, kommt prompt Daniels Antwort, der im dritten Stock des Kaufhauses positioniert ist, um die Menschen an das Tragen ihrer Masken zu erinnern. Jetzt wird er in unser Büro wechseln, um mich zu vertreten.

Der Aufzug wartet überraschenderweise in meiner Etage auf mich und ich kann die Fahrt ohne Zwischenstopps mit meiner Schlüsselkarte aktivieren.

Wie erwartet ist die verdächtigte Person noch bei den Parfüms. Die Frau ist gut, schnuppert an einigen Flaschen, nimmt ein paar Proben und sieht sich dabei unauffällig um. Ich würde sie für eine normale Kundin halten, wenn da nicht der Rucksack wäre.

Damit sie sich nicht beobachtet fühlt, erinnere ich ein paar Personen daran, ihre Maske über, statt unter der Nase zu tragen. Wirklich viel los ist in den Gängen nicht, weshalb ich mich nach und nach von der Parfümecke entferne. Trotz der FFP2-Maske strömt das intensive Duftchaos unerbittlich auf mich ein.

»Rechte Jackentasche«, kommt es über das Headset in mein Ohr. Ich drehe mich auf dem Absatz um und eile zurück zur Geruchsexplosion.

»Sie verschwindet in der Umkleide.« Daniel weiß genau wie ich, wie sich Ladendiebe verhalten. Die Blonde wird den Diebstahlschutz in der Umkleide entfernen und das Parfüm tief in ihrem ausgestopften Rucksack verstauen.

Geduldig warte ich vor den Kabinen, während mein Blick immer wieder zur Uhr wandert. Jetzt wäre meine halbe Stunde Mittagspause. Wenn sich die Sache nicht als Irrtum herausstellt, wird sich das wohl erledigt haben. Wehmütig denke ich an die Dönerbude, an der ich mir etwas zu Essen holen wollte.

Die Frühschicht passte perfekt, da ich heute Abend ein Date mit einer Frau habe, die ich über eine neue Datingapp kennengelernt habe. Bei dieser App müssen die Frauen den ersten Schritt machen, was ich großartig finde, weil ich mir weniger aufdringlich vorkomme. Die meisten Frauen haben früher nicht einmal auf meine Anfragen geantwortet. Ich kam mir immer vor wie beim Memory spielen, als würde ich versuchen herauszufinden, welche Karte Interesse an mir haben könnte. Vielleicht hätten wir in der Schule besser Datinganfragen statt Bewerbungen schreiben lernen sollen. Eine gewisse Ähnlichkeit hat beides auf jeden Fall. Neun Jahre Schule sind aber scheinbar zu kurz, um das im Lehrplan unterzubekommen.

Die Tür der Umkleide öffnet sich und nun ist der Reißverschluss der Jackentasche geschlossen. Eben noch stand er offen und die Frau hatte ihre Hand darin versenkt.

»Guten Tag, Jonas Färber, Kaufhausdetektiv dieses Ladens. Ich bitte Sie, mir ins Büro zu folgen.« Mit diesen Worten halte ich meinen Dienstausweis hoch, den ich in der Hosentasche versteckt hatte.

Die Frau reißt erschrocken die Augen auf, wirkt aber nicht so, als würde sie die Flucht ergreifen. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und hebt trotzig das Kinn. »Sie dürfen mich nicht gegen meinen Willen festhalten. Das ist Freiheitsberaubung!«

Innerlich seufze ich. »Und Sie dürfen nicht einfach Dinge einstecken, die Sie noch nicht bezahlt haben.«

»Sowas würde ich niemals tun.« Ihr linkes Auge zuckt.

»Da sagen die Videos unserer Überwachungskameras allerdings etwas anderes. Wenn Sie sich weigern, mit mir zu kommen, weil ich Sie damit Ihrer Freiheit beraube, können wir auch gern die Polizei rufen und den Sachverhalt mit denen klären.«

Ihre Augen werden schmal, ebenso ihre Lippen, da sie den Mund unwillig verzieht. Statt der Richtung meines ausgestreckten Arms zu folgen, zieht sie den Rucksack ab und hält ihn mir hin. »Schauen Sie, da sind nur meine Sachen drin.«

»Ich würde das gerne mit Ihnen im Büro in Anwesenheit meines Kollegen klären.« Nicht, dass Sie hinterher behauptet, ich hätte ihr etwas untergejubelt.

»Und woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht verschleppen und mir etwas antun?«

Noch ein innerlicher Seufzer. »Das Angebot mit der Polizei steht, wenn Sie sich dann sicherer fühlen.«

Unschlüssig lehnt sie sich von einem Fuß auf den anderen, bis mir plötzlich der Rucksack entgegengeflogen kommt und die Frau losrennt. Ich hinterher. Den Rucksack habe ich fallen gelassen, um schneller zu sein. Zum Glück ist der Gang vor uns leer, weshalb ich ihr folgen kann, ohne ständig vom Gedränge aufgehalten zu werden. Aber die Frau ist verdammt schnell.

»Zielperson flieht. Sicherstellung Diebesgut an Umkleide Nord«, japse ich in das Funkgerät, damit sich Daniel um den Rucksack kümmert. Der liegt zu nah an der Umkleide, in der es keine Überwachungskamera gibt.

Die Frau driftet nach links ab, zu dem Ausgang, der in eine Seitengasse führt, statt in die Fußgängerzone. Ich halte mich am Treppengeländer fest, um die Kurve besser zu bekommen, und lege einen Zahn zu. Wenigstens wird der Abstand nicht größer.

Vor der sich automatisch öffnenden Tür wird die Blonde ausgebremst, da das Modell deutlich zu langsam für Ladendiebinnen ist. Meine Chance, aufzuholen. Ich kriege die leichte Sommerjacke mit den geschlossenen Reißverschlusstaschen zu packen und hindere die Frau damit an der Flucht. Ungern möchte ich sie direkt anfassen, aber wenn sie mir keine andere Wahl lässt, werde ich sie festhalten müssen. Zum Glück hat die Dame ein Einsehen, bleibt schwer atmend stehen und bricht dann vor mir in Tränen aus.

»Dann holen Sie halt die Polizei«, schnieft sie, ehe sie diesmal anstandslos mit mir kommt. Als wir die Aufzüge erreichen, traue ich mich, ihre Jacke loszulassen. Von der Verfolgungsjagd hat sie einen Riss abbekommen.

 

»Was hast du dir dabei gedacht, Jonas? Niemals stellen wir Leute in einer unüberwachten Umgebung! Du bist doch nicht neu in diesem Gewerbe. Solche Fehler dürfen nicht passieren.« Meine Chefin kräuselt ihre Lippen. Die Hände hat sie auf der Tischplatte aufgestützt, auf der der Inhalt des Rucksackes liegt. Kein Parfüm. Scheinbar hatte die Blonde einen Komplizen, der das geklaute Fläschchen entnommen hat, während ich die Frau verfolgt habe. Nun haben wir eine Anzeige am Hals und ich muss die teure Markenjacke bezahlen. Gut, das übernimmt die Sicherheitsfirma, bei der ich angestellt bin, aber vermutlich kassiere ich für das Nichtbefolgen der Dienstanweisung eine Abmahnung.

Mein Magen knurrt lauthals. Hätten wir nicht Hochsommer, sondern Winter, würde es draußen bereits dämmern. Eindeutig zu spät für eine Mittagspause. In zwei Stunden bin ich mit meinem Date zum Essen verabredet, ehe wir ins Kino gehen. Bis dahin hält mein Magen es noch aus.

»Wie dem auch sei.« Meine Chefin richtet sich auf und wirkt gleich noch furchteinflößender, obwohl sie nach wie vor winzig ist. Die Frau hat eine solch einschüchternde Ausstrahlung, weshalb ich froh bin, dass sie keine entsprechende Körpergröße dazu hat. »Luis hat sich krankgemeldet. Du müsstest heute den Schließdienst übernehmen. Wenn du eh zumachen musst, lohnt sich die Heimfahrt für dich nicht, weshalb du seine Schicht noch mit übernehmen kannst.«

Ich schlucke. Meine Chefin weiß genau, dass ich mir eine Wohnung in Hamburg nicht leisten kann und deshalb über eine Stunde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln pendle. Die Parkplätze im Kaufhaus sind auch für Mitarbeiter extrem teuer, weshalb ein Auto keinen Sinn macht. Dass ich heute gar nicht heimfahre, sondern direkt nach der Arbeit zu einem Date wollte, weiß sie allerdings nicht.

Welche Wahl haben wir noch, wenn Luis krank ist? Meine anderen beiden Kollegen sind heute Morgen in den Urlaub gefahren, den sie sich redlich verdient haben. Der eine hat eine Tochter in der Pfalz, deren Ferien heute beginnen. Er hat das Mädchen so lange nicht mehr gesehen, dass ich froh bin, ihn die nächsten drei Wochen mit ihr campen zu wissen.

Vielleicht könnte ja Markus … ach nein, verdammt, der hat uns ja zusammen mit Alex letzte Woche verlassen. So ein Mist! Und Daniel kann ich die Doppelschicht auch nicht antun. Er ist nach seinem Bandscheibenvorfall zu früh zurück auf die Arbeit gekommen, weshalb er die letzten Stunden immer mit Wärmflasche im Büro sitzt.

»Klar, kann ich machen«, antworte ich schließlich und hole das Handy raus, um mein Date abzusagen. Das vierte Mal, dass ich die Frau versetze und damit vermutlich das letzte Mal. Noch eine Chance wird sie mir nicht geben. Ich unterdrücke ein ergebenes Seufzen.

»Dann zurück an die Kamera. Und Jonas? Sowas wie vorhin will ich kein zweites Mal erleben.«

Ergeben nicke ich und schlurfe mit knurrendem Magen zurück ins Büro. Ich hätte mir heute Morgen doch noch ein Brötchen am Hauptbahnhof holen sollen.

 Kapitel 3

Sara

 

Marie ist endlich eingeschlafen. So sehr ich meine Tochter auch liebe: Ich genieße die Zeit, wenn sie schläft, ich im Café alles erledigt habe und endlich etwas für mich tun kann. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass ich nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin. Neben Arbeiten und Muttersein habe ich selten Zeit für mich. Abends bin ich zu fertig, um mich mit mehr als einer Serie oder einer leichten Bettlektüre zu beschäftigen. Die Handlung des Buches, das ich mir gerade von dem Stapel neben meinem Bett schnappe, ist bereits im Klappentext geschildert. Keine Überraschungen, ich weiß genau, dass die beiden am Ende zusammenkommen. Aber genau das brauche ich jetzt: Ein Buch zur Unterhaltung, das Eintauchen in die Leben anderer, die ebensolche Sorgen und Probleme haben, wie ich. Nur eben mit Happy End-Garantie.

Während ich nach dem letzten Eselsohr suche, das ich mangels Lesezeichens als Markierung im Buch hinterlassen habe, klingelt mein Handy. Ein Blick aufs Display zeigt mir, dass es meine Schwester Maya ist. Doch ich bin gerade wirklich zu müde zum Plaudern, also lasse ich es läuten und schlage die Stelle mit dem Eselsohr auf. Falls es etwas Wichtiges ist, wird sie es noch mal versuchen.

Ich schaffe keine drei Absätze, da klingelt das Handy schon wieder. Genervt gehe ich dran und lasse mein Buch achtlos auf das Sofa sinken.

»Was gibt’s?« Ich kann ein Gähnen nicht unterdrücken.

»Ich mache mir Sorgen.« Das ist gar nicht Maya, sondern meine Angestellte Laura. »Bei mir steht das Wasser schon bis zur Haustür.«

Ruckartig setze ich mich auf. Jetzt bin ich wieder hellwach. »Was? So hoch schon?«

»Und das wird es nicht gewesen sein. Der Regen will einfach nicht aufhören.« Trotz der offensichtlichen Sorge in ihrer Stimme bleibt Laura ruhig, was ich an ihr bewundere.

»Brauchst du Hilfe oder einen Ort, an dem du bleiben kannst?«

Laura brummt. »Ich glaube nicht, dass ich hier noch wegkomme. Die Brücke ist bereits überschwemmt und wir sitzen in Liers fest. Das wird schon. Wollte dir nur Bescheid geben. Vielleicht musst du den Keller leerräumen.«

Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass das Wasser bereits an Lauras Haustür kratzt. So nah wohnt sie doch gar nicht an der Ahr.

»Die Hexe von drüben hat vorhin schon Sandsäcke vor ihren Kellerfenstern gestapelt. Meinst du wirklich, dass das Hochwasser so weit kommt?«

Laura scheint einen Moment nachzudenken, ehe sie antwortet. »Ich weiß nicht. Ruf vielleicht besser mal bei der Feuerwehr an. Ach Shit, Justus ist schon wieder wach geworden. Ich muss hoch.«

»Kein Problem. Bring den Kleinen erst mal wieder zum Schlafen. Danke für die Warnung, ich sehe mal, was ich herausfinden kann.«

Ich beende das Gespräch, da Laura bereits die Treppen zu Justus’ Zimmer hochgestürmt zu sein scheint. Am anderen Ende der Leitung höre ich nur leiser werdende Schritte. Das war es mit meinem gemütlichen Leseabend.

Erst mal versuche ich etwas über den Wetterdienst rauszufinden, dann über die Webseite der Stadt. Schließlich rufe ich die Feuerwehr an, allerdings nicht über den Notruf, sondern über die normale Hotline. Es ist besetzt, scheinbar fragen sich auch andere, wie hoch das Wasser steigen wird. Ich werde es später erneut versuchen.

Bis zur Ahr sind es ein paar Hundert Meter. Ich kann mit einer schlafenden Tochter nicht einfach rausgehen und gucken, wie weit das Wasser schon ist. Vorhin war es bereits an der Grenze des Flusslaufes, hatte aber noch nicht einmal die Keller der angrenzenden Häuser erreicht.

Aus Maries Zimmer dringt kein Laut, weshalb ich nach unten ins Café gehe. Früher hat meine Oma in diesem Haus gewohnt. Nachdem sie im vergangenen Sommer an einer COVID-Erkrankung gestorben ist, habe ich das Haus geerbt und mithilfe meiner Schwester umgebaut. Die untere Etage ist nun mein Café, in dem immer wieder Events wie Lesungen, aber auch Veranstaltungen für Kinder stattfinden. Während des Lockdowns haben wir die Lesungen live gestreamt, sodass wir zumindest online ein wenig Geld mit dem Ticketverkauf verdienen konnten. Die Leute haben vorher ein Paket mit Café oder Wein und selbstgebackenen Plätzchen zugeschickt bekommen, um wenigstens ein bisschen das Feeling zu haben, in einem Café zu sitzen. Das Konzept kam gut an und ich hatte Gäste aus ganz Deutschland, von denen mir einige nach dem Lockdown einen Besuch abgestattet haben.

Während der obere Bereich des Hauses noch immer nicht fertig renoviert ist, haben wir hier unten die Wände in hellen Farben tapeziert, die Decke weiß gestrichen und einen eichfarbenen Laminatboden verlegt. Die Tische und Stühle sind im Landhausstil gehalten und mit selbstgenähten Tischtüchern in Grüntönen gedeckt. Überall hängen und stehen Pflanzen, die Laura fleißig gießt, da ich die Pflege immer vernachlässige.

Manchmal vermisse ich mein Café in Leipzig. Es hatte die deutlich bessere Lage. Da meine Oma nicht direkt in der Fußgängerzone gewohnt hat, habe ich Mühe, Touristen abzufangen. Dank Mayas Onlinemarketing kommen aber inzwischen immer mehr Menschen gezielt zu mir und einige Ortsansässige haben sich bereits als Stammgäste etabliert. Wirklich laufen tut mein Unternehmen in der aktuellen Zeit allerdings nicht. Wenn ich nicht dank der Erbschaft mietfrei wohnen könnte, würden die Einnahmen vorne und hinten nicht reichen.

Ich gehe an einer Wand vorbei, an der einige Fotos hängen, wie die der Eröffnungsfeier oder der ausgebuchten Lesung einer Bestsellerautorin, deren Romane ich stets am Erscheinungstag verschlinge. Nicht nur für mich war diese Begegnung ein absolutes Highlight. In die Gesichter der begeisterten Fans zu blicken, die auf dem Foto zu ihrem Vorbild aufsehen, lässt mein Herz schneller schlagen. Genau für solche Momente mache ich all das hier. Um einen Ort für Begegnungen zu schaffen.

Das Licht im Café ist gedimmt, damit niemand auf die Idee kommt, dass wir um diese Zeit geöffnet haben könnten. Deshalb fällt mir das blau blinkende Licht sofort auf. Ich eile zum Fenster und sehe ein Feuerwehrauto, das die Straße hochfährt. Es ist zu langsam unterwegs, um zu einem Einsatz zu eilen. Durch das Rauschen des Regens hinweg höre ich, dass sie etwas durchsagen. Das Wasser ist jedoch so laut, dass ich durch die geschlossenen Fenster nichts verstehe.

Meine Beine sind weich, als ich zur Tür eile, um sie zu öffnen. Hoffentlich evakuieren sie nicht das Viertel. So hoch kann das Wasser in der kurzen Zeit doch nicht gestiegen sein, oder?

Verdammt, wäre ich doch noch nach Bonn gefahren, um Sandsäcke zu holen. Im Keller lagern alle Speisen, Getränke und auch das Equipment für die Events. Das alles bekomme ich mit den aktuellen Einnahmen nicht ersetzt, wenn der Keller volläuft. Vielleicht sollte ich die Sachen lieber hochholen.

Ehe ich mich in meinem Gedankenstrudel verlieren kann, konzentriere ich mich darauf, der Ansage der Feuerwehr zu lauschen, die sich ständig wiederholt:

»Wir rechnen mit Überschwemmungen. Bitte halten Sie sich nicht in Kellern auf und parken Ihr Fahrzeug um, wenn sie im Gefahrengebiet wohnen.« Immer und immer wieder hallt die Ansage durch meinen Kopf. Wenn ich den Keller jetzt leerräume, handle ich gegen die Anweisung der Feuerwehr. Andererseits werde ich das Wasser steigen sehen, sollte es wirklich bis hierher kommen. Was ist mit meinem Auto? Wohne ich überhaupt im Gefahrengebiet? Ich kann es nicht einfach umparken und Marie allein im Haus lassen. Sie sucht mich bestimmt, falls sie wachwerden sollte. Aber meine Tochter zu wecken ist auch keine Option. Ich bekomme sie danach nie wieder zum Schlafen und dann kann ich das mit dem Leerräumen des Kellers vergessen. So, wie ich Marie kenne, wird sie mir ständig hinterherlaufen. Obwohl ich nicht wirklich glaube, dass etwas passiert, ist mir das doch zu gefährlich.

Ich blicke der Feuerwehr hinterher, die die nichtssagende Ansage in Dauerschleife wiedergibt. Außer dem blau blinkenden Licht des Autos befinden sich keine Fahrzeuge auf der Straße. Die gegenüberliegende Seite ist vollgeparkt und in den Einfahrten stehen dieselben Autos wie immer. Niemand rennt hektisch nach draußen, um das Auto umzuparken. Und die Hexe ist die Einzige, vor deren Kellerfenster Sandsäcke liegen. Vermutlich mache ich mir zu viele Gedanken.

Der Regen peitscht mir ins Gesicht, als eine Windböe aufkommt. Schnell schließe ich die Tür. Ich werde später nachsehen, ob sich etwas an der Situation verändert hat. Solange die Nachbarn nicht in Panik verfallen, muss ich das auch nicht.

Trotzdem gehe ich in den Keller, um zumindest die Mikros und das Mischpult mit nach oben zu nehmen. Alles, was irgendwie wertvoll ist, stelle ich im Café ab. Da ich morgen früh um acht öffne, beschränke ich mich allerdings auf das Nötigste, damit ich nicht viel früher aufstehen muss als sonst, um alles wieder runterzutragen. Die neuen Tassen, die ich noch immer nicht getauscht habe, lasse ich stehen. Maya hat sie mir aus Norwegen mitgebracht, weil sie das Design so toll fand. Auf jede Tasse ist ein anderer Berggipfel gemalt. Leider habe ich noch immer keine passenden Teller, weshalb ich sie erst mal im Keller lagere. Im Winter finde ich bestimmt Zeit, neue zu besorgen.

Nachdem ich den ganzen Technikkram nach oben geschleppt habe, werfe ich einen weiteren Blick nach draußen. Inzwischen ist es dunkel. Eigentlich sollte ich jetzt schlafen gehen, wenn ich morgen keine Augenringe bis zu den Kniekehlen haben will. Doch ich bin zu aufgewühlt, um mich ins Bett zu legen. Stattdessen greife ich nach meinem Handy und rufe Maya zurück, die jedoch nicht rangeht. Kurz überlege ich, ob ich Michael schreiben soll. Nur ein ›Hallo, wie geht’s?‹, nichts Großartiges. Vielleicht ist er noch wach. Nur, weil wir unser, was auch immer das war, beendet haben, und die Geschäftsbeziehung gleich mit, heißt das nicht, dass wir keine Freunde mehr sein können. Ehe ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann, wähle ich lieber noch mal Mayas Nummer, weil ich diese einfache Frage morgen bestimmt bereuen würde.

Diesmal hebt sie nach dem zweiten Klingeln ab. »Ist alles in Ordnung bei euch? Habt ihr schon Hochwasser?« Maya klingt nicht außerordentlich besorgt, aber auch nicht wirklich ruhig.

Eigentlich wollte ich meiner Schwester von meinen Sorgen erzählen, sie um Rat bitten, doch dann wird mir bewusst, dass sie die Lage noch viel weniger einschätzen können wird. Vermutlich schaukeln wir uns nurgegenseitig hoch, wenn ich ihr von der schwammigen Warnung der Feuerwehr erzähle und meiner halbherzigen Aktion, den Keller zu sichern.

»Alles gut. Laura in Liers steht schon unter Wasser. Aber sie wohnt auch näher an der Ahr als ich.«

»Das klingt nicht gerade beruhigend. Hast du dieses Video gesehen?«

»Welches?«

Maya schickt mir einen Link, den ich öffne, während ich mit ihr im Gespräch bleibe. Weinfässer treiben durch die historischen Gassen einer Stadt, die ich bestimmt schon einmal gesehen habe, aber nicht zuordnen kann. Neben den Weinfässern setzt sich auch ein Auto in Bewegung, das wie ein Amphibienfahrzeug durch die Gasse getragen wird. Der Ersteller des Videos flucht lauthals, eine Frau keucht entsetzt.

»Hier ist das Wasser noch nicht so hoch.« Prüfend werfe ich einen weiteren Blick nach draußen. Nein, hier ist noch kein Wasser auf der Straße zu sehen. Zumindest nicht mehr als das, was der Regen gerade hinterlässt.

»Ich mache mir Sorgen um euch.« Im Hintergrund höre ich ein zustimmendes Murmeln von Troy.

»Das brauchst du nicht. Sollte das Wasser weiter steigen, dann werden uns die Einsatzkräfte vor Ort rechtzeitig evakuieren. Noch sind alle entspannt, es wird schon nicht so schlimm werden.« Bei diesen Worten klinge ich zuversichtlicher, als ich mich fühle.

»Halte mich trotzdem auf dem Laufenden.«

»Eigentlich wollte ich gleich schlafen gehen. Immerhin muss ich morgen arbeiten«, murre ich.

May seufzt. »Stell dir besser für jede Stunde einen Wecker, um den aktuellen Stand der Dinge zu kontrollieren.«

»Meinst du wirklich, dass das nötig ist?« Mein Atem ertönt überdeutlich in meinen Ohren, begleitet von einem kontinuierlichen Fiepen.

»Ich würde mich besser fühlen, wenn ich weiß, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

In dem Moment tutet mir die App ins Ohr, die mir mitteilt, dass meine Tochter aufgewacht ist und in ihrem Zimmer weint. »Du, ich muss nach Marie sehen.«

Ich bin schon dabei, aufzulegen, als mich Mayas letzte Worte erreichen. »Denk an den Wecker, bevor du dich schlafen legst!«

Ich eile die Stufen nach oben und nehme das Handy noch mal ans Ohr, statt aufzulegen. »Ist gut, mache ich, wenn ich in meinem Zimmer bin.«

»Danke. Und Sara?«

»Hm?«

»Ich hab dich lieb.«

Seufzend schüttle ich den Kopf. »Ich dich auch, du besorgte kleine Schwester.«

Bereits im Flur höre ich Maries Weinen. Ich öffne leise die Tür und betrete ihr Zimmer.

Marie hat ab und an Albträume und wacht deshalb auf. Oft hilft es ihr, wenn ich ihr dann eine Geschichte vorlese. So auch heute. Mich entspannt das Buch ebenfalls und deshalb merke ich kaum, wie die Zeit vergeht, bis meine Tochter wieder eingeschlafen ist. Mir selbst werden die Augenlider schwer. Ich dimme das Licht und verlasse auf leisen Sohlen Maries Zimmer, die jetzt bis morgen früh durchschlafen sollte.

Ein herzhafter Gähner entweicht meiner Kehle und ich schiele zum Badezimmer. Jetzt noch Zähneputzen und dann ins Bett? Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich vergessen habe, Maya den aktuellen Wasserstand mitzuteilen. Damit meine Schwester beruhigt schlafen kann, torkle ich schlaftrunken nach unten, um nach dem Rechten zu sehen.

Von draußen dringt noch immer das Rauschen des Regens zu mir, der nichts an Kraft verloren hat. Ich öffne die Haustür und beginne zu frösteln. Auf dem Asphalt steht das Wasser, weil die Gullis nicht mehr hinterherkommen. Die Straße ist gähnend leer. Selbst ein paar Autos fehlen, die eben noch hier standen. Vermutlich wurden sie inzwischen umgeparkt.

Mein Blick wandert zu meinem Kombi, der neben dem Haus parkt. Ich hoffe, dass mein Auto das bisschen Wasser abkönnen wird. Bei dem Gedanken Marie allein im Haus zu lassen, ziehen sich meine Eingeweide zusammen.

Mein Herz pocht wild in meiner Brust und zieht sich zeitgleich schmerzlich zusammen. Du musst ruhig bleiben, Sara. Wenn die Situation wirklich gefährlich wäre, würde man euch warnen.

Ich checke noch mal alle gängigen Onlineportale, auf denen nach wie vor keine Rede von einer Evakuierung ist.

Meine Müdigkeit ist dank des Anblicks der überschwemmten Straßen jedoch wie weggefegt. In den nächsten Stunden soll es weiter regnen. Wenn die Kanalisation bereits jetzt kein Wasser mehr fassen kann, wird der Keller volllaufen. Mir wird schlecht. Ich sollte doch noch ein paar Dinge nach oben holen.

Kurz schicke ich meiner Schwester ein Statusupdate und beginne die Tassen aus Norwegen hochzutragen. Dann schnappe ich mir den Kaffee und alles, was nicht wasserfest verpackt ist. Die Hängematte habe ich noch nicht aufgehängt, weshalb auch sie ihren Weg vom Keller ins Erdgeschoss findet.

Ein beißender Gestank macht sich breit. Es riecht nach Öl und Fäkalien. Mein Kiefer spannt sich an, als sich ein schaler Geschmack auf meiner Zunge ausbreitet. Ich muss würgen und stürme nach oben. Was ist das bloß?

Mein Blick fällt auf eine der FFP2-Masken, die ich tagsüber auf der Arbeit trage. Vielleicht hilft die auch gegen den Gestank. Mit klopfendem Herzen gehe ich wieder nach unten.

Ein Rauschen dringt an meine Ohren. Ich öffne den Kellerraum, hinter dem sich Omas restlichen Sachen befinden, die ich in einer freien Minute sortieren wollte. Neben Büchern, Fotoalben, alten Möbeln und einigen gesammelten Kristallen, befinden sich auch eine Menge nützlicher Alltagsgegenstände aus DDR-Zeiten in dem Raum. Am liebsten würde ich nichts wegschmeißen, obwohl mir klar ist, dass ich die Sachen vermutlich nie mehr brauchen werde.

Das Rauschen wird lauter, nachdem ich die Tür geöffnet habe. Feuchtigkeit breitet sich unter mir aus. Meine weißen Sneakers saugen sich voll. Ich betätige den Lichtschalter und ziehe scharf die Luft ein. Das Kellerfenster zur Straßenseite hin ist geborsten und Wasser dringt unaufhörlich in den Kellerraum.

Mit einem Ruck knalle ich die Tür hinter mir zu. Meine Beine fangen an zu zittern. Wie hoch muss das Wasser auf der Straße sein, damit es in den Keller eindringen kann?

In meinem Kopf rasen die Gedanken. Ich sollte die Fotoalben raussuchen. Die Wechseltischdecken nach oben tragen. Und was ist mit Maries alten Kinderkleidern? Die wollte ich online verkaufen, sobald ich Zeit finde oder im Café einen Muttiflohmarkt veranstalte. Doch wenn das Wasser bereits in den Keller läuft, sollte ich mich dann überhaupt noch hier aufhalten?

Eine Faust ballt sich in meinem Magen zusammen. Unweigerlich denke ich an die Warnung der Feuerwehr. Die einzige Warnung, die unmissverständlich war: Halten Sie sich nicht in Kellerräumen auf.

Plötzlich rast mein Herz und meine Hände fangen unkontrolliert an zu zittern, während die Beine unter mir nachgeben. Ich schlage mit den Knien in der Wasserpfütze am Boden auf. Beruhig dich, Sara. Es ist nur ein Keller. Hier lagern Dinge, die du nicht täglich brauchst. Alles ist ersetzbar. Die Erinnerungen an Oma sind zum großen Teil auf dem Dachboden. Hoffentlich …

Tief atme ich durch. Dann gibt es plötzlich einen Schlag und es ist dunkel. Ich verharre paralysiert am Boden, nicht in der Lage nach dem Handy zu greifen, um die Taschenlampe anzuschalten. Atmen, Sara.

Der Strom ist weg. Das Wasser läuft in meinen Keller. Und ich bin noch hier unten, wo ich laut Feuerwehr nicht sein dürfte. Wie dumm kann man eigentlich sein? Meine Tochter braucht mich mehr als all die gesammelten Gegenstände in diesen Räumen.

Ich erwache aus meiner Starre, schaffe es irgendwie auf die Beine und taste mich blind zur Treppe vor, nehme Stufe für Stufe und stoße erleichtert die Tür zum Erdgeschoss auf. Auch hier ist es dunkel. Mit zitternden Händen taste ich nach meinem Handy, sehe, dass ich mehrere Anrufe in Abwesenheit habe und schaffe es, die Taschenlampe anzuschalten.

Unter dem Ritz der Haustür dringt Wasser ein. Ich streife die Maske vom Gesicht und mir wird schlecht bei dem Gestank, der sofort seinen Weg in meine Lunge findet. Es riecht, als würde ich in einer Kanalisation leben, in der jemand einen Öltank ausgekippt hätte. Trotzdem atme ich tief durch, um mein wild pochendes Herz zu beruhigen. Erfolglos. Mit zitternden Händen streife ich die Gardine des Fensters zur Seite. Mir stockt der Atem. Was ich da draußen schemenhaft erkennen kann, übertrifft meine kühnsten Vorstellungen, erinnert mich an einen Katastrophenfilm und lässt weitere Wellen der Panik in mir aufsteigen.

Ich denke an Laura. Meine Hände zittern und ein Pulsieren macht sich in meinem Kopf breit. Wie hoch muss das Wasser bei ihr in Liers bereits stehen? Ich hätte nochmal nachfragen müssen, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Aber so wie es hier aussieht, wird nichts in Ordnung sein. Ich kann nur hoffen, dass sie es im Gegensatz zu mir rechtzeitig raus aus dem Ort geschafft hat.

Ich tippe auf die Rückruftaste des Handys und halte es ans Ohr. Nach einmaligem Tuten nimmt meine Schwester auf der anderen Seite ab. Zitternd bringe ich noch ein paar Worte raus, ehe meine Stimme versagt: »Das Wasser ist da.«

von Lara | Flutgeschichten | Juli 2021

 

Was wirklich zählt

 

Mein Name ist Lara und ich wohne in Schuld. Mein Freund und ich haben im Oktober 2020 ein kleines Haus gekauft. Sechs Monate haben wir es uns in Eigenleistung gemütlich gemacht. Es war gerade alles fertig – wir haben keine zwei Monate darin gewohnt – als die Flut kam.

 

Es war ein Morgen wie immer. Mein Freund und ich fahren beide zur Arbeit. Es regnet den ganzen Tag. Gegen 16:50 Uhr komme ich nach Hause. Mein Freund und mein Schwiegervater schließen im strömenden Regen die Pumpen an, um das Grundwasser aus dem Keller zu halten. Das Wasser steigt beständig und ich bekomme Angst, doch mein Freund beruhigt mich, das Wasser würde nicht bis zum Haus kommen. Wir gehen rein und ich will anfangen zu kochen, ziehe mich noch schnell um, weil ich klitschnass geworden bin. Da kommt die Feuerwehr und bittet uns den Strom im Keller abzuschalten, damit nichts passieren kann. Statt zu kochen, fahren wir die Autos auf den Parkplatz gegenüber, der etwas höher liegt. Langsam bricht überall Panik aus … das Wasser steigt und steigt. Mittlerweile stehen wir knöcheltief drin, auf der Straße, die etwa 900 Meter von der Ahr entfernt ist.

 

Eine große Welle lässt unsere Kellertür brechen und da weiß ich: Es ist vorbei. Wir holen die Autos und fahren bis zu meinen Schwiegereltern, die im gleichen Dorf wohnen. Die Fahrt ist nicht einfach, denn das Wasser steigt weiter. Gegen 17:20 Uhr sind wir bei meinen Schwiegereltern. Auch dort dringt das Wasser langsam ins Haus.

Mein Freund will zusammen mit meinem Schwiegervater noch schnell die Autos wegbringen und dann wiederkommen. Er brüllt mich an, dass ich reingehen soll. Ich will ihm helfen, doch er sagt, ich soll mich in Sicherheit bringen. Er gibt mir seine Sachen. Ich habe Tränen in den Augen. Es regnet und regnet und hört nicht auf.

 

Die Minuten vergehen, doch es kommt keiner der beiden wieder. Ich habe Angst um sie. Meinen Schwiegervater sehen wir nach kurzer Zeit bei seiner Mutter zwei Häuser weiter. Aber mein Freund bleibt verschollen. Auch telefonisch erreichen wir ihn nicht, weil das Netz zusammengebrochen ist. Das Wasser steigt weiter. Gegen 19:00 Uhr gehen wir auf die zweite Etage hoch. Meine Schwiegermutter und ich halten uns mit Witzen wach, doch innerlich ist mir nicht nach Lachen zumute. Ich höre Hubschrauber, höre Gastanks zischen, sehe Blaulicht und alles Mögliche vorbeischwimmen. Meiner Schwiegermutter fallen irgendwann die Augen zu. Ich halte mich wach. Gegen 23:00 Uhr hört es auf zu regnen. Ein beruhigendes Gefühl. Der Wasserstand sinkt und zeigt nach und nach, was für Müll das Wasser mit sich gebracht hat.

---ENDE DER LESEPROBE---