Ungeschriebene Zukunft - Kerstin Imrek - E-Book

Ungeschriebene Zukunft E-Book

Kerstin Imrek

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Beschreibung

»Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt. Es liegt an uns, was wir daraus machen!« Nach dem Dritten Weltkrieg: Der Großteil der Erde ist atomar verseucht und die Menschen leben in einer Stadt mit Mauern, von der Organisation GS mithilfe von Chips im Genick kontrolliert. Die Rebellengruppe Weiße Sonne kämpfte einst gegen die Unterdrückung - und scheiterte. Gibt es noch Hoffnung auf Utopia? Fünf Geschichten entführen in die fiktive Welt des 22. Jahrhunderts - erzählen von fehlgeleiteten Kämpferherzen, menschlichen Abgründen und zerrissenen Seelen. Und vom Beginn eines neuen Zeitalters. --- Die Charaktere der Geschichten basieren auf dem Dystopie-Zweiteiler »UTOPIA - Weiße Sonne« und »UTOPIA - Die Sonnenstadt«. Vorkenntnisse zum Verständnis des Inhalts sind aber nicht notwendig. Das Buch kann als Ergänzung und Einstieg in die Dilogie gelesen sowie als eigenständiges Werk betrachtet werden. --- Altersempfehlung: ab 16 Jahre

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Inhalt:

»Die Zukunft ist nicht vorherbestimmt.

Es liegt an uns, was wir daraus machen!«

Nach dem Dritten Weltkrieg: Der Großteil der Erde ist atomar verseucht und die Menschen leben in einer Stadt mit Mauern, von der Organisation GS mithilfe von Chips im Genick kontrolliert. Die Rebellengruppe Weiße Sonne kämpfte einst gegen die Unterdrückung – und scheiterte. Gibt es noch Hoffnung auf Utopia?

Fünf Geschichten entführen in die fiktive Welt des 22. Jahrhunderts – erzählen von fehlgeleiteten Kämpferherzen, menschlichen Abgründen und zerrissenen Seelen. Und vom Beginn eines neuen Zeitalters.

Autorin:

Kerstin Imrek hat ihre Leidenschaft fürs Schreiben bereits im Kindesalter entdeckt. Ihre anfänglichen Kurzgeschichten haben sich über die Jahre zu immer komplexeren Roman-Welten entwickelt. Heute schreibt sie am liebsten Dystopien, Fantasy und Urban Fantasy.

Die Geschichten von Kerstin Imrek berühren, schockieren und bleiben im Gedächtnis. Authentische Charaktere und Diversität sind ihr ebenso wichtig wie unangenehme Themen aufzugreifen.

E-Mail: [email protected]

Instagram: @kerstinimrek_autorin

-!-Bitte lesen-!-

Die Charaktere der Geschichten basieren auf dem Dystopie-Zweiteiler »UTOPIA – Weiße Sonne« und »UTOPIA – Die Sonnenstadt«. Vorkenntnisse zum Verständnis des Inhalts sind aber nicht notwendig. Das Buch kann als Ergänzung und Einstieg in die Dilogie gelesen sowie als eigenständiges Werk betrachtet werden.

Die fünf Geschichten beleuchten die Vergangenheit folgender UTOPIA-Charaktere:

*Wie sich Damian und Nate kennen und lieben lernen*

*Die Entstehung der Rebellengruppe um Bonny und Bullet*

*Mit welchen inneren Dämonen Delia zu kämpfen hat*

*Ansgars dunkle Obsession, Menschen völlig besitzen zu wollen*

*James’ Wandlung zum gnadenlosen Oberhaupt von GS*

Inhaltsverzeichnis

-2159-

.

-2160-

.

Nur ein Blick

(Damian Lamark)

.

Wir sind Weiße Sonne

(Bonny Katalon)

.

Grautöne

(Delia Coccinelle)

.

Obsession

(Ansgar Falk)

.

Fall und Aufstieg

(James Lagerfeld)

.

-2159-

Ich möchte dir vom Niedergang der heilen Welt und ihrer grausamen Wiederauferstehung erzählen. Wie alles angefangen hat.

Der Dritte Weltkrieg brachte das Verderben, auf das die Menschheit seit Jahrzehnten zugesteuert war. Die großen Nationen stritten sich um die immer knapper werdenden Rohstoffe, bis sie wie wild gewordene Raubtiere aufeinander losgingen und sich rücksichtslos zerfleischten – mit Atomwaffen. Die Welt versank in Chaos, Leid und Tod. Es gab keine Regierung und gesellschaftliche Ordnung mehr. Keine Polizei, Krankenhäuser, Läden, Schulen, Firmen. Neunzig Prozent der Erdbevölkerung – sinnlos ausgelöscht.

Bis auf einen winzigen Teil von Europa waren sämtliche Kontinente unbewohnbar. Verstrahlt, vergiftet, zerbombt. Wir hatten uns gegenseitig nahezu vernichtet, und der klägliche Rest kämpfte verzweifelt um alltägliche Dinge wie Wasser, Essen und Benzin. Reich nannte sich, wer einen Vorrat sichern und verteidigen konnte. Viele Menschen fanden auf den Straßen den Tod – durch Hände anderer, aber auch durch Hunger, Kälte und Krankheiten. Wer kein Dach über dem Kopf hatte oder sich eine Gruppe anschließen konnte, dessen Schicksal war besiegelt.

Bis zur Gründung von Global Save durch James Lagerfeld.

Die Organisation sollte der Menschheit wieder zu einer funktionsfähigen Gesellschaft verhelfen. Viel Erfolg hatte James Lagerfeld zu Beginn nicht. Kaum jemand wusste, dass Global Save – auch GS genannt – überhaupt existierte. Im Laufe der Monate sprach es sich allmählich herum und GS entwickelte sich zur zentralen Anlaufstelle. Für jene, die nach Trinken, Essen, ärztlicher Versorgung und Obhut suchten. Niemand wurde abgewiesen und die Vereinigung wuchs stetig. Die Mitglieder wurden von GS registriert. Des Weiteren fertigte man Listen von Vermissten an und teilte die Bereiche um die wachsende Stadt in Distrikte auf, um die Suche zu vereinfachen. Distrikt A grenzte direkt an GS-City, in Distrikt D war aufgrund von zu hoher Strahlung kein Überleben mehr möglich. Viele auseinandergerissene Familien fanden auf diese Weise zusammen.

Irgendwann optimierte GS sein Verfahren und jede gemeldete Person bekam einen Chip ins Genick gesetzt, einem elektronischen Personalausweis gleichgesetzt. Doch damit konnte GS nicht nur die Identität hinterlegen, sondern die Person jederzeit und überall orten. Nur durch derart strenge Kontrollen war es GS angeblich möglich, den Überblick über die Gemeinschaft zu behalten. Niemand sah in dieser Methode damals eine drohende Gefahr. Wieso auch? Die meisten hatten GS alles zu verdanken. Die Menschen legten ihr Leben bedingungslos in die Hände der immer größer und mächtiger werdenden Organisation.

Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Schon bald nutzte GS seine Monopolstellung und Macht gnadenlos aus. Vorbei war es mit Güte, Mitgefühl und Unterstützung. Nur wer sich dem Kontroll-Regime anschloss und ihm seine Treue und Ergebenheit schwor, dessen Überleben wurde gesichert. Diejenigen, die sich dagegen auflehnten, stufte man als nicht gesellschaftsfähig ein und sperrte sie entweder weg oder tötete sie. Wer versuchte, den Chip aus seinem Genick zu schneiden, musste mit schrecklichen Folgen rechnen. Die erste Generation des Chips war verglichen mit denen der folgenden Jahre geradezu harmlos. Bekam man bei einem Chip der Stufe eins nur einen heftigen Stromstoß, der einen für kurze Zeit lähmte, so waren Stufe zwei und drei beträchtlich brutaler und Stufe vier führte so gut wie immer zu einem qualvollen Tod.

Gelang es jemandem dennoch, den Chip erfolgreich zu entfernen, bedeutete das noch lange nicht die erhoffte Freiheit. GS wurde per Alarm über jeden Deserteur informiert. Konnte dieser dem Global-Save-Kommando – GSK – entkommen, griffen ihn die Kontrolleure auf, die überall in den Straßen patrouillierten. Oder die Wachen an der inzwischen eingezäunten Stadtgrenze. Niemand schaffte es, sie leichtfertig zu verlassen. Sie war wie eine Festung – oder passender ausgedrückt: ein Gefängnis. Spätestens dort endete jede verzweifelte Flucht.

Gefasste Flüchtlinge wurden zur Abschreckung ohne Prozess öffentlich gehängt. Die Hinrichtungen stellten für GS ein wichtiges Werkzeug dar, um die Bevölkerung mahnend an die Folgen des Ungehorsams zu erinnern. Keiner verpasste es, wenn ein Verurteilter dem Tod ins Auge blicken musste. Blieb man doch mal fern, wurde sofort Gemunkel laut, ein Verbündeter zu sein. Die Menschen hatten schreckliche Angst davor, selbst unter Verdacht zu geraten. Und so stand man am besten in der ersten Reihe und schrie: »Stirb, du Verräter!« Gehörte der Verurteilte zum Familien- oder Freundeskreis, war man regelrecht zu diesem Akt der Bekundung gezwungen. Auch wenn dieser nicht immer freiwillig und mit inbrünstiger Überzeugung erfolgte.

Aus den Zäunen von GS-City wurden alsbald massive Mauern. Doch nicht alle, die dem Regime abgeschworen hatten, waren eingesperrt oder tot. Viele flohen bereits bei Errichtung der Zäune und verschanzten sich in den zerstörten Geisterstädten rundherum. Diejenigen, die bereitwillig ihr Leben riskierten, um GS zu stürzen und die Gefangenen zu befreien, schlossen sich zu Rebellengruppen zusammen. Diese kämpften gegen die herrschende Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Vereint wurden sie unter dem Namen Weiße Sonne. Nun rüsten die Rebellen zum finalen Schlag gegen GS. Um den mächtigen Feind ein für alle Mal zu besiegen. Der Angriff steht unmittelbar bevor ...

-2160-

Weiße Sonne ist gescheitert.

Weiße Sonne ist vernichtet.

Der Schlag, der GS auslöschen und die Menschheit befreien sollte, endete in einer Katastrophe – oder eher in einer Hinrichtung. Die Rebellengruppen um Weiße Sonne griffen die Stadtmauern von allen Seiten an, glaubten so, den Feind zu überrumpeln. Doch sie hatten keine Chance. Sie wurden regelrecht abgeschlachtet und die Quartiere außerhalb der Stadt samt den zurückgebliebenen Menschen gnadenlos eliminiert.

Weiße Sonne ist tot und GS hat einmal mehr bewiesen, dass ihre Macht unantastbar ist. Wer soll ihr jetzt noch trotzen? Wer wagt es jetzt noch, sich ihr entgegenzustellen?

(Auszug aus der Überlieferung einer Überlebenden)

*

Wie es Weiße Sonne schafft, sich erneut zu erheben, lest ihr in der Dilogie »UTOPIA – Weiße Sonne« und »UTOPIA – Die Sonnenstadt«, erschienen im Februar und November 2022 (als Print und E-Book erhältlich / Infos am Ende des Buches).

Was davor geschah, erfahrt ihr in den folgenden fünf Geschichten.

Inhalt:

In einer Gesellschaft, in der gleichgeschlechtliche Liebe als Unart gilt und Betroffene ausgegrenzt, geächtet und nicht selten durch grausame Selbstjustiz gerichtet werden, keimen in dem 19-jährigen Damian Gefühle für einen Mann auf. Ausgerechnet zu einem Truppenführer des GSK fühlt er sich hingezogen. Und der gesteht ihm sogar seine Liebe. Es könnte so schön sein, wären da nur nicht Damians Unsicherheit, Angst – und die strikte Weigerung, seine Neigung zu akzeptieren ...

»Bitte Damian, lass zu, dass du glücklich bist.

Dass WIR glücklich sind.«

!!!

In dieser Geschichte kommt vor:

Vergewaltigung

-2163-

1. Begegnung

Vorbei.

Der Wind blies Damian ins Gesicht, nahm ihm für einen kurzen Moment den Atem. Und trieb ihm die Tränen in die Augen. Gequält schloss er sie. Seine Finger klammerten sich enger um das Metallgeländer. So fest, dass es beinahe schmerzte. Wenigstens zitterten sie jetzt nicht mehr so sehr.

Vorbei.

Er atmete ruhig, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm. Heftiger noch als hier draußen auf dem Balkon – in über hundert Metern Höhe. Damian kam hierher, wenn er nachdenken musste oder traurig war. Zurzeit könnte er sich dauerhaft hier einquartieren.

Vorbei.

Schon seit einem Monat, doch es fühlte sich wie gestern an. Greta hatte ihn verlassen, ganz ohne Vorwarnung. Wieso? Das verstand er bis jetzt nicht, ihre Worte ergaben keinen Sinn.

»Es tut mir leid, aber das mit uns hat keine Zukunft. Ich bin nicht das, was du brauchst. Du kannst ruhig wütend auf mich sein und mich hassen, aber bald dankst du mir dafür.«

Pfff, von wegen!

Damian biss die Zähne aufeinander, um nicht zu schreien und die Welt zu verfluchen. Diese kalte, lieblose Welt, die sich ihm vom Balkon aus in ihrer ganzen Trostlosigkeit präsentierte. Diese verdammten Hochhäuser, die sich fast bis zum Horizont erstreckten. Bis zur Mauer, die die Grenze markierte.

Bis hier und nicht weiter!

GS-City. Damians Zuhause. Aber nicht seine Heimat.

Er hatte noch nie einen Fuß vor die Stadt gesetzt, denn jeder, der das tat, bezahlte es mit dem Leben. Also keine gute Idee. Eine eigene Meinung zu haben, war ebenso gefährlich. Zumindest, wenn sie die Ideale von GS in Frage stellte.

Damian fühlte sich gefangen. Körperlich und seelisch. Er verachtete die Methode, mit der die Menschen gefügig gemacht wurden. Die Chips, die sie kontrollierten, um die Ordnung zu wahren – so jedenfalls die offizielle Rechtfertigung.

Ein Wunder, dass GS die Menschen überhaupt noch denken ließ. Wieso programmierte Global Save sie nicht einfach zu willigen Dienern um? Dann gäbe es auch keine Probleme mit Rebellen jenseits der Mauer.

Wie es sich wohl anfühlt, dort zu leben? Frei zu sein?

Frei, wie der Wind, der Damian mit einer heftigen Böe zurück in die Realität holte, in der er verlassen worden war. Sein Herz zog sich zu einem festen Klumpen zusammen. Was habe ich falsch gemacht? Ich verstehe es nicht.

Wahrscheinlich liebte sie ihn einfach nicht mehr und packte diese Tatsache in blumige Worte. Damit er sich nicht so schlecht fühlte oder aus lauter Verzweiflung über das Geländer kletterte und sich in die Tiefe stürzte.

Damian reizte der Gedanke durchaus. Dann wäre er zumindest für einige Sekunden frei. Frei und schwerelos – bis der Asphalt ihn gnadenlos zerschmetterte und sein bedeutungsloses Leben beendete.

Kein würdiger Abtritt. Und feige obendrein.

Nein! Damian atmete tief ein und aus, blinzelte die Tränen aus den Augen und richtete seinen Blick in die Ferne. Es gab eine Zukunft für ihn. Ohne Greta. Am besten ohne Liebe – ohne Kummer und Schmerz.

Damians Hände glitten vom Geländer. Sie waren taub von der Kälte und dem festen Griff. Er schüttelte sie und seufzte, dann drehte er sich um und hielt auf die Glastür zu. Wischte die restlichen Tränen aus dem Gesicht, bevor er in seine Welt zurückkehrte.

In den Alltag.

Ohne Liebe.

Damian versuchte, Greta zu vergessen. Ihre sinnlichen, dunklen Augen. Die geschwungenen Lippen. Ihr Lächeln. Ihre Hände, die ihn zärtlich streichelten. Die Geräusche, die sie machte, wenn sie mit ihm schlief. Ihre verschwitzte Haut auf seiner, wie sie ihn mit Mund und Zunge in Ekstase versetzte ...

Damians Vorsatz, die Liebe und somit auch die Leidenschaft aus seinem Leben zu verbannen, geriet heftig ins Schwanken. Es fiel ihm schwer, die Fassung zu wahren, nicht schwach zu werden. Sein neunzehnter Geburtstag stand bevor. Er könnte bei Greta den Wunsch äußern, wieder mit ihr zusammensein zu wollen.

Und sich gnadenlos blamieren.

Nein, es ist vorbei, ermahnte er sich. Sie will mich nicht mehr. Sie hat mich nicht verdient! Ich sollte ihr nicht nachweinen und mir lieber einen Ersatz besorgen. Es gibt genug Frauen da draußen. Und Männer ...

Damians Finger verkrampften sich. Es knackte und ein heißer, stechender Schmerz fuhr in seine rechte Handfläche. Erschrocken senkte er den Kopf und starrte auf seine Finger, zwischen denen Blut hervorquoll.

»Was machst du denn?« Jemand packte ihn am Unterarm. »Du hast dich geschnitten. Wir müssen es verbinden.«

Damian hörte die Stimme seines Vaters Alaric nur gedämpft. Wie in Trance löste er den Griff und musterte die zerbrochene Glasphiole. Einige Scherben steckten tief in seiner Haut. Der Rest schwamm in einem kleinen Blutsee, der überlief und sie von seiner Handfläche spülte.

»Wie ist das passiert? Wir müssen die Blutung stoppen und schnell zum Arzt.«

Damian nickte nur, überließ seinem Vater die Führung. Er stand völlig neben sich, hatte nur Augen für das Blut. Wie es über seinen Unterarm rann und zu Boden tropfte. Wie ein Idiot stierte er es an, vergaß, dabei zu blinzeln. Stand er so sehr unter Schock? Was war überhaupt passiert?

Der Arzt entfernte die Scherben, desinfizierte Damians Wunde und legte ihm einen Verband an. »Und in Zukunft packen Sie nicht ganz so fest zu. Dann hat die Phiole auch eine Chance.«

Sein scherzhaftes Lachen dröhnte in Damians Kopf. Er brachte mühsam ein halbherziges Nicken zustande und nahm die Schmerztabletten entgegen.

»Nimm am besten gleich eine, dann gehen wir zurück ins Labor«, drängte Alaric. »Es gibt viel zu tun und du hattest nichts Besseres im Sinn, als im Kram von anderen Leuten zu wühlen und dich dabei auch noch zu verletzen.«

Damian hatte kein Mitleid oder gar Rücksicht von seinem Vater erwartet. Die Lust zu Streiten fehlte ihm ebenfalls. Und so konterte er lediglich mit einem halbherzigen Murren und fügte sich seinem Schicksal, das ihn einmal im Monat ereilte.

Er besuchte wie alle anderen in seinem Alter die GS-Akademie. Neben Mathematik, Physik, Chemie, Sprachkunde und Weltgeschichte stand in seiner Fachrichtung der Chipentwicklung auch noch die Praxiskunde an. Was hieß, dass er und seine Mitstudenten alle drei Wochen fünf Tage im Labor seines Vaters verbrachten. Sie griffen ihm unter die Arme und lernten dabei das, was sie nach Abschluss ihrer Ausbildung erwartete.

Gefragt, ob er das wollte, hatte Damian nie jemand. Wieso auch? Er würde in die Fußstapfen seines Vaters treten – der rechten Hand von James Lagerfeld. Das stand seit seiner Geburt fest. Es war sein Schicksal. Seine Bestimmung. Die größte Ehre überhaupt. Theoretisch. Damian war weder stolz darauf, noch brüstete er sich damit.

Moralische Zweifel? Unerwünscht.

Freunde hatte Damian keine. Er brauchte und wollte auch keine. Falsche Freunde hingegen gab es genug, allen voran Emil, Ole und Gustav. Sie versuchten permanent, sich bei Damian und dessen Vater einzuschleimen, um über sie an Lagerfeld heranzukommen. Ihn auf ihre Existenz und Qualitäten aufmerksam zu machen. Um irgendwann einmal eine bedeutende Machtposition einzunehmen. Am besten die von Alaric, der als Lagerfelds Nachfolger gehandelt wurde. Sie vergötterten das Oberhaupt von GS, sprachen von ihm wie von einem Heiligen. Damian ließ sie eiskalt abblitzen, konnte nur mühsam seinen Hass unterdrücken, den er allein bei dem Gedanken an diesen Mann hegte.

Leider gehörte sein Vater ebenso zu den Reihen der glühenden Verehrer. Er sah und hörte es nicht gern, wenn Damian abfällig von Lagerfeld sprach, musste ihn schon oft ermahnen, sich in Gegenwart anderer angemessen auszudrücken. Das schadete sonst dem Namen Lamark, beschädigte seinen gesellschaftlichen Stand. Die Ehre der Familie.

Als ob sie je eine Familie gewesen wären.

Dass ihn seine Mutter kurz nach der Geburt zurückgelassen hatte, konnte Damian bis heute nicht begreifen. Für einen neuen Freund und die Freiheit. Waren es diese Dinge wert, seinen eigenen Sohn im Stich zu lassen? Ihn auf die schlimmste Art zu verraten, die es gab? Ob sie da draußen überhaupt noch lebte? Ob sie ihre Entscheidung bereute?

Damian war oft wütend auf sie – schrie sie an, obwohl sie gar nicht da war. Niemals da gewesen war. Er widmete ihr viele selbstgeschriebene Gedichte oder teilte tiefen Kummer mit seinem Tagebuch.

Neuerdings füllte er es zusätzlich mit Gretas Trennungsschmerz und tröstete sich mit Einträgen aus der Zeit, in der er mit ihr zusammen glücklich war. Gleichzeitig suchte er nach Anhaltspunkten, was er falsch gemacht haben könnte. Warum Greta es nicht mehr mit ihm ausgehalten hatte.

Vielleicht muss ich einfach ein bisschen mehr den Macho raushängen lassen?, überlegte er. Ich bin zu weich. Die meisten Frauen mögen harte Kerle. Ich schreibe Gedichte und Tagebuch, heule wegen jeder Kleinigkeit. So etwas tut ein normaler Mann doch nicht, oder? Was stimmt nicht mit mir? Warum bin ich so?

Warum?

»Was träumst du schon wieder herum?«

Alarics Stimme fuhr wie ein glühender Schürhaken in Damians Gedankenwelt. Ertappt zuckte er zusammen, bemerkte erst jetzt, dass er vor dem Waschbecken stand und kaltes Wasser über seine linke Hand lief. Um sie vom Blut zu befreien, das auf sie getropft war. Dabei starrte er sein Spiegelbild an, als wäre es ihm völlig fremd.

»Auf jetzt, trödel nicht so!«, drängte sein Vater.

»Ist ja gut.« Damian seufzte resigniert, rieb die Hand notdürftig am Tuch neben dem Waschbecken trocken. Bevor er sich von seinem Spiegelbild trennte, strafte er es noch mit einer Grimasse. Blöder Softie!

Dann trat er neben Alaric, der Einzelteile eines Chips vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Die Puzzlestunde hatte begonnen.

Damian schlug das Heft zu und klemmte den Stift in den Umschlag. Es ging ihm nicht gut. Tagebuch schreiben, hatte kaum etwas daran geändert. Dabei stellte es die einzige Therapie dar, die ihm zur Verfügung stand. An manchen Tagen half aber selbst das nichts. Erst recht nicht an seinem Geburtstag, der auf dem besten Weg war, trostlos wie alle anderen Tage zuvor zu werden. Vielleicht sogar noch schlimmer. Denn ausgerechnet heute gedachte Lagerfeld, ihn zu einer Lagebesprechung des GSK mitzuschleifen. Das tat er zirka alle drei Monate. Um Damian zu ärgern, seine Macht zu demonstrieren oder aus einem anderen absurden Grund. Damian fragte nicht nach, sondern duldete das, wofür viele seiner sogenannten Freunde sogar töten würden: Er verbrachte Zeit mit Lagerfeld, stand an seiner Seite, während die Führer der GSK-Einheiten über die jüngsten Pläne und Entwicklungen diskutierten und Lagerfeld ihre Strategien präsentierten. Um Widerstände einzudämmen, Rebellen gefangen zu nehmen und ihre Verstecke zu stürmen. Alles, was Damian so sehr verachtete.

Augen zu und durch!

Damian schob das Notizheft unter das Polster seiner Couch und stand auf, streckte sich. Er trug noch seinen grünen Lieblingsschlafanzug mit dem ausgeleierten Gummibund. Routiniert zog er sich die Hose, die ihm ständig über die Hüfte rutschte, wieder an seinen Platz und trottete ins Bad. Gefrühstückt hatte er wie meistens nichts, doch Zähne putzen musste sein. Damian wünschte sich, er würde Kaffee trinken. Dann lief er nicht den halben Morgen wie ein Zombie durch die Gegend. Obwohl er nicht allzu spät ins Bett ging, kam er in der Früh kaum auf die Beine. Vielleicht lag es daran, dass er ewig brauchte, um einzuschlafen. Seit Gretas Abfuhr lag er oftmals bis zwei Uhr und später wach, malte sich aus, was sie den Tag über alles getan hatte. Und ob sie vielleicht ein bisschen an ihn dachte. Dabei hatte er sich geschworen, ihr nicht länger nachzutrauern und taffer zu werden. Wenn er weiterhin Gedichte und Tagebuch schrieb, konnte das aber nichts werden. Obwohl ...

Ich könnte Greta ein Gedicht widmen. Sie mochte meine Gedichte doch eigentlich immer. Frauen lieben so schnulziges Zeug. Also kann mein Hobby nicht SO falsch sein, oder? Ich schreibe ihr eins, dass sie gar nicht anders kann, als mich zurückzunehmen. Falls ich sie überhaupt noch will.

Damian verschluckte sich beinahe an dem Gemisch aus Zahnpasta und Spucke, prustete es gegen den Spiegel vor sich. Spielte sein Verstand verrückt? Warum sollte er sonst so eine seltsame Frage produzieren? Wie vor Kurzem, als er über Alternativen für Greta sinniert hatte. Über ...

»Schluss!« Damian funkelte sein Spucke gesprenkeltes Spiegelbild finster an. »Du hast hier gar nichts zu melden, klar? Ich liebe Greta, und nur sie. Niemanden sonst!«

Damit war das auch geklärt. Damian wischte notdürftig mit einem Handtuch über den Spiegel, spülte seinen Mund aus und strampelte auf dem Weg ins Schlafzimmer seine Hose von den Beinen. Das Oberteil schaffte es immerhin aufs zerwühlte Bett.

Für offizielle Anlässe wie die Visite mit Lagerfeld beim GSK gab es eine vorgeschriebene Garderobe. Für Damian, der sich in weiten Schlabberklamotten am wohlsten fühlte, eine echte Qual. Vor allem das extrem eng geschnittene, goldmelierte Seidenhemd. Dazu eine schwarze Stoffhose mit Bügelfalte und schwarze Lackschuhe.

Die widerspenstigen Haare zwängte er mit einer Handvoll Gel in eine seriöse Position. Nun sah er wie ein schleimiger Geschäftsmann aus. Damian hasste derartige Typen. Sie hielten sich allesamt für etwas Besseres, stolzierten mit geschwellter Brust herum und diskutierten dabei unentwegt mit unheimlich wichtigen Leuten über unheimlich wichtige Dinge.

Sein Vater passte perfekt zu diesem Schlag. Und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Damian sich ihnen anpasste – einer von ihnen wurde. Ein gesichtsloser Speichellecker, der Lagerfelds Ideale liebte und lebte. Damian wäre dagegen lieber bei seiner Mutter. Obwohl er so unendlich wütend auf sie war, liebte er sie tief in seinem Herzen. Warum hatte sie ihn damals nicht einfach mitgenommen?

Als Rebell gäbe ich sicher eine viel bessere Figur ab.

Allein für diesen Gedanken hätte Lagerfeld ihn wohl höchstpersönlich im Weißen Zimmer auf die Liege geschnallt und gefoltert. So wie er es mit denen tat, die anders dachten oder gar fliehen wollten. Sie endeten meist als unfreiwillige Testpersonen für die neueste Chip-Generation seines Vaters. Irgendwann würde Damian für ihre Weiterentwicklung verantwortlich sein und ihn und Lagerfeld stolz machen. Davor graute es Damian schon jetzt. Ihm reichten die Einblicke, die er einmal im Monat im Praxisteil seiner Ausbildung gewann.

Aber wie immer galt es gute Miene zum bösen Spiel zu machen, in seine Rolle zu schlüpfen und die Gefühle auszuschalten.

Damian auszuschalten.

»Pünktlich wie immer.« Lagerfeld empfing Damian wie gewohnt im Anzug, das schlohweiße Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Auf seinen Lippen lag das für ihn typische Lächeln. Oberflächlich freundlich, mit einer herrischen Note, die seine erhabene Stellung vermittelte.

Damian vermied es, ihm in seine kalten Augen zu blicken, neigte den Kopf zur gewünschten Respekterweisung. »Ich würde mir nie anmaßen, Euch warten zu lassen.«

Lagerfeld sparte sich eine Antwort und schritt voraus. Zum Konferenzraum, wo die Lagebesprechung des GSK stattfand. Dass er an seinen Geburtstag dachte, ihm geschweige denn gratulierte, hatte Damian nicht erwartet. Und er wurde nicht enttäuscht.

An der Seite des GS-Oberhauptes betrat Damian den Konferenzraum. Ein Dutzend Truppenführer diskutierten gerade angeregt über einen an die Wand projizierten Plan, der die Grundrisse eines Gebäudes zeigte. Als sie Lagerfeld bemerkten, brachen sofort alle Gespräche ab. Die Männer nahmen Haltung an und überließen Lagerfeld das Wort.

Damian hörte nur mit halbem Ohr zu, ließ dabei seinen Blick über die schwarzen Mäntel und goldglänzenden Emblems auf der Brust jedes einzelnen Mannes schweifen. Das Zeichen ihrer unantastbaren, grausamen Macht.

Damian merkte sich die zugehörigen Gesichter nicht und konnte daher nicht sagen, ob es Wechsel oder Neuzugänge gegeben hatte. Es interessierte ihn ohnehin nicht. Die Visite war eher obligatorischer Natur.

Bis Damian an einem Paar brauner Augen hängen blieb. Sie gehörten einem hochgewachsenen Mann mit zum Zopf gebundenen Haaren. Obwohl Damian die Augen fremd waren, kamen sie ihm erschreckend vertraut vor. Als würde er deren Besitzer schon ewig kennen und seine tiefsten Sehnsüchte mit ihm teilen.

Was?

Damian erschrak über seine eigenen Gedanken und senkte hastig den Blick, doch er konnte förmlich spüren, wie ihn die Augen weiter fixierten. Hitze schoss ihm in die Wangen und sein Herz schlug so heftig, dass seine Brust schmerzte.

Während der folgenden Stunde wagte Damian es nicht mehr, den Mann anzusehen – aus Angst, er könnte wieder diese seltsamen Empfindungen in ihm hervorrufen. Wäre er noch mit Greta zusammen, hätte er derartige Probleme garantiert nicht. Sie hatte ihm mit ihrer Abfuhr die Gefühlswelt gehörig durcheinandergewirbelt.

Sie war schuld, dass er komische Dinge fühlte. Dank ihr war er verwirrt, fühlte sich verletzlich und verloren. Sehnte sich verzweifelt nach Liebe und Geborgenheit.

Endlich war Lagerfeld zufrieden, beendete seine Visite und wandte sich zum Gehen. Damian atmete erleichtert auf und wollte sich ihm mit gesenktem Kopf anschließen, doch er konnte nicht. Nicht, ohne den Mann zumindest noch einmal kurz anzusehen. Um sich zu vergewissern, dass seine seltsame Reaktion nur ein blöder Zufall gewesen war.

Der Mann schien nur auf den Moment gewartet zu haben. Seine sanften Augen tauchten in die von Damian – drangen bis tief hinab in seine Seele. Schutzlos lag sie vor ihm und versuchte nicht einmal, etwas vor ihm zu verbergen. Wollte sogar, dass er ein Teil von ihr wurde ...

Damian keuchte, stolperte einen Schritt zurück und nutzte den Schwung, um herumzuwirbeln und hinter Lagerfeld aus dem Konferenzraum zu hasten. Seine Beine zitterten und sein Herz trommelte noch immer gegen seine Brust. Ein Schweißfilm lag ihm auf der Stirn.

»Alles in Ordnung?«, fragte Lagerfeld, den Damian auf seiner panischen Flucht beinahe mit sich riss. Er hatte weniger Angst um seinen Untergebenen, sondern um seinen weißen, akkurat gebügelten Anzug, in den Damian im Reflex seine Finger gegraben hatte. Lagerfeld schüttelte sie wie ein lästiges Insekt ab. »Ich muss gleich weiter«, informierte er und entfernte sich mit weit ausgreifenden Schritten. Damit Damian nicht auf die Idee kam, ihn begleiten zu wollen.

Dabei hatte der ganz andere Dinge im Kopf. Dinge, von denen Lagerfeld besser nie erfuhr. Und auch sonst niemand. Vor allem nicht dieser Mann mit seinen hypnotischen Augen.

2. Begegnung

»Wie ist es gelaufen?«, erkundigte sich sein Vater, als Damian ins Labor trat. Er blickte nur kurz von seinem Bildschirm auf, bevor er wie ein Geier weiter auf die Tastatur vor sich einhackte.

»Wie immer«, nuschelte Damian. Er drehte Ole, Emil und Gustav, die am anderen Ende des Raumes um einen Tisch mit Elektronikteilen beisammenstanden, demonstrativ den Rücken zu. »Und ein wirklich wundervoller Start in den Geburtstag.«

»Ah ja, stimmt. Dein Geschenk liegt auf der Arbeitsplatte hinter mir. Damit schaffst du es vielleicht mal, etwas Ordnung in dein Quartier zu bekommen. Zumindest in den Papierkram.«

Vielen Dank für die lieben Glückwünsche, grollte Damian im Stillen und beäugte argwöhnisch das sogenannte Geschenk. Eine Box mit leeren Ordnern. Fast so gut wie die Glasschale zum Achtzehnten im letzten Jahr. Immerhin hatte Alaric sich die Mühe gemacht, eine rote Schleife um die Box zu binden.

»Äh, danke. Ich bin völlig überwältigt. Eine Putzfrau wäre aber wohl besser gewesen.«

»Mit kurzem Röckchen und großer Oberweite, wie?« Alarics Scherz versagte wie sein erbärmliches Geschenk.

»Vielleicht?«

»Wie läuft es eigentlich mit dir und Greta?«

»Wir sind seit einem Monat getrennt.«

»Oh!« Sein Vater hielt in seiner Arbeit inne. Er wirkte ehrlich überrascht und sogar ein wenig betroffen. »Du hast gar nichts gesagt.«

»Interessiert es dich denn?«, murrte Damian.

»Natürlich!«, behauptete Alaric. »Du bist mein Sohn. Was war der Grund?«

»Dies und das ... Kleinigkeiten eben. Hat halt nicht mehr gepasst«, nuschelte Damian und hoffte, dass sein Vater das Interesse verlor.

Vergeblich.

»Vielleicht war sie einfach zu dominant für dich?«, sinnierte er, tippte dabei weiter auf seiner Tastatur herum. »Du musst taffer und selbstbewusster werden. Und ein bisschen kräftiger. Einen zartbesaiteten Hungerhaken kann keine Frau gebrauchen.«

Damian hätte seinem Vater am liebsten die Box mit den verdammten Ordnern übergezogen. »Danke für deine aufschlussreiche Analyse, Paps.« Seine Fingernägel gruben sich in den Karton und stanzten kleine Halbmonde in die Oberfläche. »Tut mir leid, dass ich so unperfekt bin.«

»Du hast ja noch Zeit, an dir zu arbeiten. Fang damit an, mich nicht mehr Paps zu nennen. Das war süß, als du klein warst. Jetzt klingt es lächerlich.«

Das war zu viel der Demütigung. Mit einer energischen Handbewegung wischte Damian die Ordnerbox vom Labortisch. »Behalt dein scheiß Geschenk!«, fauchte er. »Und mir geht’s übrigens nicht gut. Rechne die nächsten Tage also besser nicht mehr mit mir.«

Damian trampelte auf dem Weg zur Tür über zwei der am Boden liegenden Ordner und kickte einen dritten gegen die Füße seines Vaters, der endlich aufhörte, die Tastatur zu bearbeiten.

»So geht das aber nicht!«, protestierte er. »Ich werde ...«

Den Rest nahm Damian nicht mehr wahr. Er trat durch die Glastür und schmetterte sie hinter sich zu, dass die Scheiben im Rahmen zitterten. Ohne innezuhalten rannte er durch den Labortrakt, passierte die Schleuse und stolperte drei Stockwerke hinunter Richtung Mitarbeiterquartiere. Sein Ziel galt allerdings nicht seiner chaotischen Junggesellenbude, die in der Tat eine Putzfrau vertragen könnte.

Stattdessen kam Damian auf dem Balkon zum Stillstand. Seinem Rückzugsort. Seinem Ruhepol. Im Angesicht der riesigen Stadt, die sich vor seinen Augen ausbreitete, schienen die eigenen Sorgen hier stets ein wenig kleiner. Keuchend presste er seinen Oberkörper gegen das Geländer, klammerte sich daran, als drohte er jeden Moment fortgerissen zu werden. Von Wut, Frust und Schmerz.

Seelischem Schmerz.

Sein Vater hatte noch nie warme Worte für ihn übriggehabt, aber ihn dermaßen zu verletzen, schaffte selbst er nicht jeden Tag. Und das auch noch vor den Augen dieser elendigen Schleimer! Damians Wangen brannten und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Schon wieder.

Scheiß Heulsuse!

Damian wusste nicht, wen er im Moment mehr hasste. Seinen Vater oder sich selbst. Weil er gern so wäre, wie Alaric ihn haben wollte. Zumindest ein kleines bisschen.

Ein Schrei braute sich in seiner Kehle zusammen und entlud sich in voller Lautstärke. Der Wind riss den größten Teil davon fort. Hinaus in diese kalte, ungerechte Welt. Damian schrie dagegen an. Gegen den Wind, die Welt, sich selbst. So lange, bis ihm die Stimme versagte und er sich seltsam leer fühlte.

Benommen verließ er den Balkon, schlurfte durch die verwinkelten Gänge, in denen sich die Quartiere wie Kopien aneinanderreihte. Eine trostlose Unendlichkeit. Vor seiner Kopie angelangt, zog Damian die Karte durch das Lesegerät, nahm nur beiläufig das leise Surren der sich öffnenden Tür wahr. Er durchquerte das direkt angrenzende Wohnzimmer mit der Kochnische und verkroch sich auf der Couch in der Ecke, rollte sich wie ein Igel darauf zusammen. Das Gesicht in die Knie gepresst, lauschte er seinem heftigen Herzschlag. Spürte den heißen Atem an seinen Wangen. Schmeckte salzige Tränen. Und hörte sich in Dauerschleife eine Nachricht an, die Greta vor ihrer Trennung auf seinen Empfänger gesprochen hatte. Greta wünschte ihm darin eine gute Nacht und ganz besonders süße Träume – was auf den vorangegangenen, sinnlichen Abend im Schlafzimmer anspielte. Damian hätte es nicht gewundert, wenn das schmale Metallarmband, das bereits vor vielen Jahrzehnten die regulären Handys abgelöst hatte, irgendwann vor Überlastung den Geist aufgegeben hätte. Damian zählte nicht, wie oft er den Befehl »Nachricht erneut abspielen« gab.

Wie erbärmlich, seinen neunzehnten Geburtstag derart zu begehen. Ohne Freunde, Saufgelage – und zum Abschluss eine heiße Nummer mit der Freundin. So malten sich bestimmt viele Jungs ihren perfekten Tag aus. Vor genau einem Jahr lag Greta in seinen Armen. Nackt und zitternd, nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Es war ihr Geburtstagsgeschenk für Damian gewesen. Und auch für ihn etwas ganz Besonderes. Noch nie war er einem Mädchen so nah gekommen.

Und ich werde es nie wieder. Niemand will mich. Ich bin schwach und habe außer meinem geachteten Namen nichts zu bieten. Mein Vater hat recht. Greta verdient einen richtigen Mann und ich bleibe besser für immer allein. Dann tut es nicht mehr weh und ich enttäusche niemanden. Damians Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn ich meine Gefühle komplett ausschalte, kann ich allem gerecht werden und stark sein. Ein anderer, besserer Mensch sein. Normal. Ich muss es nur wollen.

Ich will es!

Bist du sicher? Braune, sanfte Augen. Sie tauchten für den Bruchteil einer Sekunde vor Damians geschlossenen Lidern auf. Das genügte, um ihn auf eine Weise zu berühren, die ihm unheimlich war. Die sich falsch und gleichzeitig so richtig anfühlte. Eine Gänsehaut rollte Damians Wirbelsäule entlang und entlud sich in einem heißkalten Schauer.

Verdammt, warum hat der Mann mich so angesehen? Wollte er mich ärgern? Verwirren? Fand er es witzig? Hat er irgendeine dumme Wette verloren?

Jedenfalls schaffte er es, dass Damian sich darüber den Kopf zerbrach. Sich mit ihm abgab. Und das passte Damian gar nicht. Er wollte nicht über so seltsame Dinge nachdenken. Nicht jetzt und auch sonst nie wieder.

Zum Teufel mit dem Mann.

Zum Teufel mit Greta.

Zum Teufel mit Gefühlen.

Zum Teufel mit der Liebe.

Damian schwänzte die restliche Woche im Labor. So, wie er es seinem Vater angedroht hatte. Er wäre schließlich schwach, wenn er jetzt einknickte und reumütig zurückgeschlichen kam. Außerdem hatte er keine Lust darauf, Ole, Emil und Gustav zu begegnen. Offiziell galt er als krank, musste beim Arzt nur ein bisschen jammern, damit er ein Attest bekam. Die freie Zeit nutzte Damian, sein neues, normales Ich vorzubereiten. Einen verbesserten Damian.

Damian 2.0.

Kein Tagebuch.

Keine Gedichte.

Keine Tagträumereien.

Keine Tränen.

Keine seltsamen Gedanken.

Ich könnte schießen lernen, überlegte Damian. Das ist ein männliches Hobby. Und ein Kampfsport wäre gut. Karate vielleicht. Das trainiert den Körper und das Selbstbewusstsein. Alkohol trinken sollte ich auch. Jeder richtige Mann trinkt Bier. Hm, sonst noch was ...?

Damian notierte sich alles fein säuberlich auf einer To-do- und NOT-to-do-Liste, mit einem Kästchen zum Abhaken daneben. Dann pinnte er den Zettel mit einem Magneten an den Kühlschrank. Damit er nicht einen einzigen Punkt darauf vergaß.

Damian räumte sogar ein wenig auf – und um. Selbst in seinem Schrank neben dem Küchentresen, den er als Esstisch nutzte, kehrte Ordnung ein. Ganz ohne das Geschenk seines Vaters. Am Ende der Woche erkannte Damian sein Quartier kaum wieder. Diverse Kuscheltiere, die Couch und das Regal über dem Fernseher bevölkert hatten, waren unwiderruflich in einen Müllsack verbannt. Hanteln zur Stählung des Körpers lagen griffbereit neben der Tür und die Glasschale seines Vaters quoll vor Proteinriegeln für den Hunger zwischendurch über.

Damian war zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. Mit frischem Elan startete er in die neue Woche. Er schaffte es, nahezu alle selbst auferlegten NOT-to-do-Punkte zu vermeiden. Auch wenn es ihm zugegeben schwerfiel, seine alten Gewohnheiten komplett abzulegen. Es glich einem kalten Entzug. Die Tränen fehlten Damian nicht. Seinen Tagträumen zu entsagen, gelang ihm dagegen weniger. Und ab und zu lauerte auch der eine oder andere Gedanke in seinem Kopf, der dort nichts verloren hatte. Damian trug es mit Fassung. Immer, wenn ihn alte Marotten einzuholen drohten, steuerte er mit einem Punkt auf seiner To-do-Liste entgegen. Er absolvierte sein erstes Schießtraining und fühlte sich trotz eher ernüchterndem Ergebnis und mäßiger Begeisterung extrem männlich dabei. Der Kampf gegen den schmächtigen Körper gehörte ebenso zur neuen, festen Routine. Meist schaffte er es nur, ein paar Minuten mit den Hanteln zu trainieren, bevor er frustrierte aufgab – oder sich die Zehen rieb, weil sie mal wieder von den aus Kraftmangel fallengelassenen Metallscheiben zerquetscht worden waren. Aber besser als nichts. Und eine akzeptable Notlösung, bis er sich für einen Kampfsport entschieden hatte.

Dann war da noch das Bier. Damian schmeckte es zwar nicht besonders, aber was tat man nicht alles, um dazuzugehören? Und irgendwann vertrug er auch mehr als einen Krug. Trainieren konnte er in der Hinsicht mit seinen Studienkollegen. Gleichzeitig peppte er damit sein Sozialleben auf – beziehungsweise verschaffte sich eines. Damian hängte sich an Gustav, Emil und Ole, die sich ohnehin ständig bei ihm einschleimten. Mit ihnen teilte er die Praxistage im Labor und pflegte daher den engsten Kontakt. Wobei Kontakt reichlich übertrieben war. Bisher akzeptierte Damian sie in seiner Nähe und reagierte notgedrungen, wenn er angesprochen wurde. Keiner von den drei Männern erkundigte sich nach Damians seltsamem Sinneswandel oder sprach gar den peinlichen Vorfall im Labor an. Stattdessen nahmen sie Damian in ihren Kreis auf und luden ihn zum nächsten Saufgelage am Wochenende in der Tower-Bar ein. Vielleicht hatten sie nur auf eine derartige Gelegenheit gewartet? Um ihn zu manipulieren und als Werkzeug für ihren Aufstieg zu missbrauchen. Damian interessierten ihre Ziele nicht. Auch nicht ihr heuchlerisches Getue. Hauptsache er ging als ein normaler Kerl mit normalen Freunden und Sozialleben durch – passte sich an.

Die Tower-Bar befand sich eine Etage über der Empfangshalle und galt als die Topadresse für gute Musik, Drinks, Flirts und alles darüber hinaus. Damian war mit Greta einmal hier gewesen und hatte in einer Stunde gleich ein Dutzend Abschleppaktionen gezählt. Wer nicht allein nach Hause gehen wollte, musste es auch nicht.

Damian verzichtete freiwillig auf ein heißes Abenteuer. Manchmal blieb ihm nur die Flucht, um nicht versehentlich in einem fremden Bett zu landen. So taff er geworden war – beziehungsweise glaubte, es zu sein – so sehr hing er doch noch an Greta und befürchtete einen Rückfall. Außerdem hatte er sich geschworen, den intimen Part aus seinem Leben zu streichen. Bis auf hin und wieder selbst Handanlegen natürlich. Das tat schließlich jeder richtige Kerl.

Damian feierte den Triumph über seine schwache, emotionale Seite. Der Alltag war tatsächlich viel leichter, wenn man nicht ständig über Gefühle grübelte und sich einfach ins Leben stürzte. Und wenn ihn doch einmal sein altes Ich einholte und selbst Alkohol, Hanteln und Schießtraining nichts nutzten, trug Damian es mit Fassung. Keiner konnte erwarten, seinen Lebensstil komplett umzukrempeln, ohne je einen einzigen Rückschlag zu erleiden. Solange diese sich in Grenzen hielten, akzeptierte er auch Abweichungen von seiner Liste. Seinem Masterplan.

Damian 2.0.

Das hätte durchaus was werden können. Der Grundstein eines neuen Lebens – eines normalen Lebens. Damian war sogar fest davon überzeugt. Bis zu jenem Tag.

Voller Elan bog er um die Ecke und hielt auf die Schießhalle zu, um an seiner Treffsicherheit zu arbeiten. Er war zwei Meter von der Tür entfernt, als diese aufschwang.

Damian erstarrte. Sein Herz setzte für ein paar Schläge aus und seine Knie wurden weich. In der ersten Sekunde begriff er nicht einmal, wieso das geschah. Er schnappte nach Luft und suchte Halt.

Eine helfende Hand schob sich unter seine Achsel. »Alles in Ordnung?«

Damian blinzelte irritiert, winkelte den Kopf zur Seite. Und blickte direkt in die braunen Augen, die er nur zu gut kannte – obwohl er sie erst einmal gesehen hatte. Und nie wieder zu sehen gehofft hatte.

Aus gutem Grund.

»Ist alles okay?« Die Stimme des Mannes war sanft und stark zugleich. Wie der Arm, der Damian auf den Beinen hielt.

»Äh, ja«, keuchte er. »Es geht schon wieder. Danke.«

»Wir sind uns doch schon mal begegnet, richtig?«

»Echt?« Damians Versuch, ihn anzulügen, scheiterte kläglich.

»Ja, bei der Lagebesprechung«, erinnerte er.

»Ah ja, kann sein ...«

»Ich bin übrigens Nathaniel, aber Nate mag ich lieber. Und ich helf dir immer gerne wieder auf die Beine.«

Hitze schoss Damian in die Wangen. »Damian. Ich … also, so heiße ich«, stammelte er und hätte sich dafür am liebsten selbst geohrfeigt.

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Damian.« Nate schenkte ihm ein warmes Lächeln.

»Ähm, mich auch. Dich kennen zu lernen, natürlich. Nicht mich. Ich weiß ja, wer ich bin …« Halt einfach die Klappe, bevor du dich endgültig zum Trottel machst! Mann, was ist denn bloß los?

»Hm, bist du dir sicher, dass du das weißt?« Die Frage war ein Scherz, doch sie brachte Damian derart aus dem Konzept, dass er überhaupt kein Wort mehr herausbekam.

»Geht’s wieder?«, hakte Nate vorsichtig nach. »Dann könnte ich dich nämlich loslassen.«

»Äh, ja!« Damian hatte nicht bemerkt, dass er immer noch wie ein nasser Sack an Nate hing. Hastig richtete er sich auf und zog seinen über die linke Schulter gerutschten Kragen zurecht. »Ich muss dann auch weiter … zu meiner Freundin.«

»Freundin?«

Die Enttäuschung in Nates Stimme verwirrte Damian. »Ja. Sie heißt Greta«, erklärte er. »Ich liebe sie wirklich sehr.«

»Wohnt sie in der Schießhalle?«

»Nein, natürlich nicht.« Was soll die dämliche Frage?

»Ich dachte nur, du willst da hin. Der Gang führt nämlich nirgendwo sonst hin.«

Damian sah sich um, als müsste er sich erst von der Tatsache überzeugen. »Ich meinte auch, dass ich nach dem Training zu ihr gehe. Deshalb muss ich ja weiter. Dass ich rechtzeitig zu ihr komme ... nach dem Training ... zu meiner Freundin.« Du wiederholst dich, Idiot!

»Dann will ich dich nicht länger aufhalten, Damian. Mach’s gut.« Nate hob die Hand zum Abschied, nickte ihm zu und lächelte irgendwie ... traurig?

Damian glotzte ihm hinterher. »Du auch«, sagte er, als Nate bereits um die Ecke verschwunden war. Und ein seltsames Gefühl in seiner Brust hinterließ.

Damian versuchte, nicht an die Begegnung mit Nate zu denken. Wieso er sich wie ein stammelnder Idiot aufgeführt hatte. Wieso ihm die Hitze in die Wangen schoss, wenn er nur an ihn dachte.

Verdammt, was soll das? Er ist ein Mann. So wie alle anderen Männer. Da ist ja auch nichts. Außerdem liebe ich Greta immer noch, irgendwie. Ob ich nun will oder nicht.

Bei all den Gefühlsduseleien kam Damian das anstehende Saufgelage gerade recht. Wie so oft, ging er freitagabends mit seinen Freunden in die Tower-Bar zum Feiern. Damian schmeckten die Schnäpse und Longdrinks genauso wenig wie Bier, aber sie machten ordentlich betrunken. Und das gehörte nun mal dazu. Mit einer Cola beeindruckte er niemanden. Und sie spülte auch nicht seine Gefühle und Ängste davon, die sich trotz neuem, hart erkämpftem Image in seiner Gedankenwelt herumtrieben.

Damian trank, bis er kaum noch stehen, geschweige denn geradeaus laufen, konnte. Er erinnerte sich später nur dunkel, wie er nach dem Kotzen auf dem Klo zurück ins Quartier gekommen war – wo er sich erneut übergeben hatte und dann über der Schüssel hängend eingeschlafen war.

Damian erwachte mit bestialischen Kopfschmerzen und einem widerlichen Geschmack im Mund. Er wischte sich träge mit dem Ärmel seines Shirts über die Lippen.

Was ist das? Verwundert starrte er den roten Fleck auf dem verschmierten Ärmel an. Er befürchtete Blut, doch er hatte bis auf den Kater keine Schmerzen. Eine hastige Selbstabtastung fiel ebenfalls negativ aus. Stöhnend stemmte Damian sich auf die Beine, um einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken zu wagen. Und erschrak.

Lippenstift.

In Form zweier Kussmünder zog er sich über seine Gesichtsmitte und die linke Wange. Verwischt von seinem Ärmel. Wie kommt das da hin? Damian kramte in seinem wummernden Kopf nach dem fehlenden Erlebnis. Vergeblich.

Hab ich etwa auch ...? Mit klopfendem Herzen zog er seine Hose in die Knie und suchte seinen Schritt nach verdächtigen Spuren ab. Er fand keine. Und auch niemanden in seinem Bett oder auf der Couch. Keine zerwühlten Laken oder zerknautschten Kissen.

Also nur ein Ausrutscher. Eine spontane Knutscherei im Suff zwischen ein paar Schnäpsen. Mit Celine, Maria oder Yvonne vielleicht. Oder mit allen dreien. Die Studentinnen aus seinem Kurs hatten seit seinem Imagewechsel ein Auge auf ihn geworfen.

Pfff, und wenn schon. Was stell ich mich so an? Ich bin auch nur ein Mann. Selbst wenn wir es miteinander getrieben hätten, hätte ich nichts Verbotenes getan. Solange ich nicht mit Nate rummache ...

Eine Gänsehaut rollte über Damians Rücken. Zeitgleich jagte ein heißes Kribbeln durch sein Becken. Er keuchte und schüttelte sich, verwirrt und erschrocken. Was sollte das nun schon wieder? Damian hegte noch nie ein Aber gegen gleichgeschlechtliche Liebe – jedem das seine –, und doch machte sie ihm auf absurde Art und Weise Angst.

Wie dumm ist das denn?

Damian streifte sich hastig die Klamotten vom Leib und flüchtete unter die Dusche, drehte abwechselnd auf heiß und kalt.

Das Wasser klärte seinen Verstand ein wenig, das erregte Brennen in seinem Unterleib blieb. Damian ergab sich seiner offensichtlichen Begierde nach einem intimen Abenteuer und malte sich aus, wie wohl ein flotter Vierer mit seinen Verehrerinnen ablief. Wenn er schon erregt war, dann zumindest aus den richtigen Gründen.

Damian befolgte genau die Anweisungen, die ihm sein Körper gab. Er konnte nichts falsch machen. Mit geschlossenen Augen stand er unter der aufgedrehten Brause und spürte die Hitze in seinen Wangen. Das erregte Pochen in seiner Hand. Damians Finger zitterten, packten fester zu. Er biss sich auf die Lippen, um ein Stöhnen zu unterdrücken. Obwohl es niemand hörte, war ihm das Geräusch peinlich. Schon immer. Greta hatte von ihm nie mehr als ein leises Keuchen für ihre Mühe erhalten. Selbst beim Orgasmus. Damian genoss lieber still.

Je näher er dem Höhepunkt kam, desto schwerer fiel es Damian, an seinem bisherigen Vorsatz festzuhalten. Zu lange hatte ihn niemand mehr auf diese Weise berührt. Zu sehr sehnte er sich nach Liebe, Geborgenheit und Sex. Greta, die die drei Frauen aus Damians Fantasie abgelöst hatte und sich nun an ihrer Stelle an ihn presste, legte ihre feuchten Lippen an sein Ohr. Ihre Brüste streiften seinen nackten Oberkörper. »Sei ehrlich, willst du wirklich mich?«, hauchte sie, lächelte verheißungsvoll. »Oder eine andere Frau? Brauchst du nicht etwas anderes?«

Gretas Umrisse zerflossen, als bestünde sie aus Wasser. Formten sich neu.

Ein sehniger Oberkörper.

Markante Gesichtszüge.

Braune, sanfte Augen.

Eine raue, kräftige Hand um seinen ...

»Ahhh!« Damian bäumte sich unter dem heiseren Schrei auf. Seine Finger verkrampften. Für eine Sekunde wurde ihm schwarz vor Augen. Haltlos taumelte er gegen die geflieste Wand.

Oh! Mein! Gott! Keuchend sah er an sich herunter. Konnte nicht begreifen, was soeben passiert war.

Wollte es nicht begreifen.

Scheiße! Mit pochendem Herzen drückte Damian beide Hände gegen seinen Schritt. Gegen die Erregung, die sich plötzlich falsch anfühlte. Und so gut zugleich. Was zum Teufel? Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln, rannen ihm die Wangen hinunter. Ein Schluchzen ebbte über Damians Lippen und sein Herz fühlte sich wie in einen Schraubstock geklemmt, der sich immer enger zuzog.

Was soll das? Das ist doch bescheuert!

Ein stechender Schmerz zuckte durch Damians Unterleib. Er drückte so fest zu, als wollte er unterhalb seines Bauchnabels jegliches Gefühl einfach abtöten. Was ihm nur bedingt gelang. Die Erregung nach dem Orgasmus flaute nur langsam ab. Zurück blieben Verwirrung und Angst. Und Ekel vor sich selbst.

Damian hielt es nicht mehr aus. Panisch sprang er aus der Dusche, grapschte nach seinem Handtuch und stürzte aus dem Bad. Ins Schlafzimmer, wo er das Gesicht in sein Kissen auf dem Bett presste.