Unglaubliche 12 - Heike Abidi - E-Book

Unglaubliche 12 E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Henriettes kleine Schwester Tessa ist "unglaubliche 12" und mega genervt: Zwölf Jahre zu werden ist echt kein Zuckerschlecken. Ihr neues Hobby Schlagzeug finden die Eltern bestimmt nicht gut, und dann die Jungs in ihrer Schülerband: Noel ist ja süß, aber … Zum Glück bekommt Tessa per Skype Tipps von ihrer Schwester – und die hat immerhin das Buch "Alles, was Mädchen wissen sollten, bevor sie 13 werden" veröffentlicht.

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Seitenzahl: 183

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Über dieses Buch

Tessa ist gerade 12 geworden und versteht die Welt nicht mehr. Plötzlich scheint alles furchtbar kompliziert und ihre Gefühle fahren Achterbahn. Der einzige Platz, an dem sie sich besser fühlt, ist an ihrem Schlagzeug. Hier kann sie ihren Emotionen freien Lauf lassen. Da hat ihre große Schwester Henriette eine Idee: Tessa könnte sich beim Schlagzeugspielen filmen und die Videos im Internet veröffentlichen – denn bestimmt hilft die Musik auch anderen gegen akutes Gefühlschaos. Kurzerhand startet Tessa den anonymen Account DrummerQueen. Doch bevor sie sichs versieht, erfährt ausgerechnet der supersüße Leadsänger der Schulband, Noel, von ihrem geheimen Talent. Und nun will er Tessa unbedingt in seiner Band haben …

 

In Tessas Leben bestimmt ab sofort der Herzschlag den Beat!

 

Für Fans von »Alles, was Mädchen wissen sollten, bevor sie 13 werden«

01»Summertime Sadness«

Oder: Gestatten, Tessa, Heulsuse

Alles fängt damit an, dass Romy keinen Plan von Grammatik hat. Ich persönlich finde das überhaupt nicht schlimm. Sie ist nämlich die weltbeste Freundin, die man nur haben kann. Genauer gesagt: die ich nur haben kann! Romy bringt mich sogar dann zum Lachen, wenn ich schlecht drauf bin, und hält immer zu mir, egal, was passiert. Was kümmert es mich da, dass sie in ihren WhatsApp-Nachrichten entweder gar keine Kommas setzt oder an völlig unmöglichen Stellen? Okay, manchmal muss ich sogar rätseln, was sie meint, aber – na und? Ich finde das sogar ziemlich lustig.

Eben ist mir das Lachen allerdings im Halse stecken geblieben, als ich gelesen habe, was sie getextet hat:

Sorry ich kann, leider nicht mit dir einkaufen, gehen. Muss zur blöden Nachhilfe. Meine Oldies kennen da, kein Erbarmen. Und alles nur wegen der Fünf, in Deutsch. Voll fies. Wir holen es nach versprochen. XXX Romy

Da stehe ich also vor dem Köpenick-Center mit meinem Geburtstagsgeld in der Tasche, wild entschlossen, mir einen legendären Shoppingnachmittag mit meiner BFF zu machen, und dann sagt sie in letzter Sekunde ab.

Und das Pech geht weiter: Eben ist mir auch noch der Bus vor der Nase weggefahren, und mir bleibt nichts anderes übrig, als entweder eine Viertelstunde zu warten oder mich zu Fuß auf den Heimweg zu machen. Weil es echt kühl ist und ich eine viel zu dünne Jacke anhabe (die im warmen Einkaufszentrum perfekt gewesen wäre!), entscheide ich mich fürs Laufen. Doch ich bin noch keine dreihundert Meter weit gekommen, da fängt es auch noch an zu regnen. Ach, was sag ich: zu schütten! Wie aus Kübeln.

Paps würde jetzt sagen, das wäre ein typisches Beispiel für Murphy’s Law, wonach alles, was schiefgehen kann, irgendwann auch tatsächlich schiefgeht.

Tja, keine Ahnung, wer dieser Murphy ist, vermutlich irgendein Pechvogel. Trotzdem finde ich, man sollte dieses Gesetz umbenennen. In Tessa’s Law, das besagt, dass an manchen Tagen einfach alles in die Hose geht! Und was besonders nervt: Je besser so ein Tag angefangen hat, desto katastrophaler endet er …

 

Das beste Beispiel dafür ist heute. Schon beim Weckerklingeln war ich total gut drauf. Das hätte mich eigentlich schon misstrauisch machen sollen. Hat es aber nicht. Stattdessen bin ich gut gelaunt aus dem Bett gehüpft, habe unter der Dusche gesungen (Believer von Imagine Dragons, das mir seit Tagen nicht aus dem Ohr geht) und mir anschließend sogar die Haare geglättet. Was echt ganz schön mühsam ist, wenn man normalerweise aussieht, als hätte man in eine Steckdose gegriffen.

Dann ist Sport ausgefallen, mein Lieblingsfach, und wir hatten stattdessen Bio. Ächz. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir schon denken können, dass es mal wieder einer von diesen Tagen ist, an denen man besser im Bett geblieben wäre. Aber nein, ich war immer noch guter Dinge und habe mich auf Musik gefreut. Doch Musik ist leider ebenfalls ausgefallen, und als Vertretung kam ausgerechnet die Focker-Knecht. (Genannt: Folterknecht. Aus Gründen!) Sie hat Kopfrechenübungen mit uns gemacht, bis uns fast schwindelig wurde und ich mich nicht gewundert hätte, wenn Qualm aus meinen Ohren gekommen wäre.

Okay, da war ich bereits leicht genervt. Aber die Aussicht auf einen tollen Freundinnennachmittag hat mich sogar die Folterknecht ertragen lassen. Und dann stellt sich heraus, dass daraus nichts wird …

Echt zum Heulen!

Das Ganze fühlt sich an, als hätte man gerade drei Stunden lang in der Warteschlange der weltgrößten Achterbahn verbracht, nur um dann, wenn man endlich an der Reihe ist, zu erfahren, dass jetzt Feierabend gemacht wird.

Zugegeben, vielleicht steigere ich mich gerade ein bisschen rein, aber hab ich nicht allen Grund, enttäuscht zu sein? Und traurig. Und wütend … auf die Kommaregeln, auf Romys Eltern, auf den Busfahrplan, auf das Wetter, auf das ganze Leben!

Kann gut sein, dass mir gerade Tränen über die Wangen laufen. Aber weil mir sowieso der Regen ins Gesicht peitscht, fällt das nicht weiter auf. Meine so mühsam geglätteten Haare kleben an mir wie Sauerkraut, und meine Jeans sind so nass, dass sie sich anfühlen, als würde jemand meine Beine mit Schmirgelpapier bearbeiten.

Und als wäre das nicht schon schlimm genug, fährt jetzt noch ein fettes Angeberauto mit vollem Tempo durch eine Megapfütze, sodass ich über und über von Matschwasser durchtränkt bin.

Danke, Vollpfosten!

 

»Hast du dich im Schlamm gewälzt?«, fragt Mika, als ich endlich nach Hause komme und mir in der Diele Schuhe und Jacke abstreife, um den Weg in mein Zimmer nicht in eine Wasserrutschbahn zu verwandeln.

Typisch mein kleiner Bruder! Er sagt immer, was er denkt, und das ist selten schmeichelhaft …

Als Mika geboren wurde, war ich furchtbar froh, endlich nicht mehr die Jüngste in der Familie zu sein. Allerdings hab ich da nicht geahnt, dass kleine Kinder so laut und so anstrengend sind! Inzwischen ist Mika fast fünf und meistens ziemlich goldig. Aber auch immer noch anstrengend. Und vor allem plappert er ohne Pause! Er kapiert einfach nicht, dass ich manchmal einfach nur meine Ruhe will.

Oder sagen wir besser: dass ich meistens meine Ruhe will …

Ganz ehrlich: Die Pubertät ist die Hölle! Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und wäre wieder zehn Jahre alt. Oder noch besser: fünf. So wie Mika.

Damals war alles so einfach. Und so schön. Ich hatte noch keine Pickel, noch keine Wutanfälle und Heulattacken, und meine großen Geschwister wohnten noch zu Hause. Seit Levin und Henriette ausgezogen sind, bin ich die große Schwester und soll vernünftig sein. Tssss.

»Ich wälze dich gleich im Schlamm«, gebe ich grimmig zurück, und das ist zugegebenermaßen alles andere als erwachsen.

Mika lacht sich kringelig. Der Glückliche. Er findet sogar meine genervten Antworten witzig. Aber vor allem amüsiert er sich wohl darüber, wie ich aussehe. Ein Blick in den Garderobenspiegel verrät mir, dass sein Vergleich ziemlich treffend war. Man könnte tatsächlich glauben, ich sei eine Schlamm-Catcherin. Eine ziemlich erfolglose, mies gelaunte Schlamm-Catcherin …

»Das ist kein Spaß. Ich mein’s ernst«, füge ich hinzu, ohne mein Brüderchen sonderlich zu beeindrucken.

»Du bist so lustig, Tessi«, kichert er.

»Nervensägenzwerg«, kontere ich und strecke ihm die Zunge raus. Blöderweise taucht genau in diesem Moment Paps auf.

»Aber Tessa«, tadelt er sanft. Jedenfalls in sanftem Tonfall – allerdings in der Lautstärke einer Schiffssirene, was daran liegt, dass er Kopfhörer auf den Ohren hat und gar nicht merkt, wie sehr er brüllt. Entweder hört er mal wieder seine heiß geliebte Entspannungsmusik oder seinen Japanisch-Sprachkurs. Warum er überhaupt eine dermaßen exotische Sprache lernen will, ist mir ein Rätsel. Na ja, egal – Hauptsache, er hat nicht mitbekommen, was ich zu Mika gesagt habe. Paps ist nämlich extrem harmoniebedürftig und verabscheut alles, was auch nur im Entferntesten an ein Schimpfwort erinnert.

»Sorry, Paps«, brülle ich zurück, um ihn zu besänftigen, denn ich habe jetzt echt keinen Nerv für eine Grundsatzdiskussion über angemessenes Verhalten gegenüber jüngeren Geschwistern. Überhaupt auf kein Gespräch – ich will einfach nur allein sein und mich in Selbstmitleid suhlen.

 

Endlich fällt meine Zimmertür hinter mir ins Schloss. Das mit dem Alleinsein hat allerdings nicht hundertprozentig geklappt – in letzter Sekunde ist Burkhard, unser Jack-Russell-Terrier, noch mit reingeschlüpft. Bestimmt hat er gespürt, dass ich mal wieder schlecht drauf bin. Dafür hat er einen sechsten Sinn.

Manchmal glaube ich, Burki ist der Einzige, der mich wirklich versteht. Henriette sagt, als sie in meinem Alter war, ging es ihr genauso. Inzwischen ist Burki zwar schon ein älterer Hundeherr und will nicht mehr so viel spielen und toben, aber er liebt es nach wie vor, auf meinem Schoß zu kuscheln und sich streicheln zu lassen. Und ich liebe es auch, denn es gibt mir Trost.

»Ach, Burki«, jammere ich, während ich mich umziehe, »wenn ich doch nur wüsste, warum ich so traurig bin.«

Denn auch wenn heute alles Mögliche schiefgelaufen ist: Eigentlich habe ich keinen Grund zu klagen. Das ist mir trotz allem klar. Ich bin zwar eine Heulsuse, aber nicht bescheuert. Natürlich gibt es massenhaft Kinder und Jugendliche, denen es tausendmal schlechter geht als mir. Die obdachlos sind oder hungern oder in einem Kriegsgebiet leben oder flüchten müssen oder …

Was ist mir schon Schlimmes passiert? Wir hatten heute zwei blöde Vertretungsstunden, die null Komma null Spaß gemacht haben. Und meine beste Freundin wurde zum Nachhilfeunterricht verdonnert, statt mit mir ins Einkaufszentrum gehen zu dürfen. Nicht gerade ein echtes Drama.

Trotzdem sitze ich hier (jetzt im gemütlichen, trockenen Jogginganzug und mit Burki auf dem Schoß, der sich entspannt kraulen lässt) und hab das heulende Elend.

Und warum das Ganze? Etwa alles wegen dieser dämlichen Pubertät, von der alle reden?

Henriette meint, das wäre so. Sie ist sozusagen Spezialistin für dieses Thema – nicht nur, weil sie die Pubertät gerade überstanden hat, sondern weil sie sogar darüber geschrieben hat. Als sie so alt war wie ich, hatte sie ein Blog mit dem Titel »Alles, was Mädchen wissen sollten, bevor sie dreizehn werden«, das sogar als Buch erschienen ist. Natürlich steht ein Exemplar davon in meinem Regal; es ist auch schon total zerfleddert, so oft habe ich es gelesen. Ich weiß also genau, dass in meinem Körper gerade die unglaublichsten Dinge vor sich gehen und dass an den meisten davon irgendwelche Hormone schuld sind.

Na toll. Aber was bringt es mir, das zu wissen? Ich kann diese blöden Hormone leider nicht steuern, sie machen mit mir, was sie wollen, und das geht mir gewaltig auf den Keks!

Was leider dazu führt, dass meine Stimmung meistens in Richtung »hochgradig genervt« geht. Kein schönes Gefühl. Egal, was man dann zu mir sagt, es macht die Sache bloß schlimmer. Und am Ende bekomme ich entweder einen gepflegten Wutanfall oder ich breche in Tränen aus oder beides.

Mum sagt, ich müsse lernen, meine Gefühle besser im Griff zu haben. Da kann ich ja nur lachen! Ich meine – ich würde gern lachen, aber tatsächlich kann ich nur empört schnauben und die Augen verdrehen. Ganz ehrlich: Wenn jemand einen Trick weiß, wie man seine Gefühle kontrollieren kann, dann nur her damit! Ich hasse es, ihnen dermaßen ausgeliefert zu sein. Seit Wochen schwanke ich zwischen Wut, Traurigkeit, alberner Überdrehtheit und Verzweiflung hin und her, und niemand begreift, dass ich hier das Opfer bin.

Wollte ich etwa neulich diese dämliche Vase zerdeppern? Natürlich nicht! Was hätte ich auch davon gehabt? Total unlogisch, zu glauben, ich hätte das extra gemacht. Ich konnte einfach nicht anders, weil ich so wahnsinnig sauer war. Worüber, weiß ich schon gar nicht mehr. Bestimmt wegen einer voll ungerechten Note oder einer Bemerkung von Mika oder … Ist ja auch egal. Jedenfalls hat Mum wegen dieser Vasensache ein Riesentheater gemacht und sogar den Familienrat einberufen, um die Konsequenzen für mich zu diskutieren. (Von wegen diskutieren: Meistens ist Mum dabei die Vorsitzende und bestimmt, wer wann reden darf.) Ich kam mir dabei vor wie im falschen Film, ehrlich. Am Ende bekam ich dann einen Monat Küchendienst aufgebrummt, den ich mit Todesverachtung abgeleistet habe – ohne zu jammern oder zu murren. Mum soll ruhig denken, mir hätte das überhaupt nichts ausgemacht.

Der Küchendienst an sich war auch gar nicht weiter tragisch. Ich meine – Spülmaschine ein- und ausräumen, Tisch decken, ab und zu mal was von Hand abwaschen und abtrocknen, davon geht die Welt ja nicht unter.

Was ich aber voll schlimm fand, war die Erkenntnis, dass in diesem Haus niemand Verständnis für mich hat! Außer Burki natürlich. Seit Henriette studiert, ist er mein einziger Verbündeter.

Na ja, er und Oma Lydia – ja, Oma ist die Allercoolste in unserer Familie! Nicht nur weil sie dank Yoga und Jogging topfit und supergechillt ist, sondern weil es ihr egal ist, wie andere Leute in ihrem Alter drauf sind. Sie macht, worauf sie Lust hat. Zum Beispiel hat sie sich vor ein paar Jahren in Gunnar verknallt – den Handwerker, der eine Sauna in ihre Dachwohnung über Mums Hofladen eingebaut hat. Und dann hat sie den Saunamann einfach geheiratet. Mum fand das zuerst gar nicht lustig, aber Henriette hat dafür gesorgt, dass sie sich wieder einkriegt. Und jetzt haben wir nicht nur eine supercoole Oma, sondern auch einen neuen Stiefopa.

Leider unternehmen die beiden seitdem quasi eine Hochzeitsreise nach der anderen. Zurzeit fahren sie zum Beispiel im Wohnmobil durch Finnland. Ich gönne es ihnen ja, ehrlich. Nach Opas Tod ist Oma Lydia bestimmt ganz schön einsam gewesen, obwohl sie ja uns hat. Tja. Jetzt hat sie den Saunamann, und ich bin diejenige, die einsam ist.

 

Mein Blick fällt auf die einzige Ecke meines ansonsten ziemlich chaotischen Zimmers, in der es blitzt und blinkt. Denn da steht mein Schlagzeug! Oma hatte es mir mal zu Weihnachten geschenkt, und Gunnar gibt mir seit anderthalb Jahren Unterricht auf diesem Instrument. Er war auch der Erste, der mein Talent erkannt hat – noch vor mir selbst, übrigens. Zuerst konnte ich so gar nichts damit anfangen, aber inzwischen liebe ich mein Drumset heiß und innig. Wenn ich darauf spiele, vergesse ich alles um mich herum, tauche vollkommen ab in die Musik und kann mich gleichzeitig so richtig austoben. Hinterher bin ich meistens durch und durch geschwitzt, aber auch glücklich – wenigstens für eine Weile. Bis irgendein Familienmitglied (oder ein Hormon) meine Laune wieder vermiest.

»Was ist, hast du Lust auf ein bisschen Musik?«, frage ich Burki, während ich ihn vorsichtig von meinem Schoß herunterschiebe.

»Wuff«, macht Burki und rollt sich auf meiner Bettdecke zusammen.

Das soll wohl heißen: Klar, Zweibeinerin Tessa, ich liebe deine Musik und dein fabelhaftes Getrommel!

Mum behauptet zwar immer, dass er meinen »Lärm« nur erträgt, weil er langsam taub wird, aber da irrt sie sich gewaltig. Burki wippt nämlich immer im Takt mit dem Kopf mit. Ich wette, er wäre ein richtig guter Drummer, wenn er kein Hund wäre.

Ich setze mich ans Schlagzeug, stöpsele meine Kopfhörer in die Ohren und suche auf dem Handy nach einem Lied, das genau zu meiner Stimmung passt. Traurig muss es sein, ein bisschen grüblerisch und untröstlich. Aber es soll auch schön sein. Schön schwermütig.

Meine Wahl fällt auf Summertime Sadness von Lana Del Rey. Kein ganz neuer Hit, aber dank meiner älteren Geschwister und vor allem meiner Hippie-Oma ist mein Musikgeschmack nicht nur auf aktuelle Titel begrenzt. So ist die Auswahl größer, und es fällt mir leichter, Songs zu finden, die gerade perfekt passen und mir das Gefühl geben, irgendjemand versteht meine Gefühle – und wenn es irgendein fremder Musiker am anderen Ende der Welt ist …

Es funktioniert. Wie immer.

Kaum sind die ersten Töne erklungen, bin ich nicht mehr in meinem Zimmer, nicht mehr in Berlin-Köpenick, nicht mehr ich selbst, sondern ich bin die Musik. Klingt ziemlich abgedreht, oder? Fühlt sich aber genauso an. Und das ist verdammt genial!

Ich muss gar nicht groß darüber nachdenken, was ich da tue – meine Hände und Füße wissen es von selbst. Wie in Trance bringe ich Tom-Tom, Hi-Hat, Snare, Becken, Bass-Drum und all die anderen Instrumente, aus denen das Schlagzeug besteht, zum Klingen, Scheppern und Dröhnen. Von wegen Lärm – ich entlocke meinen Drums die unterschiedlichsten Klänge, und mit jedem Takt werde ich innerlich ruhiger und zufriedener.

Doch nicht nur ich werde ruhiger, sondern auch Lana Del Rey – genauer gesagt wird ihre Musik leiser. Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass gerade ein Skype-Anruf eingeht. Sicher will sich Romy über die katastrophale Nachhilfestunde beklagen. Wobei – Romy schickt mir meistens Nachrichten via WhatsApp, nur aus den Ferien skypt sie lieber.

Jetzt hat mich das Anrufsignal ohnehin aus dem Rhythmus gebracht, also kann ich ebenso gut nachsehen, wer dran ist.

Eine Sekunde später werfe ich die Drumsticks von mir, als wären sie glühend heiß, reiße die Kopfhörer aus den Ohren und stürze mich auf mein Handy.

»Na endlich, ich wollte es gerade schon aufgeben«, begrüßt mich meine große Schwester.

»Ach, Henriette, du fehlst mir so«, erwidere ich mit tränenerstickter Stimme, und schon schluchze ich verzweifelt los.

Was bin ich nur für eine Heulsuse?

02»Bauch und Kopf«

Oder: Ich vlogge, also bin ich

Mit Henriette zu skypen, wirkt auf mich so ähnlich, wie Burki zu streicheln oder Schlagzeug zu spielen. Meine Tränen versiegen in null Komma nix, und ich bin einfach nur froh, sie zu sehen – auch wenn sie in ihrer Dortmunder Studentenbude sitzt, statt hier bei mir zu sein. Zwischen uns liegen über fünfhundert Kilometer, aber es gelingt mir fast, das zu vergessen.

Henriette sitzt in dem Schaukelstuhl, den Oma Lydia ihr zum Auszug geschenkt hat, und hat ihr Laptop auf dem Schoß. Das sehe ich zwar nicht, aber ich weiß es. Sie hasst es, mit dem Handy zu skypen. Vermutlich erscheint mein Kopf jetzt fast lebensgroß auf ihrem Monitor – als läge da ein Luftballon mit halbnassen Haaren auf ihrem Schoß. Bei der Vorstellung muss ich grinsen.

»Hey, du lachst ja schon wieder. Sehr schön. Sag mal, Schwesterherz, was ist denn los mit dir? Gibt’s Probleme?«

Eigentlich wollte ich ihr ja nicht die Ohren volljammern, aber da sie mich eben eh schon beim Heulen erwischt hat, kann ich wohl schlecht so tun, als wäre alles in bester Ordnung.

»Alles ist blöd«, platze ich heraus. »Ich kann mich selbst nicht leiden. Und bin furchtbar genervt – von allem.«

Dann erzähle ich ihr die Sache mit Romys Nachhilfe, dem abgesagten Einkaufsbummel, dem Regenguss und Mikas Kommentar. Während sie zuhört, beißt Henriette auf ihre Unterlippe. Verkneift sie sich etwa ein Kichern?

»Das ist nicht komisch!«, rufe ich empört, doch da prustet sie auch schon los. Und das total Verrückte daran ist: Es ist ansteckend. Obwohl ich eben noch total mies drauf war, kriege ich mich auf einmal gar nicht ein vor Lachen. Wir gackern im Duett, bis uns die Tränen über die Wangen laufen.

Als ich mich wieder halbwegs beruhigt habe, erzähle ich auch noch die Vasen-Geschichte.

»Und Mum hat ernsthaft den Familienrat einberufen?«, staunt Henriette. »Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das zuletzt gemacht hat.«

Geht mir genauso. Früher wurde bei uns wegen jedem Pups ein Familienrat abgehalten. Doch seit Mika auf der Welt ist, hat Mum keine Zeit mehr für so etwas. Sie lässt sogar Grammatikfehler durchgehen, ohne uns ständig zu verbessern, und verzieht keine Miene, wenn wir mal Pizza oder Döner bestellen wollen. Das wäre vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen. Danke, Mika!

»Tja, ab und zu kriegt sie eben einen Rückfall«, erwidere ich und bringe meine große Schwester damit erneut zum Lachen.

Dann wird sie wieder ernst und seufzt. »Ich wünschte, ich könnte mal eben vorbeikommen und dich in den Arm nehmen, Tessa.«

Prompt schießen mir wieder Tränen in die Augen, aber ich tue so, als müsste ich niesen, und wische sie unauffällig weg.

»Glaub mir, ich verstehe nur zu gut, was gerade in dir vorgeht«, sagt Henriette. »Als Nesthäkchen aufzuwachsen, ist bestimmt nicht immer leicht gewesen. So ging es mir damals auch – bis du auf die Welt kamst und ich eine große Schwester wurde. So wie bei dir und Mika jetzt.«

Daran habe ich noch überhaupt nicht gedacht! Stimmt, der Altersunterschied zwischen Henriette und mir ist ungefähr so groß wie der zwischen mir und meinem kleinen Brüderchen. Vielleicht versteht mich Henriette deshalb so gut, weil wir uns im Grunde so ähnlich sind? Auch wenn sie und ich auf den ersten Blick nicht besonders viel gemeinsam haben. Zum Beispiel ist meine Schwester der wohl unsportlichste Mensch auf dem Planeten, während ich jahrelang Fußball gespielt habe und inzwischen in der Leichtathletik-Schulmannschaft eine der besten Hochspringerinnen bin. Aber das sind Äußerlichkeiten. In Gefühlsdingen ticken wir ziemlich gleich.

»War ich mit fünf etwa auch so eine Nervensäge?«

»Ooooh, und ob!«, behauptet Henriette. »Oma nannte dich immer die kesse Tessa. Und ich hätte dir manchmal den süßen kleinen Hals umdrehen können, wenn du deine frechen Kommentare abgegeben hast. Zum Beispiel, als ich mit Paps mal einen Riesenkrach hatte, bloß weil ich mein Zimmer nicht aufräumen wollte. Ich sagte, er solle sich ein anderes Hobby suchen, als mich zu quälen, und das fand er überhaupt nicht witzig. Du dagegen hast dich offenbar prächtig amüsiert, als wäre unser Streitgespräch ein lustiger Sketch. Ich weiß noch genau, was du auf Mums Frage geantwortet hast, was los sei: Henry ist patzig und hat einen Saustall.«

»Das soll ich gesagt haben?« Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Weder an den Streit noch an das Gespräch. »Aber eigentlich war das doch eine perfekte Zusammenfassung«, füge ich hinzu. »Ganz schön clever.«

»Ein cleveres Teufelchen, das warst du absolut!«

Ich strecke Henriette die Zunge raus.

»Hauptsache, du bist nicht mehr so down«, kommentiert sie. »Hast du oft schlechte Laune?«

»Oft ist noch untertrieben«, erwidere ich mit Grabesstimme. »Das Schlimmste ist, dass sich meine Stimmung ständig ändert, ohne dass ich es beeinflussen kann. Urplötzlich bin ich stinksauer, dann wieder beleidigt oder total traurig, und meistens ohne richtigen Grund. Wenn es dagegen nur ein Mittel gäbe …«

»Oh, das kenne ich. Die Pubertät bringt dich wohl gerade ganz schön durcheinander.«

»Ich weiß, ich hab dein Buch gelesen. Ungefähr drölfzigtausend Mal. Ich weiß, warum das alles mit mir passiert. Aber das hilft mir nicht. Ich will wissen, was ich dagegen tun kann!«

»Mir hat damals das Schreiben geholfen. Und das Recherchieren. Ich hatte einfach das Gefühl, wenn ich verstehe, was in meinem Körper los ist, kann ich das alles besser aushalten.« Henriette kratzt sich am Kopf. »Was machst du denn dagegen? Ich meine, außer griesgrämig aus der Wäsche gucken und Burki kraulen?«