Unser griechischer Sommer - Maeve Haran - E-Book

Unser griechischer Sommer E-Book

Maeve Haran

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Beschreibung

Vier Freundinnen im besten Alter bringen eine verschlafene griechische Insel auf Trab!

Seit ihrem Studium waren Dora, Penny, Nell und Moira ein unzertrennliches Gespann. Doch mit der Zeit haben sich die Frauen zwischen Karriere, Beziehungen und Familienplanung aus den Augen verloren. Penny leidet sehr darunter – und da sie in einer Krise steckt, benötigt sie die Unterstützung ihrer Freundinnen umso mehr. Kurz entschlossen trommelt sie Dora, Nell und Moira zusammen und unterbreitet ihnen eine Idee: Wie wäre es, wenn sie ihren legendären Griechenlandurlaub aus Studienzeiten wiederholen würden? Die Frauen sind Feuer und Flamme, und so brechen sie auf eine kleine Kykladeninsel auf, wo sie nicht nur Ouzo und Oliven erwarten, sondern auch der Sommer ihres Lebens …

Lassen Sie sich auch die anderen heiteren Sommerromane von Maeve Haran nicht entgehen:
Die beste Zeit unseres Lebens
Das größte Glück meines Lebens
Der schönste Sommer unseres Lebens
Das Beste, das uns je passiert ist

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Buch

Seit ihrem Studium waren Dora, Penny, Nell und Moira ein unzertrennliches Gespann. Doch mit der Zeit haben sich die Frauen zwischen Karriere, Beziehungen und Familienplanung aus den Augen verloren. Penny leidet sehr darunter – und da sie in einer Krise steckt, benötigt sie die Unterstützung ihrer Freundinnen umso mehr. Kurz entschlossen trommelt sie Dora, Nell und Moira zusammen und unterbreitet ihnen eine Idee: Wie wäre es, wenn sie ihren legendären Griechenlandurlaub aus Studienzeiten wiederholen würden? Die Frauen sind Feuer und Flamme, und so brechen sie auf eine kleine Kykladeninsel auf, wo sie nicht nur Ouzo und Oliven erwarten, sondern auch der Sommer ihres Lebens …

Autorin

Maeve Haran hat in Oxford Jura studiert, arbeitete als Journalistin und in der Fernsehbranche, bevor sie ihren ersten Roman veröffentlichte. »Alles ist nicht genug« wurde zu einem weltweiten Bestseller, der in 26 Sprachen übersetzt wurde. Maeve Haran hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in London.

Von Maeve Haran bereits erschienen

Die beste Zeit unseres Lebens · Das größte Glück meines Lebens · Der schönste Sommer unseres Lebens · Das Beste, das uns je passiert ist

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MAEVE HARAN

Unser griechischer Sommer

ROMAN

Deutsch von Karin Dufner

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Greek Holiday« bei Pan Books an imprint of Pan Macmillan, London.

Das Zitat von William Shakespeare stammt aus »König Heinrich V.« in »Skahespeare’s dramatische Werke«, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Johann Friedrich Unger, Berlin, 1801.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Angela Kuepper Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de DK · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-27924-0V001www.blanvalet.de

Für Georgia, Holly und Jimmy

Eins

»Erklär mir doch bitte, was ich hier in dieser Gluthitze eigentlich soll. Und das auch noch zehn Tage lang und mit Frauen, die ich in den letzten Jahren kaum gesehen habe und womöglich nicht einmal wiedererkenne.«

Nell warf einen Blick auf Dora, die es trotz ihres Gejammers wegen der hohen Temperaturen wieder einmal schaffte, in ihrem bronzefarbenen schulterfreien Kleid frisch und elegant auszusehen. Und das, obwohl sich besagtes Kleid eher für eine Cocktailparty in Canary Wharf geeignet hätte als für eine zehnstündige Reise mit der Fähre bei sengender Sonne.

»Weil es ein Abenteuer ist«, erwiderte Nell, froh darüber, dass sie praktische Baumwollkleidung trug. »Weil wir auf die zauberhafte griechische Insel zurückkehren, in die wir uns verliebt haben, als wir achtzehn waren. Wir waren unzertrennlich, weißt du noch? Damals wollten wir für immer Freundinnen bleiben – mit Ausnahme von Moira vielleicht. Und dann ist uns das Leben in die Quere gekommen. Ehemänner. Kinder. Alltagspflichten …« Verlegen hielt sie inne, da ihr einfiel, dass Dora weder Mann noch Kinder hatte. »Und in deinem Fall eine tolle Karriere«, fügte sie rasch hinzu. »Ich finde dieses Treffen eine prima Idee. Sogar mit Moira. Außerdem bedeutet es Penny sehr viel, und Penny ist ein ganz besonders lieber Mensch.«

»Was für ein Pech für sie«, entgegnete Dora gedehnt.

Nell ließ den Blick über die Anlegestelle in Piräus schweifen, jenen Hafen, von wo aus die Schiffe zu den griechischen Inseln in See stachen. Sie suchte nach einem Wegweiser zum Terminal, in dem sie sich verabredet hatten, doch sie konnte nichts Aufschlussreiches entdecken, insbesondere kein Schild mit der Aufschrift Zanthos.

Eigentlich waren sie alle überrascht gewesen, als Dora sich wie aus heiterem Himmel einverstanden erklärt hatte, mitzukommen. Dora führte nämlich ein schillerndes Leben in der PR-Branche. Nell hatte einmal einen Artikel auf der Gesellschaftsseite einer Zeitung entdeckt. »Pandora Perkins, die Furcht erregendste PR-Maschine Londons«, hatte die Schlagseite gelautet. Sie war erleichtert, dass ihr Leben Doras nicht im Entferntesten ähnelte. Ihre Arbeit als Empfangssekretärin in einer Arztpraxis konnte man wohl kaum als schillernd bezeichnen … Ein kleiner Schock traf sie, als ihr einfiel, dass das gar nicht mehr stimmte. Vor drei Wochen hatte sie sich nämlich für den vorzeitigen Ruhestand entschieden, nachdem sie wieder einmal mit der neuen Praxismanagerin aneinandergerasselt war. Also war sie jetzt eine ehemalige Empfangssekretärin in einer Arztpraxis.

Nell warf noch einmal einen Blick in Pennys E-Mail, dann sah sie auf.

»Oh, schau, auf diesem Schild steht ›Passagierterminal‹«, verkündete sie. Sie bogen um die Ecke, weg von den in Reih und Glied vor Anker liegenden gewaltigen Fähren, deren Hecks offen standen wie klaffende Mäuler, damit Autos und mit Containern beladene Lastwagen hineinfahren konnten. Dabei wären sie fast mit einem Mann mit gerötetem Gesicht zusammengestoßen, der zwei riesige Koffer hinter sich herzog und sich außerdem mit einer Reisetasche abschleppte, während seine Frau gleichmütig vorneweg stolzierte.

»Gegen so einen hätte ich nichts einzuwenden«, meinte Dora und blickte den beiden nach.

»Was, so einen Koffer?« Nell begutachtete die Gepäckstücke, ob sie vielleicht aus dem Hause Louis Vuitton stammten, Doras bevorzugter Marke.

»Nein, den Ehemann. Ich habe mich schon immer gefragt, wozu die gut sind. Jetzt ist es mir klar.«

Die zwei kicherten. Nell sah auf die Uhr, froh, dass sie noch genug Zeit hatten, um das Terminal zu suchen und Tickets zu kaufen. Nell achtete nämlich stets auf ein ausreichendes Zeitpolster und hielt Menschen, die auf den letzten Drücker kamen, für egoistisch und unhöflich.

»Ich begreife nicht, warum wir die Tickets nicht online gebucht haben«, mäkelte Dora. »Heutzutage stehen doch nur noch Masochisten Schlange wegen einer Fahrkarte.«

»Penny sagte, das sei billiger.« Nell wurde klar, dass in Doras Welt vermutlich keine Leute vorkamen, die aufs Geld achten mussten. »Weißt du, was dein Problem ist?« Sie bemühte sich, nicht allzu kritisch zu klingen. »Du hast dich zu sehr daran gewöhnt, im Flieger zielstrebig die Business Class anzusteuern. Lass dich mal aufs wirkliche Leben ein. Wir empfinden den Urlaub nach, den wir gemeinsam als Studentinnen verbracht haben. Das ist wichtig. Ein Meilenstein.«

»Ich hasse Meilensteine. Sie erinnern mich daran, wie viele Meilen ich schon hinter mir habe.«

Im nächsten Moment wurde Dora auf zwei vorbeikommende orthodoxe Priester aufmerksam. Sie waren in Schwarz gehüllt und trugen hohe schwarze Hüte und Bärte, bei deren Anblick der Durchschnittshipster in Shoreditch an seinem Biobrötchen erstickt wäre. »Guck mal, die wissen es bestimmt. Sie sind Griechen und außerdem der Nächstenliebe verpflichtet.«

Dora marschierte los und schüttelte einem der Priester kräftig die Hand. Dieser erbleichte vor Entsetzen und wich einen Schritt zurück, als wäre Eva höchstpersönlich an der übel riechenden Hafenkante wieder zum Leben erwacht, hätte den schicksalhaften Apfel gezückt und bereit, den Sündenfall des männlichen Geschlechts herbeizuführen.

»Verzeihung, aber könnten Sie mir sagen, wo Terminal P1 ist, an dem die Schiffe zu den Kykladen ablegen?«, erkundigte sich Dora.

Mit einem heftigen Kopfschütteln ergriff der Priester die Flucht.

»Na großartig«, stellte Dora fest. »Und ich dachte, ein Treffpunkt am Terminal wäre so, als würde man den Eurostar nehmen. Eigentlich wollte ich mir noch einen Cappuccino und eine Ausgabe der Grazia kaufen.«

»Komm schon, irgendwo hier in der Nähe muss es sein«, antwortete Nell. Obwohl es noch früh im Jahr war, brannte die Sonne vom Himmel, und Nell stellte fest, dass ihr der Schweiß herunterlief. Außerdem wimmelte es von Leuten, die alle schubsten und drängelten. Abgesehen von den beiden kleinen Jungen, die angelnd auf der Hafenmauer saßen, erinnerte das Ganze mehr an ein brodelndes Inferno als an einen griechischen Urlaubstraum. Man hatte ihr gesagt, dass man von Bord der Fähre aus die Akropolis sehen könne. Doch im Moment sah sie nur gereizt wirkende, durcheinanderschreiende Menschen. Einige Raucher standen qualmend neben ihren Koffern. Als sie und Dora um eine weitere Ecke bogen, erhob sich vor ihnen ein leuchtend rotes Gebäude mit der Aufschrift »Passagierterminal«.

Es hatte nicht nur geschlossen, sondern war zusätzlich mit einer Kette und einem Vorhängeschloss verrammelt. Sie ließen sich davor auf eine Bank fallen und stützten sich auf ihre Rollkoffer.

»Ach, verdammter Mist.« Nell wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Nun gut. Warum rufen wir Penny nicht an? Ich wette, sie hat die Fähre gefunden.«

Als sie gerade in ihrem Rucksack kramte, kam eine seltsame Gestalt auf sie zu. Sie trug ein langes Kleid in einem wenig schmeichelnden Lilaton, das mit kleinen antiken Schlüsseln gemustert war und den Anschein erweckte, als entstammte es einem griechischen Tempel. Außerdem las besagte Gestalt beim Gehen ein Buch, offenbar ohne das Gewühl um sie herum überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Haar hatte Ähnlichkeit mit einem wirren Vogelnest, das Nell an ein Gedicht von Edward Lear denken ließ, und zwar an das über einen alten Mann, der in seinem Bart zwei Eulen, eine Henne, vier Lerchen und einen Zaunkönig, allesamt nistend, vorgefunden hatte.

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Moira«, begrüßte sie das vierte Mitglied ihres Kleeblatts. »Hast du das richtige Terminal schon entdeckt?«

Die Neuangekommene klappte die Griechische Mythologie von Robert Graves zu und sah sich verdattert um. »Nein, tut mir leid. Ich war gerade im archäologischen Museum in Piräus. Das solltet ihr euch nicht entgehen lassen.«

Dora zog eine Augenbraue weit genug hoch, um anzudeuten, dass archäologische Museen nicht unbedingt auf ihrer Liste systemrelevanter Dinge standen.

Moira lehrte Altphilologie an einem der berühmtesten Colleges in Cambridge und ließ sich nur selten eine Gelegenheit entgehen, ihre Mitmenschen darauf hinzuweisen. »Ich bin ja so aufgeregt«, verkündete sie und spähte aufs blaue Meer hinaus. »Unsere Fähre legt auf Ios an, wo Homer begraben ist. Ich möchte dort aussteigen und ihm zumindest kurz ein Trankopfer darbringen. Leider geben die einem nur sechs Minuten.«

»Ich habe gehört, dass Ios inzwischen eine Partyinsel ist«, wandte Dora ein. »Kotze auf den Straßen und vierundzwanzigstündige Besäufnisrundfahrten. Was würde Homer wohl dazu sagen?«

Entsetzt schüttelte Moira den Kopf. Nell, die sie fasziniert beobachtete, hoffte, dass keine Lerchen oder Zaunkönige auffliegen würden.

»Allerdings erwähnt er in der Odyssee den wilden Wein, der die Männer dazu bringt, aus voller Kehle zu singen«, teilte Moira ihnen mit. »Außerdem zu tanzen und Geschichten herauszuposaunen, die man besser für sich behält.«

»So einen Wein habe ich auch mal probiert«, bestätigte Dora.

»Ich ebenfalls«, sagte Nell. »Allerdings schon viel zu lange nicht mehr.«

»Dagegen müssen wir etwas tun.« Dora lachte. »Erinnerst du dich noch an Retsina?«

»Das Zeug, das wie Desinfektionsmittel schmeckt?«

»Genau. Vielleicht gibt es ja welchen an Bord.«

»Falls wir die Fähre jemals finden.« Nell seufzte. Ihr üblicher Tatendrang ließ in der Hitze allmählich nach. »Ach, ich wollte ja Penny anrufen.«

»Moment.« Moira wies hinter sich. »Ist sie das nicht?«

Als Dora und Nell sich umdrehten, näherte sich ihnen eine lächelnde Gestalt. Obwohl sie noch knapp zehn Meter entfernt war, war klar zu erkennen, dass sie beinahe genauso aussah wie damals in ihrer Studentenzeit – Schlabberklamotten, glattes blondes Haar, Sommersprossen und eine fast verzweifelt bemühte Miene.

»Mein Gott«, raunte Dora. »Sie trägt einen Haarreif! In unserem Alter! Ich hatte meinen letzten, als ich zwölf war. Außerdem scheint sie so darum zu betteln, gemocht zu werden, wie der Spaniel, den wir in meiner Kindheit hatten. Der hat gar nicht mehr aufgehört, mit dem Schwanz zu wedeln, sogar bei Einbrechern.«

»Kein Spaniel.« Nell ertappte sich dabei, dass sie ebenfalls flüsterte. »Ein Golden Retriever … Dora«, fügte sie hinzu, »du übst einen schlechten Einfluss auf mich aus. Benimm dich. Hallo, Penny.« Sie begrüßte ihre Freundin mit einem Lächeln. »Was hast du denn da?«

»Spanakopita!«, verkündete Penny stolz.

»Heißt das ›Guten Morgen‹ auf Griechisch?«, fragte Dora, mit einem Lachen kämpfend.

»Das wäre kalimera«, verbesserte Moira pedantisch.

»Wisst ihr nicht mehr, Mädels?«, sprudelte Penny hervor. »Als wir das letzte Mal die Fähre erwischt haben, waren wir am Verhungern, und alle Griechen haben so was gegessen. Mit Spinat und Käse gefüllten Blätterteig.« Sie streckte ihnen vier fettige Dreiecke hin.

Nell bediente sich als Erste. »Lecker!«, rief sie aus.

Moira verschlang ihre Blätterteigtasche mit einem Bissen und verschluckte sich ordentlich, während Dora das Gesicht verzog, weil sie keine Fettflecken auf ihrem ungeeigneten Kleid riskieren wollte.

»Da wären wir also.« Penny platzte beinahe vor Aufregung. »Das Abenteuer kann beginnen! Das Terminal ist gleich um die Ecke.«

Sie stellten sich wegen der Tickets an, die wirklich leicht zu bekommen waren, wenn man erst einmal wusste, wo. Wie Penny versprochen hatte, waren sie auch um einiges billiger als online.

Die Tickets in der Hand und ihre Koffer hinter sich herziehend machten sie sich auf den Weg zur Fähre. Sie waren wirklich ein bunt gemischtes Trüppchen: Nell mit einem dunklen Pagenschnitt, hübsch und ordentlich in beige Baumwollshorts und eine gestärkte weiße Bluse gekleidet. Moira, die wirkte wie ein Mitglied eines avantgardistischen Autorenkollektivs auf Urlaub. Dora, wohlhabend und elegant, die aussah, als wäre sie die Besitzerin der Schifffahrtslinie und keine Passagierin, die überdies zu Fuß unterwegs war. Und zu guter Letzt Penny, die tatsächlich einem Retriever ähnelte, der mit Feuereifer einem Ball hinterherjagte.

»Dem Himmel sei Dank für Rollkoffer.« Penny strahlte die anderen an. »Bestimmt wisst ihr noch, dass wir unser Gepäck beim letzten Mal quer durch Athen schleppen mussten, weil wir uns die Busfahrt nicht leisten konnten.«

Sie kamen ans Ufer, wo eine Reihe von Fähren wartete.

Doras Blick fiel auf ein kleines, windschnittiges Gefährt namens Sea Cat 3, eindeutig ein Schnellboot. »Vermutlich fahren wir nicht mit dem da«, meinte sie sehnsüchtig.

»Ich glaube, das hier ist unseres.« Moira deutete auf ein großes, klobiges Schiff mit gelbem Schornstein. »Es hält an sechs Inseln, und eine davon ist Ios. Also kann ich aussteigen und mein Trankopfer darbringen!« Sie platzte fast vor altphilologischem Überschwang. »Über einigen Inseln können wir auch den Sonnenuntergang beobachten.«

»Traumhaft«, merkte Dora an.

»Stell es dir als Mini-Kreuzfahrt vor«, sagte Nell beschwichtigend.

»Eine Kreuzfahrt ohne Vier-Sterne-Restaurant, Wellnessbereich, ja sogar ohne Pool?«, entgegnete Dora spitz. »Ich setze mich da drüben in den Schatten.« Sie wies auf den in Grellorange gehaltenen Wartebereich.

Als sie außer Hörweite war, hob Moira ihre Griechische Mythologie und flüsterte Nell hinter vorgehaltenem Buch zu: »Warum, um alles in der Welt, ist Dora mitgekommen?«

Nell warf einen Blick auf die Freundin, die gerade anmutig eine echte altmodische Zigarette an die bronzefarben schimmernden Lippen führte. »Genau das habe ich mich auch schon gefragt.«

Um das Maß für Dora vollzumachen, drängten sich auf dem Boot Menschen, die zum Namenstag eines aus der Gegend stammenden hoch verehrten Heiligen in ihre Heimatgemeinden reisten. Rasch waren die mit grünem Stoff bezogenen Bänke von Familien okkupiert. Die Kinder saßen auf dem Schoß ihrer Eltern oder tobten fröhlich und ausgelassen johlend herum. Die Durchgänge waren mit Koffern und Körben voller Proviant für die Festlichkeiten blockiert. Sitzplätze gab es nur noch im Bordrestaurant.

Nell zog los, um das Essensangebot in Augenschein zu nehmen. »Nun, Mädels«, meldete sie vergnügt. »Wir haben die Wahl zwischen Moussaka mit Pommes und Moussaka mit Pommes.«

Auf einem gewaltigen Fernsehbildschirm über ihren Köpfen lief ein Fußballspiel in voller Lautstärke. »Zeit, sich dem Rebensaft zuzuwenden«, verkündete Dora und stellte eine Flasche Retsina und vier Gläser auf den Tisch. »Schauen wir mal, ob das Zeug noch so scheußlich schmeckt, wie ich es in Erinnerung habe.«

Moira hielt die Hand über ihr Glas und rümpfte die Nase. »Eigentlich trinke ich nicht.«

Die anderen starrten sie entgeistert an.

»Bähhh!« Dora verzog das Gesicht. »Es schmeckt wirklich nach Desinfektionsmittel!« Sie trank trotzdem.

Als die Flasche leer war, machte sich Dora auf den Weg, um herauszufinden, ob sich wohl noch eine Kabine ergattern ließe – für sie die einzige Chance, die Nacht lebend zu überstehen, wie sie betonte.

»Es muss einen Grund geben, warum sie hier ist«, beharrte Moira. »In die Niederungen von uns gewöhnlichen Sterblichen hinabzusteigen ist doch gar nicht ihr Stil.«

»Natürlich ist sie hier!«, rief Penny schockiert aus. »Schließlich ist es eine Wiedersehensfeier. Bestimmt hätte Dora sich die niemals entgehen lassen.«

Vor dem Bordrestaurant verfärbte sich der Himmel aprikosenfarben mit rosavioletten Streifen. »Los.« Moira schnappte sich ihren Rucksack. »Sonst verpassen wir den Sonnenuntergang.«

»Was ist mit unseren Plätzen?«, fragte Nell. Beim Gedanken, die ganze Nacht auf dem nicht gerade sauberen Boden sitzend verbringen zu müssen, geriet sie in Panik. »Am besten bleibe ich hier und verteidige sie.«

Das Problem löste sich in Wohlgefallen auf, als Dora zurückkehrte und meldete, sie habe eine Kabine mit vier Kojen für sie gesichert. »Stellt euch vor, der Chefsteward hat angeboten, sie uns billiger zu geben, wenn wir eine der Kojen an einen Fremden abtreten. Allerdings dachte ich nicht, dass eine von euch einverstanden wäre, auf dem Boden zu schlafen.«

»Ich schon«, erklärte Penny sich sofort bereit.

»Das weiß ich doch, Penny«, meinte Dora, offenbar durch die Aussicht auf eine Kabine ein wenig milder gestimmt. »Es war nur ein Scherz.«

»Komm und schau dir vor dem Schlafen den Sonnenuntergang an«, schlug Moira vor.

»Ja, los, Dora«, stimmte Nell zu. »Es ist dein erster Abend in Griechenland! Genieße ihn! Du brauchst ja nicht lange aufzubleiben.«

An Deck herrschte inzwischen eine idyllische Stimmung. Das Kielwasser des Schiffes schien aus geschmolzenem Silber zu bestehen, und der Wind, der ihnen durchs Haar wehte, liebkoste sie sanft. Nell blickte hinauf in die Sterne. Sie glaubte, das Sternbild Kassiopeia ausmachen zu können, wagte aber nicht, es auszusprechen, da sie einen halbstündigen Vortrag über die von der griechischen Mythologie inspirierten Sternenbilder von Moira befürchtete. So viele Sterne hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie mit Willow im Londoner Planetarium gewesen war. Nein, in dieser wunderschönen Nacht wollte sie nicht an Willow denken. Sie hatte Pennys Einladung angenommen, um Abstand von einer, wie sie wusste, ans Krankhafte grenzenden Fixierung auf ihre Tochter zu gewinnen, die sich weigerte, auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Ganz sicher würde es ein Spaß werden, mit ihren drei Freundinnen aus dem College zusammen zu sein, auch wenn sie so gar nicht zueinander passten. Doch hieß es nicht, dass Gegensätze sich gegenseitig anzogen? Zumindest hoffte sie das sehr. Sie zwang sich, sich auf die unzähligen Sterne und Planeten zu konzentrieren, die sich gestochen scharf und wie Edelsteine vom samtschwarzen Himmel abhoben.

»Wie mag wohl das Wetter zu Hause sein? Hoffentlich schauderhaft.« Diese harmlose Äußerung klang aus Pennys Mund beinahe wie eine Gotteslästerung.

Ein Stück in Richtung Heck saßen einige junge Leute auf ihren Taschen, tranken Wein und spielten Gitarre.

»Wisst ihr noch, was für ein gewaltiger Schritt es in unserer Jugend war, nach Griechenland zu fliegen?« Die freudige Erinnerung sorgte dafür, dass Nells Stimme fast wie ein Schnurren klang. »Ganz anders als heute, wo alle nach Bali oder nach Südamerika reisen. Die griechischen Inseln waren der Gipfel des Abenteuers. Eine völlig fremde Welt.«

»Außerdem gab es weder große Hotels noch Airbnb!« Penny lachte. »Nur eine kleine ältere Griechin ganz in Schwarz, die am Hafen wartete, um einem ein Zimmer anzubieten.«

Die jungen Leute waren offenbar in nostalgischer Stimmung und hatten die Sechziger wiederentdeckt. Auf »If You’re Going to San Francisco« folgte »Leaving on a Jet Plane«.

»Erinnert ihr euch an das Café auf Zanthos, das die einzige Musikbox im Dorf besaß?«, meinte Penny. »Und das wiederum einzige Lied darin war ›Black Magic Woman‹. Wir haben es immer und immer wieder abgespielt. Ich frage die da drüben mal, ob sie das Lied kennen.« Sie sprang auf.

»O Gott, jemand muss sie aufhalten«, flehte Dora. Aber zu spät. Kurz darauf stimmten sie alle in den Refrain ein.

Das war zu viel für Dora. Sie erhob sich und ging in die Kabine, wo sie erleichtert in ihre Koje sank und sich bemühte, den seltsamen Geruch zu verdrängen, bei dem es sich hoffentlich nicht um Kohlenmonoxid handelte. Außerdem versuchte sie, das Scheppern und Klappern der Rampe zu überhören, als sie an der ersten Insel festmachten und Autos, Lastwagen und lautstark durcheinanderschnatternde Fußgänger das Schiff verließen. Sie wollte lieber nicht nachrechnen, wie viele Jahre vergangen waren, seit sie dieses Lied zuletzt gehört hatte.

Zumindest, so tröstete sie sich, konnte es nicht viel schlimmer kommen, als bei dreißig Grad Hitze direkt unter dem Parkdeck in einer etwa sechzig Zentimeter breiten Koje ausharren zu müssen.

Moira verkündete, sie wolle den Chefsteward aufspüren und sich erkundigen, wann sie Ios erreichen würden. Unterdessen begaben sich Penny und Nell in die Bar und kauften eine Flasche Wein, um sie mit den jungen Leuten an Deck zu teilen. Sie waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen und hatten sich in einer Jugendherberge in Athen kennengelernt. Dort hatten sie beschlossen, gemeinsam nach Ios zu fahren, wo anscheinend Feiern rund um die Uhr angesagt war.

Sie waren zwischen siebzehn und dreißig, die Mädchen in ultraknappen Shorts und bauchfreien Tanktops, die Männer in Lycra und Trikots, so als wollten sie jeden Moment auf ihre Fahrräder springen und an der Tour de France teilnehmen.

»Die sind wie eine moderne Version von uns.« Nell lachte.

»Ohne Zottelmäntel und Hippieschals«, stimmte Moira zu. »Erinnerst du dich noch an das Berber-Hochzeitskleid, das du auf dem Kensington Market entdeckt und etwa zwei Jahre lang getragen hast, bis es schlimmer gestunken hat als ein Kamel?«

Nell musste lachen. »Ich habe dieses Kleid geliebt. Meine Mutter war absolut außer sich, was einen Teil seines Reizes ausmachte.«

»Glaubst du, es stört sie, wenn wir alte Weiber bei ihnen sitzen?«, fragte Penny besorgt. Nell musste bei ihrem Gesichtsausdruck unwillkürlich an einen Jagdhund denken, der den Fasan seines Herrchens fallen gelassen hat und jetzt mit einer Standpauke rechnet.

»Vermutlich haben sie uns gar nicht richtig wahrgenommen«, antwortete sie. »Und wenn doch, erinnern wir sie wahrscheinlich an ihre Eltern.« Sie stand auf und schwenkte die Flasche. »Hat jemand Lust auf Nachschub?«

»Oh, Demestica«, sagte ein hübsches Mädchen mit dunkler Lockenmähne. »Wir steigern uns.« Sie rutschte ein Stück, damit Nell sich neben sie setzen konnte. Nell winkte Penny und Moira heran.

Der Mond ging auf. »Schaut, wir haben beinahe Vollmond!« Zufrieden zeigte Penny mit dem Finger darauf, so als hätte sie ihn eigens bei Harrods bestellt. Die warme Brise fühlte sich an, als würde man in einen hauchzarten Seidenschal gehüllt.

Penny lachte glücklich auf. »Weißt du noch, der Schal mit den Fransen, den ich damals hatte? Den mit der Stickerei, den wir über eine Lampe gebreitet haben, wenn ich ihn nicht umhatte?«

»Der schwarze mit den roten und rosafarbenen Rosen?«, hakte Nell nach. »Was ist denn aus dem geworden?«

»Ich habe ihn bei meinen Eltern im Auto vergessen, und meine Mum hat ein Päckchen mit Leberwurst draufgelegt. Eindeutig Sabotage. Sie fand, ich sähe damit aus wie eine Revuetänzerin und alle würden über mich lachen. Eine schöne Zeit, oder?« Kurz griff sie nach Nells Hand und drückte sie. »Danke, dass du gekommen bist. Offen gestanden bin ich nicht sicher, was uns erwartet.«

Nell erwiderte die Geste. »Ich habe die Gelegenheit einfach beim Schopf gepackt. Wenn man Single ist, hat man nicht allzu viele Chancen auf ein Abenteuer. Und auf Kreuzfahrten die allein reisende Dame zu spielen wird ziemlich bald langweilig, das sage ich dir.«

Nell und Penny wussten nicht, ob sie damit gemeint waren, aber jedenfalls stimmte einer der Gitarristen Bob Dylans »The Times They Are a-Changin’« an.

Nell sang die Stelle mit, in der es darum ging, dass man keinen Einfluss auf seine Söhne und Töchter hat, und spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Auf Willow hatte sie eindeutig keinen Einfluss mehr. Obwohl Weybridge nicht weit weg war, sah Nell sie – und ihre kleine Enkelin – nur sehr selten. Willow war vermutlich die einzige Frau weltweit, die ihre Schwiegermutter lieber mochte als ihre eigene Mutter!

Vielleicht war das ja auch ganz allein ihre eigene Schuld. Schließlich war sie diejenige gewesen, deren Affäre vor all den Jahren ihrer Ehe ein Ende gesetzt hatte. Worauf Robert, ihr Ex, ihre Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit hinwies. Willow war zwar zähneknirschend bei ihr geblieben, doch sie hatte die Hälfte der Zeit bei Robert und seiner neuen Frau verbracht. Und seit Willow mit Ollie verheiratet war und selbst ein Baby hatte, war sie jede freie Minute mit Marigold zusammen, ihrer grässlichen Schwiegermutter.

Nell zwang sich, nicht zum Telefon zu greifen, um sich die neuesten Fotos von der glücklichen Familie auf Instagram anzuschauen.

Die junge Frau, die ihnen gegenübersaß und die knappsten Shorts trug, die Nell je untergekommen waren, fing an, heftig einen Mückenstich zu kratzen. Nell wollte zwar nicht aufdringlich hinstarren, aber sie bemerkte, dass die Beine der Frau mit Quaddeln übersät waren.

»Unser Campingplatz hat sich als Sumpfgebiet entpuppt«, erklärte die junge Frau.

Ihr Freund beugte sich über sie, um die Stiche zu untersuchen. Nell hoffte, dass er sie ein wenig bemitleiden würde.

»Mann, du siehst furchtbar aus«, lautete sein einziger Kommentar.

Nell schüttelte den Kopf und blickte Penny achselzuckend an. Zum Teufel mit den Männern.

Penny spürte, wie sich der sorglose Moment in Luft auflöste. Genau so eine Bemerkung hätte ihr Mann Colin sicher auch gemacht. Sie sollte ihn anrufen.

Sosehr die Gleichgültigkeit des jungen Mannes sie auch an Colin erinnern mochte, Penny schob den Gedanken sofort in einen verborgenen Winkel ihres Verstandes, wo sie alles verwahrte, was ihrer Ehe gefährlich werden könnte.

»Gehen wir schlafen?« Als sie Nell hochzog, bemerkte sie, wie spät es geworden war. »Wo mag Moira wohl stecken?«

»Vermutlich liegt sie schon in ihrer Koje und träumt von Nymphen und Satyrn.«

»Hoffentlich verschläft sie Ios nicht. Oder bleibt dort bei den Feierwütigen hängen.«

»Dora würde wahrscheinlich Luftsprünge machen.« Sie wechselten einen vielsagenden Blick. »Es wäre schön, wenn Dora in Griechenland klarkommen würde. Offenbar hat sie andere Ansprüche als wir.«

»Keine Sorge, ich passe auf sie auf«, versprach Nell.

»Dafür kriegst du ein Sternchen.«

Wie aufs Stichwort blickten sie beide in den fantastischen, an dunkelblauen Samt erinnernden Himmel auf, wo die zahlreichen Sterne so viel näher zu sein schienen als zu Hause. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Gesichtern aus. Endlich fühlte es sich an wie ein richtiges Abenteuer, frei von sämtlichen Verpflichtungen. Sie brauchten sich nicht mehr mit Supermärkten, der Parkplatzsuche oder der Frage zu beschäftigen, ob die Waschmaschine funktionierte.

»Wenn wir aufwachen, sind wir auf Zanthos!«

Nachdem Penny in die untere Koje gekrochen war und sich ausgestreckt hatte, sodass ihre großen Füße herausragten, klappte sie ihre Brieftasche auf und holte ein verschwommenes Foto heraus. Es zeigte ein kleines griechisches Dorf mit einer von einer blauen Kuppel gekrönten Kirche und würfelförmigen weißen Häuschen auf einem steilen Hügel über einem Meer in Technicolor.

Bis auf Doras zartes Schnarchen war es still in der Kabine. Penny schloss die Augen und begann mit ihren Achtsamkeitsübungen, um besser einschlafen zu können. Sie versuchte, nicht an Colins Worte zum Abschied zu denken, nämlich, dass ihm ihre Freundinnen leidtäten, weil sie die Reise organisiert habe. Dass sie nicht einmal unfallfrei ein Sandwich in eine Tüte stecken könne.

Doch der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Colins Bemerkung ging ihr immer wieder im Kopf herum. Schließlich setzte sie sich auf und kramte den Ausdruck der Buchungsbestätigung heraus, um sie zum wohl zwanzigsten Mal zu kontrollieren. Ihre Tochter Wendy lachte sie stets aus, weil sie sich auf Papier und nicht auf ihr Smartphone verließ. Aber Penny empfand es als beruhigend, etwas schwarz auf weiß in der Hand zu haben.

Hier stand: »Traditionelles griechisches Haus mit vier Schlafzimmern und Meerblick.« Es war erstaunlich günstig gewesen. Vermutlich weil die Saison erst angefangen hatte.

Penny verstaute die Bestätigung in ihrer Handtasche und schlief endlich ein.

Zwei

Nell schreckte ruckartig hoch. Sie hatten bereits angelegt. Penny und Moira schliefen noch, doch Dora stand vor dem kleinen Wandspiegel und war um sechs Uhr morgens schon perfekt geschminkt.

Nell schloss wieder die Augen. Beim Einschlafen hatte sie Zanthos ganz deutlich vor Augen gehabt. Eigentlich war die Reise damals das größte Abenteuer ihres Lebens gewesen. Als sie an jenem Abend vor so vielen Jahren angekommen waren, hatte die Fähre Verspätung gehabt. Und zwar so sehr, dass es viel zu spät für die alten Damen gewesen war, die an jedem Hafen warteten und ausländischen Besuchern Zimmer für fünf Pfund die Nacht offerierten. Ein Hotel hatten sie sich beim besten Willen nicht leisten können, und von einer Jugendherberge war weit und breit nichts zu sehen gewesen.

Das war der Moment gewesen, als Nell sich zu ihrer ewigen Schande auf ihren Koffer gesetzt und bitterlich geweint hatte.

Es hatte tatsächlich gewirkt. Aus der Dunkelheit war ein junger Engländer aufgetaucht und hatte ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten. Nie würde Nell den Moment vergessen, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Sie teilte das Bett mit Penny. Moira schlief auf dem Boden auf der einen Seite des Bettes, Dora auf der anderen, alle in Laken gewickelt, die ihr Gastgeber ihnen netterweise zur Verfügung gestellt hatte. Sie befanden sich in einem blendend weißen Haus, draußen strahlte der griechische Himmel, und der Duft von Patschuli-Räucherstäbchen mischte sich mit einem kräftigen, süßlichen Geruch, den sie nicht einordnen konnte. »This is the dawning of the age of Aquarius« aus Hair dröhnte durch die Bodendielen.

»Was riecht denn da so?«, fragte Nell schüchtern. »Ist das eine Duftkerze?«

»Hast du noch nie einen Joint geraucht?«, erwiderte Dora und atmete tief den Qualm ein.

Nell wagte nicht, Nein zu sagen und zu verraten, dass sie in Sevenoaks ein behütetes Leben führte.

In der Nacht zuvor war es zu spät gewesen, ihre Nachthemden auszupacken. »Wollen wir uns in Bettlaken wickeln und so tun, als wären wir griechische Göttinnen?«, schlug Dora lachend vor.

Genau das machten sie dann auch.

Ihr Gastgeber hörte auf den ziemlich prosaischen Namen Geoff, stammte aus South Kensington und war allem Anschein nach von Beruf Sohn. Er hatte das Haus für den ganzen Sommer gemietet. Als er sie musterte, trat ein lüsternes Funkeln in seine Augen, obgleich es gerade mal acht Uhr morgens war. »Na, Mädels, ich sehe, ihr habt euch für eine Orgie angezogen.«

Ihr Bauchgefühl riet ihnen, schleunigst die Flucht zu ergreifen. Und so verschwanden sie in Richtung Treppe, zogen sich hastig an und verabschiedeten sich. Sein Gesichtsausdruck, als er ihnen nachwinkte, war ein Bild für die Götter. Offenbar hatte er erwartet, wenigstens eine von ihnen, wenn nicht alle viere, rumzukriegen.

Lachend ließen sie ihre Koffer die steilen, engen kopfsteingepflasterten Straßen hinunterrattern, wobei sie den mit gewaltigen Lasten bepackten Eseln und neugierigen alten Männern mit Mützen und riesigen Schnurrbärten ausweichen mussten, die auf Holzstühlen vor ihren Häusern saßen. Endlich entdeckten sie das offenbar einzige Café von Zanthos.

Sie bestellten sahnigen griechischen Joghurt mit Honig, der wie Manna und Ambrosia schmeckte, und spielten »Black Magic Woman« auf der Musikbox, nicht ahnend, dass es sich um das einzige Stück Popmusik in diesem Etablissement handelte.

Nell betrachtete die anderen und seufzte zufrieden auf. »Ganz bestimmt bin ich im Himmel aufgewacht. Es ist mir egal, ob ich Sevenoaks je wiedersehe. Nur eine Frage – wo sollen wir heute übernachten?«

Da hatte Moira sie alle überrascht.

Sie wohnte im College auf demselben Flur, gehörte jedoch nicht richtig zu ihrer Clique. Weil sie aus den Weiten von Lincolnshire kam, fehlte ihr die Weltgewandtheit der Städter. Und dann war da auch noch ihr Kilt-Problem. In ihrer Garderobe schien es keine anderen Kleidungsstücke zu geben. »Wahrscheinlich ihre Schuluniform«, lästerte Dora, die bereits mit den skandalösen Kreationen von Zandra Rhodes liebäugelte.

Außerdem war Moira eine viel fleißigere Studentin als sie alle, denen es mehr um Spaß als um gute Noten ging. Und wie immer war es die gutmütige Penny gewesen, die Moira eingeladen hatte mitzukommen. »Zu dritt ist es immer problematisch, und wie können wir sie ausschließen, obwohl sie Altphilologie studiert und wir nach Griechenland fahren? Und«, so fügte Penny nicht sehr überzeugend hinzu, »sie kann uns alles über griechische Mythologie erzählen.«

Nur zu wahr, wie sich herausstellte.

»Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein«, verkündete Moira an jenem ersten Morgen auf Zanthos. »Ich finde, wir sollten am Strand schlafen und unser Geld für Essen und Fahrkarten sparen. Die Götter werden uns beschützen.«

Und so hielten sie es denn auch. Die Götter taten ihre Pflicht. Niemand stahl ihr Gepäck oder belästigte sie. Außerdem einigten sie sich auf etwas.

»Abenteuerregel Nummer eins.« Dora grinste die anderen an. »Verrate nichts deinen Eltern. Zumindest nicht, bis du wieder zu Hause bist!«

»Kannst du dir vorstellen, was meine Eltern sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich am Strand schlafe?« Penny kicherte.

Nell war Pennys Eltern nur ein paar Mal begegnet. Dora hatte sie auch kurz kennengelernt. Sie waren die Stütze des Tennisclubs, des Golfclubs und des Arbeitskreises Blumenschmuck in ihrer Kirchengemeinde.

Niemand kannte Moiras Eltern: Mutter Hausfrau, Vater evangelikaler Prediger. »Mein Dad würde mich kreuzigen lassen«, sagte sie.

»Hoffentlich nur bildlich gesprochen.« Dora erschauderte. Sie kam aus Wembley, eine Vorstadt zwar, aber nah genug bei London, um etwas von dem Glanz der Metropole abzukriegen.

»Meinen erzähle ich einfach nichts«, verkündete Nell und streifte damit Sevenoaks und alles ab, wofür es stand …

»Oh mein Gott!« Moira schreckte in ihrer Koje hoch. »Ich habe Ios verschlafen!«

»Vielleicht ist es das Beste so«, tröstete sie Penny. »Möglicherweise hätte es sich als Riesenenttäuschung entpuppt.«

»Ja«, stimmte Dora zu. »Wahrscheinlich gibt es dort mehr Junggesellenabschiede als fröhliche Nymphen und Schäfer.«

Sie drängten sich durch die schwer bepackten Menschenmassen die Treppe hinauf. Als sie in der fahlen Morgensonne an Deck standen, stellten sie überrascht fest, dass hinter ihnen ein gewaltiges Kreuzfahrtschiff vor Anker lag.

»Schaut nur, wie groß es ist!«, staunte Nell. »So was haben wir damals nicht gesehen.«

Am Hafen ging es fast ebenso geschäftig zu wie in Piräus. Es wimmelte von chinesischen Reisegruppen, die unschlüssig waren, welchen Bootsausflug sie unternehmen sollten. Die etwa dreißig Cafés waren brechend voll.

Wortlos blickten die vier sich um, versuchten, sich zu orientieren, und hielten Ausschau nach irgendeiner Kleinigkeit, an die sie sich noch von ihrem ersten Besuch her erinnerten.

Dora, die dringend auspacken und duschen wollte, winkte eines der Großraumtaxis heran. Als Penny dem Fahrer die Adresse nannte, bemerkte nur sie, dass er angesichts der Information, wo sie die nächste Woche verbringen wollten, leicht die Augenbraue hochzog. »Endaxi, meine Damen. Okay, okay. Kein Problem, wenn Sie dort die Handtasche verlieren. Es ist gleich neben dem Polizeirevier.«

Moira fand die Antwort zwar sonderbar, beschloss jedoch, darüber hinwegzusehen.

»Wie war denn das Wetter in letzter Zeit?«, erkundigte sich Nell, die wichtigste Frage eines jeden Urlaubers.

»Zu heiß, kyria«, übertönte der Mann das Klappern der zahlreichen religiösen Glücksbringer, die an seinem Rückspiegel baumelten. »Ostern war es nass. Bei den Prozessionen hat es geregnet, und jetzt ist Mai, die Hitze ist da und geht nicht mehr weg.«

Die vier lächelten einander an. Genau das wollten sie hören, denn schließlich waren sie gerade erst einem langen, kalten englischen Frühling entkommen.

»Schaut euch nur die vielen Schreine am Straßenrand an.« Nell war fasziniert von der Unmenge an Kreuzen und Ikonen, manche davon mit einem Marmeladenglas voller Blumen davor. Moira setzte sogleich zu der Erklärung an, dass es sich bei christlichen Schreinen häufig um solche handelte, die früher Apoll oder Athene geweiht gewesen waren.

Zehn Minuten später bog der Fahrer in einen riesigen Parkplatz ein, wo es von Autos, hupenden Taxis und Bussen wimmelte. Letztere spuckten große, von regenschirmschwenkenden Reiseleitern angeführte Menschengruppen aus.

»Ist das hier wirklich Zanthos?« Ausnahmsweise um ein klassisches Zitat verlegen starrte Moira aus dem Fenster. »Es war doch ein winziges Nest! Höchstens fünfhundert Einwohner.«

»Zanthos jetzt viel los«, bestätigte ihr Fahrer. »Die Saison früh angefangen. In der Woche nach Ostern. Seit März kommen die großen Schiffe.« Er hielt an einer hinteren Ecke des Parkplatzes. »Hier ist die Adresse, die Sie mir gegeben haben.«

Er wies auf ein Haus am Ende einer schmalen Straße. Es war ein Schmuckstück: schneeweiß getüncht, Fensterrahmen und Tür im typischen leuchtenden Blau lackiert, die Mauer von rosafarbenen und violetten Bougainvilleen überwuchert. Nur ein Manko war beim besten Willen nicht von der Hand zu weisen: die wenigen Meter, die es von dem mit Abgasen umwaberten Tohuwabohu auf dem Parkplatz trennten.

»Gütiger Gott.« Dora schüttelte den Kopf. »Hier geht es ja zu wie am Piccadilly Circus!«

»Es war doch von Meerblick die Rede!«, stieß Penny, den Tränen nah, hervor.

»Vermutlich gibt es den auch, und zwar vom Dach aus«, beschwichtigte Nell so diplomatisch wie immer – eine Fähigkeit, geschult durch den jahrelangen Umgang mit übellaunigen Patienten und abgehetzten Ärzten. »Kommt, wir schauen es uns von innen an. Werden wir von der Vermieterin erwartet?«

Sie luden ihr Gepäck aus dem Auto. »Zanthos ist am Abend ruhig«, teilte der Fahrer ihnen mit. »Zum Amüsieren geht man nach Lefkas.«

Dora erschauderte. In diesem Moment öffnete sich die Haustür, und eine lächelnde Griechin erschien auf der Schwelle. »Ach, die Single Ladies!«, begrüßte sie sie – wie Nell annahm, eine taktlos geratene Anspielung auf den Megahit von Beyoncé. Die Griechin führte sie in einen Innenhof mit Mosaikboden, der am einen Ende geformt war wie ein Fisch. »Eine uralte Art, Böden zu verlegen«, erklärte die Vermieterin Nell. Diese betrachtete das Mosaik und überlegte, wie sich so etwas wohl auf ihrer kleinen Terrasse zu Hause machen würde. »Man nennt es hohlaki. Sehr schwierig.«

»Ganz sicher«, stimmte Nell zu.

Wie versprochen gab es vier Schlafzimmer und zwei Duschen, eine im Parterre, eine oben. Außerdem eine Dachterrasse, die tatsächlich Meerblick hatte – sofern es einem gelang, die vielen Reihen von Autos und Bussen davor auszublenden.

»Ach herrje«, seufzte Penny. Colins Worte, sie sei unfähig, etwas zu planen, schrillten ihr in den Ohren.

»Nicht okay?«, erkundigte sich die Vermieterin sichtlich enttäuscht.

Alle blickten Penny an, die in Tränen ausbrach und nach unten in ihr Zimmer stürmte.

»Es ist bestens«, erwiderte Nell mit Nachdruck.

»Gut, gut. Auf dem Küchentisch sind zwei Schlüssel. Hier ist meine Nummer für den Notfall. Soll ich Frühstück bringen?«

»Nein, danke, wir frühstücken auswärts. Vielen Dank.«

Noch immer lächelnd trollte sich ihre Gastgeberin und verschwand schließlich die schmale Treppe hinunter in die untere Etage.

»Nichts ist bestens, verdammt!«, schimpfte Dora, sobald sie fort war. »Das Haus steht mitten auf einem bescheuerten Parkplatz! Außerdem gibt es hier bestimmt Küchenschaben, und die ganze Bude ist so anheimelnd wie eine Pension in Blackpool!«

»Die Unterkunft lässt einiges zu wünschen übrig«, räumte Nell ein. »Aber sie ist sauber und extrem preiswert, was für einige von uns zufällig eine Rolle spielt, Dora. Hinzu kommt, dass Penny sich große Mühe gegeben hat, alles zu organisieren. Wenn Fünf-Sterne-Luxus lebenswichtig für dich ist, gibt es irgendwo auf der Insel sicher etwas Passendes. Ansonsten halt bitte den Mund und mach das Beste daraus. Eine Fähigkeit, die du bis dato offenbar nie eingesetzt hast.«

Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Anspannung, als sie sich zehn gemeinsame Tage ausmalten.

Moira legte ihren Reiseführer weg und versuchte, etwas Aufmunterndes zu sagen. »Hier drin steht, dass es oben auf dem Hügel, direkt hinter uns, einen Apollo-Tempel gibt. Wusstet ihr, dass die Griechen glaubten, er zöge jeden Tag mit seinem feurigen Wagen die Sonne über den Himmel?«

»Herrgott, Moira.« Dora ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Offenbar verwechselst du mich mit jemandem, den das einen Scheißdreck interessiert.«

»Genau das ist dein Problem, Dora.« Nell wandte sich zu dem kleinen Kühlschrank um und nahm den Inhalt in Augenschein. »Du scheinst dich für nichts auch nur einen Scheißdreck zu interessieren. Außer für dich selbst vielleicht. Möchte jemand ein Glas Wasser?«

Penny setzte sich neben ihre Tasche aufs Bett und versuchte, genug Mut in sich zu finden, um wieder nach oben zu gehen. Beinahe automatisch warf sie einen Blick auf ihr Telefon. Ihre Tochter Wendy schickte ihr liebe Grüße. Nichts von Colin. Dabei hatte sie ihm bereits drei Nachrichten hinterlassen. Möglicherweise war ihm kaum aufgefallen, dass sie verreist war. Offen gestanden hatte er ziemlich erfreut gewirkt, als sie ihm von ihren Plänen erzählt hatte. Und natürlich hatte sie vor ihrem Aufbruch den Gefrierschrank bestückt. Sicher würde er ihre Abwesenheit erst bemerken, wenn ihm das Essen ausging. Und dann würde er in seinen Club übersiedeln, diesen lächerlich überholten Verein, wo er sich von diensteifrigen Kellnern Seniorenteller servieren lassen und mit den anderen alten Knackern ausgiebig dem Gin Tonic zusprechen konnte.

Herrje, sie hatte es sich so völlig anders ausgemalt. Im Internet hatte das Haus wie ein reizendes dörfliches Anwesen gewirkt, und sie hatte ganz vergessen, sich zu erkundigen, wie weit es zum Strand war. Typisch. Colin bezeichnete sie hin und wieder als Totalversagerin. Und genau so fühlte sie sich heute.

Es klopfte an der Tür, und Nells Gesicht erschien. »Los, wir wollen uns auf die Suche nach dem Strand machen und frühstücken. Also schau nicht so bedröppelt drein und komm mit. Abgesehen von dem ungünstigen Standort ist das Haus voll in Ordnung.«

Als sie Penny die Hand hinhielt, zwang sich diese, danach zu greifen.

»Sieh mal, du hast die ganze Arbeit gemacht, während wir keinen Finger gerührt haben. Vielleicht können wir alle was daraus lernen.«

Penny ließ sich nach draußen führen, wo die anderen beiden warteten. »Warum versuchen wir nicht, unser Café am Strand wiederzufinden?«, schlug Nell vor. »Auch wenn sich das Dorf verändert hat, den Strand können sie ja nicht verlegt haben.«

Sie schlängelten sich durch die Touristengruppen auf den steilen, engen Straßen. Die Leute blickten alle brav nach oben, um die verschnörkelten Türbogen und Ausschnitte der blauen Kirchenkuppel zu bewundern.

»Guckt mal.« Moira deutete auf eine Bar, die den Namen The Sunburnt Arms trug. »Von der Sonne verbrannte Arme. Echt witzig.«

»Und seht mal, die vielen Geldautomaten«, wunderte sich Nell. Sie blieben stehen und bestaunten die drei Geräte. »Wisst ihr noch, wie lange es damals gedauert hat, einen Reisescheck einzulösen? Mindestens eine halbe Stunde in einer stickig heißen Bank. Was mag wohl aus Reiseschecks geworden sein? Glaubt ihr, die gibt es noch?«

»Und postlagernde Adressen«, fügte Dora hinzu. »Ich war echt beeindruckt von den coolen braun gebrannten Typen mit den Dreadlocks, den Rucksackreisenden, die ihr Geld und ihre Briefe bei ihrer postlagernden Adresse abholten. Wie aus einem Roman von Graham Greene oder Hemingway.«

»Vermutlich waren es Schecks von ihren Eltern in Turnbridge Wells«, meinte Nell gleichmütig und sah sich um. »Was ist denn aus dem Marktplatz geworden?«

Bei ihrem letzten Besuch in Zanthos hatte das Dorf scheinbar nur aus einem Marktplatz und ein paar steil ansteigenden Seitenstraßen bestanden, die hinauf zur Akropolis führten.

»Hat Penny dort drüben nicht den Mann mit dem Esel wegen Tierquälerei zur Schnecke gemacht?«, fragte Nell und wies in eine Gasse.

»Hat offenbar nicht viel genützt«, merkte Moira an, als ein mit einer gewaltigen Klimaanlage beladener Esel an ihnen vorbeitrottete. »Und nein, Penny, du darfst nicht über ihn herfallen.« Sie kamen an einem schummrigen Lokal vorbei, aus dem es verlockend nach Kaffee duftete. »Den Strand suchen können wir auch später noch. Für einen Kaffee würde ich einen Mord begehen.«

»Haben Sie Joghurt mit Honig?«, erkundigte Nell sich beim Kellner. Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als er, anders als sie sich erinnerten, kein leckeres griechisches Joghurt und einen Honigtopf mit hölzernem Rührstäbchen brachte, aus dem man sich selbst bediente. Stattdessen gab es eine abgepackte Fertigmischung, wie man sie auch im Supermarkt bekam.

»Schaut«, verkündete sie, »was ich in meiner supersicheren Ablage entdeckt habe.« Sie hielt ein Foto hoch, auf dem sie alle achtzehn waren. Es war an dem Strand aufgenommen worden, an dem sie geschlafen hatten.

Penny, hochgewachsen und flachsblond, lächelte schüchtern. Ihre Haut war von der Sonne gerötet. »Herrje, guckt mal. Ich kriege immer gleich die Farbe einer reifen Tomate.«

Moira trug auf dem Foto eine bestickte Folklorebluse und Jeans. Nell hatte ihr berühmtes Beduinen-Hochzeitskleid an. »Die müssen mich für total plemplem gehalten haben.« Nell lachte. Und zu guter Letzt war da Dora in winzigem Minirock und Trägerhemdchen. »Mich wundert, dass du nicht verhaftet worden bist.« Sie kicherte.

»Oder zumindest einen Volksaufstand verursacht hast«, ergänzte Moira.

»Ich weiß noch, dass mich so ein Opa verfolgt und etwas von freier Liebe gelabert hat. Ich habe ihm geantwortet, dass er bezahlen müsse wie alle anderen. Zum Glück sprach er kein Englisch und hat kein Wort verstanden.«

»Ich erinnere mich noch, wie ich mich abgemüht habe, mich mit kalimera und kalispera zu verständigen.« Penny lachte. »Ganz anders als heute, wo jeder Englisch kann.« Sie tranken ihren Kaffee aus.

»So«, verkündete Nell. »Auf zum Strand!«

Nur eine einzige Straße führte dorthin. Auf dem Weg durch die engen Gassen zogen sie einander kichernd auf und stellten erleichtert fest, dass die Erinnerungen an früher ihnen halfen, die Gegenwart zu genießen.

Unten an der Straße angekommen blieben sie stehen und sahen sich verdattert um. Ihr kleiner Strand mit dem schäbigen Café war nicht wiederzuerkennen. Mit funkelnagelneuen Sonnenliegen und bunt gestreiften Schirmen hatte er sich in ein Strandbad wie in Saint-Tropez verwandelt. Anstelle der Holzhütte von früher stand dort ein großes verglastes Restaurant.

»Du heiliger Strohsack!«, empörte sich Moira. »Zwanzig Euro für eine Sonnenliege mit Schirm! So viel durften wir damals in einer Woche nicht ausgeben!«

»Sei kein Frosch. Wir haben es uns verdient«, meinte Dora. »Es ist noch früh, und wir können den ganzen Tag bleiben.«

Jede warf ihre Tasche auf eine Sonnenliege – bis auf Moira, die aus Prinzip darauf beharrte, ihr Handtuch im Sand auszubreiten.

Ein attraktiver, mit Chinos und einem weißen T-Shirt bekleideter Mann mittleren Alters näherte sich, um die Gebühr einzutreiben. Nell traute ihren Augen nicht. »Sag mal, bist du nicht Yorgos? Ich erinnere mich an dich, als du ungefähr sechs warst!«

Yorgos starrte die Frauen an. »Po po po!«, rief er dann aus. »Ihr seid die englischen Mädchen! Nie werden wir euch vergessen. Ihr seid sehr früh nach Zanthos gekommen, als es all das hier noch nicht gab.« Er wies auf das aufgemotzte Ambiente. »Als meine Mum noch auf einem Ölfass gekocht hat und mein Dad nur alte – wie heißt das auf Englisch – Strandliegen hatte!«

»Wie geht es deinem Dad? Takis, richtig?« Sie dachten an den charmanten Mann, der mit seiner offenen und gastfreundlichen Art ihre Herzen erobert hatte. Takis, der immer in zerknitterten Leinenhemden und Shorts herumlief und aussah wie eine griechische Version von Mr. Bean.

Yorgos grinste übers ganze Gesicht. »Takis! Ja! Er wohnt jetzt auf Kyri. Meine Brüder und ich betreiben das Geschäft hier.«

»Wo ist Kyri?«, fragte Moira.

»Es ist ein Punkt im Meer, wo es von Ziegen und Verwandtschaft wimmelt. Am besten hält man sich fern. Wo wohnt ihr?«

Penny wurde sichtlich unbehaglich zumute.

»Im hinteren Teil des Dorfes. Ein nettes Haus für vier Personen«, antwortete Nell rasch.

»Wart ihr schon in Lefkas? Das ist ein völlig neuer Teil von Zanthos. Im Dorf ist nicht genug Platz für die vielen Touristen. Deshalb hat man Lefkas gebaut. Für die jungen Leute. Heute seid ihr meine Gäste.«

»Aber …«, setzte Penny an.

»Wunderbar!«, fiel Dora ihr ins Wort. »Wir freuen uns sehr.«

»Ihr müsst auch bei uns essen. Ich sage meiner Frau Bescheid, sie soll euch ein fantastisches Mittagessen kochen! Meine Brüder wollen bestimmt auch dabei sein. Yassas, ihr berühmten englischen Damen.«

»Habt ihr das gehört?«, meinte Moira. »Er sagt seiner Frau, sie soll etwas kochen. Manche Dinge ändern sich nie.«

»Hör auf zu meckern«, tadelte Dora. »Jetzt sehen die Dinge doch schon viel rosiger aus. Mittagessen hier bei Yorgos und seinen Brüdern. Anschließend ein Nickerchen zu Hause. Und heute Abend schauen wir uns Lefkas an.«

»Sagte er nicht, das sei was für junge Leute?«

»Ach, Penny, wir wollen doch nur mal einen Blick riskieren«, entgegnete Dora. »Ein paar Cocktails, und danach kannst du mit einem warmen Kakao ins Bettchen.«

Penny ließ sich auf ihrer Sonnenliege unter dem Schirm nieder, ohne auf Doras Bemerkung einzugehen. Sie war nicht so albern und naiv, wie Dora sie hinzustellen versuchte. Außerdem waren sie jetzt Yorgos begegnet, weshalb die Katastrophe vielleicht abgewendet war.

»Gibt es hier Umkleidekabinen?«, erkundigte sich Dora bei ihm.

Er nickte lachend. »Nicht so wie damals, als ich ein Kind war und wir die Toilette abschließen mussten, um die Hippies fernzuhalten.«

Dora marschierte los, um ihren Bikini anzuziehen. Sich in guter, alter Urlaubermanier unschön unter einem Handtuch zu verrenken kam für sie nicht infrage.

Die Umkleidekabinen waren sauber und gut beleuchtet. Man konnte sie sogar abschließen. Als Dora aus ihrem Kleid schlüpfte und ihren Bikini aus der Tasche kramte, fiel ihr Blick auf eine Ausgabe der Vanity Fair, offenbar zurückgelassen von irgendeiner Touristin. Sie ließ sich auf den Plastikstuhl sinken, als hätte ihr jemand einen Magenschwinger verpasst.

Auf der Titelseite prangte ein riesiges Foto von Venus Green. Venus Green, die wunderschöne blonde Siegerin einer Reality-Show im Fernsehen. Zukünftiger Superstar mit der Stimme und Persönlichkeit der jungen Kylie Minogue.

Venus Green, deren PR-Beauftragte, beste Freundin und Mentorin Pandora Perkins in den letzten fünf Jahren gewesen war. Bis das kleine Miststück sie vor drei Wochen fallen gelassen und eine dreißig Jahre jüngere Konkurrentin angeheuert hatte.

Später am selben Abend setzte ein Taxi die vier an einem Taxistand drei Kilometer entfernt von Zanthos ab, der irgendwo im Niemandsland zu liegen schien. »Verzeihung«, wandte sich Nell an einen alten Mann, der neben einem ebenfalls alten Hund am Straßenrand saß. »Wo ist Lefkas?«

Er deutete die Straße entlang.

Sie gingen etwa hundert Meter weit zu einer scharfen Kurve, hinter der sich eine funkelnagelneue Stadt auftat. Sie wirkte wie in einem futuristischen Film. Auf gewaltigen Bildschirmen auf einer Seite der Straße wurden Fußballspiele und in voller Lautstärke laufende Musikvideos übertragen. Blinkende Leuchtreklamen warben für Spielautomaten und Cocktails im Sonderangebot.

»Ach, du meine Güte!« Moira packte Nell am Arm. »Schaut euch nur diesen Horror an! Wer lässt sich denn so etwas Schauderhaftes einfallen?«

Vor ihnen erhob sich eine Akropolis im Miniaturformat, erbaut aus glänzenden Plastiksteinen. Sie war so grell erleuchtet, dass die vier sich die Augen zuhalten mussten.

Am Ende der neu angelegten Straße befand sich der Strand. Erleichtert machten sie sich auf den Weg, um sich zu setzen und in Ruhe ein Gläschen zu genehmigen. Am Ufer standen mehrere Personen, die plauderten und Bier aus der Flasche tranken. Als sie näher kamen, stieß Penny einen gedämpften Schrei aus.

Die Leute waren zum Großteil über sechzig, die Männer beleibt und mit Bauch, die Frauen von der Sonne ledrig gegerbt. Und sie waren alle splitterfasernackt.

»Wer hätte das gedacht!« Dora schüttelte den Kopf. »Offenbar sind wir auf den Nudistenstrand von Lefkas gestoßen, und zwar zur Happy Hour. Was für ein erbaulicher Anblick.«

Schließlich kauften sie eine Flasche Wein und nahmen sie, zusammen mit etwas Hummus und Oliven, mit zum Haus. Zum Glück waren sämtliche Reisegruppen auf ihre Schiffe zurückgekehrt. Still und leer lag der Parkplatz da.

Nachdem die vier sich auf der Dachterrasse in gemütlichen Sesseln niedergelassen hatten, öffnete Nell die Weinflasche. Just in diesem Augenblick wendete ein Kreuzfahrtschiff, um den Hafen zu verlassen und Platz für zwei weitere zu machen, die an der Einfahrt warteten.

Während die vier die Szene beobachteten, erhellte ein furchterregender blauer Blitz den Horizont. Gleich darauf ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern. Der gesamte Himmel schien zu explodieren, ein leuchtendes Farbenmeer und eine dramatische Symphonie der Klänge. Im nächsten Moment öffnete der Himmel seine Schleusen, und sie nahmen schleunigst Reißaus, denn sintflutartiger Regen peitschte über die Dachterrasse.

»Wisst ihr was, Mädels?« Im Schutz des nächstbesten Schlafzimmers hob Dora ihr Glas zum farbenprächtigen Himmel. »Ich glaube, Zeus will uns etwas mitteilen. Es ist Zeit, sich von alten Träumen zu trennen und nach Athen zurückzukehren, wo die Leute angezogen herumlaufen und die Akropolis aus echten Steinen besteht. Zufällig sticht morgen ein Schiff in See, und ich stimme dafür, dass wir es nehmen. Was meint ihr?«

Einen Atemzug lang traute sich niemand, das entsetzte Schweigen zu brechen. Donnergrollen wurde laut, schließlich drehte sich Moira mit fast entschuldigender Miene zu Penny und Nell um.

»Offen gestanden würde ich mir zu gerne das archäologische Museum in Athen ansehen. Es soll noch spannender sein als das BM.«

Nell zuckte verständnislos die Achseln.

»Das British Museum«, klärte Dora sie auf.

»Aber was ist mit dem Geld?«, fragte Nell. Dabei dachte sie eigentlich an Penny, deren Idee das Ganze gewesen war, weshalb sie schrecklich enttäuscht sein würde. »Wir haben den Aufenthalt im Voraus bezahlt.«

»Das geht auf meine Kappe«, antwortete Penny ruhig und entschlossen. »Ich habe euch nämlich noch gar nicht verraten, aus welchem Grund ich das alles geplant habe. Ich habe etwas von meinem Dad geerbt. Meine Eltern haben ihr Leben lang gespart, um im Alter reisen zu können, und dann haben sie es nie getan. ›Verschiebe deine Träume nicht auf morgen‹, so lauteten Dads Worte kurz vor seinem Tod. Denn genau das war sein Fehler gewesen, wie er meinte. Deshalb habe ich beschlossen, einen Teil meines Erbes dafür auszugeben, nach Zanthos zurückzukehren. Vielleicht haltet ihr mich ja für einen Trauerkloß aus der Vorstadt, doch der Urlaub damals gehört zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens. Ich habe mich jung und mutig gefühlt. So, als stünde mir eine wundervolle Zukunft bevor.«

Sie erwähnte nicht, dass sie ihrem Mann die Erbschaft verschwiegen hatte. Es war ihr Geld, und sie würde es so verwenden, wie sie es wollte. Colin, der sich selbst für ein Finanzgenie hielt, hatte stets abfällig über die kleinen Geldanlagen ihres Vaters hergezogen. Aber zu guter Letzt hatte sich das Sparen doch gelohnt.

Nun aber drohte der Urlaub zu scheitern. Colin würde es herausfinden. Dann würde er sie als Versagerin verspotten, und zwar zu Recht.

»Ich weiß«, antwortete Nell, die keine Erklärung brauchte, um Pennys Befürchtungen zu erahnen. »Warum fahren wir zwei nicht auf eine andere Insel? Unterwegs sind wir an sechs vorbeigekommen, schon vergessen? Wir könnten sogar mehrere besuchen.«

»Inselhüpfen!« Pennys trauriges Spanielgesicht erhellte sich sichtlich.

»Wie richtige Jetsetter.« Nell lachte.

Dora kämpfte mit einem Schmunzeln. Die beiden waren wirklich alles andere als promiverdächtig. »Ich kümmere mich um die Zimmerwirtin«, erbot sie sich. »Bestimmt ist sie kulant, wenn ich ihr mitteile, dass wir wegen des Krachs vom Parkplatz ausziehen, denn den hat sie in ihrer Anzeige unterschlagen.«

Wie versprochen zog sie los, um die Vermieterin aufzusuchen. Eine halbe Stunde später kehrte sie breit grinsend zurück. »Erfolg! Sie meinte, wenn wir in unserer Bewertung kein Tamtam deswegen machen, erlässt sie uns den restlichen Aufenthalt. Unser Glück, dass die Saison eben erst angefangen hat.«

Wortlos drückte sie Penny ein kleines Päckchen in die Hand.

»Was ist denn das?«, wunderte sich diese.

»Nur eine Kleinigkeit. Wenn ich mich recht entsinne, hast du dir so einen gekauft, als wir das letzte Mal hier waren.«

Als Penny das Seidenpapier entfernte, kam ein silberner Oberarmreif in Form einer Schlange mit Augen aus blauem Glas zum Vorschein.

»Oh mein Gott.« Penny biss sich auf die Lippe. »So einen hatte ich wirklich! Ich habe ihn bei einem Straßenhändler entdeckt und konnte einen Tag lang nichts essen, weil ich mein Geld dafür ausgegeben hatte. Danke, Dora.«

»Jetzt kannst du dich wieder jung und mutig fühlen. Tut mir leid, dass ich so eine Spielverderberin bin.«

»Jung vielleicht nicht mehr.« Penny streifte sich den Reif über den Arm. »Aber mutig ganz sicher.« Etwas an dem Schmuckstück sorgte dafür, dass ihre Furcht ein wenig nachließ. Und wenn sie und Nell wirklich Inselhüpfen machten, brauchte Colin ja nicht zu wissen, dass alles schiefgegangen war.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Dora. »Warum hauen wir nicht auf den Putz und gönnen uns ein großes Abschiedsessen?«

Drei

Penny berührte den neuen Armreif, ihren Talisman, um sich Mut zu machen, als sie am nächsten Morgen an Bord der Fähre gingen. Sie hatte Colin nicht angerufen, um ihm von den geänderten Plänen zu erzählen. Schließlich hatte er auch keinen Versuch unternommen, sie zu kontaktieren. »Ich glaube, ich bleibe an Deck«, meinte sie zu Nell. »Auf welche Insel möchtest du denn gern?«

»Moira votiert klar für Ios.« Nell grinste. »Da sie es auf dem Hinweg verschlafen hat, will sie rasch zu Homers Grab, wenn wir anlegen. Wir dürfen gnädigerweise mitkommen. Was sind wir doch für Glückspilze!«

»Okay, dann also Ios«, stimmte Penny zu. »Aber sagte Dora nicht, es sei eine Party-Insel?«, fügte sie zweifelnd hinzu. Sie hatte keine Lust darauf, ihre Zanthos-Erfahrung zu wiederholen.

Nell schwenkte ihren Reiseführer. »Hier steht, Ios sei die hübscheste Insel der Kykladen. Hat jemand eigentlich Moira gesehen? Oder brütet sie wie immer über einem ihrer Reiseführer?«

Penny ließ den Blick über das Deck schweifen. Sonst hielt Moira gerne vorne am Bug Hof, um ihre Mitmenschen auf sämtliche Sehenswürdigkeiten hinzuweisen. »Oh, ich weiß«, fiel es ihr plötzlich ein. »Sie sagte, sie wolle sich in Doras Kabine ein bisschen hinlegen.«

»Das passt so gar nicht zu Moira. Zu viel Retsina gestern Abend?«

Verschwörerisch lächelnd freuten sie sich auf ihre geänderten Reisepläne. Dabei beobachteten sie, wie Zanthos jenseits des schaumig weißen Kielwassers der Fähre in der Ferne verschwand.

»Hoffentlich bist du nicht allzu enttäuscht, weil es mit Zanthos nicht geklappt hat«, meinte Nell zu Penny.

»Seit deinem genialen Vorschlag nicht mehr. Zanthos hat sich als richtiger Schuss in den Ofen entpuppt. Vielleicht habe ich die Erinnerungen ja verklärt.«

»Nein, hast du nicht«, beteuerte Nell. »Damals war es dort traumhaft. Freundlich. Unverdorben. Unverfälscht griechisch.« Sie lachten, als sie an die übergewichtigen FKK-Anhänger dachten. »Ich frage mich, ob die Einheimischen das gewollt haben – die Invasion der Kreuzfahrtschiffe und Russen, die zum Frühstück Bier trinken.«

»Vermutlich passiert das zwangsläufig, wenn man sich erst mal auf den Massentourismus einlässt.«

Sie setzten sich auf eine lackierte Holzbank, um sich zu sonnen, und waren bald im beruhigend lauen Wind eingedöst.

»Nell! Penny! Aufwachen!«, wurden sie aus dem Schlummer gerissen. Vor ihnen stand Dora, barfuß, nur im Unterkleid und völlig aufgelöst. »Mit Moira stimmt etwas nicht! Es geht ihr sehr schlecht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Dank ihrer jahrelangen Erfahrung mit anspruchsvollen Patienten reagierte Nell sofort. »Ich schaue sie mir gleich an. Welche Nummer hat denn die Kabine?«

Als sie ihrer panischen Freundin unter Deck folgten, trafen sie Moira an, die sich gerade kreidebleich aus ihrer Koje beugte und sich geräuschvoll in eine Tüte aus dem Duty-free-Shop in Athen erbrach. In ihrer Verzweiflung hatte sie gar nicht bemerkt, dass sich Doras neues Parfüm in dieser Tüte befand.

Nell setzte sich ans Fußende des Bettes. »Hatte sie auch Durchfall?«

Dora nickte, wenig begeistert von der Aussicht, die Verheerung auf der Toilette in Augenschein nehmen zu müssen.

»Ich sehe, du bist die geborene Krankenschwester«, spöttelte Nell. »Hat jemand ein Fieberthermometer?« Fehlanzeige. Sie fühlte Moira die schweißfeuchte Stirn. »Ja, sie hat erhöhte Temperatur.«

»Ich wette, es war der Tintenfisch, den wir gestern Abend am Hafen gegessen haben. Wisst ihr noch, wir konnten einfach nicht widerstehen, als der Fischer sagte, er habe ihn erst am Nachmittag gefangen«, platzte Penny heraus. »Moira fand ihn so lecker, dass sie meine Portion auch noch verschlungen hat.«

Moira, die in ihrer Koje lag, gab bei diesen Worten ein Stöhnen von sich.

»Am besten suche ich jemanden, der an Bord was zu melden hat«, verkündete Nell. »Gebt ihr Wasser, damit sie nicht völlig austrocknet, und falls eine von euch Elektrolyte dabei hat, verabreicht ihr die ebenfalls.« Sie verschwand in Richtung Treppe und ließ Dora und Penny mit der Patientin allein.

Nell blieb eine schiere Ewigkeit weg. Moira übergab sich weiter, während Dora das Schauspiel voller Abscheu beobachtete. Penny versuchte, ihrer Freundin das verfilzte Haar aus dem Gesicht zu halten.

»Es hatte schon vorher Ähnlichkeit mit einem Vogelnest«, stellte Dora gnadenlos fest. »Der Himmel weiß, was jetzt darin vorgeht.«

»Halt den Mund«, befahl Penny zu ihrer eigenen Überraschung. »Besorg uns lieber Wasserflaschen.«

Erleichtert, die Kabine – inzwischen Kriegsgebiet – verlassen zu können, schlüpfte Dora in eine Jeans, steckte ihr Unterkleid wie ein Trägerhemd in den Bund und eilte davon. Gerade hatte sie die Treppe erreicht, als die Fähre ruckelnd stoppte.

Nell kehrte in Begleitung eines weiß uniformierten Schiffsoffiziers mit Epauletten an den Schultern zurück. »Das ist der Chefsteward. Sie schicken von der Insel, an der wir gleich vorbeikommen, ein kleines Boot. Wir sollen aussteigen. Ein Arzt wurde verständigt und erwartet uns am Hafen.«

»Was, wir alle?«, fragte Dora entsetzt.

»Los, Dora«, erwiderte Nell. »Du hättest es sicher auch nicht gern, wenn wir dich mit einer Lebensmittelvergiftung in der Einöde zurücklassen würden, oder?«

»Ich hätte jedenfalls keine zweite Portion halb garen Tintenfisch gegessen«, entgegnete Dora.

»Ach, dann bleib doch an Bord, wenn du unbedingt willst!« Nell hatte keine Lust auf dieses divenhafte Gezicke. »Penny, packst du Moiras Sachen zusammen?«

Als Penny alles einsammelte, was ihr in die Finger kam, wäre sie fast auf dem mit Erbrochenem verschmierten Boden der Kabine ausgerutscht.

»Hey, der gehört mir«, protestierte Dora, als Penny sich einen Rucksack von Prada schnappte.