Unser Ort hinter der Musik - Amelie Lea - E-Book

Unser Ort hinter der Musik E-Book

Amelie Lea

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Beschreibung

Deutschland, 1934. Gerade einmal 14 Jahre ist Lotte, als ihre Eltern ihn bei sich aufnehmen. Klein, schüchtern, unscheinbar ist der blinde Junge. Und doch fasziniert sie etwas an ihm. Als sich Lotte eines Nachts in das Musikzimmer schleicht, um ihre Gedanken in Melodien zu verwandeln, wird es ihr bewusst: Sie beide verbindet die Leidenschaft zur Musik. Es folgt eine Zeit voller Klavierstunden, unausgesprochenen Gedanken und der Frage, weshalb die Menschen immer nur Fehler zu sehen scheinen. "Unser Ort hinter der Musik" ist ein Historienroman, welcher besonders durch den ästethischen Schreibstil und die liebevolle Gestaltung Gefallen findet. Im Bereich der Belletristik gewann der Kurzroman schon das Herz einiger Buchliebenden und Bloggern. Die Geschichte Lottes und Jakobs, ihre Freundschaft und die Liebe zur Musik ist einzigartig, gefühlvoll und voll von Sinnbildern und Zitaten. Eine Lektüre für alle, die Worte lieben.

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- Anmerkung -

Das Buch enthält kleine Geschichten, welche passend auf Musikstücke geschrieben wurden. Für ein schöneres Leseerlebnis, höre doch gerne nebenbei die Musik. Die Titel werden benannt.

Und ich hörte die Klänge in meinem Herzen. Hohe, tiefe Töne. Die Hohen ließen all meine Ängste schwinden, die Tiefen rissen die Mauer vor meinen Augen nieder.

Glaubt oder nicht: Ich bin wohl im Stande, alles zu sehen; Wenn nur ein Funke Musik erklingt.

Inhaltsverzeichnis

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

EPILOG

1. KAPITEL

Deutschland, 1934 Alles begann mit einem Klavier, einem Automobil und aufgeregten Eltern.

Er kam an einem Samstagmorgen im Frühling. Der Nebel verdeckte noch immer die Felder und man war im Stande kleine Dampfmaschinen zu symbolisieren, sobald man in die frische, kalte Luft atmete. Die rot-gelben Sonnenstrahlen, welche vereinzelt ihren Weg durch die Wolken fanden, strahlten unser altes Bauernhaus mit den umliegenden Scheunen an. Wie einem Märchenbuch entsprungen wirkte die Welt außerhalb der Fenster. Still und friedlich.

Im Raum lag noch der Duft von Apfelpfannkuchen, die Helene am vorherigen Abend gebacken hatte. Zimtige Süße bahnte sich ihren Weg durch das Zimmer. Ich inhalierte sie, als könne ich noch einmal den gestrigen Tag schmecken.

» Lotte, eile dich ein wenig. Er wird jeden Augenblick kommen. Gehe nach draußen und sieh nach, ob du unserer Mutter helfen kannst. Los jetzt! «

Helene riss mich aus meinen Gedanken.

Ich sah meiner ältesten Schwester seufzend nach und klappte den Deckel über die Tastatur. Mein Klavierspiel eben war grauenhaft gewesen. Es war einer dieser Tage, an welchen das Üben umsonst wirkte. Andauernd verspielte ich mich. Vermutlich hätte nicht einmal mein Vater sein Lieblingsstück erraten können.

Langsam stand ich auf und streckte meine Glieder, um kurz danach einen weiteren strengen Blick Helenes einzufangen, die gestresst hin und her rannte. Also setze ich mich in Bewegung. Ich blieb neben meinem Bruder Paul stehen, der sich an den Rahmen unserer Hintertüre gelehnt hatte.

» Helene bekommt, glaube ich, bald einen Nervenzusammenbruch, wenn ich nicht gleich irgendetwas aufräume. «

Mein Bruder blickte sich im Raum um.

» Ach, lass sein. Sie hat selbst schon alles sauber gemacht. Bestimmt würde der Holzboden aufweichen, putze man ihn noch ein einziges Mal mehr «, antwortete Paul. Unwillkürlich musste ich ob dieser Aussage lächeln. Vermutlich hatte er Recht.

Gemeinsam beobachteten wir eine Weile das bunte Treiben im Freien. Dann blickte ich meinen Bruder von der Seite an. Mit seinen zwanzig Jahren war Paul der Älteste von uns Kindern. Er war eine Person, die mich in jeglicher Situation zum Lächeln brachte und dies liebte ich so an ihm. Ich konnte mich immer bei ihm aussprechen. Es war als könne er jegliche Sorgen im Keim ersticken. Einmal hatte ich fürchterlich geweint, da ich mich bei einem Konzert derart verspielt hatte, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Paul war derjenige, der am Abend unter meine Bettdecke gekrochen kam, seinen warmen Arm um mich gelegt und von einem seiner Auftritte erzählte hatte.

» Als ich an der Reihe war, stellte ich mich auf die Bühne und begann zu spielen. Ich versank so tief in der Musik, dass ich nicht bemerkte, wie die anderen Kinder zu lachen begannen. Erst nach dem Finale wurde mir bewusst, dass ich meine Hosenträger nicht geschlossen hatte und meine Hose am Boden lag. Mir war das furchtbar peinlich. Jetzt darfst du dir aussuchen, was dir lieber ist. Halbnackt vor den anderen stehen - worüber sie heute noch scherzen - oder dich verspielen, was jedem passieren kann. «

Ich hatte an jenem Abend keine weitere Träne vergossen.

Vom Aussehen waren wir uns sehr ähnlich. Unsere blonden Locken hatten wir von unserem Papa geerbt. Bei ihm waren sie allerdings schon eine Weile in das Graue übergegangen. Pauls karamellbraune Augen hatte er von unserer Mutter. Meine hingegen waren blau wie das Meer. Paul und Helene waren vom Wesen schon immer sehr erwachsen. Ständig versuchten sie, uns zu bändigen, waren vernünftig und halfen bei jeder Arbeit tatkräftig mit. Mein Bruder war wie Papa. Er konnte zugleich ernsthaft sein und zuhören, aber auch Spaß verstehen und die ganze Familie unterhalten. Helene und Mutter waren da strenger. Besonders meine Schwester mahnte gerne ihre Geschwister und sah zu, dass alles in ihren Augen einwandfrei lief. Sie genoss es in vollen Zügen, die Älteste zu sein und über uns Kleineren zu richten.

Mein Vater rief mich ins Hier und Jetzt zurück als er seine eiskalte Hand auf meine Schulter legte, mich an sich drückte und meine Stirn küsste. Sanft lehnte ich mich an seine Brust und schloss die Augen.

» Wie war dein Besuch bei Frau Kaiser, Papa? «, fragte ich ihn. Ein tiefes Seufzen verließ seinen Körper und er antwortete: » Wohl nicht so, wie wir es uns erhofft hatten. « Ich konnte mir ein höhnisches Grinsen nicht verkneifen. Frau Kaiser war eine alte, blinde und zutiefst stolze Person, die trotz ihres Zustandes die Hilfe meines Vaters und Friedrichs, einen Freund der Familie, nicht annehmen wollte. Mir war sie sehr suspekt.

» Diese Frau muss zur Vernunft kommen, « entfuhr es Paul. » sie ist krank! Es ist gefährlich für sie, allein zu Leben. So verantwortungslos kann eine erwachsene Person bei gesundem Menschenverstand doch gar nicht sein! «

» Nun, den hat sie aber auf alle Fälle. Sie merkt alles «, erwiderte mein Vater auf die Aussage Pauls.

» Magst du nicht doch einmal mitkommen, um sie zu besuchen, mein Mädchen? «, fragte er mich und küsste meinen Scheitel.

» Auf gar keinen Fall. Nicht diese abscheuliche Frau, die jeden in Dreck wirft, der ihr helfen möchte. «

So weit kam es noch! Das letzte Mal hatte sie mich derart gemein behandelt, dass ich mir schwor, nie wieder ihr Haus zu betreten.

» Lottchen, du achtest bitte auf einen gewählten Ausdruck. Sei nicht so barsch. Sie ist eine ältere Dame und hat somit deinen Respekt verdient! « Ich drehte mich zu meiner Mutter um, bereit zu protestieren, aber ihr eisiger Blick duldete keinen Widerstand. Sie sah so edel aus, wie eine Bäuerin nur aussehen konnte. Wie immer trug sie ein dunkles Tuch über ihrer Schulter. Ich fand sie wirkte immer altmodisch im Gegensatz zu anderen Frauen. Mit ihren knöchellangen Kleidern drehte sie der neuen Mode bildlich den Rücken zu. Zudem sah sie mit ihren zum Dutt hochgesteckten, braunem Haar, ihrer senkrechten Falte auf der Stirn und der geraden Haltung immer alt aus.

» Er kommt «, sagte mein Vater und beendete so unser Gespräch. Dann schob er mich leicht zur Seite, um nach draußen zu gehen. Mama und Paul schlossen sich ihm an. Das laute Getrampel hinter mir ließ mich erahnen, dass meine Geschwister kamen, um unseren Gast ebenso willkommen zu heißen. Tilda und Ludwig rannten an mir vorbei nach draußen, während Helene ihnen nacheilte und vergeblich versuchte, die Beiden zu beruhigen. Ganz vernünftig stellte sie sich neben meine Eltern, um sofort helfen zu können, sobald es nötig wurde. Hannes blieb bei mir stehen und lächelte mich zur Begrüßung freundlich an. Er war mein Zwillingsbruder und sah aus wie ich nur in männlicher Gestalt. Kurz erwiderte ich sein Lächeln und blickte dann nach Draußen.

» Ganz schön verrückt, was? Ich meine da wird tagelang ein Aufwand betrieben für jemanden, der das ganze doch nicht sehen kann. «

Er hatte Recht. Seit Stunden wurde bei uns aufgeräumt, geputzt und sortiert. Vor dem heutigen Tage war mir nicht bewusst gewesen, wie sauber unser Haus sein konnte. Wo sonst immer Notenbücher, Kleidung und Spielzeug lagen, war es nun sauber und ordentlich. Seit gestern Abend musste die ganze Familie beim Aufräumen und Putzen helfen. Wir konnten von Glück reden, dass unser Haus nicht das Größte war. Das Grundstück mit dem Fachwerkhaus, den umliegenden Stallungen und Feldern war bereits seit etlichen Generationen im Besitz unserer Familie. Ich liebte unser Zuhause. Wenn man am Morgen zur Schule ging und sich noch einmal umdrehte, war es oftmals im sanften gelb-rötlichen Licht der vereinzelten Sonnenstrahlen eingetaucht. Das Dunkelbraun der Balken blätterte langsam ab und die weiße Hausfarbe ging schon ins schmutzige Grau über. Dennoch wirkte das Haus wie aus einem Bilderbuch. Meistens gingen wir zur Hintertür nach draußen. Eine kleine Terrasse lag dahinter, von der man nach einigen Treppenstufen den Weg zur Stadt folgen konnte. Vor ihr zierte ein Apfelbaum den Weg, auf den wir Kinder schon etliche Male geklettert waren.

Ein Automobil hielt in Höhe unseres Hauses an. Wie ein schwarzer, metallener Käfer wirkte es. Nur die kleinen Beinchen wurden durch schwarze Räder ausgetauscht. Die großen, runden Lichter auf der Vorderseite schienen, als wären sie Augen. Als würde es uns betrachten, betrachten wie wir hier standen. Ein Haufen Nervosität vor einem alten Haus. Ich war noch nie mit einem Auto gefahren. Zumeist liefen wir und falls es mal einen längeren Weg gab, den wir bewältigen mussten, nahmen wir die Kutsche. Einmal war ich sogar schon in einer Dampflokomotive gesessen. Da hatten Papa, Paul, Hannes und ich einen Onkel besucht. Gerne erinnerte ich mich an die wunderschöne Landschaft zurück, welche wir aus dem großen Zugfenster beobachten konnten. Wie ein Film aus dem Kino.

Unsere Familie war keine, die sich so einfach ein Automobil hätte leisten können. Auch wenn unser Hof doch recht gut lief, mussten wir acht Personen verköstigen. Neun. Ab heute war es einer mehr.

Der Käfer hob seinen Flügel und ein dunkelgekleideter Mann stieg aus. Er schüttelte kurz die Hände meiner Eltern, natürlich die Helenes, und öffnete dann die Beifahrertür. Da hob ihn Papa heraus. Zusammengekauert wie ein gebündelter Sack wurde unser neuer Mitbewohner von meinem Vater an uns vorbei in Hannes Zimmer getragen.

Er wirkte so zerbrechlich. Mir war bereits zuvor erklärt worden, dass er nicht sehen konnte und sehr kraftlos war. Aber in diesem Augenblick - in eben diesem Moment - wirkte er so klein und zerbrechlich, als wäre er eine Christbaumkugel. Sobald man sie fallen ließe, zerspränge sie in tausende Teile.

In der folgenden Nacht träumte ich sehr schlecht.

Es war der Weihnachtsabend und alles war fröhlich.

Ein großer Baum, behangen mit Kerzen und roten Kugeln, stand in der Mitte unseres Musikzimmers. Darunter lagen liebevoll eingepackte Geschenke. Tilda spielte die letzten Töne auf ihrer Geige und alle applaudierten. Der Geruch des Essens lag noch in der Luft. Keine Gans, der zimtige, süße Geruch von Apfelpfannkuchen.

Da kam Vater. In den Händen hielt er behutsam eine goldene Kugel, schöner und glanzvoller als jede Kugel, die ich zuvor gesehen hatte. Doch plötzlich stolperte er. Die Kugel rutschte ihm aus seinen Händen. Immer schneller stürzte sie in Richtung des harten Fußbodens. Schreiend rannte ich auf sie zu, doch es war bereits zu spät. Der Baumschmuck zersprang in tausende kleine Splitter. Und es kam zum Vorschein, womit die Kugel gefüllt war: Blut. Dickes, sämiges, dunkelrotes Blut. Abertausende Scherben flogen durch die Luft. Sie vermischten sich mit Blutstropfen, welche durch den Raum spritzten. Eine Welle von Traurigkeit überkam mich. Ein Schrei, lauter und unerbittlicher als jeder Andere, durchfuhr meinen Körper und ließ mich erbeben.

Schweißgebadet wachte ich auf, den Traum lebhaft in meinen Gedanken. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Nachdem ich mich beruhigt hatte, kuschelte ich mich in meine Decke. Erst nach einigen Stunden fand ich wieder den Weg in den Schlaf, noch immer umhüllt von seltsamer Erinnerung.

Als ich am Morgen darauf in die Küche ging, hatten sich meine Geschwister bereits zum Frühstücken versammelt. Helene holte noch rasch die Milch und setze sich zu ihnen. Auf unserem großen, dunklen Küchentisch lagen bereits Butter und Brot. Neun Brettchen lagen akkurat angeordnet vor den Plätzen und umrahmten den Tisch wie in einem Gemälde.

Langsam nahm ich meinen Platz zwischen Ludwig und Hilde ein, ohne dabei den Blick von Mama abzuwenden, die nervös mit ihren langen, knochigen Fingern ihre Bluse richtete. Auch sonst war es ungewöhnlich still am Frühstückstisch. Niemand rutschte mit einem Stuhl, die Kissen auf der Sitzbank fielen nicht hinunter und keiner griff laut erzählend zum Brot. Selbst unsere Küche wirkte steril. Ich konnte mich nicht entsinnen, sie je so sauber gesehen zu haben. Die Schöpflöffel und Kellen hingen geordnet an den Haken, die Pfannen und Töpfe standen gestapelt im Regal, alle Henkel zeigten in dieselbe Richtung. Die Fläche war noch feucht, was mir verriet, dass sie eben erst abgewischt worden war. Durch die Fenster strahlten die ersten Sonnenstrahlen des Tages hinein. In ihr glänzte der Staub, der sich tanzend seinen Weg auf den Boden bahnte. Auf den gegenübergelegenen weißen Wänden bildeten sich graue Gitter, die Schatten der Fenster.

Dann betrat Papa das Zimmer, auf dem Arm unseren Gast. Er half ihm, auf dem Stuhl mir gegenüber Platz zu nehmen, gab unserer Mutter einen Kuss auf den Scheitel und setzte sich schließlich selbst.

Sein Name war Jakob. Das hatte mir mein Vater erzählt. Und während des Frühstücks saß Jakob auf seinem Stuhl, zusammengekauert wie ein gebündelter Sack. Er sagte nichts, aß schüchtern ein Stück Brot, das man ihm gab und sah so unschuldig und liebevoll drein, dass ich ihn auf Anhieb leiden konnte. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Vielleicht ein Jahr jünger. Seine Haare waren dunkel, sein Körper dünn. Doch die Kleidung war wie die meiner Brüder: Kniestrümpfe, kurze Hose, Hemd, Strickjacke.

Nach anfänglicher Stille herrschte bald wieder das bunte Treiben.

» Mama, Ludwig hat mir mein Brot weggenommen «, kreischte Tilda. Ihr rechter Arm kreiste in der Luft. Wie ein Baum bei starkem Wind wankte er über Ludwigs Kopf. Tilda fällte den Baum. Mit einem lauten Klatschen landete er auf unserem Bruder. Er zuckte zusammen, ließ sich aber nicht beirren. Grinsend drehte er sich zur anderen Seite und biss genüsslich in das Knörzchen. Tilda schrie abermals. Trotzig verschränkte sie ihre Arme und zog einen Schmollmund. Ludwigs Lachen wurde lauter, das Gesicht meiner Schwester roter. Auch Hannes lachte laut. Paul und ich verdrehten nur die Augen. Ob die Jungs dem Ärgern irgendwann mal überdrüssig waren?

» Ludwig «, sagte Helene streng. Ich stöhnte, woraufhin ich mir einen bitteren Blick von meiner großen Schwester einfing. Nun konnte sich auch Paul das Lachen nicht mehr verkneifen. Allerdings galt seines nicht Ludwigs Darbietung, sondern Helenes und meiner.

» Gib deiner Schwester sofort ihr Brot zurück! « Helenes Tonfall war laut und bestimmend.

Mich nervte es, dass sie immer so erwachsen tun musste.

Unsere Eltern saßen neben uns, dennoch erhob sie das Wort. Ludwig hingegen war es völlig gleich, was Helene sagte. Laut lachend biss er abermals langsam und genüsslich ab. Dabei sah er lächelnd in die Runde. Tilda schrie. Ihr Blick deutete darauf hin, dass es sich bis zum Ausbruch des Tränenstroms nur noch um Sekunden handelte. Ihre Mundwinkel wanderten Millimeter für Millimeter nach unten, die Stirn legte sich in Falten, die Augen wurden feucht.

» Ludwig, bitte «, zwei ruhige Worte meiner Mutter und mein Bruder gab das Stück widerwillig her. Als meine kleine Schwester sah, dass von der Scheibe kaum mehr als ein Fingerbreit übrig war, fing sie an zu weinen. Die ganze Familie stöhnte und meine Eltern standen entnervt auf, um abzuräumen. Ich erhob mich auch, um zu helfen. Da sah ich, dass Jakobs Brettchen leer vor ihm lag.

» Darf ich dein Brettchen aufräumen, Jakob? Oder willst du noch etwas? «, fragte ich ihn, während ich mich leicht zu ihm beugte. Jakob wirkte kurz erschrocken, dann schüttelte er den Kopf. Langsam und mit zittrigen Händen ertastete er das Holz und schob es in meine Richtung. Nicht sicher, ob ich darauf etwas erwidern sollte, nahm ich es und trug es zur Küchendiele. Mein Vater lächelte mir zu und legte seine Hände auf meine Schultern. Nachdem ich das Geschirr abgestellt hatte, zog er mich an sich. Mit dem Rücken spürte ich seine Brust und ließ mich an ihn fallen.

» Also, ihr macht euch jetzt fertig und ich möchte, dass ihr spätestens um halb loslauft. Ludwig, vergiss dein Rechenheft nicht. Das hast du wieder in der Küche liegen lassen «, meine Mutter warf ihm einen strengen Blick zu und wandte sich erneut allen zu.

» Heute Nachmittag möchte Papa, dass ihr mit ihm auf das Feld rausgeht. «

Papa gab mir einen Kuss und schickte mich mit einem kurzen Stoß Richtung Badezimmer.

Trotz unserer lauten Familie vergingen die nächsten Tage sehr langsam und ungewöhnlich still. Während sonst für gewöhnlich immer jemand Musik spielte, blieb dies aus. Es war als fürchtete sich jeder davor, Jakob zu stören. Die meiste Zeit las ich, während die Zeit nur langsam verging. Die Zeiger der Uhr bewegten sich gemächlich. Einmal spielte ich mit Tilda gegen Hannes und Ludwig Fußball, aber irgendwann bereitete auch das keine Freude mehr. Die Jungen waren uns eindeutig überlegen. Erst nach einer Woche trauten sich meine Geschwister wieder, im Haus herumzuschreien, wie sie es immer taten.

Von Jakob hingegen hörte ich nicht viel. Er sprach nur das Nötige und dies war sehr gering. Niemand wollte ihm zu nahetreten. Seine Augen hielt er fest geschlossen.

2. KAPITEL

In der Nacht, zwei Wochen nach der Ankunft des mir fremden Jungen, wachte ich erschrocken auf. Ich hatte den selbem Traum wie die Nächte zuvor. Zitternd und voller Furcht fragte ich mich, wann diese Albträume wohl ein Ende hatten. Allmählich machte sich Mama Sorgen um meine Gesundheit. Im Laufe der Zeit wurde ich immer müder und meine Haut wirkte blass. Ich schloss nochmals die Augen, mein Körper war ruhig, entspannt. Ein sanftes Kribbeln wanderte in meine Glieder bis in die Zehen, ließ mich entkrampfen. Doch meine Gedanken waren laut. Wie eine lärmende Menschenmenge riefen sie mir zu. Ließen mich teilhaben an ihren Worten, Empfindungen, Emotionen. Also öffnete ich meine Augenlider erneut. Kurz betrachtete ich mein Zimmer. Tildas Bett stand an der anderen Wand. Nur ein schmaler Gang war zwischen unseren Betten, an deren Fußenden große Truhen standen. In diesen lagerten wir unsere wenige Kleidung und persönlichen Gegenstände. Es war recht hell hier drinnen. Die zarten, dünnen Gardinen konnten nicht das helle Mondlicht aussperren.

Ich raffte mich auf und ließ am Bettende nieder. Kniend blickte ich aus dem Fenster. Der Mond ließ die umlegenden Felder erkenntlich werden. Genau schaute ich ihn an, die Strahlen, die er verursachte. Wie eine große leuchtende Kugel sah er aus. In meinem Klassenzimmer in der Schule hatten wir eine Glühbirne. Die leuchtete fast genauso, wenn man sie anschaltete. Ich betrachtete noch eine Weile den Mond, das Weiß, das Gelb und die dunklen Kerbungen und als meine Gedanken von meiner Schule über meine Familie bis hin zu meinem Klavier wanderten, stand ich auf und ging barfüßig in unser Musikzimmer. Sofort kam mir der so vertraute Duft entgegen. Ich inhalierte den Geruch von altem Holz, Papier und Kerzenrauch. So still und geheimnisvoll lag das Zimmer vor mir. Wie ein verwunschener Ort. Einer, den nur die liebsten Menschen kannten und an den sie zurückkehrten, wenn die Gedanken nicht mehr in ihre Köpfe passten.

Ich nahm am Klavier Platz. Die Flamme der Kerze, welche ich gezündet hatte, tänzelte im Luftzug des undichten Fensters. Ich wickelte die Ärmel meines Nachthemdes zurück, legte meine Hände sanft auf die Tastatur, schloss die Augen und begann zu spielen. Meine Finger bewegten sich wie in einem Tanz. Es war so einfach, als würden sie von ganz allein über die Tasten schweben. Ich tauchte vollkommen in die Musik ein, vergaß all das Andere. Die Töne erfüllten den Raum, sie erfüllten meinen Körper und erwärmten mein Herz. Ich begann zu lächeln und diesen Moment in mich einzusaugen.

Und als ich schließlich die Augen wieder öffnete, verklangen die Töne und es gab nur den Kerzenschein in der Dunkelheit, das Klavier und mich.

Und den Jungen.

Den Jungen, der, die Augen zusammengekniffen, im Türrahmen stand und nur halb so verloren wirkte, wie ich ihn bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte.

» Jakob? «

Mein Flüstern durchbrach die Stille, welche sich im Raum ausgebreitet hatte.

» Was war das? «

» Was meinst du? «

» Das was ich eben hörte. «

Ich blickte zu meinem Klavier hinunter.

» Die Musik? «

» Musik. «

Er sprach es aus, als hätte er das Wort zuvor noch nie gehört. Als wäre es etwas sehr Wertvolles, wie ein Schlüssel zu einem Schatz, der er schon lange suchte.

» Kann ich das auch? Die Musik … machen? «

Ich musste augenblicklich lächeln. Konnte es sein, dass dieser Junge soeben seiner Leidenschaft, seiner Seele, begegnet war? Ich stand auf und ging auf ihn zu. Die ersten Schritte in ein Abenteuer.

» Ich… ich nehme deine Hand und führe dich zu der Musik, in Ordnung? «

Er nickte. Seine Hand fühlte sich kalt an und sein Körper wirkte zerbrechlich. Langsam und vorsichtig, ganz vorsichtig, führte ich den Jungen zum Klavier und drückte ihn sanft neben mich auf die Bank. Als wir nun so nebeneinandersaßen, fühlte ich mich unbehaglich. Dennoch ergriff ich nach kurzem Zögern seine Hand, legte sie auf die Tasten und bedeckte sie behutsam mit meiner.

» Spürst du das, Jakob? «, fragte ich ihn. Er nickte.

» Das sind die Tasten eines Klaviers. Damit spiele ich meine Musik. Tilda spielt ihre beispielsweise mit der Geige und Ludwig mit der Trompete. Verstehst du das? Jeder kann seine Musik erklingen lassen. «

Er wandte den Kopf in meine Richtung.

» Auch ich? «

Ich blickte ihn entschlossen an.

» Auch du! «

Und dann begann ich langsam, meine Finger auf die seine zu drücken und wir spielten gemeinsam die Melodie noch einmal.

Ich weiß nicht genau, wann ich es beschloss. Ob in diesem Moment oder während der Nacht, in welcher der blinde Junge mit offenen Augen neben mir saß.

Am darauffolgenden Morgen suchte ich meinen Vater, um ihm von dem Beschluss zu erzählen. Außerdem erhoffte ich mir seinen Segen und seine Unterstützung. Ich musste sicher gehen, dass ich das Richtige tat. Obwohl meine Entscheidung eigentlich bereits feststand. Nervös lief ich aus unserem Haus, überquerte den gepflasterten Hof, ging vorbei am Beet, dem Hühner- und Hasenstall.

Ich traf Papa in der Scheune an. Während er gerade getrocknetes Gras vom Wagen auf den Heuboden warf, suchte ich sein Gespräch.

» Papa? «

» Ja, Liebes? «

» Papa, ich möchte Jakob beibringen, Klavier zu spielen. « Er hielt inne und sah mich an. Während er neben mir auf dem Wagen Platz nahm, suchte er nach den richtigen Worten.

» Das ist eine Verantwortung. Eine große noch dazu. Wie kommst du darauf? «

» Die Musik hat seine Augen fühlen lassen, Papa. «

Ich musste nicht mehr erklären. Mein Vater hörte mich an und verstand. Und gab mir seinen Segen.

In der darauffolgenden Nacht träumte ich den altbekannten Traum. Der Weihnachtsabend, der Duft, der einfach nicht zu dem Anlass passen wollte, mein Vater mit der Kugel. Sie fiel und ich rannte los. Ich stürzte unsanft auf den Boden, streckte dabei die Arme aus und fing sie ab. Beide Hände hatten sie fest umschlossen, gewillt sie nicht mehr loszulassen.

» Jetzt such mir mal bitte das A. «

Jakob nahm die rechte Hand und strich über die Tasten.

» Zwei Schwarze. C, D, E, F, G, A «, flüsterte er konzentriert, während seine Finger die Noten spielten. » Hier muss es sein. «

Er drückte die Taste und ein sauberes A erklang.

» Sehr gut «, lobte ich ihn. » Das A, kannst du dir merken, ist die rechte Taste in der Mitte der drei Schwarzen. Was sagt uns das? «

Jakob überlegte kurz.

» Dass es ein Ais und ein Aes gibt? «, fragte er schüchtern.

» Ja, genau. Die sind dann auch gleich dem Gis und dem B. «

» B? «

» Ja, B nennt man das tiefe H anstatt His. «

Jakob lernte schnell. Ich brachte ihm Tonleitern bei, erklärte Halb- und Ganztonschritte und ließ ihn die Töne erhorchen, die ich spielte. Ihm fiel es leicht und ich vermutete, dies lag an seinem weitaus ausgeprägterem Gehörsinn. Ich war stolz auf meinen Lehrling. Nach zwei Wochen konnte er bereits kurze Stücke spielen. Das Schönste daran war wohl die Tatsache, wie sehr er in der Zeit aufblühte. Er begann uns Vertrauen zu schenken. An der Tischkonversation nahm er mittlerweile ohne Ausnahme teil, diskutierte mit Paul über die schlimmsten Kriege der Geschichte und stritt mit Helene über die Suffragettenbewegung in England. Meine Mutter sah mich immer öfter erstaunt an und Papa lächelte mich immer häufiger an. Und nach einiger Zeit breitete sich etwas in mir aus, ein mir ganz fremdes Gefühl, ein gewisser Stolz.

Bald schon brachte ich ihm Bachs Air bei. Es war ein Stück, welches ich häufig von Tilda auf der Geige gehört hatte. Irgendwann schrieb ich die Noten für das Klavier nieder. Ich erklärte Jakob, dass ich bei jedem Stück, welches ich neu erlernte, eine Geschichte vor Augen sah, die sich immer wieder abspielte, wenn ich das Stück erneut anstimmte. Jakob bat mich die Geschichte zu diesem Stück zu erzählen und während ich begann meine Finger auf die Tasten zu drücken, schloss ich meine Augen und kam seinem Wunsch nach.

Es war ein junger Mann, gutherzig und liebevoll. So hatte ihn seine Großmutter erzogen, nachdem seine Eltern an der Pest verstorben waren. Der Junge war seiner Großmutter zutiefst dankbar und als die Zeit kam und seine Liebste, wie er sie immer nannte, nicht mehr gehen konnte, weil ihr die Beine schmerzten und die Gicht ihren Körper einnahm, machte er ihr Feuer, brachte ihr zu Essen und kümmerte sich liebevoll um sie. So wie sie sich um ihn gekümmert hatte. Er wusste, wie gerne sie in der Natur war, wie gerne sie auf einer Stoffdecke am Gipfel eines Hügels saß und herab in das Tal blickte. Und jeden Tag erzählte er ihr, wie es sich anfühlte. Wenn die Augustsonne schien, so erzählte er, wie die Wärme der Strahlen seinen Körper umgab, welch großartige Lieder die Vögel sangen und wie der Fluss sich glitzernd um den Hügel zog wie eine Blindschleiche.

Und als es kalt wurde und regnete, erzählte er ihr, dass er die Decke nicht ausbreiten konnte, weil der Boden zu schlammig war. Aber dass er sich stattdessen unter einen Baum gestellt hatte. Und er erzählte seiner Liebsten von dem Konzert, welches die Regentropfen ihm gaben und von dem Nebel, welcher mystisch die Hälfte des Hügels vom Tal abtrennte und von dem saftigen grünen Gras, welches heller leuchtete als jeder Stern am Himmel. Seine Großmutter erwartete ihn jeden Abend erpicht auf die nächste Geschichte.

Und eines Tages erzählte der junge Mann, dass er nun noch eine Liebste hätte und dass sie ganz wundervoll sei und die Natur genauso liebte, wie seine liebste Großmutter. Und seine Großmutter sagte: » Gott sei Dank « und lächelte, lehnte sich an ihren Enkel und starb. Große Trauer erfüllte sein Herz und er küsste seine Liebste ein letztes Mal auf die Wange. Und dann wurde ihm bewusst, dass sie immer nur auf diese eine Geschichte gewartet hatte und ihn nun in Frieden verlassen konnte. Und seine Augen füllten sich mit Tränen, weil er so dankbar war, dass er solch eine wunderbare Frau kennen und lieben durfte und jeden Tag ging er zu dem Hügel und irgendwann nahm er seine Kinder mit und seine Enkelkinder. Sie setzten sich auf die Stoffdecke und erzählten Geschichten. Und er war glücklich.

Als die letzten Töne erklungen waren, sah ich Jakob an.

» Das Stück ist zauberhaft. Und die Geschichte sehr berührend. «

Ich lächelte. » Für mich ist es das, was mir das Stück erzählen möchte. Jedes Musikstück möchte etwas erzählen. Die Künstler haben vermutlich ihre eigenen Geschichten in Noten verwandelt. Wir werden nie genau wissen, welche Geschichte sie erzählt haben. Aber das ist nicht schlimm. Denn jeder Mensch kann seine eigene Version heraushören. Es ist ein wenig wie Flüsterpost. Man beginnt mit einem Wort und flüstert es in das Ohr seines Partners. Dieser flüstert dem nächsten das Verstandene ins Ohr. Am Ende kommt oftmals etwas völlig anderes dabei raus. Aber das ist gar nicht schlimm. So funktioniert das Spiel. «

Dann begann ich Jakob die Noten und die Finger, welche die Tasten drückten vorzusagen. Er wiederholte geduldig die Noten und am Abend konnte er bereits die ersten Zeilen des Stücks.

3. KAPITEL

Unsere Schule war nur mit einem Fußmarsch von dreißig Minuten zu erreichen, da es hier auf dem Land nicht genug Kinder gab, um mehr als eine Schule zu errichten.

Nachdem der Vater unserer Bekannten letzten Sommer verstorben war, kamen seine beide Söhnen, Walter und Hans Wagner, häufig nach dem Unterricht zu uns, um die Schularbeiten zu verrichten. Ich war normalerweise nicht voreingenommen gegenüber fremden Menschen, – abgesehen von Frau Kaiser natürlich, sie war einfach gemein – aber es waren zwei der nervigsten Arten von Jungen. Sie wussten alles besser. Besonders für Tilda und mich hatten sie nichts übrig. Sie sahen keinen Funken Schlauheit in einem Mädchen. Ich wusste, dass meine Mutter dies nicht gerne sah und auch mein Vater hielt nichts von dieser Einstellung. Allerdings wiesen sie die Jungen nicht zurecht. Die Wagner-Brüder kannten es nicht anders. Die Beiden wurden von ihrem Onkel erzogen, die Mutter hatte kaum etwas zu sagen. Ein Gericht hatte dies beschlossen, nachdem sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.

» Bei der Last, die sie tragen musste, würde es jedem so ergehen «, sagte Mama immer.

Frau Wagner hatte ihren Mann verloren, als ihre Söhne noch klein waren. Sie musste den Lebensmittelladen ihres Mannes übernehmen und als beide ihrer Eltern zu Pflegefällen wurden, konnte sie der Belastung nicht mehr standhalten. Ihr Schwager hatte ihr dann die Erziehung der Kinder abnehmen müssen und beschuldigte nun jede Frau schwach zu sein. Umso mehr machte es mir Spaß Mathematik und Deutsch zu lernen. In diesen Fächern war ich viel besser als die Wagners und es war ein Genuss sie ausstechen zu können. Besonders da ich kleiner war als sie.

Jakob wurde von Papa separat unterrichtet und manchmal gesellte ich mich zu ihnen, um Jakob zu helfen. Bald würden ihn meine Eltern auch in der Schule anmelden. Er hatte Spaß am Unterricht und den konnte man ihm hoch anrechnen. Er war sehr wissbegierig und ließ sich von mir immer wieder die aktuellen Themen aus der Zeitung vorlesen. Auch wenn unser Vater es mied, uns mit der Politik zu beunruhigen.

Sonntags gingen wir meist in die Kirche. Für Mama war dies sehr wichtig. Sie erklärte uns, dass sie sich auf diese Weise ihren Eltern sehr nahe fühlte. Ich hatte meine Großeltern nie kennen gelernt. Mamas Vater starb während des Krieges. Paul und Helene waren die einzigen Enkel gewesen, deren Geburt er noch erlebte. Dann fiel er, ziemlich gegen Ende. Großmutter folgte ihm nur ein Jahr später. Doch genau deshalb war es meiner Mutter wichtig, ihnen zu gedenken und in der Kirche für sie zu beten. Ich mochte die wöchentlichen Kirchgänge. Sie waren eine Art Tradition. Es war schön alle Menschen aus dem Städtlein zu sehen und mit den anderen Kindern nach dem Gottesdienst Fangen zu spielen. Außerdem waren die meisten Lieder sehr schön.

Doch dieser eine Besuch im Juni unterschied sich von allen anderen. Nach dem Gottesdienst gingen Hannes, Tilda und ich gemeinsam mit der nervigen Brüdern Wagner nach draußen. Der Ältere der beiden, Walter, begann sich über Tilda lustig zu machen. Das tat er, seit sie den Artikel zu „Nachtigall“ nicht wusste, immer wieder. Er verhöhnte sie und sie ließ es schweigend über sich ergehen. Meine Schwester war an sich ein fröhlicher Mensch, jedoch nahm sie sich jede der Bemerkungen sofort zu Herzen. Ich schaute sie an. Ihr Gesicht wurde blass und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie presste ihre Lippen aufeinander, so als wollte sie damit verhindern das Weinen anzufangen. Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und raunte ihr zu, sie solle all die fiesen Bemerkungen einfach überhören. Wir wandten uns ab.

» Aber der Krüppel, euer … wie heißt er noch mal? Der Blinde? Wieso haben eure Eltern so einen Dummkopf wie ihn nur aufgenommen? So ein Dreck nutzt ja wohl gar nichts. «

Ich fuhr herum.

» Man sollte auf ihn spucken. Nicht mal das hat er verdient. Er dient nur als Fußabtreter! «

Walter begann zu Lachen und sein Bruder setzte ein. Ich starrte sie fassungslos an. Wie konnten sie nur? Ein Blick zu Hannes ließ mich wissen, dass er ebenso empört war wie ich. Er sah den Brüdern wütend entgegen, bewegte sich aber nicht von der Stelle.

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, spukte Walter vor unsere Füße.

» Krüppel «, schrie er immer wieder. » Krüppel! «

Ich schnaubte. In mir begann alles zu brodeln. Mein Körper spannte sich an.

» Was hast du da eben gesagt? «, fragte ich Walter.

» Dass der Kerl ein nichtsnutziger Krüppel ist. «

» Das nimmst du zurück «, schrie ich ihm entgegen.

» Oh, das Lottchen muss ihren kleinen Freund beschützen.“

» Nun ja, wenigstens habe ich Freunde. «

» Ja! Natürlich! Die Treppe runter solltest du ihn stürzen, kann ja sowieso nichts sehen. «

Ich machte einen Schritt nach vorne, hob meine Hand und schlug sie mit all meiner Kraft in die Magengegend meines Gegenübers.

Er schrie und taumelte einige Schritte rückwärts. In diesem Moment stieß ich ihn auf den Boden. Ich wollte ihn packen, ihn anbrüllen, ihn prügeln. Als könne ich damit die Worte treffen, die Walter eben noch gesagt hatte. Sie zerschlagen. Ihn zerschlagen. Seine Bosheit. Die Unmenschlichkeit. Wollte den gemeinen Jungen prügeln. Jemand hielt mich zurück.

Mein Vater zog mich langsam von Walter fort. Ich sträubte mich nicht. Es fühlte sich an, als wäre ich plötzlich ganz schwach. Als hätte meine Wut von einer auf die andere Sekunde all die Kraft aus meinem Körper gezogen. Nach einiger Distanz erhob ich schließlich meinen Blick von dem am Boden Liegenden. Um uns herum hatten sich alle Menschen versammelt, die nach und nach aus der Kirche gekommen waren. Auf dem Vorplatz war es ungewöhnlich still. Als klebten alle Augen an mir.

Hannes trat nach vorne.

» Wenn du noch einmal die geringste Beleidigung gegenüber unserer Familie aussprichst, ich schwöre es dir, wir machen dich fertig! «

Mit diesen Worten wandte er sich uns zu und wir bahnten uns gemeinsam einen Weg durch die stummen Schaulustigen. Meinen Rücken durchbohrten unzählige Augenpaare. Als wir alle beisammen waren, machten wir uns gemeinsam in Richtung unseres Hauses auf. Ich übersah aber nicht den strengen Blick, den meine Mutter der Menschenmenge hinter mir zuwarf. Meine Familie hielt stark zusammen. Besonders wenn es um das Gerede der Leute oder Beleidigungen ging. Und somit war Jakob offiziell ein Teil unserer Familie. Ein Teil von uns.