Unsre Zeit ist die Kürze - Marina Zwetajewa - E-Book

Unsre Zeit ist die Kürze E-Book

Marina Zwetajewa

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marina Zwetajewa, neben Anna Achmatowa die bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, hat ein vielfältiges Gesamtwerk hinterlassen. Ob sie in den Revolutions- und Bürgerkriegsjahren auf den Wahnsinn der Zeit reagierte oder sich im französischen Exil an ihre Kindheit und Jugend zurückerinnerte, ob sie verstorbene Dichterkollegen heraufbeschwor oder sich scharfsinnig mit poetologischen Fragen auseinandersetzte – stets tat sie es auf unverwechselbare Weise, in einem Stil, der vom ersten Moment an frappiert: durch seine Intensität, seine Suggestivkraft, seinen starken Rhythmus und seine klangliche Dichte.

Als sie sich in den 30er Jahren mit dem Gedanken trug, aus dem Exil zurückzukehren, stellte Marina Zwetajewa aus ihren Schriften all das zusammen, was ihr in künstlerischer und persönlicher Hinsicht wichtig war und ergänzte es um nachträgliche Selbstkommentare: eine Art Nachlass zu Lebzeiten, den sie mit nach Russland nahm, während sie ihre literarischen Manuskripte aus Angst vor Beschlagnahmung bei Freunden im Ausland deponierte.

Die Schreibhefte versammeln spontane Notizen, Dialoge mit ihren Kindern, Gedichte und Briefentwürfe, Tages- und Traumprotokolle, Reise- und Lektüreberichte – eine Mischung unterschiedlicher Textformen, die einen einzigartigen Blick in die schöpferische Werkstatt und den Alltag der Autorin gewährt. Es gibt keine bessere Einführung in Leben, Werk und Persönlichkeit der Dichterin als diese Auswahl von Felix Philipp Ingold, die den Auftakt zu einer vierbändigen Werkausgabe bildet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 365

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marina Zwetajewa

Unsre Zeit ist die Kürze

Unveröffentlichte Schreibhefte

Herausgegeben und aus dem Russischen und Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold

Suhrkamp

Unsre Zeit ist die Kürze

… Es ist schon schwer genug, ihn abzuwenden —

Von der Gurgel — den Gurt …

Selbst wenn der Name überlebt auf Erden —

Für nichts ist er gut.*

ERSTES HEFT

〈Paris〉

Zu S. ‌M. W〈olkon〉skij*. 

»Was ist Ihnen geblieben — von Ihren Wertsachen?« 

Er: »Nichts.« (?) (fast schon fragend, prüfend …) 

»Und an Menschen?« 

»Kaum einer … Sonnenuntergang … die Schatten bebender Bäume … Rabengekrächz …« 

Nachdenken als Antwort. Unabschließbares Gespräch. Was werde ich tun, wenn ich Ihre letzte Zeile zu lesen bekomme? (Punkt!) 

(Antwort: Eigenes schreiben. Was ja auch der Fall war. Clamart, den 29. Juni 1932.) 

Sie sind das letzte Bachbett meiner Seele, wie gut fühle ich mich in Ihren Ufern! (wie: auf Händen) O die Verführung durch alles mir Hinderliche! Verführung durch Abwehr! Ich schließe das Buch*: Theater (mir fremd), Tanz (mir lieb — allein der Tanz von Mlle Laurence* bei Heine und der Esmeraldas*, doch den hab ich nicht gesehn und könnte ich auch gar nicht sehen: Tanz ist — im Wort). 

S. ‌M. 〈Wolkonskij〉! Unschwer lässt sich in Rousseaus Beichte der lebendige Rousseau wiedergeben, in Eckermanns Aufzeichnungen — der lebendige Goethe, in Casanovas Memoiren — der lebendige Casanova, schwerlich jedoch, ja unmöglich in einem Buch über das Theater … 

Alles Geheime wird offenbar werden. Das wird gemeinhin von der Lüge gesagt (NB! von der des andern!). Ich sage es von der Wahrheit, der einzig-wesentlichen: der Wahrheit des Wesenhaften. Nicht meine beiläufige Lüge wird offenbar werden, vielmehr meine ewig jetzige Wahrheit. Sie wird es nicht: sie ist es schon. 

Verzeihen Sie und halten Sie es nicht für dreist: es ist bitter für mich, dass 〈zwischen uns〉 immer nur »von wegen« die Rede ist. O wie sehr wünschte ich mir — Sie außerhalb des Theaters — des Balletts — des Mimischen, 〈wünschte mir〉 Sie von wegen Ihrer selbst, Sie — ganz ohne 〈etwas anderes〉, Sie — nur Sie. Ihre »Gespräche«* halte ich nun fast schon für eine verborgene lyrische Ader im Vergleich mit der Abgehobenheit Ihrer Repliken. 

Das Denken — auch eine Leidenschaft (erstmals). 

Ihre ganze Geometrie ist weniger wert als jede Magie! Alles, was Sie sagen, trägt den Stempel der Unwiderlegbarkeit. 

Das Buch jedoch, das ich von Ihnen haben will — Sie werden es nicht schreiben. Nur einer von Ihren Schülern, in dessen Gegenwart Sie laut nachgedacht haben, könnte es schreiben. Auch Goethe hätte seinen Eckermann nicht selbst geschrieben. 

Moskau, den 28. russ〈ischen〉* März 1921, Sonnabend.

Lieber S. ‌M. 〈Wolkonskij〉! 

Bin eben mit Alja* aus Ihrer bedrängend vollgepferchten Gasse zurückgekehrt, die womöglich genau so sein muss, um mein Denken noch stärker zu bündeln. Wir gingen durch die dunkle Wosdwishenka — mit großen Schritten — es war fast menschenleer — von daher — das Gefühl der Machtfülle und des Überflugs. 

Alja schläft jetzt, und ich kann nachdenken. 

Ihnen ist (unwissentlich und nichtsahnend, vorab jedoch: unangestrengt) das gelungen, was bis heute niemandem sonst gelungen ist: mich loszureißen nicht von mir selbst (dem bin ich niemals erlegen, wiewohl — jeder hätte es vermocht!), sondern von allem Meinigen. Gedichte sind für mich ein Haus, »ich will nach Hause« — weg von einem fremden Fest, und auch jetzt will ich nach Hause — in Ihr Buch. Hausverschiebung. 

Und es gibt noch einen Unterschied, einen wesentlichen. 

Die Lieblingsbücher kommen mir in den Sinn, jene geliebten, ohne die (derentwegen) man im Grab nicht zur Ruhe kommt: Mme de Staël — Corinna, die Briefe der Mlle de Lespinasse, die Aufzeichnungen Eckermanns über Goethe … Ich zähle sie auf: kein einziges literarisches Werk ist dabei, alles Briefe, Memoiren, Tagebücher, nicht Literatur, sondern lebendiges Fleisch (der Seele!). Ein Mensch ohne Haut — das bin ich. (Allein schon das Wort ich …) Unter diesem Vorzeichen hat manches zusammengefunden. 

Musik. 

Im Kapitel über die Musik (ihr Wesen) gibt es bei Ihnen den folgenden Satz: 

»Allgegenwart wird letztlich nicht durch den Sieg über den Raum erreicht, vielmehr durch Verzicht auf den Raum …« 

Ich lese das zunächst in präziser Anwendung auf die Musik. — Als Formel. 

Davon überdauern dann drei Wörter: Sieg durch Verzicht. 

Im Weiteren (S. 134 — zum Material 〈der Musik〉, ganz am Ende): 

»Was ist Polarität mit ihrer vorgegebenen Anziehungskraft angesichts der sich ausdehnenden Endlosigkeit der unermesslichen transpolaren Räume?« 

Zwiefacher Eindruck, ein akustischer und ein optischer. 

Beim Lesen vernimmt man — mit den Ohren — eine fragende — eine lebendige — Stimme im Zimmer. Jemand, der nicht dich, der vielmehr sich selbst in deiner Gegenwart befragt. Eine Frage, die allmählich (Wort um Wort!) in einen Ausruf übergeht: in eine artikulierte Folgerung.

Der zweite Eindruck ist (als Prägung) visueller Art. Lieber S. ‌M., falls Sie das Buch bei sich zu Haus haben, nehmen Sie's in die Hand, schlagen Sie die S. 134 auf, sehen Sie am Ende nach* … 

Das ist nichts Gespenstisches, das hat seine offenkundige — augenfällige — Richtigkeit. Die Wörter selbst sind unermessliche Räume (ähnlich denen, durch welche die Schneekönigin* 〈den Waisenknaben〉 Kay geführt hat), selbst das Aussehen der Wörter. (Breite und Länge.) Das Aussehen der Wörter hier ist ihr Sinn. 

Sie sind das Werkzeug dessen, worüber Sie schreiben. Nicht Sie schreiben es, es (selbst) schreibt sich durch Sie. 

Unterirdische Gedankengänge. Der Bergmann lauscht der Stimme der Erde, die er aufwühlt und die begehrt, dass man ihr Erz freisetzt. (Oder — die Stimme des Erzes?) 

Keinerlei Willkür — Beherrschung des Gegenstands durch Unterwerfung — ach ja, hab's verstanden: Sieg durch Verzicht!

Goethe. Den ganzen Tag habe ich mich heute um die Erinnerung an ein Gedicht bemüht, das ich einst zufällig auf einem Packpapier gelesen hatte, erinnerte mich schließlich daran, rekonstruierte es, schrieb es erneut nieder und — schließlich war es wieder da: 

Goethe nimmt Abschied von einer Landschaft und einer Geliebten.[1]

In eines Sommerabends halbem Licht

Sah er zum weinenden und letzten Male

Hinab auf Wiesen, Wälder, Berg' und Thale.[2]

Er stand mit wetterleuchtendem Gesicht.

Noch einmal warf sich wie ein wunder Riese

Ihm das gelebte Leben an die Brust,

Dann löste leicht und lächelnd er — auch diese

Umarmung, seiner Gottheit schon bewusst.

Eines weiß ich: Sie würden auf der klassischen »Insel« leben, würden sich gleichwohl Ihre Gedanken machen, würden sie auch niederschreiben, und wenn Sie nichts zum Schreiben hätten, nichts womit und nichts worauf, Sie würden sie laut aussprechen und dann wieder freigeben. 

Ohnehin wären Sie auch ohne Dalcroze* und a〈ndere〉 der, der Sie sind, Sie hätten dasselbe gefunden, entdeckt. (Die Gesetze des Rhythmus hätten Sie an einem sich wiegenden Zweig entdeckt und s. ‌w.) Damit negiere ich nicht die 〈unleserlich〉 von X, Y, Z in Ihrem Leben: den Wert gemeinsamen Vorangehens — bis hin zu (zwei Bergleute sind's, welche die Ader entdecken). Doch Sie haben all dies vorab schon gewusst, zwischen Ihnen und der Welt gibt es kein Drittes, die Natur eröffnet sich Ihnen nicht durch menschliches Zutun. 

Ich fürchte, Sie werden denken: 〈was für ein〉 Wahn. 

Ja, doch wenn schon Wahn, dann kommt das, erstens, von Ihrem Buch, aber nicht von dem da auf dem Tisch (denn Urheber meines »Wahns« sind — Sie!), und zweitens: einzig auf dem Höhepunkt der Begeisterung sieht der Mensch die Welt korrekt, Gott schuf die Welt voller Begeisterung (NB! den Menschen — schon weniger, was man ja sehen kann), und ein Mensch ohne Begeisterung kann keine korrekte Sicht der Dinge haben. 

Ich fürchte, Sie werden sagen: wer hat dich zum Richter erkoren, wer hat dir das Recht gegeben — wenn auch bloß, um mich in den Himmel zu erheben? Denn auch dazu muss man eine Berechtigung haben. 

Ich überlege: »… zur Lobpreisung?« 

Jemanden zu belobigen — das kann unbescheiden sein, kann eine Dreistigkeit sein (loben darf man nur einen Jüngeren!) — doch das Lob als solches (ein jeder Atemzug ist Gotteslob)?*

Lob ist Pflicht. Nein. Lob ist Odem. 

Heute bei T. ‌F. S〈krjabina〉* — die Frage ihrer Mutter an mich: »Dites-moi donc un peu, Madame, pouvez-Vous me dire — à quoi cela est bon — la vie? Cette masse de souffrances …«*

Und sogleich stieg Scham in mir auf — für meinen Lebensüberschwang. 

Ich: »Alja, was denkst du — wie viel Uhr ist es?« 

Alja: »Genau zwei Uhr, weil das alte Mütterchen eben zur Beichte gegangen ist. Marina! Wir leben hier nach fremden Bekenntnissen!« 

»M〈arina〉! Was hat Gott mit den Hunden angestellt! Hat sie geschaffen und füttert sie nicht, hat sie zum Bettler- und Lumpenpack gemacht. Und wenn er sie allesamt reinrassig geschaffen hätte, dann würde es auch keine Rassen mehr geben, weil — Rasse entsteht nur aus dem Vergleich. 

Das heißt, damit es eine Rasse gibt, braucht's auch die Nicht-Rasse.« 

Sonnabend, der 9. — nach neuem 〈gregorianischen Kalender〉 — ein Uhr. Gerade eben verklang das Glockengeläut. Ich sitze da und lausche aufmerksam meinem Schmerz. Sonnabend — und weil es auch beim vorigen Mal Sonnabend war, hab ich nun arglos entschieden, dass ich Sie erwarte.

Doch lausche ich nicht allein meinem Schmerz, 〈lausche〉 auch einem jungen R〈otarmi〉sten (einem K〈ommuni〉sten), mit dem ich vor Ihrem Buch befreundet war, in w〈elch〉em ich Sow〈jet〉 R〈ussland〉 und die Hl. Rus erkannte, doch nun sehe ich, dass das bloß ein selbstherrlicher Hausmeister war, den ich nun nicht mehr loswerden kann. Ich höre mir sein blödes pöbelhaftes Lachen an und Ausrufe wie diesen: »Pfui Teufel! Das will mir nicht in die Rübe!« — und fühle mich bis zur Erstarrung verunglimpft, kann aber nichts dagegen tun. 

O mein Gott, wie entsetzlich und gewaltig ist doch die Macht des Menschen über den Menschen! Stetige Auferweckung und Grablegung! — Ich übertreibe nichts, höre aufmerksam zu, ich weiß: falls Sie gerade jetzt hereinkämen (der K〈ommuni〉st hat von einem Genossen eben einen Brief erhalten und liest ihn mir laut vor: »Ausstellung für Geflügelzucht und Kleintierzucht …« Damit lädt ihn sein Genosse zu Ostern ein.) 〈bricht ab〉

Zuerst der Name — ihm zollt man unwillkürlich Tribut: er macht hellhörig. Dann die Stimme; die Besonderheit, die Sinnhaftigkeit, die Bewusstheit der Aussprache — als wollte der Mensch über den Wortsinn hinaus — einzig durch Aussprache und Intonation: um vom Ausländer verstanden zu werden. Den Sinn über das Gehör (als Klang) vermitteln. — Sich hineinhören. — Dann das Wesentliche: prägnant, exakt, eben das. Sich hineindenken, sich hineinfühlen, in — in — in — Und schon ist der Name — der Ausgangspunkt — vergessen, es triumphiert das Wesentliche, es siegt das Wesentliche. […] 

Über noch eins denke ich nach im Rückgang auf Ihr 〈d. ‌i. ‌S. M. Wolkonskijs〉 Leben, von dem ich nichts weiß. 

Ein Mensch wird geboren. Bekommt einen klangvollen Namen. Trägt ihn. (Gewöhnt sich daran, sein Gewicht zu tragen.*) Konflikt zwischen FAMILIE und PERSON. Ein unerhörtes Glück (nicht für dessen Träger — für die ganze Welt!) — der Person in der Familie, der Familie in der Person. Dann der erste Flug über den Nestrand hinaus. Vom NEST will ich schweigen — weiß nichts davon, werde aber nicht schweigen von der Katastrophe seiner »Jen-Seite«. 

Ein Fürst — der schreibt! darin liegt etwas Unausstehliches. Fürst zu sein reicht nicht aus, also braucht's dazu noch den Schriftsteller. (Das hätte man auch Puschkin nicht verziehen — hat man ihm doch nicht einmal den Kammerjunker verziehen.*) Und sogleich: entweder ist er ein schlechter Fürst oder ein schlechter Schriftsteller. Über Fürsten streitet man sich nicht — also ist er ein schlechter Schriftsteller. 

Man mag seine Geburt entschuldigen (sie schlucken) — eine zweite Geburt (im Geistigen) ist schon nicht mehr entschuldbar — man verschluckt sich daran. Man fühlt sich bestohlen. (So etwa ist es dem Dichter nicht gestattet, Prosa zu schreiben: das tun wir 〈Prosaiker〉 doch selbst!) Beschäftigt sich ein Fürst mit seinen Weinkellern, seinem Gestüt — großartig, denn die Tradition gibt ihm die Weihe dafür, stünde der Fürst hinter einem Ladentisch — so wäre dies schon weniger großartig, dafür aber erfreulicher (unterbewusst: auch er, als einer von uns, hat aufgegeben …), jedoch ist künstlerisches Schaffen, d. ‌h. die zweite (nein, die erste!) Größe — die zweite ist der Fürstentitel.

S. ‌M. 〈Wolkonskij〉, womöglich irre ich, möchte aber, dass Sie wissen, worüber ich in all diesen Tagen nachdenke, die Ihnen gehören und die ohne Sie vergehn. 

Ein unbehauster Komet und ein behauster Komet. 

(Daraus könnte ein Gedicht werden.) 

Flügel bedeuten Freiheit nur dann, wenn sie im Flug ausgebreitet sind, am Rücken sind sie — Schwergewicht. 

Flügel — Synonym nicht der Freiheit, sondern der Kraft, nicht der Freiheit, sondern der Schwere. 

Die Feder fliegt wie auf der Flucht

Ein wunder Hirsch.

      Der Tag ein Trug — 

Gewitzte Pirsch!

Im Rücken alle Höllenkraft —

           vereint!

Die Kinder alle — eine Mutter schafft's,

So ist die Leidenschaft gemeint.

O Hirsch, du mit dem Goldgeweih,

Die Not ist nah!

Ein Horn fällt in die Klage ein,

Bläst Trübsal — da! ‌. ‌.

Nun, Herrscher, rette dich

Ins Wortdickicht!

Denn bald schon kommt das Blutgericht,

Trifft dich der Wüterich.

Das Herz schlägt an die Rippenwand,

Es pocht und haut …

Die Feder gleitet aus der Hand,

Ganz langsam, ohne Laut.

Am 4. russ〈ischen〉 Apr〈il〉 1921. 

〈Notiz rechts neben dem Gedicht:〉 Schlechte Verse, nicht aufgenommen in 〈den Band〉 Handwerk*. Aber lieb und gut als Erinnerung: an das damalige Moskau, den damaligen Seelenschmerz, mein damaliges Ich. Anmerkung von 1932. 

Wolken als Richter. 

Ich — der verlorene Sohn, der jedes Haus für sein Zuhause hält, sich dessen aber schon vorm Abendessen nicht mehr sicher ist und — fortgeht. 

Fette Kälber werden für mich nicht geschlachtet. 

Er reißt mir dreist mein Blatt aus den Händen,

Er schüttet Blütenstaub mir in die Augen,

In meinen Haaren rauschen seine Bänder,

Er gibt mir krause Flügel, kaum zu glauben …

                (der Wind) 

W〈olkonskij〉 ist in sich selbst verschlossen, 〈nein〉, nicht in sich selbst — in der Welt. (Auch das eine einsame Kammer — mit unendlich-ausgedehnten Wänden.) Ein Egoist von Goethes Art. Nicht Menschen braucht er, 〈sondern〉 — Gesprächspartner (heute gibt es keine Gesprächspartner mehr: es sind Zuhörer, Aneigner!), bisweilen — Informanten. Hochwillkommene Abwesenheit des Menschen im Zimmer, es wird geredet, es wird geantwortet, doch niemals im Gegenzug, gleichsam (nein, offenkundig) als Antwort auf das eigene beiläufige Denken. Vernimmt er es? Vernimmt er es nicht? 

Das Meer — ein tanzender Friedhof. 

Alle Frauen sind aufzuteilen in solche, die auf Unterhalt aus sind, und solche, die Unterhalt zu bieten haben. Ich gehöre zu Letzteren. 

Ich hab immer nur einen aufs Mal geliebt, alle andern waren mir — scheißegal. 

Meine Liebe (unergiebige Brunst) für Wolkonskij geht so weit, dass … wenn ich einen ihm Ähnlichen kennte, würde ich ihm den wohl zum Geschenk machen.[3]

Schön wär's schon, wenn dieser Weggeschenkte mich trösten könnte nach W〈olkon〉skij. 

Und am besten wäre es, wenn mir beide — nach alledem — nie wieder in die Quere kämen. 

Das Leben aushorchen und Schicksale ins Werk setzen. Sache einer greisen Frau. Doch ist ja das Schicksal selbst eine Greisin.

Einfach als Weg, schwierig als Verwirklichung, fraglich als Ziel, hoffnungslos als Exodus. 

Ans Feuer: brenne nicht, an den Wind: wehe nicht, ans Herz: schlage nicht. Das ist's, was ich mir antu. 

»Wo — zu?!« 

Ich weiß: dass kein Herz in mir ist — bin selbst

Das Herzstück von unten bis oben im Stamm.

Über Marina: 

Bleibt die Frage: was hat Marina Mniszek* angestrebt? (zu deren Ehren ich meinen Namen erhielt). 

Sicherlich Macht, doch — welche? Legitime oder illegitime? 

Falls erstere — dann wäre sie durch ein Missverständnis zur Heldin geworden, unwürdig ihres märchenhaften Schicksals. Einfacher wär's dann für sie gewesen, als Kronprinzesschen oder Bojarentochter geboren zu werden und später schlicht einen russischen Zaren zu heiraten. 

Meine triste Vermutung ist, dass sie erstere angestrebt hat, doch hätte ich geschrieben … 

( — so hätte ich mich geschrieben, d. ‌h. nicht eine Abenteurerin, nicht eine Ehrsüchtige und nicht eine Liebhaberin: sondern mich — als eine auch sich selbst liebende Mutter. Am ehesten jedoch: mich als — Dichter.*

〈am linken Rand datiert:〉 1932 

Und es gibt eine dritte Möglichkeit: einen solch leidenschaftlichen Hass auf die Orthodoxie (genauer, ein solch leidenschaftliches Polentum), dass der russische Thron bloß ein Mittel zur Polonisierung Russlands 〈gewesen wäre〉. 

Und um mit einem Lächeln auf mich selbst zurückzukommen: strebte ich einzig zu legitimer Macht — suchte ich einzig das Abenteuertum — behielte ich einzig die Polonisierung Russlands im Auge — so würde ich mich — unausweichlich — schicksalhaft (d. ‌h. ganz und gar) in einen der drei Usurpatoren verlieben.*

Vielleicht gar in alle drei. 

Als hätte mir Mutter diesen Namen 〈Marina〉 als Gegengift gegeben. 

Lieber S. ‌M. 〈Wolkonskij〉 

Das ist ein — document humain*, mehr nicht. 

Ich kann es nach der Niederschrift im Heft belassen, kann es auch ungeschrieben lassen. Wichtig ist nur, dass die Sache erfasst wird, 〈dass sie〉 — innerlich — ausgesprochen wird. Sie festzuhalten vermittels des — vielleicht sogar artikulierten — Worts, ist bereits zweitrangig. 

(Prière mentale*.) 

Und alles Weitere — von Hand zu Hand (von Mund zu Ohr), dem Menschen, oh, fällt es so leicht zu entsagen! 

Nicht ein einziger Mensch, auch nicht der teilnahmsloseste, entschlägt sich der Freude, in irgendjemandes Leben etwas (alles!) zu sein, besonders dann, wenn es unwillentlich geschieht. 

Dieser Mensch sind Sie, das Leben ist meins. 

Es begann gleich am ersten Tag, da ich Sie erblickte: redressement* meines gesamten Wesens. 

Wie ein Baum — zum Licht hin, treffender kann ich's nicht sagen. 

Alles, was es in mir an Ursprünglichem gab, all das Verschüttete und Verwehte aus diesen vier einsamen Lebensjahren — inmitten von Niedertracht und 〈fehlt ein Wort〉 — erhob sich wieder. 

Unwillkürlich — einer nach dem andern — fielen sämtliche »Freunde« zurück — fielen ab — blieben unten. Ich blieb ich.  

Und das eben heißt — Sie lieben. 

(Der Brief verblieb im Heft.) 

Jeglicher Seufzer will fort aus dem Leib:

Unmöglich zu leben im eigenen Haus!

Ich bin so wenig Frau, dass ich die Liebesdinge stets dem andern überlasse, so wie der Mann — die Alltagsdinge: wie du's auch haben willst, ich misch mich da nicht ein.

In Ihrer Gegenwart ist mein Geist stets gesättigt, die Seele stets ausgehungert. So brauch ich's eben. 

Oft hätte ich Sie küssen wollen — vor lauter Freude, doch jedes Mal hielt mich die Furcht zurück: womöglich würde er sich beleidigt fühlen. Dann bedauerte ich jedes Mal, dass ich nicht erst 8 J. alt bin wie Alja, oder auch, dass ich nicht Ihr Lieblingshund bin. 

Meine zunächst voreingenommene Liebe zu ihm ist in einen Naturzustand übergegangen: ich zähle ihn 〈d. ‌i. ‌S. M. Wolkonskij〉 zu den Dingen, w〈elch〉e ich in meinem Leben mehr geliebt habe als die Menschen: Sonne, Baum, Denkmal. Und die mich niemals gestört haben — weil sie keine Antwort gaben. 

Brief an 〈Michail A.〉 Kusmin* (fürs Heft geschrieben)

Lieber M. ‌A. 

Ich möchte Ihnen von zwei Begegnungen berichten, die ich mit Ihnen hatte, eine erste im Januar 1916, eine zweite im Juni 1921. Möchte darüber wie für einen Außenstehenden berichten, so wie ich (von der ersten) all denen schon erzählt habe, die mir die Frage stellten: »Kennen Sie Kusmin?« 

»Ja, ich kenne ihn, d. ‌h. er kann sich an mich wahrscheinlich nicht erinnern, wir haben uns ja kaum gesehn — einmal nur, für eine Stunde, und da waren so viele Leute …« Das war im Jahr 1916, winters, erstmals in meinem Leben war ich in Petersburg. Ich war damals mit der Familie K〈annegiess〉er befreundet (mein Gott, Leonid!*. Man zeigte mir Petersburg. Doch ich bin kurzsichtig — und es war so kalt — und es gibt in Petersburg so viele Denkmäler — und die Schlitten flitzten so schnell — alles vermengte sich, und von Petersburg blieben bloß die Gedichte Puschkins und Achmatowas. Ach, nein: es blieben auch die Kamine! Allüberall, wohin man mich führte, gab es diese gewaltigen marmornen Kamine — ganze Eichenhaine wurden darin verbrannt! — und auf dem Fußboden Eisbären (ein Eisbär — beim Feuer! — monströs!) und alle Jugendlichen trugen das Haar gescheitelt — hielten Taschenausgaben von Puschkin in der Hand — hatten lackierte Fingernägel und lackierte Köpfe — wie schwarze Spiegel … (Oben — Lack, und unterm Lack — der L〈acke〉l!)*

O wie sehr man dort Gedichte mag! In P〈etersbur〉g 〈ein Wort ausgelassen〉 werden Gedichte geliebt. Ich habe zeit meines Lebens nicht so viele Gedichte aufgesagt wie dort in nur zwei Wochen. Auch geht man dort überhaupt nicht schlafen. Man ruft sich an um 3 Uhr früh. — Ob man vorbeikommen könne? — »Aber klar doch, klar, wir haben hier gerade ein Treffen.« Und so fort — bis in den Morgen. Doch das Nordlicht hab ich dort, glaub ich, nicht gesehn. 

»Aber …« 

»Ach, ja, das Nordlicht ist nicht dort — das Nordlicht ist in Lappland — dort gibt's die Weißen Nächte. Nein, dort hat es ganz gewöhnliche, d. ‌h. weiße Nächte, aber wie auch in Moskau — vom Schnee.« 

»Sie wollten von Kusmin berichten …« 

»Ach, ja, aber eigentlich gibt es nichts zu berichten, ich hab mit ihm kaum drei Worte gewechselt. Er war eher wie eine Erscheinung …« 

»War er denn stark pomadiert?« 

»Po-madiert?« 

»Na ja: pomadiert: geschminkt …« 

»Aber ne-ein!« 

»Ich bin mir sicher …« 

»Versichern Sie mir nichts, denn das ist nicht er. Man hat Ihnen jemand andern gezeigt.« 

»Ich bin mir sicher, dass ich ihn in Moskau so gesehen habe, auf dem …« 

»In Moskau? Dann gibt er sich eben in Moskau so und meint, in Moskau müsse es so sein — in der Art all der Häuser und Kuppeln, aber in Petersburg ist er vollkommen natürlich: Mulatte oder Mohr.« 

So war's tatsächlich. Ich war eben angekommen. Zusammen mit einem Menschen, d. ‌h. mit einer Frau.* — Gott, wie hab ich geweint! — Doch das ist unwichtig. Nun, mit einem Wort, um nichts in der Welt wollte sie zulassen, dass ich zu der Abendveranstaltung ginge, und eben deshalb überredete sie mich dazu. Sie selbst konnte nicht — sie hatte Kopfschmerzen — und wenn sie Kopfschmerzen hat — ist sie unausstehlich. (Dunkles Zimmer — blaue Lampe 〈fehlt ein Wort〉 meine Tränen …) Aber ich hatte keine Kopfschmerzen — 〈mein Kopf ‌〉 schmerzt nie! — und ich wollte keinesfalls, ach, zu Hause bleiben 1) wegen Sonja, zweitens, weil K〈usmin〉 dort sein und singen würde. 

»Sonja, ich werde nicht hingehn!« — »Wieso? Ich bin ja ohnehin — kein Mensch.« — »Sie tun mir aber leid.« — »Dort werden viele Leute sein, Zerstreuung.« — »Nein, Sie tun mir sehr leid.« — »Mitleid kann ich nicht ertragen. Fahren Sie hin, fahren Sie hin. Denken Sie doch, Marina, Kusmin wird auch dort sein, er wird sogar singen.« — »Ja, singen wird er wohl schon, doch wenn ich dann zurückkomme, werden Sie mir ein schlechtes Gewissen machen und mich zum Weinen bringen. Ich fahre auf keinen Fall hin.« — »Marina!« 

Leonids Stimme: »M〈arina〉 I〈wanowna〉, sind Sie bereit?« Ich — ohne zu zögern: »Sofort!« 

Viele Leute waren da. An niemanden erinnere ich mich. Wir mussten wieder weg. Eben erst angekommen — und gleich wieder losfahren! (Wie schon als Kinder, ja?) Alle —: »Aber M〈ichail A. Kusmin〉 wird noch lesen …« — Ich, umtriebig: »Aber zu Hause 〈wartet auf mich〉 eine Freundin (?).« Leichtes Lachen, und jemand, der nicht an sich halten konnte: »Sie sagen das so — wie: ich hab ein Kind zu Hause. Eine Freundin wird doch warten können.« — Ich, zu mir selbst: »Teufel — und ob!« Da trat Kusmin selbst zu uns. »Bleiben Sie doch, wir haben uns noch kaum gesehen.« Ich im Gegenzug, leise: »M. ‌A., Sie kennen mich ja überhaupt nicht, doch glauben Sie mir aufs Wort — mir glauben alle — noch nie im Leben wäre ich so gern geblieben wie jetzt, und noch nie musste ich so dringend weggehen — wie gerade jetzt.« M. ‌A. freundlich: »Ist Ihre Freundin denn krank?« Ich, knapp: »Ja.« M. ‌A.: »Aber da Sie nun mal hergekommen sind …« — »Ich weiß, ich werde mir niemals verzeihen können, wenn ich bleibe — und werde mir niemals verzeihen können, wenn ich nun gehe …« Dazu jemand: »Da Sie sich so oder anders nicht verzeihen können — wo liegt denn das Problem?« 

»Tut mir unendlich leid, meine Herrschaften, aber —« 

Die Augen der Sterbenden —

In herrliche Fernen.

Wir sind ihnen nicht Freund,

Wir tun ihnen nicht leid.

Die Begegnung mit einem Dichter (einem Buch) ist für mich eine Wohltat von ganz oben. Nicht anders lese ich. 

Einzig Frauen zu lieben ist (für eine Frau) ebenso unheimlich wie (für einen Mann) nur Männer zu lieben — unter bewusstem Ausschluss des normalen Gegenübers! 

Und einzig Frauen (für den Mann) oder Männer (für die Frau) 〈zu lieben〉 unter bewusstem Ausschluss des anormal Vertrauten — wie langweilig! 

Und alles zusammen — wie armselig. 

Hier wäre tatsächlich der Aufruf am Platz: »Seid wie die Götter!« 

Jeder bewusste Ausschluss hat etwas — Unheimliches. 

Habe eine unüberwindliche Abneigung gegen einige meiner — sehr schönen — Gedichte, die aber trüben Quellen entstammen. Künftige 〈Leser〉 wird das nicht bekümmern, mich wiederum kümmern einzig die künftigen. 

Das Männliche in mir: 

Die Furcht, mein Kuss könnte eine Kränkung sein. Das Gefühl: du hast dich mir anvertraut, ich jedoch — . So war's mit Wolodja Aleksejew*, mit dem ich kein einziges Mal — weil ich tatsächlich Vertrauen zu ihm hatte. Das Gefühl — nach dem Kuss — eines schändlichen Siegs, eines schmachvollen Triumphs. Langweiliges Siegen. 

Bin unfähig, mich lieben zu lassen: nichts zu machen. 

Offenbar verwandle ich sämtliche Männer in Frauen. Irgendein Einziger hat freilich auch mich einst in sein 〈dazugeschrieben: mein〉 Geschlecht — zurück — verwandelt. 

Ich bin nicht verträumt, meine Träume sind scharfsichtig. Ich bohre mich mit eigenen Augen hinein, lasse mich nicht überfluten. Ich nehme die Träume mit allen fünf Sinnen wahr (NB! im Leben habe ich nur einen einzigen, im Traum reifen meine Sinne heran, im Leben sind sie allesamt, ausgenommen das Gehör, wie durch Watte, durch ein ganzes Wattegebirge unendlich verdumpft. So kann ich denn eine glühende Kohle lange in der Hand halten, und wenn ich ein Perlenkügelchen anfasse, fühle ich nichts, auch Geruch nehme ich bloß dann wahr, wenn er überstark ist und unerträglich für andere — so als wären meine Nasenlöcher zugekniffen. Nicht zu reden von den Augen — dichter Nebel und ein Schimmern wie bei allen Kurzsichtigen: Sternennebel überm Smolensker Markt z. ‌B. 〈)〉 Der Geschmack? Hab ihn nie überprüft, auch er ist wahrscheinlich drittrangig. Ein Gleiches gilt für meine Hände — ich verbrenne sie mir nie: trinke und esse Feuer. (Der Gaumen — zweite Hände.) 

Das Gehör jedoch, das Hören, das Hören. Ein Gehör, das nichts verzeihen kann. Mein Gehör, dank dessen ich so rasend gelitten habe — schon vor meiner Kindheit: schon im Säuglingsalter: immer wenn meine deutsche Kinderfrau Awgusta Iwanowna etwas aus ihrem Gebiss herausschmatzte, und dann später, als in Lausanne* zwei ältere Schülerinnen — Magda und Martha — zweistimmig sangen, vollmundig und in lerchenhafter Höhe. — Oh, meine geballten Fäuste als Antwort auf Gelächter. Dazu meine völlige Hilflosigkeit, denn — wer sollte das begreifen? 

Die bildenden Künste und das Wort. 

Die bildenden Künste sind grobschlächtig, sie packen einen gleichsam beim Kragen: schau her, da bin ich. Evidenz. Anschaulichkeit. Crier sa beauté sur les toits*. Niemand wird sagen können, es gebe ein Bild nicht — wenn er's denn einmal gesehen hat. Und selbst wenn jemand ein Bild nichtverstanden hat, so hat er es doch gesehen — bunte Flecken. D. ‌h. sein Auge ist zufriedengestellt, denn das Auge braucht weiter nichts, mehr braucht — der Verstand. 

Und das Gedicht? Acht Buchstabenreihen. Und die Musik? Die aufgespießten Notenflöhe. Keinerlei Schönheit, keinerlei Korruption. Mich muss man verstehen, denn — mich gibt es nicht. Von daher 〈ein Wort fehlt〉 die Schutzlosigkeit der Sprache. Wie auch des Dichters. 

(Mein altes fleckiges sowjetisches Heft, aus w〈elch〉em ich hier abschreibe, wärmt sich in der Sonne wie eine alte Schildkröte oder eine Eidechse. Und das freut mich für das Heft ebenso wie die alte Schildkröte oder die Eidechse. 

  Am 10. Juli 1932.) 

Wenn man am Glück auch nicht sterben kann — so — […] kann man vor Glück doch versteinern. Ich bin versteinert. — Nach drei Stunden dann die Tränen. — Die beiden allerglücklichsten Tage: der 25. März (Mariä Verkündigung) 1919 und — heute, am 1. russ〈ischen〉 Juli (den ganzen Tag über schwebte mir die Verkündigung vor). Vom heutigen Tag an — das Leben. Zum ersten Mal lebe ich. Seit dem 18. Januar 1918 hing ich ständig in der Luft.[4] — Kurzes Durchatmen: der Moment, als der Brief kam. Und die letzten paar Wochen — nach dem November[5] — da war ich völlig auf Wolken. Blickte in den Himmel wie in mein Zuhause. 

Träume: 

Eine Mondnacht. Eine südliche Großstadt. Ich komme mit Alja an einer festlichen Abendveranstaltung vorbei, offenbar von einem Korps der Flotte. Lagerfeuer und — unter dem Mond — ein feierliches Zeremoniell. Ein Zeremoniell mit Humor. Bestattung eines Un-Toten (absichtlich) — Couplets in schwermütiger Intonation — goldene Dreizackhüte unterm Mond — maniakalisch-marionettenhafte Präzision der Bewegungen: alles in übertriebener Weise. Der Refrain: »Aber wir können auch so — auch so können wir — auch so können wir …« (entsprechend verlangsamte Gestikulation). Eine feierliche Groteske. Ein Ritual. Wir treten zur Seite, ich 〈sage〉 Alja: »Ein ganz klar illegales und konterrevolutionäres Spektakel: Dolche, Spitzenhüte …« Und — ich erstarre: »Alja!« Vor unsern Augen ein roter Backsteinbogen, alt, irgendwie vorzeitlich, rot sogar unter dem Mond.[6] So eine Art Passage. Und unter dem Bogen, ungefähr zwanzig Schritte entfernt — Tataren. Sie sind zu viert: weiße Gewänder, weiße Filzzylinder, alle reglos. Einer winkt herüber: »Du Schöne! Lass hören!« Stimme und Geste — Verlockung. Wir wenden uns ab (langsam, wie im Wachzustand, wenn ich Angst empfinde). »Lass uns doch dein Töchterchen zurück!« Ich spüre in Aljas innerer Hand, wie ihr Herz klopft. Scharfe Kurve, wir laufen weg. Eine Frau mit buntem Kopftuch — Gras — Ruinen. Wir sind nicht von daher gekommen, doch nun laufen wir zurück. »Tataren!« Die Frau macht mechanisch noch ein paar Schritte und jetzt — sie hat es verspürt! hat begriffen! — fällt sie hin. Wir fliehen. Steinerner Gang unter Bögen. Wir fliehen. Ich spüre Alja nicht mehr, bloß noch ihre Hand. Das Tatarengetrappel auf Stein. Der Gang führt erst nach unten, steigt dann wieder an, führt erneut abwärts, steigt wieder an — und immer wieder — immer wieder. Schließlich merke ich: wir treten auf der Stelle! 〈fehlen ein, zwei Wörter〉! Mit den letzten Kräften — zum unzähligsten Mal — und — in ein Seitentürchen und — auf den Boden! Badezimmer eines Kinderhorts. Alja kann kaum noch atmen. Wir drängen uns in eine Ecke, auf dem Boden. Alja, nur mit den Lippen: »Sterben!« Wir sitzen auf dem Boden. Fenster: Mattglas. Draußen — auf einer Treppe — die Schatten hochsteigender Kinder. Wir warten ab. Die Schatten 〈steigen〉 weiter. Doch die Tataren könnten sie zum Verschwinden bringen. Ich — zu Alja: »Los!« Sie, die Augen halb geschlossen, völlig entkräftet: »Sterben.« Ich packe ihre Hand, blitzschnell zur Treppe. An der geschlossenen Tür — eine Dame. »Um Gottes willen — lassen Sie uns durch — die Tataren …« Sie, nicht überrascht: »Unmöglich.« — »Egal wohin, selbst auf dem Boden … Ich bin die Tochter von Professor Zwetajew*, ich besitze den Ausweis des Verbands …« Sie lässt sich erweichen, führt uns nach oben. Eine einladende Zelle — ein débarras*. Auf dem Bett — Brot. Sie setzt Alja auf einen Sessel, setzt ihr und auch mir einen Hut auf. Auf meinem sind Anschriften, Buchstaben, weibliche Vornamen in einer unbekannten Sprache. Der Hut ist für mich zu klein, sie drückt ihn mir auf und 〈sagt in ihrem〉 Sang: »Die kenne ich, bei denen war ich schon, die würden Ihnen Ihre Tochter niemals zurückgeben.« — »Der älteste — älteste …?« — »Ne-ein, er bedauert, er ist bei ihnen und bedauert, er begleitet … ‌Was für ein hübsches Mädchen …« Sie schneidet für Alja und mich ein Stück Brot ab. »Man kennt sie doch, alle kennen sie … Was für ein schöner Hut!« Und in ihrem Sang — ein Name nach dem andern — all jene unbekannten Namen. »Und diesen (anscheinend: Dshalina) — haben sie mir gegeben, so hab ich bei ihnen geheißen. Was für ein schöner Hut!« Ich, wie verzaubert: »Sie sind ja — sich selbst verfallen! ‌. ‌.« 

Ich wache auf, kalt und starr. Und die Tataren hätten doch als Erste kapieren können, dass wir da im Kreis liefen — sie hätten einfach warten können — oder — besser noch! — uns entgegenkommen. Gott sei Dank, dass mir dies im Traum nicht klargeworden ist — es wäre sonst eingetreten. Besonderheit meiner Träume: die Voraussagbarkeit — durch mich — der Ereignisse.[7] Dadurch dass ich — vorausahne, dass ich — Angst habe, dass ich — wünsche, — sage ich voraus. Oh, wie groß wäre damals mein Entsetzen gewesen — ich wäre gestorben. Sie hätten reglos gewartet. 

Ebendies wollten sie doch: mein Entsetzen. Alles war ihnen bekannt: sowohl der in sich geschlossene Gang wie auch die Sinnlosigkeit der Flucht und die kleine Seitentür. Doch solang mich die Möglichkeit, dass sie auftauchen und uns entgegentreten könnten, nicht in Schrecken versetzte, wagten sie sich nicht aus der Deckung — mussten selber fliehen — und stets gleichermaßen auf Distanz 〈bleiben〉. Das Problem bestand in meiner Angst: plötzlich werden sie innehalten! Geheimnisvolles Spiel. Und verloren haben — sie. 

Mörder waren sie nicht. Sie verzauberten. Jene, die mit ihren bunten Hüten bei ihnen gewesen ist, blieb verzaubert, und sie verzauberte auch selbst, in ihrer Stimme lag ihre Liebe zu uns. Und — der Traum ist ja abgebrochen — wer weiß?. ‌. 

Ich werde niemals vergessen: den roten Backsteinbogen, der rot war sogar unterm Mond, die beinah klingende azurne Bläue — und in weißen Gewändern — wie alte Steinidole — mit dem immer gleichen rechtshändigen Wink — die Tataren.

Ein alter Brief, fälschlich hier abgelegt

Moskau, den 2. September 1918

Liebe Alja! 

Noch sind wir nicht abgereist. Am Bahnhof waren so gewaltig viele Leute, dass wir zwar die Fahrkarten kauften, dann aber nicht einstiegen. 

Nach Hause mochte ich nicht zurückkehren — 〈was〉 ein übles Vorzeichen 〈gewesen wäre〉, und so nächtigte ich bei Malinowskij*. Er hat ein zauberhaftes kleines Zimmer: Musikinstrumente an den Wänden: ein Cello, eine Mandoline, eine Gitarre, — Bilder mit viel Himmel drauf, viel Wald und keine Menschen, gewaltiger grüner Schreibtisch mit Büchern und Zeichnungen, ein altertümlicher Flügel, unter dem sein Hund »Miss« schläft (heißt auf Englisch — Fräulein). 

Ich hab mit Malinowskij das Abendessen zubereitet, dann spielten wir zusammen: er auf der Mandoline, ich auf dem Klavier. Wir dachten an Aleksandrow zurück, an Mawrikij, an Assja, an jenes ganze wundersame Leben. Auf einem seiner Bilder ist die Schlucht von Aleksandrow, wo wir einst — du erinnerst dich? — mit Andrjuscha unterwegs waren und dann vor einem Kälblein davonliefen.[8]

Nun ist früher Morgen, alle im Haus schlafen. Bin ganz leise aufgestanden, hab mich angezogen und so schreib ich dir jetzt. Bald geht's zum Bahnhof, wir werden Schlange stehn und werden — ist zu hoffen — heute losfahren. 

Am Bahnhof sind immer wieder hungernde Menschen auf uns zugekommen, mit der flehentlichen Bitte um ein Stück Brot, ein wenig Geld. Deshalb, Alja, sollst du tüchtig essen, musst begreifen, dass schlecht zu essen eine Sünde ist, wenn so viele Menschen vor Hunger sterben. Nadja wird schon Brot haben, iss in der Früh, zu Mittag und abends. Und iss jeden Tag ein Ei — morgens, zum Tee. Und Nadja soll dir zum Tee Milch einschenken. 

Schreib jeden Tag etwas, lies in deinem Buch, wenn jemand Fremdes kommt, sei klug, gib Antwort auf Fragen. Küsse Nikodim und Tanja von mir, falls du sie triffst. 

Ich küsse dich, Klein-Alja, Christus sei mit dir, bleib gesund, vergiss nicht dein Abendgebet. 

(Meine Abreise erinnert mich an das Märchen von der Ziege und den Zicklein — »die Ziege ging auf Futtersuche in den Wald …«.) 

Küss der Irina* das Händchen von mir und 〈küss〉 dich selbst im Spiegel. 

Auf Wiedersehn! 

      Marina 

Gruß an Nadja*. 

Zettel von meiner Wand

Sosehr das Predigen der Gleichheit aus Herrschermund begeistern kann — so widerwärtig ist es aus Dienermund. 

Innerliche (vitale) Affektion bei völligem Fehlen von Imitation — so mein Leben und meine Dichtung. 

Gott ist größer als die Welt, die Mutter größer als das Kind, Goethe — größer als Faust. Wäre also Goethes Mutter größer als Goethe? Ja, denn vielleicht schlummerte einst in ihrem Schoß ein ungeborener Über-Goethe. 

Nichtswürdig und Nicht-Dichter ist der Dichter, d〈esse〉n Leben nicht ein Poem ist. — Gegenbeweis! 

(Um das zu bekräftigen oder zu verwerfen, müsste man erst einmal definieren, was ein Poem ist und — vor allem — ein Nicht-Poem. 1932.) 

Greisenstirn. — Sieg des Oben. — Triumphaler Zugang (Gewölbe) zum Tod (Unsterblichkeit). 

Nacht: (blindlings, mit Bleistift — offensichtlich hat sich die Elektrizität bei uns wieder nicht eingeschaltet) 

Mit Entsetzen denke ich an meine Gefühlsabstumpfung in den letzten Jahren — nicht in Liebesdingen (ekelt mich) — 〈sondern in Sachen〉 Mitleid. Zwischen mir mit 18 J. und mir mit 28 J. liegt diesbezüglich 〈fehlt ein Wort〉 — ein Abgrund, und zwischen mir mit 8 und 28 J. — eine Unermesslichkeit. Als hätte meine schöpferische Kraft (das Vermögen, alles herauszukehren: die Überzeugung, mit allem fertigzuwerden) auch dies verschlungen. Einzig der Traum (das Traumgesicht) bringt's zurück. Und S〈ergej Efron?〉 

Gibt es nicht deshalb heute keinen Dante, keinen Ariost, keinen Goethe, weil die Gabe des Wortes geschwunden ist, — nein: es gibt noch Meister des Wortes — große. Doch jene andern waren Meister der Tat, sie lebten ihr Leben aus, und diese 〈heutigen〉 haben aus dem Leben ein Dichtwerk gemacht. Das ist der Grund dafür, dass — über allen — Blok steht. Er ist mehr als ein Dichter: ein Mensch. 

Ein Blick von mir — Glut; wend ich mich ab — alles kalt … 

Gib mir ein Stück Kohle, ich schlucke es runter, um mich lustig zu machen … 

(über wen? mich selbst — zum Gespött) 

Bloks Tod.* Noch verstehe ich nichts und noch lang werde ich nichts verstehen. Ich meine: den Tod versteht keiner. Sagt jemand: Tod, dann meint er: Leben. Denn wenn jemand beim Sterben um Atem ringt und sich ängstigt — oder — umgekehrt 〈fehlt ein Wort〉, dann ist all dies: Röcheln — und Angst — und 〈fehlt ein Wort〉 Leben. Der Tod — das ist, wenn ich nicht bin. Ich selbst kann's nicht fühlen, wenn ich nicht bin. Das heißt, den eigenen Tod gibt's nicht. Es gibt einzig den fremden Tod: d. ‌h. eine räumliche Leere, einen verödeten Ort (jemand ist verreist, und irgendwo lebt er), d. ‌h. wiederum — Leben, und nicht der Tod, der undenkbar ist, solange man lebt. Er ist nicht hier (doch irgendwo ist er). Es gibt ihn nicht — nein, denn gegeben ist uns nur das Verstehen durch uns selbst, jedes andere Verständnis ist papageienhafte Lautnachahmung. 

Ich meine: Todesangst ist die Angst des Seins im Nichtsein, eines Lebens — in der Gruft: da werde ich liegen und über mich kriechen Würmer. Leute wie mich muss man eben deshalb verbrennen. 

Außerdem — ist denn mein Leib — ich?[9] Ist er es, der Musik hört, Verse schreibt usw.? Der Leib vermag nur zu dienen, zu gehorchen. Der Leib — ein Kleid. Was schert's mich, wenn man es mir stiehlt und in welches Loch, unter welchem Stein der Dieb es vergraben hat? 

Hol ihn der Teufel! (ihn, den Dieb, und es, das Kleid) 

Bloks Tod. 

Verwunderlich ist nicht, dass er tot ist, vielmehr — dass er gelebt hat.[10] Kaum irdische Prägungen, kaum eingekleidet. Er ist sofort zu einem (in unsrer Liebe) postum-lebendigen Antlitz geworden. Nichts bei ihm ist abgebrochen — es hat sich abgesondert. Er ist ganz und gar — ein solcher Geistestriumph, ein solch augenfälliger Geist, dass man sich wundert, wie das Leben so etwas überhaupt hat zulassen können. (〈Dass es〉 in ihm so — zerschlagen war!) 

Bloks Tod empfinde ich als eine Himmelfahrt. 

Meinen menschlichen Schmerz kann ich schlucken: für ihn 〈Blok〉 ist er zu Ende, also sollten auch wir nicht mehr dran denken (ihn mit ihm identifizieren). Ich will ihn nicht in der Gruft, will ihn im Dämmerschein. (Der sich auf jener Wolkenbank ausgestreckt hat!) 

Ich schreibe stoßweise — es ist wie eine Belohnung. Gedichte sind Luxus. Mein ewiges Gefühl, dass ich darauf kein Anrecht habe. Und — trotz allem — dank allem — sind sie Fröhlichkeit, von freilich nicht ganz so schlichter Art — wie es den Anschein macht. 

Beim Musikhören. 

Furchtbare Schwächung und Niedergang des emotionalen Quells in mir: Erinnerung an Gefühle. Ich fühle nur im Traum oder beim Musikhören. Lebe aus offenkundig-rationalem Quellgrund: meine Seele ist vernünftig geworden, genauer — die Vernunft ist zu meiner Seele geworden. Früher war mein Leben Aufruhr: Sehnsucht, Liebe, ich lebte besinnungslos, nichts verstand ich, ich wollte und konnte weder definieren noch begründen. Jetzt ist mir jede geringste Regung in mir selbst und bei andern klar: woher und wieso. 

Einzig Musik und Traum werfen mich aus dem Sattel. 

Alja: »Marina! Ich hab beim Reinemachen über die Juden hin und her überlegt. Einst hat — unter Abertausenden — ein einziger geglaubt, jetzt glaubt von einem Tausend kaum einer nicht an Lenin und Trotzki.« 

〈Ich:〉 »Alja! Die ganze Bibel zeigt — Gott auf der Jagd nach seinem Volk. Gott macht Jagd, die Juden hauen ab.« 

Der Mond trägt die Wüste mit sich. 

Die Nacht ist Hingabe, Urnatur des Gewissens. Steht einer am Grab: hat zu wenig geliebt! 

An Gedichten braucht man nicht zu arbeiten, der Vers selbst muss an einem (in einem!) arbeiten. 

Der hochatmige Busen der Erde. 

Wenn ich dich anschaue, heißt das nicht, dass ich dich sehe! 

(Ich — an alle.) 

12. russ〈ischer〉 September 1921 

Wenn ich dich anschaue, heißt das, dass ich dich nicht sehe — würde ich dich sehen (und würde mir das bewusst) — würde ich dich nicht anschauen. (1932) 

Menschen schau ich nur in tiefer Nachdenklichkeit an, d. ‌h. ohne etwas zu sehen: d. ‌h. völlig sinnenlos, gedankenlos, genauso wie ein Stier vor dem neuen Tor. 

Ohne etwas zu sehen und gleichwohl mit gelindem Ekel — niemals kommt mich solcher Ekel vor einem Telegraphenmast an oder vor der Spitze eines Glockenturms. Rascher Ekel (beim Aufwachen). 

(1932) 

Alja: »Marina! Sagen Sie* mir einen Künstler, der Karikaturen zeichnet.« 

Ich, unsicher: »Goya?« 

»Marina, wenn Goya durch diese Straßen gehen und sehen würde, mit welcher Sorgsamkeit man hier ein Wägelchen mit Proviant hinter sich herzieht und mit welcher Sorglosigkeit — einen Sarg mit einem Toten drin!« 

Die Revolution hat das weibliche Geschlecht aus der russischen Orthographie* getilgt: paradiesische Rosen. Gleichberechtigung, d. ‌h. sei ein Mann — oder sei gar nicht! 

Heute gab's eine Minute, da saßen auf meinem Rücken (Buckel) drei Katzen: zuerst Gregory, dann kam Lemur dazu und schließlich — Chitú. Und alle — von sich aus! Zu meinem größten Entsetzen, denn noch eine Sekunde — und ich war ohne Sicht. (Natürlich hangelten sie sich vom Rücken her überall hin: wie ein Halsschmuck.) 

Irgendein Dummkopf, der in diesem Moment hereingekommen wäre, hätte dies als eine Stilisierung bezeichnet, ein noch größerer Dummkopf — als Stil. (Wie z. ‌B. Sch〈?〉ro, als er erfuhr, dass ich ausschließlich Bohnen esse — NB! das Allerletzte in meinem Proviant, denn alles andere wird sofort verschlungen und geht weg — er sagte, das sei ›stylish‹.) Doch ich sage nur — Unheil. Katzen lieben mich erstaunlicherweise (sie spüren meine Hilflosigkeit, meine Unfähigkeit, sie rechtzeitig wegzuscheuchen). 

Ungefähr 15. russ〈ischer〉 Sept〈ember〉 1921. 

1918 trug ich bereits, 1921 trug ich immernoch Männerschuhe. (Damals 〈taten dies auch andere Frauen〉 noch, heute aber tut's schon keine mehr.) 

Vom ersten Revolutionstag an (28. Februar*) war mir klar: alles verloren! und als ich's begriffen hatte, gab ich den Widerstand auf (NB! hielt ich nicht dagegen). 

Heute schafft die Kleidung die Körperform*, damals war — der Körper unter der Kleidung. 

(Einfacher gesagt: heute schafft die Kleidung den Körper, damals — der Körper die Kleidung.) 

Bin immer zu früh: hab mich mit 13 J. für die Revolution begeistert, hab mit 14 J. Balmont* nachgeahmt, gab mit 17 J. ein Buch heraus 

– und jetzt — mit 29 J. — (eben erst geworden!) — hab ich mich endgültig von der Jugend verabschiedet. 

Einzig schlechte Bücher sind nicht für alle. Schlechte Bücher schmeicheln den Schwächen: des Zeitalters, des Alters, des Geschlechts. Die Mythen — die Bibel — das Epos — sind für alle. 

Je desinteressierter eine Frau ist, desto leichter kommt sie vom Weg ab. Die Seele ist duldsamer als der Instinkt. Außerdem trügt der Instinkt nicht (NB! die Seele tut nur so als ob), und womöglich ist ein echter Liebhaber noch schwieriger zu finden als ein echter Freund. 

Mich würde Platon lieben. 

Engel sind nicht blau, sind aus Feuer. Ihre Flügel — nicht Leichtigkeit, sondern Schwere (Kraft). 

Und vielleicht sag ich was Neues 

Über die Liebe der Engel. 

Notat S〈?〉 (sehr jung noch, 〈ich war〉 etwa 18, 19 J. — das 〈Heft〉, in das ich hier schreibe — ist seins): 

Es gibt Menschen und Menschen. Die einen sind von Fragen gequält: was Gott ist, was das Universum ist, was das Geschlecht ist, was der Mensch ist. 

Und andere sagen: »Ich kenne Gott nicht, aber ich kenne das Gebet. Das Universum — der Gedanke daran ist mir fremd und unangenehm, 〈aber es gibt〉 den Sternenhimmel, das Feuer, das Festland, den Wind und das Wasser, 〈es gibt〉 den Herbst, den Frühling, den Winter und den Sommer, 〈es gibt auch〉 den Morgen, den Abend, die Nacht und die Sonne — wer sollte mir ankreiden, ich hätte für das Universum kein Gefühl?« 

Ich weiß nicht, was das Geschlecht ist, doch ich lebe kraft der Liebe. Und auf die Frage: was ist der Mensch, antworten sie — Ich.

Welche der beiden Parteien steht näher bei Gott? 

Sicherlich die erste, und nicht die zweite, und zur zweiten gehöre sicherlich ich (wie zur ersten sicherlich er 〈?〉. Der ist er denn auch geblieben. Die bin ich denn auch geblieben.) 

Philosoph — und Dichter. 

(1932) 

Selbstvergessenheit: vollkommenes Bewusstsein bei vollkommenem Vergessen all dessen, was nicht du ist: das ist nicht in dir. — Andervergessenheit. 

Bericht 〈von Nadeshda Kogan〉 darüber, wie 〈Aleksandr〉 Blok meine Verse las. 

»Nach jedem Auftritt bekam er, am selbigen Abend noch, haufenweise Briefe — von einer Frau, versteht sich. Und ich habe sie ihm immer vorgelesen, habe sie geöffnet, und er hatte nichts dagegen. (Ich bin ja sehr eifersüchtig! auf alle 〈seine Verehrerinnen〉!) Er sah mich lächelnd an. So war's auch an jenem Abend. ›Nun, mit welchem 〈Brief ‌〉 beginnen wir denn?‹ Er: ›Wir nehmen den ersten Besten.‹ Und er reicht mir — ausgerechnet den Ihren — in einem schlichten blauen Umschlag. Ich öffne ihn, beginne vorzulesen, aber Sie haben ja so eine besondere Handschrift, zunächst scheinbar leicht 〈zu lesen〉, doch dann … Und dann auch noch in Versen, hatte ich nicht erwartet … Und er, sehr ernst geworden, nimmt mir die Blätter aus der Hand: 

›Nein, das muss ich schon selbst lesen.‹ 

Er las schweigend — las lange — und danach so ein ganz la-anges Lächeln.