Unvertraut - Michael Kootz - E-Book

Unvertraut E-Book

Michael Kootz

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Beschreibung

Unverhoffte Ereignisse oder verwirrende Begegnungen mit Menschen: Beides kann uns ergänzen. Manchmal ziehen wir den Kopf ein, manchmal entdecken wir etwas Neues an uns selbst, manchmal ändern wir die Laufrichtung. Davon handeln diese Erzählungen.

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INHALT

I. Kinder kucken

Flache Kiesel

Sommermarmelade

Jedem sein persönliches Exemplar

II. Zwischen vier Wänden

Wintergarten/ Sarajevo

Sperrmüll und Schutt

Zuflucht

Geschätzte Lesende!

Flache Kiesel

Den alten Mann hörte das Kind, bevor es ihn sah.

Weiter oben am Hang brummte es manchmal, von der Bundesstraße her, aber den Schotterweg hinunter, am Wohnmobil, war es fast still. Selten waren da Vogelstimmen, zuweilen hatte der nahe Fluss ein wenig gegurgelt. Irgendwann aber hörte Philipp neue Geräusche: Zisch – zisch – pitsch – zisch. Oder: Zisch – pitsch - zisch – zisch – pitschpitschpitsch. Woher das immer kam, das hatte der Junge nicht sehen können.

Philipp war zunächst auf der Kante eines Campingstuhles sitzengeblieben, den Teddy auf dem Schoß, bald aber aufgestanden und stand nun vor dem Stuhl, horchend. Teddy blieb im Stuhl. Dann ein paar Schritte den Schotterweg hinab, aber nicht mal bis zur Wegbiegung.

Pitsch – zisch zisch zisch zisch zisch – pitsch.

„Philipp! Biste da draußen?“ Der Vater, aus dem Wohnmobil.

„Jaa – ah!“

Ein paar Schritte weiter. Nur bis zur Biegung. Wenn das Kind sich umwandte, konnte es hinter sich immer noch das weiße Fahrzeug sehen. Zisch – pitschpitsch – pitsch – pitschpitschpitsch – zisch – pitsch.

Philipp ging los, zögernd; paar Schritte nur. Und wieder, ganz leise: Pitsch – zisch- pitschpitschpitschplopp. Und wieder! Nun war er um die Wegbiegung herum und sah unten am Weg einen alten Mann.

Dieser hieß Kalkhoff und hatte eine ziemliche Strecke hinter sich. Einiges lag noch vor ihm; zur Jugendherberge, das hatte er gewusst, würde er steil hinaufmüssen. Doch dann: der Fluss! Eine Weile war die Straße weit oberhalb des Flusses verlaufen und hatte Ausblicke geboten, aber keinen Zugang; bis endlich ein schmaler Pfad hinuntergeführt hatte, dorthin, wo sie prachtvoll lag: die Flussbiegung, schimmernd und im weiten Bogen an eine hohe, blassgelbe Felswand geschmiegt, eine breite Wasserfläche in der Sonne des späten Nachmittags, fast glatt, nur wenige kleine Strudel darin. Kalkhoff war vom Rad gestiegen und hatte es, beide Hände auf den Bremsen, vorsichtig und stockend hinabrollen lassen, am Lenker baumelnd den schweißnassen Helm. Auf dem steilen Pfad hatte Kalkhoff Mühe gehabt zu verhindern, dass sein Rad umkippte oder wegrutschte. Zum Glück war der Pfad nach einigen hundert Metern auf einen breiten Fahrweg getroffen, der offenbar weiter vorne von der Straße abzweigte. Ein Stück oberhalb auf diesem Weg hatte Kalkhoff ein Wohnmobil stehen sehen.

Kalkhoff hatte mit sich geschimpft. Die blöde Ungeduld! Wäre er auf der Bundesstraße weitergefahren, nur ein Stückchen, so wäre er auf den Abzweig zu diesem bequemen Weg gestoßen - so aber hatte er sich mühsam den Pfad hinuntergequält… warum?

Am Wasser angelangt, wusste er es: Der Fluss war’s gewesen, dem hatte er nicht widerstehen können. Kalkhoff lächelte, denn ihm war, als habe er seit Stunden einen solchen Ort erwünscht und erwartet. Stille; zuweilen zaghaftes Vogelzwitschern, bloß dann und wann ein lauteres Gurgeln des Wassers, das aber nach heißen, trockenen Tagen nur träge floss und niedrig stand. Blaue Libellen über dem dunkelgrünen Spiegel, einige Mücken und Falter im Gegenlicht.

Kalkhoff hatte die Sandalen ausgezogen. Als er ins flache Wasser getreten war, spürte er sie: Glattgewaschene Kiesel. Da waren auf dem hellen Grund vor ihm hunderte und tausende, die bunt und klar leuchteten. Mehr noch lagen stumpf schimmernd im trockenen Uferbereich, dort, von wo der Fluss sich in den vergangenen Tagen zurückgezogen hatte. Kalkhoff verharrte einen Moment lang mit geschlossenen Augen, ehe er tief durchatmete und begann.

Das Kind blieb stehen, sobald es den alten Mann sah. Der war ein ganzen Stück entfernt. Der Mann bückte sich jetzt vor, richtete sich wieder auf, schaute auf seine Hand, machte irgendwas mit beiden Händen; danach stand er kurz still, irgendwie verbogen, streckte den Arm plötzlich zur Seite, stieß ihn nach vorn, und auf dem Wasser gab es eine Reihe glitzernder Punkte. Pitschpitsch – Zisch. Philipp konnte nicht erkennen, was der Mann da tat. Leise ging der Junge einige Schritte weiter, verharrte wieder. Auch der Mann stand einen Moment still, blickte, die Hand schützend über den Augen, übers Wasser, fuhr aber bald fort: Bücken – aufrichten – zur Seite neigen – pitschpitschpitsch.

Philipps Wartepausen waren kurz geworden. Inzwischen konnte er gut sehen, was der Mann tat: Der bückte sich nämlich nach Steinchen, schaute sie einen Augenblick an und befühlte sie dabei mit beiden Händen; manchmal ließ er einen Stein fallen und bückte sich nochmals. Die Steine, die er nicht fallen ließ, schmiss er fort. Irgendwie aber auch nicht; denn sie hüpften ein paarmal vom Wasser wieder hoch. Philipp schaute gebannt zu, es war ja spannend: Ein paar schafften es fast über den Fluss, und der war breit. Manchmal hüpften sie in einer Linie, meist aber in einem flachen Bogen. Philipp wartete, ob es endlich einer schaffen würde.

Einmal drehte der Mann sich kurz um, musste Philipp gesehen haben. Er wandte sich wieder zum Wasser und machte weiter.

In der Ferne rief irgendjemand irgendetwas. Der eine aber bekam das nicht mit, und der andere wollte es nicht hören. Das Kind trat vor Kalkhoff hin, streckte den rechten Arm aus. „Kuckma!“ Kalkhoff war irritiert. Auf was sollte er guckten? Vielleicht auf die dicke Uhr am leuchtend blauen Plastikarmband, die der Junge trug?

„Du hast aber eine schöne Uhr, schick“, kommentierte Kalkhoff, „wie spät ist es denn schon?“

Das Kind blickte verständnislos. „Hab ich zum Geburtstag gekriegt.“

Kalkhoff sah nun, dass das Armband falsch angelegt war; das Ziffernblatt stand auf dem Kopf. Er schaute länger hin, las die Zeit: fast halb sieben. Eigentlich sollte er sich beeilen, doch Kalkhoff lächelte, nickte dem Kind zu und versuchte es erneut: Vielleicht einen Zehner zu werfen oder sogar über den Fluss zu gelangen, auf beides würde er stolz sein.

„Was machst du da“, fragte der Junge nun, obwohl er es ja gesehen hatte und durchaus hätte benennen können: Der alte Mann da schmeißt Steinchen in den Fluss. Aber irgendwie war es doch was Anderes als Steinchenschmeißen, also fragte das Kind.

Weil der Mann nichts gehört zu haben schien, bat es erneut. „Was machst‘n da?“

„Titschen“, antwortete Kalkhoff und ließ einen flachen Kiesel tanzen, siebenmal, und mindestens Zweidrittel der Flussbreite; nicht schlecht. „Titschen.“ Er richtete sich auf, und zum Jungen gewandt: „Wir haben auch Flippern dazu gesagt. Ich weiß nicht, wie Ihr hier das nennt.“ Philipp war näher getreten, ihm gefiel die Stimme des alten Mannes. Und nun konnte er auch besser zugucken. Er nahm sich einen Kiesel, fast faustgroß, und hielt inne. „Hat dein Papa dir das gezeigt?“

Kalkhoff schleuderte seinen Kiesel – ein Achter, aber eher kurz. Er stutzte. „Mein Papa? Sicher nicht.“

Philipp schmiss. Platsch. Weg war der Stein.

Kalkhoff war aufgerichtet stehengeblieben, den Blick über den Fluss. Sein Papa? Den brachte er nun gar nicht mit soetwas in Verbindung. Aber wann hatte er das Titschen gelernt? Und von wem? Er schüttelte den Kopf.

Platsch. Platsch. Links von Kalkhoff versanken zwei weitere Kiesel im Wasser. „Das geht garnich.“ Philipp stampfte mit dem Fuß auf. Kalkhoff seufzte. „Komm mal her.“

Dem Jungen zeigte er, welche Kiesel infrage kamen; ganz viele zwar, aber man musste doch gut schauen und tastend die Form prüfen. Am besten immer die flachen, fast runden, schön glatten. Und dann das Werfen. Es war eben kein Schmeißen – nein, es begann damit, das Scheibchen aus Stein zwischen Daumen und Zeigefinger zu halten, den Zeigefinger anzuspannen und rasch, im Moment der höchsten Spannung, den Daumen zurückzunehmen, so dass der Kiesel in rasche Drehung geriet und gleichzeitig fortgestoßen wurde. Natürlich nicht irgendwie, sondern ganz leicht geneigt, die höhere Kante Richtung Wasser. Vorher hieß es erstmal, sich leicht nach rechts zu neigen, damit der ganze Arm sich frei bewegen konnte, nun den Arm anzuspannen, auszuholen und sozusagen die Hand wegzuwerfen. „Aber wirf nicht die Hand weg, sondern lass nur das Steinchen los.“

Die vielen Worte erreichten das Kind nicht. Großäugig, mit offenem Mund hörte Philipp dem anderen zu. Als der verstummte, sich bückte und Philipp einen Kiesel in die Hand drückte, warf Philipp. Platsch, weg war der Stein. Kalkhoff seufzte, ein Kiesel wechselte von der Linken in die rechte Hand. „Schau mir einfach mal zu. Ich mach‘ ganz langsam“

Unbeholfen ahmte Philipp nach, was Kalkhoff ihm vormachte. Dann: Plitsch-platsch.

Fast hätte der Mann wieder geseufzt, aber der Jubelruf des Kindes war schneller. „Kuckma! Der is gesprungen!“ Gleich nochmal, jetzt: Plitsch-plitschplitsch.

Schotter knirschte, feste Schritte trommelten den Fahrweg zum Fluss hinunter. Das Kind erstarrte. „Da biste ja – das gibt’s doch nich!“ Erstaunt wandte Kalkhoff sich um.

„Wir rufen die ganze Zeit, und der Junge treibt sich hier rum! Was machen Sie hier mit meinem Kind?“

Kalkhoff ließ den Arm sinken, den Kiesel noch in der Hand. „Gar nichts mache ich mit Ihrem Kind. Ich zeige ihm, wie man Steinchen wirft. Titschen.“

„Schwachsinn“, kommentierte der Mann, der Dinzinger hieß, „Sie könn‘ doch hier mein Kind nicht aufhalten, der Junge müsste längst beim Abendbrot sein!“

Sie betrachteten einander. Der eine sah eine untersetzte Gestalt in Turnschuhen, tarnfarbenen Shorts und ansonsten, bis auf eine grüne Baseballkappe, nackt; blaue Adlerflügel lagen auf beiden Oberarmen. Kalkhoff vermutete, dass der Rest der Tätowierung den Rücken bedeckte.

Aus leicht erhöhter Stellung betrachtete der andere einen Mann mit grauen Haaren und grauem Bart, im karierten Hemd, an den Beinen eine Wanderhose, die Füße nackt. Ein Penner? Staubige Sandalen lagen auf dem Strand.

„Das macht Freude…“, begann Kalkhoff, stockte. „…machen Sie doch eben mal mit.“ Dinzinger schwieg, und in diesem Moment des Stillstands rannte Philipp plötzlich los, ein kleines Stück weiter den Kiesstrand entlang, endlich hinauf bis zu den Felsen, hinter denen die Böschung steil anstieg. Einige Sekunden lang war er verschwunden.

„Phüllüpp!“ dröhnte Dinzinger, setzte im selben Moment den linken Fuß vor, stemmte die Fäuste in die Seiten. Kalkhoff zuckte zusammen. Nochmals: „Phüllüpp“, und das Kind kam keuchend hinter den Felsen hervor; es stellte sich einige Schritte neben den Vater. „Was war das denn nun“, dröhnte der erneut los.

Der Sohn blickte zu ihm hoch: „Wollte nur mal was kucken.“

Schon hatte der Vater ihn fest am Handgelenk gepackt, wandte sich stampfend ab und den Schotterweg hinauf. „Zum Abendbrot, aber zackig. Deine Mutter warten lassen…!“ Auf dem Rücken des Mannes sah Kalkhoff tatsächlich den Rumpf des Adlers. Dessen Hals endete in Dinzingers Nackenhaar.

Vorwärtsgezogen, drehte Philipp sich halb zu Kalkhoff um; „Kommste morgen wieder?“ Der zögerte kurz, rief jedoch, noch bevor das Kind um die Biegung geführt wurde: „Morgen früh!“

Genau… besser morgen. Ohnehin war jetzt Abendbrotzeit, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand; und die Szene gerade eben hatte Kalkhoff sowieso die Stimmung verdorben, die Luft war raus. Allerdings: Morgen in der Frühe nochmals einen Schlenker hier herunter fahren, einen Umweg machen…? Unbedingt!

Schon vor sieben Uhr am nächsten Tag hatte Kalkhoff gepackt, gezahlt, anschließend rasch gefrühstückt. Er war den Berg hinab Richtung Fluss gefahren, hatte von der Straße aus den breiten Fahrweg genommen, und nun ließ er sich, vorbei am Wohnmobil, langsam und leise hinab zum Wasser rollen. Gegen einen der großen Felsblöcke, die hier und da aus dem Kiesstrand ragten, lehnte er das schwer bepackte Rad, setzte sich oben auf den Stein, atmete tief. Noch war es hier schattig.

Wie einmalig der Fluss hier war! Seine ganze Radtour hatte Kalkhoff so geplant, dass er häufig einen Fluss begleiten und ab und an schwimmen konnte. So hatte er auf breite Wasserflächen geblickt, hatte Ausflugsdampfern, Frachtkähnen und Paddlern zugeschaut und hatte Flüsse schwimmend gequert. Er war gegen starke Strömung angeschwommen und hatte gebadet in ruhigen Bereichen, wo das Wasser fast zum Stehen kam. So etwas jedoch wie diese stille Biegung eines breiten Flusses zwischen steilem Hang und flachem Kiesstrand, das hatte er noch nicht gefunden. In der Sonne duftete es, so wie nur Flusswasser duften kann. Steinchen knirschten, leises Trippeln. Kalkhoff schrak auf.