Up in Smoke - T. M. Frazier - E-Book

Up in Smoke E-Book

T. M. Frazier

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Beschreibung

Seit dem Tod seiner Freundin und seines ungeborenen Kindes lebt Auftragskiller Smoke in den Schatten zwischen Leben und Tod. Rache am Mörder seiner Familie ist alles, was ihn noch antreibt, doch Frank Helburn scheint wie vom Erdboden verschluckt. Doch da begegnet er dessen Tochter Frankie. Sie in seine Gewalt zu bringen, ist ein Kinderspiel - sie für seine Zwecke einzusetzen dagegen nicht ...


"T. M. Frazier ist eine der einzigartigsten Liebesroman-Autorinnen unserer Zeit und dieser Roman ist der erneute Beweis, dass sie Geschichten um 180 Grad drehen kann wie keine andere!" USA Today

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Seitenzahl: 412

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungProlog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960EpilogDanksagungenDie AutorinDie Romane von T. M. Frazier bei LYXImpressum

T. M. FRAZIER

Up in Smoke

Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann

Zu diesem Buch

Ich wollte ihn verführen. Ich wollte ihm entkommen. Ich wollte ihn niemals wollen.

Seit dem Tod seiner Freundin und seines ungeborenen Kindes lebt Auftragskiller Smoke in den Schatten zwischen Leben und Tod. Rache am Mörder seiner Familie ist alles, was ihn noch antreibt, doch Frank Helburn scheint wie vom Erdboden verschluckt. Doch da begegnet er dessen Tochter Frankie. Sie in seine Gewalt zu bringen, ist ein Kinderspiel – sie für seine Zwecke einzusetzen dagegen nicht. Furchtlos, klug und kampflustig ist Frankie so viel beeindruckender als alle Frauen, denen Smoke bisher begegnet ist. Sie bietet ihm die Stirn, fordert ihn heraus, reizt ihn bis aufs Blut – und hat längst von seinem Herz Besitz ergriffen, als der Zeitpunkt der Abrechnung gekommen ist.

Für alle, die glauben, sie würden es nicht schaffen.

Ihr schafft es.

Prolog

Mord und Totschlag sind mein Geschäft.

Patronen und Prahlerei.

Furcht und Schuld.

Ich breche Knochen und Seelen.

Ich säe Hass und Trauer.

Ich bin ein Mensch unter Menschen, aber ich bin nicht lebendig.

Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.

Ich bin herzlos. Seelenlos. Gesetzlos.

Gottlos.

Ich bin das, was übrigbleibt, wenn die Menschlichkeit verbrannt ist. Wenn das Gute dem Bösen unterlegen ist. Wenn Lügen und Laster regieren.

Ich bin das, was übrigbleibt, wenn die Flammen gelöscht sind.

Ich bin die Hölle auf Erden.

Feuer und Schwefel.

Glut und Asche.

Ich bin der verdammte Rauch, und mein Name ist Smoke.

1

Ein Jahr zuvor

SMOKE

Die meisten Leute machen das Licht aus, bevor sie schlafen gehen, aber Morgan nicht. Seit ich sie kenne, hat sie diese merkwürdige Angewohnheit, das Licht anzulassen, selbst wenn sie nicht zu Hause ist. Auch wenn sie schläft, ist ihr Haus so hell erleuchtet, als müsste es die verdammten Flugzeuge zum Flughafen lotsen.

Deshalb weiß ich, dass etwas nicht stimmt.

Ihr Haus ist dunkel.

Viel zu dunkel.

Verdammter Mist.

Ich ziehe meine Waffe und bewege mich auf die Haustür zu. Sie ist offen. Mit der Schulter drücke ich sie auf und trete ein. Mein Stiefel gerät auf irgendetwas ins Rutschen. Ein allzu vertrauter Geruch steigt mir in die Nase.

Ich kenne den Geruch des Todes so gut, dass ich den Grad der Verwesung allein daran erkennen kann, wie der Gestank die Luft verpestet. Nur einmal schnuppern, und ich weiß, dass der Tod in diesem Haus noch ganz frisch ist.

Es ist stockdunkel. Ich taste mit der Hand nach der Wand, folge ihr, bis ich den Fliesenspiegel der Küche erreiche, und betätige den darüberliegenden Lichtschalter.

Das Haus erstrahlt hell in weißem Licht. Meine Augen brauchen ein paar Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Das Weiß wird zu Rot.

So. Verdammt. Viel. Rot.

»Fuck.« Ich stecke meine Pistole ins Holster.

Ich habe in meinem Leben schon eine ganze Menge Dreck gesehen. Einen großen Teil davon habe ich selbst verursacht. Aber so was wie hier noch nie. In der ganzen Küche gibt es keinen Quadratzentimeter, der nicht in frisches Rot getaucht ist. Es ist über den weiß gefliesten Boden verschmiert, als wäre jemand vom einen Ende zum anderen gekrochen oder geschleift worden. Spritzer an jeder Wand. An jedem Schrank.

Das hier ist nicht einfach nur der Tod. Es ist nicht nur ein Mord. Oder ein Attentat.

Das hier ist das Böse schlechthin.

Ich gehe um die Kücheninsel herum und bleibe stehen, als mein Stiefel einen schlanken, nackten Fuß berührt. Es gibt keinen Grund, sich zu beeilen, da ist nichts mehr zu retten. Trotzdem laufe ich zur anderen Seite der Kücheninsel und beuge mich über Morgan.

Über das, was von ihr übrig ist. Alles an ihr ist verdreht und deformiert. Ihre einst makellos blasse Haut ist bis auf die Knochen aufgeschlitzt und zerschnitten. Ihr dunkles Haar trieft von ihrem eigenen Blut.

Mein Blick wandert über ihren geschundenen Körper. »Nein«, sage ich und schüttele ungläubig den Kopf. »Nein!«

Was von ihrem ehemals runden Bauch übriggeblieben ist, sieht aus, als hätte es jemand durch einen Fleischwolf gedreht. »Gottverdammte Scheiße!«

Ich stehe zwar, aber ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig bis zur Spüle, sondern entleere meinen Magen über die Theke und den Fußboden.

Ich habe schon oft getötet, aber selbst meine Brutalität hat ihre Grenzen. So etwas habe ich nie getan. Jedenfalls nicht bei einer Frau. Nicht bei jemand Unschuldigem, jemandem, der es verdammt noch mal nicht verdient hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben wird mir beim Anblick des Todes schlecht.

Ich stütze mich mit den Händen auf der Spüle ab. »Morgan«, flüstere ich. »Fuck.«

Ich gehe in die Hocke und versuche, sie in den Arm zu nehmen, aber ihr Körper ist so blutig und verletzt, dass ich sie nicht halten kann.

»Es tut mir so leid, Kleines. So schrecklich leid.«

Ich lege mich neben sie, so nahe wie möglich, ohne sie zu berühren. Meine Wange ist auf den Boden gepresst. Morgans noch warmes Blut rinnt mir ins Ohr und durchnässt meine Haut und die Kleidung. Ich bin umgeben von dem, was noch von ihr übrig ist. Ich will, dass es sich mit meinen Knochen vereint und für immer ein Teil von mir bleibt.

Morgan ist tot. Sie und unser ungeborenes Kind.

Und das ist ganz allein meine verdammte Schuld.

2

Gegenwart

FRANKIE

In einem Jahr bin ich tot.

Vielleicht schon eher.

Ich versuche, nicht allzu häufig daran zu denken, weil ich sonst verrückt werde. Oft bin ich kurz davor durchzudrehen und erkläre die Tischlampe zu meinem neuen besten Freund oder zur Königin von England. Die Müdigkeit macht es nicht besser. Es ist, als zöge die Schwerkraft zurzeit stärker als üblich an mir. Wenn ich nicht bald genug Schlaf kriege, fang ich noch an, Farben zu hören.

Irgendwann müssen wir alle sterben. Nur, dass ich etwas früher dran bin als die meisten Leute. Bevor ich Falten bekomme und mich das Alter immer wieder dieselben Geschichten erzählen lässt.

Meine Lider sind schwer. In dem ständigen Krieg gegen mich selbst kämpfe ich eine weitere Schlacht, um wach zu bleiben. Mein Kinn ruht in meiner Hand, mein Ellbogen rutscht immer weiter zum Rand des Tisches.

Ein kratzendes Geräusch am Fenster lässt mich hochfahren. Mein Rücken strafft sich. Kurz bevor meine Stirn auf der Tastatur landet, bin ich endgültig aufgewacht.

Ich schließe meine Finger um das Messer, das ich unter den Tisch geklebt habe.

Ein Schatten huscht am Fenster vorbei. Ich nehme meine Hand von der Klinge und atme auf.

Es ist nur Izzy, die fette weiße Katze, die mich regelmäßig besucht. Sie putzt sich auf der anderen Seite des hohen Kellerfensters, und ihr Halsband kratzt über das Glas. Dass ihr Name Izzy ist, weiß ich nur, weil es in großen Buchstaben auf dem glitzernden, pinkfarbenen Namensschild steht, das ihr ebenso glitzerndes und pinkfarbenes Halsband schmückt.

Es ist nur eine verdammte Katze, Frankie.

Mit den Handballen reibe ich mir die Augen. Meine Lider fühlen sich an, als hingen Vorhängeschlösser daran. Ich schüttele die Müdigkeit und die plötzlich aufkommende Panik ab und widme mich wieder meiner Arbeit.

Dass ich viel zu wenig schlafe, ist nicht ideal, aber bis jetzt hat es sich ausgezahlt. Mein letztes Projekt ist jede schlaflose Minute und noch viel mehr wert. Wäre ich ein Angeber, würde ich jeden anrufen, den ich kenne, und ihm erzählen, wie ich ganz alleine … na ja, im Grunde spielt das keine Rolle, denn ich darf es niemandem erzählen.

Außerdem wäre da noch die unbedeutende Tatsache, dass es niemanden gibt, dem ich es erzählen könnte.

»Izzy«, rufe ich dem Schatten der Katze zu. »Ich tue gerade was Gutes. Etwas richtig Gutes.« Die fette Katze verschwindet mit einem übertrieben wirkenden Sprung vom Fenster, wahrscheinlich aufgeschreckt von einer Eidechse auf dem Rasen. »Blödes Vieh.«

Großartig. Nicht nur, dass ich mit einer Katze rede, die mir gar nicht gehört – ich ärgere mich auch noch über die Fellkugel.

Ich bin viel zu oft allein.

Gestern und heute gehen ineinander über. Ich weiß nicht, wann das eine anfängt und das andere aufhört. Im Keller ist so wenig Licht, dass ich manchmal nicht genau weiß, ob Tag ist oder Nacht.

Das Handy auf meinem Schoß summt. Ich zucke zusammen, als hätte mir jemand in den Hintern getreten, und werfe einen Stapel Kaffeebecher um. »Fuck«, fluche ich und blicke auf das Handy hinab, das jetzt mit einem Riss im Display auf dem Boden liegt. Es war nur der Wecker.

Ich werde von Tag zu Tag nervöser, und das nicht ohne Grund. Meine Arbeit bringt eine Art Opfer mit sich. Ich habe eine Menge Leute verärgert. Leute, die vernünftige Menschen lieber nicht gegen sich aufbringen. Ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen, aber der Tag könnte kommen, an dem diese Maßnahmen nicht mehr ausreichen.

Vielleicht bin ich eines Tages mit meiner Arbeit fertig. Muss nicht mehr ständig über die Schulter gucken. Wenn ich Glück habe, droht mir dann nicht mehr bei jedem Zusammenzucken eine tödliche Herzattacke – lange, bevor ich das Vierteljahrhundert vollmache.

Aber wahrscheinlich nicht.

Ich hebe das Handy auf und wische mit dem Daumen über das Display, um den Alarm abzustellen. Die Uhrzeit kann nicht stimmen. Bin ich wirklich acht Stunden lang nicht von diesem Stuhl aufgestanden?

Ich schiebe den Stuhl zurück, stehe auf und drehe die Schultern und den Kopf. In meinem Rücken knackt es mehrmals, aber es fühlt sich besser an, als es klingt. Mein Rückgrat protestiert gegen den Stellungswechsel, dennoch strecke ich mich weiter, weil ich weiß: Je mehr ich mich bewege, desto besser werde ich mich fühlen. Ich dehne mich und versuche, mit den Fingern den Boden vor meinen Füßen zu erreichen. Langsam richte ich mich wieder auf, hebe die Arme und zeige mit den Fingern zur Decke. Ich bleibe in dieser Stellung, bis sich meine Gelenke anfühlen, als wären sie wieder in normaler Position und nicht zusammengequetscht – irgendwo im Bereich des Kreuzes. Ein Kribbeln der Erleichterung breitet sich in meinen schmerzenden Muskeln aus.

Meine eingeschlafenen Beine fühlen sich an, als stäche jemand mit tausend winzigen Nadeln auf sie ein. Beim Treppensteigen halte ich mich am Geländer fest, damit ich nicht falle, denn ich kann meine Füße nicht spüren. Als ich die Tür am oberen Absatz erreicht habe, lässt das quälende Gefühl glücklicherweise nach.

Auf dem Weg zur Küche durchquere ich das Wohnzimmer. Unterwegs bleibe ich kurz im Korridor stehen. Ich drücke einen Kuss auf meine Fingerspitzen und lege sie auf das einzige Bild, das in diesem Haus hängt. Ein Bild von meiner Mutter. »Hey, Mama«, sage ich und lächele sie von unten an. Sie hatte das gleiche lange, dunkle Haar wie ich und die gleichen einzigartigen, gelb-orangefarbenen Augen. Das Bild ist kurz vor ihrem Tod aufgenommen worden; damals war ich noch ein Kleinkind. »Ich hoffe, du bist stolz auf mich, wo immer du auch bist.«

Mein Magen knurrt, was mich daran erinnert, wo ich hinwollte, und ich trotte in die Küche. Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen? Zum Frühstück? Gestern zum Abendessen? Nein, es war definitiv zum Frühstück. Gestern. Erneut knurrt mein Magen, lauter diesmal.

»Schon gut, ich hab’s gehört«, murmele ich.

Der Inhalt des Kühlschranks ist … okay, es gibt keinen Inhalt. Es sei denn, Google kann mir zeigen, wie man aus einem halben Glas Gurken, zwei Scheiben Käse und einem Sixpack Bier eine Mahlzeit zubereitet.

Ich stütze mich auf die Theke und aktiviere die App für den GrubTrain-Lebensmittel-Lieferservice. Mit dem letzten Vierzig-Dollar-Guthaben bestelle ich ein paar Grundnahrungsmittel.

Die halbe Stunde, bis das Essen kommt, nutze ich, um oben eine dringend nötige, schnelle Dusche zu nehmen und mir ein frisches, schulterfreies T-Shirt mit dem Logo meiner Lieblingsband, Veruca Salt, anzuziehen. Die grauen Shorts, in die ich schlüpfe, waren einmal eine Jogginghose, aber weil ich ständig auf den zu langen Saum getreten bin, sodass er ausfranste, habe ich eine Schere genommen und … zack!

Jogging-Shorts.

Als ich fertig bin, gehe ich wieder nach unten und sehe nach der Post. Mein Nachname ist Helburn, aber alle Briefe gehen an den Decknamen Jackson. Mein Vater hat das schon vor Jahren arrangiert. Er behauptete, es sei wegen seiner Arbeit für die Regierung.

Erst Jahre später fand ich heraus, dass es eine Lüge war.

Dass er eine Lüge war.

Die vertraute Bitterkeit, die in mir aufsteigt, schlucke ich hinunter. Ich habe weder genug Zeit noch die Energie, mich mit den Handlungen meines Vaters zu befassen, oder mit dem Fiasko, das er aus unserem und dem Leben zahlloser anderer Menschen gemacht hat.

Ich werfe die Werbepost in den Müll und beginne mit der Überprüfung der Schlösser aller Fenster und Türen, etwas, das ich jeden Tag mehrmals tue. Ich öffne die Schalttafel der Alarmanlage, gebe meinen Code ein und vergewissere mich, dass alles funktioniert.

Zweimal.

Im großen Schlafzimmer steige ich über die auf dem Boden verstreute Kleidung meines Vaters hinweg und gehe zielstrebig hinüber zum Fenster. Ich überprüfe das Schloss. Es ist intakt. Ich gehe wieder hinaus, schließe schnell die Tür hinter mir und atme aus. Mir war nicht bewusst, dass ich die Luft angehalten hatte.

Auf dem Weg hinunter ins Wohnzimmer des baufälligen dreigeschossigen Stadthauses mit den zwei Schlafzimmern nehme ich immer zwei Stufen gleichzeitig.

Das Haus sieht noch genauso aus wie an dem Tag vor vier Jahren, als wir hier eingezogen sind. Nägel, an denen die vorherigen Bewohner irgendwelche Dekostücke und Bilder aufgehängt hatten, ragen in unregelmäßigen Abständen aus den Rigipswänden hervor. Die einzigen Möbelstücke sind ein schäbiges, braunes Dreiersofa im Wohnzimmer – kein Fernseher – und ein paar zusammengewürfelte Barhocker unter dem Tresen, der das kleine Wohnzimmer von der ebenso kleinen Küche trennt.

Es klingelt an der Tür, und obwohl ich bereits darauf gewartet habe, bin ich vorsichtig.

Ich bin immer vorsichtig.

Auf Zehenspitzen stehend spähe ich durch den Spion. Auf der anderen Seite des Messingtunnels ist Duke. Er wackelt mit den Augenbrauen und verzieht die Lippen, sodass seine Zähne zu sehen sind. Ich lächele, weil es unmöglich ist, nicht zu lächeln. Duke hält in jeder Hand eine Einkaufstüte. Er hält sie vor den Spion und grinst stolz wie ein Jäger, der seine Beute präsentiert.

Es dauert eine Weile, bis ich alle Türschlösser geöffnet habe – es sind nämlich acht Stück.

Als ich schließlich die Tür öffne, begrüßt mich Dukes strahlendes Lächeln.

»Hey«, sagt er lässig. »Ich habe deine Bestellung hereinkommen sehen und wollte sie dir unbedingt persönlich vorbeibringen.« Sein Lächeln wird noch breiter. Es ist so strahlend, als blickte man in die Sonne. Seine sandfarbenen Locken werden von einer neongrünen GrubTrain-Baseballcap brutal zusammengequetscht.

Duke hebt die Tüten wieder auf und spannt seinen muskulösen Bizeps unter dem GrubTrain-Poloshirt an, das dieselbe Farbe wie die Cap hat. Er zwinkert, als er mich dabei ertappt, wie ich seine Bauchmuskeln mustere, die sich unter dem Stoff abzeichnen. Mein Gesicht wird heiß. Er beugt sich vor und umarmt mich linkisch, die Einkaufstüten noch in Händen. Er riecht gut, wie irische Seife.

»Hey, Duke«, sage ich langsam, so langsam, dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als mir auf die Lippen zu starren. Ich zwinkere und sehe ihm in die Augen. »Danke, dass du das so schnell vorbeigebracht hast.«

»Immer gern, Ma’am«, sagt er gedehnt, mit aufgesetztem Westernakzent.

»Ma’am? Hm … hört sich gut an«, necke ich ihn und beiße mir auf die Unterlippe.

Duke tritt von einem Fuß auf den anderen, und ich bemerke, dass er die Tüten hochhebt, um die wachsende Ausbuchtung in seiner Hose zu verstecken.

»Ist dein Dad heute zu Hause?«, fragt Duke. Er steckt den Kopf zur Tür herein und sieht sich um.

»Arbeitet im Keller, wie immer«, sage ich. »Und ignoriert mich, auch wie immer.« Ich trete beiseite und lasse ihn herein.

»Ich würde dich nicht ignorieren«, sagt Duke zweideutig und wackelt mit den Augenbrauen, während er sich auf den Weg in die Küche macht.

Ich muss kichern und versetze ihm einen Klaps auf den Hintern. Gerade will ich die Tür schließen, da erstarre ich, denn in mir beginnt eine Vorahnung zu kribbeln. Das Kribbeln wärmt meinen Brustkorb und breitet sich schnell in meinen Gliedmaßen aus. Mein Puls beginnt zu rasen. Langsam öffne ich die Tür wieder. Beinahe erwarte ich, auf der anderen Seite jemanden stehen zu sehen.

Nichts.

Duke redet von der Küche aus mit mir, aber ich höre nicht zu. Vorsichtig trete ich auf die kleine Veranda und blicke mich um.

Wieder nichts.

Auf dem Gelände der Tankstelle gegenüber laufen ein paar Kunden herum. Kinder spielen Fangen auf dem unbebauten Grundstück neben dem Zaun, der es vom Mini-Markt abgrenzt.

Das würgende Gefühl in meiner Kehle verschwindet, und ich kann wieder schlucken.

Jep. Ich werde verrückt.

»Sarah? Wo bist du?«, ruft Duke aus der Küche.

Ich gehe wieder hinein und schließe die Tür hinter mir. Gewohnheitsmäßig schiebe ich alle Riegel vor. »Du und diese verdammten Schlösser. Dein Dad ist wirklich paranoid, stimmt’s?«, fragt Duke. Er taucht hinter mir auf und hebt mich hoch. Lachend strample ich mit den Beinen. Er trägt mich in die Küche und setzt mich auf die Kücheninsel. Dann dreht er seine Basecap nach hinten und holt einen Joint aus der Gesäßtasche, zündet ihn an und nimmt einen tiefen Zug.

»Dein Vater mag ja paranoid sein und dich ständig ignorieren, aber dass er dich im Haus Gras rauchen lässt, finde ich echt stark«, sagt Duke und atmet Rauchwölkchen aus.

Ich zucke mit den Achseln und nehme ihm den Joint aus den Fingern. Ich ziehe lange daran und behalte den Rauch tief in der Lunge, bevor ich ihn langsam wieder ausatme. Das Gras zeigt Wirkung. Binnen weniger Sekunden lässt die Spannung nach, und ich lasse die Schultern sinken.

»Selbst wenn er nicht damit klarkäme, bezweifele ich, dass er es überhaupt merken würde«, antworte ich bitter.

»Ist alles in Ordnung, Lady?«, fragt Duke und blickt mir prüfend ins Gesicht.

»Ja, alles gut. Ich habe nur schlecht geschlafen«, gebe ich zu. Das ist die verkürzte Erklärung eines viel größeren Problems, aber Duke und ich stehen einander nicht besonders nah. Wir haben eine Wir-rauchen-einen-Joint-in-der-Küche-und-machen-rum-bis-ich-ihn-wegschicke-Beziehung.

»Hier«, sagt er und zieht eine kleine Plastiktüte, randvoll mit Joints, aus der Gesäßtasche. GrubTrain ist nur einer von Dukes Teilzeitjobs. Und schlechter bezahlt als sein Hauptjob als Drogendealer. Er holt zwei Joints aus der Tüte und stellt sie in eine leere Kaffeetasse auf der Theke. »Für später. Das wird dir beim Einschlafen helfen.«

»Was bin ich dir schuldig?«, frage ich. Auf eine Hand gestützt, nehme ich noch einen Zug.

»Oh, da wüsste ich was. Eigentlich wüsste ich sogar eine ganze Menge.« Duke lässt den Blick über meinen Körper wandern. Er führt eine Hand an den Mund, beißt sich spielerisch in die Fingerknöchel und macht ein knurrendes Geräusch, das mich zum Lachen bringt.

Er zwinkert mir zu, dann begibt er sich zu den Tüten und fängt an, die Sachen herauszuholen und wegzupacken. Seit Monaten schon ist er mein Lebensmittellieferant und kennt sich in der Küche genauso gut aus wie ich. »Das Gras geht natürlich aufs Haus«, sagt er.

»Danke«, sage ich und meine es auch so.

Duke ist immer nett zu mir. Ich meine, er ist zu vielen Mädchen nett, aber er ist ehrlich, und deshalb habe ich meine Regeln gebrochen und ihn in mein Leben gelassen.

Duke ist der beliebteste Kerl an der Schule und ein absoluter Weiberheld. Sein Schwanz hat in den meisten Cheerleadern von der Uni und vom College gesteckt, aber er belügt sie nicht und macht ihnen keine falschen Versprechungen. Ehrlichkeit ist für mich eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Mensch besitzen kann. Ich stelle sie über alles andere. Vielleicht, weil ich den größten Teil meines Lebens gezwungen war, unehrlich zu sein. Vielleicht, weil das Leben meines Vaters eine einzige Lüge war.

Duke muss meine Gedanken gelesen haben, denn er zeigt mir sein Hollywood-Lächeln. »Kennst du den?« Er faltet die Papiertüten zusammen und wirft sie in den Papierkorb. Dann beginnt er, mir mit lebhaften Gesten den – seine Worte, nicht meine! – »abgefahrensten« Herrenwitz zu erzählen, den er in der Umkleide von irgendeinem Typen aus dem Football-Team gehört hatte.

Ich nehme noch einen Zug von dem Joint und merke, dass meine Schultern sich weiter entspannen. Ich lege den Kopf in den Nacken und puste den Rauch an die Decke. Es kommt mir vor, als wäre der vordere Teil meines Gehirns in Nebel gehüllt. Ein sanftes Summen erfüllt den Rest meines Körpers und rundet die scharfen Kanten ab, die mich umgeben.

»Weißt du, in der Schule benimmst du dich ganz anders als hier, wenn wir allein sind«, sagt Duke wie aus heiterem Himmel. »Warum ist das so? Draußen läufst du mit den Haaren vor dem Gesicht herum und starrst den ganzen Tag auf den Boden. Du redest mit niemandem. Du siehst niemanden an. Ich wette, die meisten Typen aus der Schule könnten dich bei einer Gegenüberstellung nicht mal identifizieren.«

Bingo.

»Nicht mal ich könnte das«, fährt er fort. »Du ignorierst mich, als würdest du mich gar nicht kennen. Aber wir sind doch … Freunde, oder? Hier benimmst du dich mir gegenüber jedenfalls …«

»Normal?«, frage ich. »Oder zumindest halbwegs normal?«

Duke schüttelt den Kopf. »Nein, das wollte ich nicht sagen.«

Vielleicht wollte er nicht dasselbe Wort benutzen, aber ich habe gespürt, dass er sein Vokabular nach etwas Ähnlichem durchsuchte.

»Warum? Warum bist du hier so anders als draußen?«, fragt er, und seine Stimme hört sich ehrlich besorgt an.

Mit gekrümmtem Zeigefinger winke ich ihn heran, als wollte ich ihn in all meine Geheimnisse einweihen.

Duke beugt sich zu mir. Meine Lippen berühren fast sein Ohr. »Ich bin Batman«, flüstere ich.

Duke verdreht die Augen und stöhnt über meinen schlechten Witz. »Ernsthaft, Sarah. Du kommst nie zu einem Spiel. Außer mit mir hängst du nach der Schule mit niemandem herum, jedenfalls wüsste ich nicht, mit wem.«

»Vielleicht lasse ich dir ja einfach deinen Freiraum«, antworte ich. Das ist natürlich eine Lüge. Eine von Millionen, die ich ihm im Lauf der letzten Monate erzählt habe. »Ich glaube nicht, dass es Missy oder Misty … oder war es Maci? Wie auch immer, ich glaube nicht, dass es ihr gefallen würde, wenn sie uns zusammen sähe«, sage ich und schneide eine Grimasse.

»Tja, zufällig ist es mir komplett egal, was Melanie oder sonst jemand denkt. Ich mag dich, Sarah.« Duke drückt meine Knie auseinander und stellt sich dazwischen. »Ich mag dich sehr.«

»Melanie.« Ich nicke und schnippe mit den Fingern. »Das war’s. Melanie. Muss ich mir merken.«

Ich gebe ihm den Joint. Er nimmt einen langen Zug und umfasst meinen Nacken mit der Hand, die den Joint hält. Mit der anderen drückt er meine Wangen zusammen, sodass meine Lippen sich öffnen. Er bläst mir den Rauch in den Mund; unsere Lippen sind nur einen Millimeter voneinander entfernt. Ich inhaliere tief.

Duke weicht zurück, als ich ausatme. Er zerdrückt das glühende Ende des Joints zwischen den Fingern, löscht die Glut und steckt sich die Tüte hinters Ohr.

»Ich glaube, du magst mich auch«, sagt Duke leise. Sanft knetet er meine Schenkel, lässt die Hände mit jeder Bewegung seiner geschickten Finger weiter an meinen Beinen hinaufwandern.

»Ja, ich mag dich«, sage ich. Und in einem anderen Leben – nein, wenn ich ein anderer Mensch wäre, würde ich Duke vielleicht eine Chance geben.

Aber nicht in diesem Leben.

»Und warum tust du dann so, als ob du mich gar nicht kennst?«, fragt er mit drängender Stimme und schürzt die Lippen.

Damit uns niemand zusammen sieht. Damit du nicht zum Kollateralschaden wirst, wenn die Kacke am Dampfen ist.

»Na ja, ich mag die Highschool nicht besonders. Außerdem bin ich gern allein. Das ist alles«, versichere ich ihm.

Duke wirft mir einen wissenden Blick zu. Er glaubt mir nicht. Kein bisschen.

Ich versuche es noch einmal. »Oder vielleicht …«, setze ich an, seufze dramatisch und lasse die Schultern sinken, »… vielleicht will ich ja auch nicht, dass man mich für eine von vielen aus Duke Weathersbys Harem hält.«

»Aus was?«, fragt er lachend.

»Aus dem Harem. Die Schar von Schönheiten, die dir sabbernd hinterherlaufen. Tu nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche, Duke Weathersby. Ich habe den Ausdruck schon eine Million Mal gehört, deshalb weiß ich, dass er dir auch nicht neu ist.«

»Okay, ein- oder zweimal habe ich das Wort gehört«, gibt Duke zu. Ein schüchternes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Er umfasst meine Hüften und zieht mich an den Rand des Tresens. »Ich glaube, es ist gut, dass du mit niemandem sprichst. Auf die Art habe ich dich für mich allein.«

Duke beugt sich vor und drückt seine Lippen auf meine. Unsere Münder verschmelzen und bewegen sich in ein und demselben Rhythmus. Es ist ein angenehmer Kuss, so wie immer. Ich vergleiche es gern mit dem Gefühl, das sich einstellt, wenn man ein tolles Buch zu Ende gelesen hat. Ein behaglicher heißer Schauer. Oder so, als würde man eine Hammerjeans zum halben Preis auf dem Wühltisch finden.

Wie ein Feuerwerk, aber nicht so wie an Silvester, mit vielen Farben und lautem Krachen. Nein, was wir haben, ähnelt eher einer Wunderkerze. Ich mag Wunderkerzen.

Sie sind schön.

Außerdem besteht kaum eine Gefahr, sich an einer Wunderkerze zu verletzen oder zu verbrennen. Sie sind sicher – genau wie Duke.

Ich erwidere seinen Kuss. Mein Mund öffnet sich bereitwillig, als er meine Lippen mit der Zunge teilt. Er drückt sich an mich, und meine Brustwarzen werden hart; ich spüre die Hitze unserer Haut durch die Shirts. Ich entspanne mich und dränge mich an ihn, muss seinen kräftigen Körper spüren. Er muss mich daran erinnern, dass ich ein Mensch bin, dass ich lebe und dass das außer mir noch jemand auf dieser Welt weiß.

Duke Weathersby kommt dem, was man meinen Freund nennen könnte, am nächsten, aber er ist nicht mein Freund und wird es auch niemals sein. Unsere Pseudo-Beziehung besteht aus Smalltalk, Kiffen und Rumknutschen. Im Grunde ist es bekleidetes Petting, und es endet immer damit, dass ich Duke mit dicken Eiern nach Hause schicke.

Er lehnt sich etwas zurück, fummelt am Ausschnitt meines T-Shirts herum und streicht über die Haut meiner entblößten Schulter. Seine Stirn ist an meine gedrückt. »Ich denke, wir sollten oben in deinem Zimmer weitermachen. Diese ganzen Klamotten sind irgendwie im Weg«, flüstert er an meinen Lippen und zupft am ausgefransten Saum meiner Shorts. Er presst seine Erektion zwischen meine Schenkel.

Ich lächele, hebe meinen Hintern vom Tresen und drücke mich schamlos an ihn.

Duke stöhnt in meinen Mund, packt mich an den Hüften und lässt sie kreisen, drückt mich an die Härte hinter dem Reißverschluss seiner Khakis.

Ich bin angetörnt. Ja, das bin ich. Schließlich bin ich ein weibliches Wesen, und Duke ist ausgesprochen attraktiv. Auch wenn ich weiß, dass ich anders bin als die anderen Mädchen in der Schule, bin auch ich nicht immun gegen Duke Weathersbys Charme, sein Lächeln oder seine Muskeln. Ich schiebe es auf die Natur und auf Pheromone. Blumen und Bienen. Ihr wisst schon, Naturwissenschaften und so.

Ein Teil von mir täte nichts lieber, als sich von ihm nach oben zerren zu lassen, damit er seine unanständigen Spielchen mit mir spielen kann.

Aber ein weitaus größerer Teil von mir kann das einfach nicht zulassen.

Ja, ich weiß, ich treibe ein verdammtes Spielchen. Und Duke müsste es eigentlich auch wissen. Aber er kommt immer wieder, und wenn ich ehrlich bin, ist es genau das, was ich will. Dass er wiederkommt. Gesellschaft. Menschlicher Kontakt.

Mit der Freundschaft zu ihm habe ich bereits eine meiner Regeln gebrochen. Sex würde sie ganz außer Kraft setzen, und so weit will ich es nicht kommen lassen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel steht.

Ich weiche zurück. »Ich … ich kann nicht. Mein Dad«, flüstere ich und fahre mit den Zähnen über die Haut an seinem Hals – genau unter dem Ohr. Ich weise ihn zurück und vertröste ihn gleichzeitig mit den Möglichkeiten, die die Zukunft vielleicht für ihn bereithält.

»Der kommt doch nie aus seinem Keller«, ruft Duke mir ins Gedächtnis und bedeckt meinen Hals mit Küssen, versucht, mich mit den Lippen, aber ohne Worte zu überreden. Er wandert weiter zu meinem Schlüsselbein und erweitert sein Repertoire durch sanftes Beißen und Lecken. Ich merke, wie sich meine Muskeln anspannen. Mein Entschluss, unsere Beziehung jugendfrei zu halten, beginnt zu bröckeln, als er an meiner Unterlippe saugt und kunstfertig die Zunge darüber gleiten lässt.

Ich muss zugeben, der Junge ist gut … wirklich gut. Es gibt schon einen Grund dafür, dass er einen Harem hat. Offensichtlich sogar einen guten.

»Lass mich dafür sorgen, dass du kommst«, flüstert Duke und presst mir die Finger auf die Innenseite meiner Schenkel, ganz oben. Ein lustvoller Blitz fährt mir in den Schoß.

Ich bin verzweifelt. Ich bin heiß. Ich bin high. Ich bin einsam.

So verdammt einsam.

Das will ich nicht. Ich will … ich will einfach etwas anderes fühlen. Irgendwas. Etwas ohne Sorgen, Schmerzen oder Panik.

»Okay«, höre ich mich selbst sagen.

Duke stößt ein kehliges Geräusch aus. Eine Mischung aus Knurren und Stöhnen. Seine Hand gleitet in meine Shorts. Allein die Hitze seiner Finger treibt mich an den Rand des Wahnsinns. Dort habe ich mich noch nie von ihm anfassen lassen. Niemand hat mich je dort angefasst. Ich bin gleichzeitig erregt und nervös und sehr draufgängerisch. Ich schlinge meine Beine um ihn und ziehe ihn an mich.

Dukes Fingerspitzen streichen über meine pulsierenden Schamlippen als ein lautes Krachen durch den Raum hallt.

»Wo kommt das denn her?«, flüstert Duke.

Aus dem Keller.

Es kam aus dem Keller.

3

FRANKIE

»Verdammt! Dein Vater!« Duke zuckt zurück, als hätte ihn eine Wespe gestochen.

Ich hüpfe vom Tresen und schiebe ihn zur Tür. Angst umklammert mein Herz wie eine eiskalte Faust.

»Tut mir leid, vielleicht ein andermal. Ich muss nach meinem Vater sehen.«

»Hm … dann sehen wir uns wohl morgen in der Schule«, sagt Duke, und die Enttäuschung ist deutlich in seiner Stimme zu hören.

»Ja. Morgen. Schule«, murmele ich und mache sämtliche Schlösser und Riegel auf.

In Rekordzeit ist die Tür offen. Duke tritt hinaus auf die Veranda und tippt etwas in sein Handy. Wahrscheinlich schickt er eine Nachricht an das nächste – hoffentlich willigere – Mädchen auf seiner Lieferroute. Ich wünschte, das würde mir etwas ausmachen, wirklich, aber entweder habe ich diesen Teil von mir so erfolgreich verdrängt, dass ich ihn nicht mehr finden kann, oder ich habe ihn einfach noch nie besessen.

Ich lächele und versuche, enttäuscht zu wirken, dabei würde ich ihn am liebsten anschreien, damit er endlich um sein Leben rennt.

Aber ich tue es nicht. Ich warte ab. Ich muss abwarten.

Und das macht mich fertig.

Duke steckt sein Handy in die Hosentasche. Er schenkt mir ein weiteres umwerfendes Lächeln, bevor er mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen drückt und mir auf den Hintern klopft. Einige Sekunden lang wandert sein Blick über meinen Körper.

Jetzt steig schon in dein verdammtes Auto.

Ich warte geduldig ab – mit etwas im Gesicht, das hoffentlich wie ein Lächeln aussieht –, wie er rückwärts, ohne mich aus den Augen zu lassen, die Stufen hinuntergeht, bis er den Bordstein erreicht, an dem er seinen Prius geparkt hat. Der Wagen trägt das gleiche hellgrüne Logo wie sein Cap und sein Shirt. Bevor er einsteigt und den Motor anlässt, dreht er sein Baseballcap wieder um. Dann kurbelt er das Fenster hinunter. »Ciao, Sarah«, sagt er und winkt.

So träge, wie dieses Sarah ihm über die perfekten Lippen kommt, wünsche ich mir fast, es wäre mein richtiger Name.

Noch bevor Dukes Auto um die Ecke biegt, habe ich die App für die Überwachungskamera auf dem Handy aktiviert und betrachte das Schwarz-Weiß-Video aus dem Keller. Ich sehe sofort, dass einer meiner Monitore auf dem Boden liegt. Der Bildschirm ist kaputt. Mein Stuhl ist umgekippt.

Ich überlege noch, ob ich die Notfalltasche vom Grundstück gegenüber holen soll, auf dem ich sie vergraben habe, oder ob ich es lieber sein lasse und gleich den nächsten Bus raus aus Banyan Cay nehme, da taucht Izzy auf dem Display auf. Gemächlich spaziert die fette Katze in ihrer ganzen schwarz-weißen Pracht über meine Tastatur.

Irgendwie muss sie durch das Kellerfenster gekommen sein. Ich nehme mir vor, das Schloss und die Verdrahtung der Alarmanlage zu überprüfen.

Ich stütze die Hände auf die Knie, beuge mich vor und fühle mich der Herzattacke näher als jemals zuvor.

Mein Hintern landet auf Beton. Ich lege den Kopf auf die Knie.

Wie lange kann ich noch so weiterleben?

Wahrscheinlich nicht mehr sehr lange.

Es vergehen einige Minuten, bevor ich mich soweit beruhigt habe, dass ich aufstehen kann. Ich komme auf die Füße, und plötzlich fühle ich wieder dieses heiße Prickeln einer Vorahnung wie vorhin. Mein Kopf fährt hoch, und diesmal sehe ich tatsächlich jemanden, der nicht hierhergehört.

Auf der anderen Seite der Straße steht ein Mann. Er ist teilweise verdeckt, weil er auf der anderen Seite eines mattschwarz lackierten Motorrads hockt. Seine definierten und tätowierten Bizepse spannen sich an, während er auf der anderen Seite des breiten Hinterrads an irgendetwas arbeitet.

Als wüsste er, dass ich ihn beobachte, blickt der Mann hinter dem Reifen hervor. Erwischt. Ich laufe nicht weg, kann nicht mal den Blick abwenden.

Alles an ihm ist dunkel, von seinem schulterlangen Haar bis zur Kleidung. Die Haare sind vorn und hinten länger und an den Seiten kürzer.

Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, sein Blick wirkt grimmig. Ich begreife, dass er nicht mich ansieht, sondern sein Bike.

Das ist nur ein Typ, der an seinem Bike herumwerkelt. Er ist nicht wegen dir hier. Geh schlafen, Frankie. Du brauchst Schlaf.

Der Fremde lässt einen Schraubenschlüssel fallen, der über den Asphalt hüpft. Sein frustriertes Knurren ist über die Straße hinweg zu hören. Er stößt sich von den Knien ab und steht auf.

Wow.

Er ist riesig. Nicht nur sein Körper, auch seine Präsenz. Ein hoch aufragender Wolkenkratzer, der einen endlosen Schatten wirft. Seine Schritte sind ausladend und sicher, als er sich auf den Weg von seinem Motorrad zur Tankstelle macht. Bei jedem Schritt knallen seine Stiefel auf den Asphalt und unterstreichen seinen Anspruch auf jeden Riss darin. Ein enges, schwarzes T-Shirt schmiegt sich an seine schwellenden Brust- und Armmuskeln. Die Jeans sitzt tief auf seiner Hüfte und offenbart die perfekte obere Rundung eines knackigen Hinterns. An seiner Unterlippe baumelt achtlos eine nicht angezündete Zigarette.

Jemanden wie ihn habe ich noch nie gesehen. So roh. So kraftvoll. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren. Vielleicht liegt es daran, dass ich noch high bin, oder daran, dass Duke und ich rumgemacht haben und ich immer noch scharf auf ihn bin. Oder weil ich gerade zum dritten Mal heute ausgerastet bin. Aber dieser Mann ist eine wandelnde Plakatwand sowohl für Schrecken als auch für Lust. Ein menschlicher Wirbelsturm.

Er ist wunderschön.

Die Worte meines Vaters aus früheren Jahren klingen mir in den Ohren. Vor Männern musst du dich verstecken, Frankie. Du musst sie fürchten. Im günstigsten Fall sind sie da, um manipuliert zu werden. Sei die Manipulatorin, Frankie, nicht die Manipulierte. Lauf weg, bevor du dich fragen musst, ob du weglaufen solltest. Du musst in ihren Augen erkennen, was sie vorhaben, nicht an dem, was sie sagen.

Der Mann kommt wieder aus der Tankstelle heraus. Leichtfüßig steigt er auf sein Bike, das donnernd zum Leben erwacht. Ich stehe auf der anderen Straßenseite, aber die Vibrationen setzen sich durch den Asphalt hindurch fort, und ich spüre das Donnern in meiner Brust. Die Erde bebt so stark, dass Schmutz und Staub auf dem Gehweg sichtbar aufgewirbelt werden.

Der Mann rollt mit seinem Bike vom Parkplatz und fährt dann die Straße in entgegengesetzter Richtung hinunter, ohne ein einziges Mal in meine Richtung zu blicken.

Ich bin enttäuscht.

Aber was habe ich mir denn von dieser kurzfristigen, einseitigen Verblendung versprochen?

Ich reibe mir die Augen, und mir wird klar, dass ich nur noch eine schlaflose Nacht davon entfernt bin, mir Beziehungen mit Prominenten einzubilden. Ich kann den Nachrichtensprecher schon hören.

Eine junge Frau wurde heute auf dem Anwesen von Sam Hunt wegen Einbruchs verhaftet. Die Frau war verwirrt und bestand darauf, sie sei Sams Ehefrau. Wiederholt rief sie: »Was ist mit den Kindern?«, bis es der Polizei endlich gelang, der Frau habhaft zu werden. Mr Hunt, der kinderlos ist, gab zu Protokoll, er habe die Frau nie zuvor gesehen, hoffe jedoch aufrichtig, dass diese die Hilfe bekommen werde, die sie offensichtlich benötige.

Das Brüllen des Motorrads ist jetzt nur noch aus der Ferne zu hören. Ich gehe wieder ins Haus und verriegele alle Schlösser. Erst danach fühle ich mich sicher und begebe mich in die Küche, um hastig einen Proteinriegel zu verschlingen.

Als ich endlich satt bin, begebe ich mich in den Keller, um den Schaden zu begutachten. Glücklicherweise ist der heruntergefallene Monitor zwar beschädigt, funktioniert aber noch. Ich räume die restliche Unordnung auf und suche dann Izzy, um sie wieder zum Fenster hinauszujagen. Ich will es abschließen, aber das Schloss rastet nicht ein. Das Glas darüber ist zersplittert.

Und der Alarm ist trotzdem nicht losgegangen?

Ich überprüfe die Verdrahtung um das Fenster herum und sehe, dass sie durchgebissen wurde. Verdammte Katze. Ich spleiße den Draht und verzwirble die einzelnen Adern. Dann nagele ich ein Brett vor das Fenster.

Ich hole mir einen von Dukes Joints, zünde ihn an und setze mich an den Computer. Meine Finger fliegen über die Tastatur. Im Augenblick kann ich sowieso noch nicht schlafen, also kann ich genauso gut noch ein bisschen Arbeit erledigen.

Einige Stunden später vibriert das Handy auf meinem Schoß. Der Wecker. Ich bin stolz auf mich, denn diesmal schrecke ich nicht auf. Ich schalte alles aus und gehe wieder nach oben. Höchste Zeit, dass ich ein bisschen zu schlafen versuche. Schließlich muss ich morgen in die Schule.

Ich seufze.

Ich mag ja eine Lügnerin sein, aber was ich vorhin zu Duke gesagt habe, ist wahr. Ich mag die Highschool nicht besonders.

Jetzt nicht und auch nicht, als ich sie das erste Mal abgeschlossen habe.

Vor vier Jahren.

4

SMOKE

Jeden Morgen oder Nachmittag oder wann immer ich aufwache, ist das Erste, woran ich denke, die Nacht, in der mein Leben aufhörte, sich um meine Arbeit zu drehen, und ich stattdessen nur noch auf Rache sann.

Wenn meine Zeit gekommen ist und ich in der Hölle schmore, wird mir die Erinnerung daran, wie ich Morgan tot in ihrem Haus fand, in einer Endlosschleife vorgespielt werden, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.

Andererseits bin ich womöglich schon in der Hölle.

Diese Nacht hat mich verändert. Mich härter gemacht. Grausamer. Gefühlloser denn je.

Mit Ausnahme der Wut. Die kann ich immer noch verdammt gut fühlen.

Der Klang einer Autohupe holt mich aus der Vergangenheit zurück. Ich bin dankbar für die Ablenkung, bis ich im Rückspiegel diesen kleinen Wichser entdecke, der mit den Händen in der Luft herumfuchtelt, als würde ich ihn irgendwie blockieren, obwohl ich nur am Straßenrand stehe und weit und breit kein anderes Auto auf der verdammten Straße zu sehen ist.

Ich halte meinen Lieblingsfinger aus dem Fenster des Vans. Ich bleibe hier stehen.

Der kleine Wichser schüttelt den Kopf und kurbelt am Lenkrad seines winzigen Mazda herum, als wäre er ein Dreißigtonner.

Plötzlich taucht er neben mir auf, blockiert meine Sicht auf das Haus, das ich seit Wochen beobachte, und fährt die Scheibe auf der Beifahrerseite hinunter. Er brüllt irgendetwas, aber ich höre die Worte nicht, weil ich verdammt noch mal gar nicht zuhöre.

Das Arschloch muss da weg.

Ich hebe die Hand, als wollte ich mich entschuldigen, nehme aber stattdessen meine Knarre von der Mittelkonsole und halte sie in mein offenes Wagenfenster.

Ich grinse.

Es funktioniert. Ein Blick genügt, und der kleine Wichser tritt das Gaspedal derart heftig durch, dass seine piefige Kiste mit hysterisch quietschenden Reifen abzischt.

Ich lege die Knarre wieder auf die Konsole, beuge mich vor und öffne das Handschuhfach. Ich taste darin herum, bis ich finde, was ich gesucht habe. Ich richte mich auf, schüttele zwei Pillen aus der Flasche und spüle sie mit einem Schluck Whiskey aus meinem Flachmann herunter.

Adderall, ein Amphetamin.

Unverzichtbar, besonders heute. Dieses Haus wochenlang zu beobachten, ist nicht gut für einen Verstand, der dazu tendiert, in die Vergangenheit zu schweifen, wenn er sich nicht auf die Gegenwart konzentrieren kann. Das Adderall hilft mir, mich zu konzentrieren, wenn ich zu viel Zeit zum Nachdenken habe. Außerdem ist es geiler als Koks und wirkt viel länger.

Das Einzige, das mich hierbleiben lässt, in diesem Van auf dieser namenlosen Straße in Banyan Cay, ist – neben einer dauerhaften Diät aus Whiskey und Amphetaminen – natürlich Rache.

Frank Helburn wird durch meine Hand sterben.

Sobald ich ihn finden kann, verdammt.

Noch nie habe ich ein ganzes Jahr gebraucht, um jemanden zu finden. Man zahlt mir eine verfickte Menge Geld dafür, dass ich Leute finde, sie aufspüre. Normalerweise brauche ich nur wenige Stunden, um jemanden ausfindig zu machen, höchstens ein paar Tage.

Aber kein ganzes verdammtes Jahr.

Frank habe ich zwar nicht gefunden, dafür aber etwas fast genauso Gutes.

Seine Tochter.

Frances Helburn, wie sie nach ihrem erbärmlichen Vater heißt, nennt sich jetzt Sarah Jackson.

Sie führt ein wahrhaft mieses Leben. Ernsthaft, sie verlässt fast nie das Haus. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie keine Freunde, ausgenommen natürlich dieses lockenköpfige Arschloch, das sich wahrscheinlich noch nicht mal rasieren muss. Andererseits – hinter dem ganzen verdammten Haar, das ihr immer ins Gesicht hängt, trägt Frances womöglich selbst einen Bart. Ich bin überrascht, dass sie es jeden Tag wieder bis zur Schule schafft, ohne dass ein verdammtes Auto sie umnietet.

Heute hat sie mich von der anderen Straßenseite aus entdeckt. Ich habe ihren Blick auf mir gespürt. Ich habe so getan, als reparierte ich irgendetwas an meinem Bike. Tatsächlich war ich aber gerade von ihrem Haus weggerannt, nachdem ich in den Keller eingebrochen war. Ich hatte noch keinen Fuß durch das kleine Fenster gesetzt, da fiel mich eine fette Katze an, die an mir vorbei in die Dunkelheit sprang und dabei alle möglichen Sachen umwarf.

Verdammtes Katzenvieh.

Ich hatte keine Zeit, nach Hinweisen zu suchen, wo Frank sich vielleicht versteckte. Geduld ist nicht gerade meine Stärke. Frank Helburn zu suchen, treibt mich an meine Grenzen. Ich werde wieder unruhig. Ich erinnere mich an mein Ziel und wie befriedigend es sein wird, sein Blut zu verspritzen.

Und ein, zwei Augenblicke lang bin ich entspannt.

Na ja, so entspannt ich eben sein kann.

Ich lasse die Fingerknöchel und dann das Genick knacken. Ich hole mein Handy heraus und tippe auf die Datei, die Griff mir vor ein paar Wochen geschickt hat. In der Datei sind nur zwei Fotos, und auf einem davon sind Frank und seine Tochter zu sehen. Das Bild selbst ist schon ein paar Jahre alt und total verschwommen. Soweit ich sehen kann, hat Frances keine erkennbaren Missbildungen, aber wie gesagt, das Bild ist derart verzerrt, dass ich nicht einmal erkennen kann, ob sie lächelt oder nicht. Nur dunkles Haar und seltsam goldgelbe Augen, was aber wahrscheinlich ebenfalls an der Qualität des Bildes liegt.

Ich habe ihr Gesicht zwar noch nie gesehen, aber als ich ihr gegenüber auf der Straße stand, habe ich gespürt, dass sie mich interessiert betrachtete. Und als ich aus den Augenwinkeln sah, wie ihre Schultern nach vorn fielen, war mir klar, dass sie mich von ihrer Liste möglicher Bedrohungen gestrichen hatte.

Schlimmer Fehler, Mädchen.

Das andere Bild ist ein unscharfes Standbild aus einer Überwachungskamera und zeigt, wie Frank Helburn die blutige Szenerie in Morgans Haus verlässt. Ich fühle, wie die Wut in meinem Körper aufsteigt und sich in meiner Kehle niederlässt, da, wo sie mich seit dieser verdammten Nacht im Würgegriff hält.

Das Telefon klingelt, und der Name auf dem Display lässt mich zusammenzucken. Ich melde mich, ohne den Anrufer zu begrüßen, aber Griff ist Griff, er legt ohnehin keinen Wert darauf. Er redet genug für uns beide zusammen.

»Immer noch keine Spur von unserem lieben Frank?«, fragt Griff. Er spricht so schnell, als hätte jemand den Vorspulknopf für seinen Mund gedrückt. Seine Stimme ist nasal. Ziemlich hoch. Weinerlich. Jedes seiner Worte hört sich an, als wollte er sich beschweren, obwohl er das gar nicht tut. Ich freue mich, wenn der Job erledigt ist, dann muss ich diese Stimme nicht mehr täglich hören.

»Nein, nichts«, bestätige ich. »Nur das Mädchen und gelegentlich ein junger Typ vom Lieferdienst.«

Griff macht ein Geräusch. Halb Seufzer, halb Knurren. »Nun, Frank ist nicht so gut darin, sein Spuren zu verwischen, wie er glaubt. Letzte Nacht hat mein Neffe Leo Spuren von ihm in den dunklen Ecken des Netzes gefunden, die nur wenige finden können. Er arbeitet immer noch als Hacker. Erledigt Jobs. Leo verfolgt ihn jetzt. Vielleicht ist er nicht bei seiner Tochter, aber wir werden ihn finden. Bald.«

»Ich beobachte weiter. Wenn er hierherkommt, werde ich es erfahren«, sage ich zu Griff. Das ist die Wahrheit. An mir ist noch keiner vorbeigekommen, und das wird auch in Zukunft nicht passieren. »Aber ich glaube, es ist an der Zeit, herauszufinden, wie sehr Frank Helburn seine Tochter wirklich liebt.«

»Da könntest du recht haben«, stimmt Griff zu.

Ich schaue durch das Fenster auf das dunkle Wohnhaus und drücke den Lautsprecherbutton.

»Schnapp sie dir«, sagt Griff. Durch die Dringlichkeit seiner Worte wird seine Stimme tiefer. Rauer. Seine Erregung ist jetzt kontrolliert. Finster. »Schnapp dir Franks Tochter. Ich will dieses Arschloch erledigen. Er hat dir Morgan und euer Kind genommen und mir Millionen gestohlen. Er verdient alles, was ihm zustoßen wird.« Er atmet direkt ins Telefon und erzeugt ein statisches Knistern in der Leitung. »Er muss bezahlen.« Noch ein langer Atemzug. »Und dann muss er bezahlen.«

Ich schweige, bin aber ganz seiner Meinung. Griff weiß, dass ich seiner Meinung bin.

»Es ist verdammt schwer, mehr als ein Wort aus dir herauszukriegen«, sagt Griff. Von einer Sekunde zur anderen wechselt sein Tonfall von verbittert zu amüsiert. »Das gefällt mir an dir.«

Mir gefällt an dir gar nichts.

»Ich habe gehört, du bist wieder ein Ein-Mann-Team«, wechselt Griff plötzlich das Thema.

Ich knirsche mit den Zähnen. Dieses Arschloch weiß genau, wie es mich ärgern kann. »Geht dich nichts an, Griff«, blaffe ich.

Zum tausendsten Mal sehe ich aus dem Fenster. Das Wohnhaus ist immer noch dunkel.

»Ich meine ja nur. Du musst tierisch wütend gewesen sein, als Rage dein Team verlassen hat«, fährt Griff fort und ignoriert meine Warnung. Nachdem er Rage erwähnt hat, würde ich die ganze Sache am liebsten abblasen. »Er war wohl nicht so loyal, wie du gedacht hast.«

Griff hat er gesagt. Meine Wut verraucht. Offensichtlich weiß Griff nicht, wer Rage ist und wozu sie fähig ist.

Ich lockere meinen Griff um das Lenkrad. »Wir mögen denselben Feind haben, Griff, aber denk dran, das macht uns noch nicht zu Freunden.«

»Gut, denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, was deinen Freunden passiert«, sagt er gedehnt.

Ich lege auf und werfe das Handy auf den Beifahrersitz. Mit der geschlossenen Faust schlage ich aufs Lenkrad.

Wenn Griff jetzt hier wäre, würde ich ihn auf der Stelle erwürgen.

Das Arschloch hält sich für unantastbar, und bis zu einem gewissen Punkt stimmt das auch. In den letzten Jahren ist seine Organisation gewaltig gewachsen, aber der Kerl ist immer noch ein Depp, der gerne mit dem prahlt, was er erreicht hat, und das verschafft seiner Regierungszeit ein Ablaufdatum. Einen Anführer, der seine Klappe nicht halten kann, kann selbst die beste Organisation der Welt nicht schützen.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, aber in meiner Welt kann Reden auch Blei sein.

Langlebigkeit ist eng verbunden mit der Fähigkeit zu schweigen. Ich gebe Griff noch ein Jahr. Dann wird mich jemand dafür bezahlen, dass ich ein Loch für ihn grabe. Ausgerechnet er musste herausfinden, dass Frank für das Gemetzel in Morgans Haus verantwortlich ist.

Im Mädchenzimmer geht Licht an. Ich sehe einen Schatten im Fenster auftauchen.

Ich weiß nicht, ob es an meiner Rachsucht liegt oder an meinem Gespräch mit Griff, aber meine Geduld ist am Ende. Genauso wie die Freiheit dieses Mädchen.

Ich warte nicht länger.

Frances Helburn gehört mir.

Ich habe Fahrzeug und Kleidung gewechselt. Jetzt sitze ich vor der Schule und sehe zu, wie die Schüler hereinströmen.

Frances ist eine der Letzten.

Sie trägt dieselbe Schuluniform wie jeden Tag. Die übliche Kombination aus kariertem Rock, Pullover und Bluse. Wenn der eigentliche Grund für das Tragen von Schuluniformen darin besteht, die unsittliche Zurschaustellung von Körpern zu verhindern, dann ist das an dieser Schule gelungen. Ihre Uniform ist drei Nummern zu groß und hängt wie ein formloser Sack um ihren Körper.

Selbst ihre Socken sind lächerlich. Sie sind tannengrün und reichen ihr fast bis zu den Knien, obwohl der eine beim Gehen immer weiter hinunterrutscht. Das schwarze Shirt, das sie unter ihrem Pullover trägt, hat einen Kragen, aber sie läuft mit hochgezogenen Schultern und verbirgt nicht nur ihr Gesicht, sondern auch jede Spur von Titten.

Du kannst dich nicht vor mir verstecken, Frances. Auch nicht unter diesen Schlabberklamotten. Ich sehe dich. Ich sehe dich, und ich komme dich holen.

Frances stolpert auf dem Gehweg und lässt ein Buch fallen. Sie bückt sich, um es aufzuheben, und ich erhasche einen Blick auf den unteren Teil ihrer perfekt gerundeten Arschbacken, nur knapp von einem roten Slip bedeckt.