Urlaub im "Schwalbennest" - Doris Wienrich - E-Book

Urlaub im "Schwalbennest" E-Book

Doris Wienrich

4,9

Beschreibung

Die Autorin beschreibt in ihrer ersten Erzählung, wie in den 60-er Jahren während eines Ostseeurlaubs Fremde zu Freunden werden, weil alle die gleichen Probleme, Wünsche und Träume haben. Die wunderbare Atmosphäre im "Schwalbennest" lässt den Urlaub zu einem unvergesslichen Erlebnis für alle werden. In der zweiten Geschichte lernen die Leser Eva Kremberg kennen, die in einem Medienunternehmen engagiert arbeitet und eines Tages beauftragt wird, den Praktikanten Ronald Schradel zu betreuen. Durch ihre gemeinsame Tätigkeit kommen sich die Beiden näher. Die Geschichte verrät Ihnen, ob es ein Happy-End gibt. Kriminalistischen Spürsinn entwickelt in der dritten Erzählung ein ganzes Dorf. In einem Geschäft wurde gestohlen, zwei linke Schuhe in unterschiedlichen Größen. Cora und Anika erfahren von ihrer Oma, wer der Dieb war und wie alles ausgegangen ist. Mit ihrer vierten Geschichte kehrt die Autorin in die Gegenwart zurück. Sie schildert dem Leser die Entwicklung Kai-Uwes vom behüteten Einzelkind bis hin zum drogenabhängigen Erwachsenen, der am Ende alles verloren hat.

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Inhaltsverzeichnis

Urlaub im „Schwalbennest“

Träume weiter, Eva!

Zwei linke Schuhe

Kai-Uwes Absturz

Urlaub im „Schwalbennest“

Andreas hatte die Stadt bereits wieder hinter sich gelassen. Ihn fröstelte, obwohl es in seinem Auto wesentlich angenehmer war als während der vergangenen Stunden des Wartens auf der Straße. So hatte er sich den Verkauf der begehrten Urlaubsreisen nicht vorgestellt. Er hatte sich einen Tag frei genommen und war, fast noch in der Nacht, morgens um fünf Uhr losgefahren. Doch zu seinem Erstaunen belagerte bereits eine Schlange von mindestens fünfzehn Personen den Bürgersteig vor dem Reisebüro. Alle waren dick vermummt.

Sie sind noch früher aufgestanden als ich, dachte er. Mit Wollmützen, Schals und Handschuhen wollten sie der Kälte dieses achten Januar 1980 trotzen.

Jetzt lag der nächtliche Frost über der Stadt. Aus den Schornsteinen einzelner Wohnhäuser kroch Rauch. Doch der hatte es schwer seinen Weg gen Himmel zu finden, denn die eisige Luft drückte ihn hinab in die Straßen und Gassen.

Andreas hatte nach kurzem Gruß seinen Kragen hochgeschlagen und die Wollmütze über die Ohren und die Stirn gezogen und sich in die Schlange der Wartenden eingereiht. Seine Hände steckten tief in den Taschen der dicken Winterjacke, die ihm seine Frau zu Weihnachten geschenkt hatte.

Er musterte die Leute, soweit dies im Schein der Straßenlaternen möglich war. Es waren meist Männer in seinem Alter, Familienväter, die wie er mit Frau und Kindern im kommenden Sommer verreisen wollten.

Ein älterer Mann hatte einen Klappstuhl mitgebracht, auf dem er nun in sich zusammengekauert saß und fror.

Weiter vorn in der Schlange standen zwei junge Frauen.

Sie alle sind noch früher aufgestanden als ich, dachte Andreas. Was tut man nicht alles für seine Lieben! Die Kinder hatten so gebettelt: „Bitte, Papa, wir möchten in den Sommerferien unbedingt einmal an die Ostsee.“

Simone und er hegten diesen Wunsch auch schon lange, aber sie kannten das Problem der Urlaubsplatzbeschaffung und hatten zu den Kindern gesagt: „Seid froh, dass wir bisher jedes Jahr verreisen konnten, auch wenn es nicht immer besonders lohnende Ziele waren! Wie sollen wir denn einen Ostseeplatz besorgen?“

Aber die dreizehnjährige Heike und der neun Jahre alte Karsten hatten nur erwidert, dass Marina und Ines von gegenüber doch auch an der Ostsee waren und soooo geschwärmt hätten.

Nun befand sich Andreas wieder auf dem Heimweg.

Was würde Simone sagen, wenn er ihr erklären musste, dass er keinen Ferienplatz in einem bekannten Seebad oder auf einer Ostseeinsel bekommen hatte?

Die Zuteilung an Seeplätzen sei gering und die Schulferien nun mal die beliebteste Reisezeit, das hatte das Fräulein vom Reisebüro den durchgefrorenen Kunden kurz und knapp erklärt. Die Nachfrage nach Ostseeplätzen sei nun mal in der ganzen Republik groß. Sie könne auch nur das weitergeben, was ihr zugeteilt worden sei.

In der Schlange war Unmut aufgekommen. Einige hatten gemurrt und etwas von Geschäften unterm Ladentisch geknurrt.

Als Andreas an der Reihe war, gab es nur noch die Möglichkeit der Ostseetouristik. Das hatte er sich kurz erklären lassen und dann schnell zugegriffen, sonst wäre die Enttäuschung der Kinder riesengroß gewesen.

So kam er noch immer frierend und nicht gerade zufrieden mit der Buchung eines völlig unbekannten Zieles in Ostseenähe zu Hause an.

Als die Kinder am Nachmittag davon erfuhren, jubelten sie: „Hauptsache an die Ostsee! Es wird schon schön werden, Papa!“

Reise und Ankunft

Endlich waren Ferien, und die Eltern hatten ihren wohlverdienten Urlaub. Die Koffer waren bereits im Auto verstaut. Die Kinder lagen in ihren Betten, doch vor Aufregung konnten sie lange nicht einschlafen.

Andreas studierte am Wohnzimmertisch noch einmal den aufgeschlagenen Straßenatlas, und Simone werkelte in der Küche. Sie wickelte die gut belegten Wurst- und Schinkenbrote ein und legte sie in den Kühlschrank. Morgen früh vor der Abreise war keine Zeit mehr, um Schnitten zu schmieren, das wusste sie vom letzten Urlaub. Außerdem wollte Andreas die weite Fahrt spätestens um fünf Uhr antreten.

Sie ging noch einmal ins Wohnzimmer zur ihrer Mutter, um mit ihr über ein paar Dinge zu sprechen, die in den nächsten vierzehn Tagen vielleicht anfallen könnten.

Am nächsten Morgen, als alle gefrühstückt hatten, nahm Andreas die Tasche mit den Thermoskannen und den Bechern und ging zur Garage. Er fuhr das Auto heraus, und anschließend verabschiedeten sich alle von der Oma.

Dann starteten sie fröhlich und gut gelaunt in den langersehnten Urlaub.

Obwohl es noch sehr früh war, zeigten Heike und Karsten keine Müdigkeit, im Gegensatz zu anderen Anlässen, wenn sie einmal so zeitig aus den Betten mussten.

Sie saßen vergnügt auf den Rücksitzen und schauten erwartungsvoll dem beginnenden Tag entgegen.

Als sie nach zweistündiger Fahrt durch Dörfer und Städte endlich die Autobahn erreichten, atmete Andreas auf. „Nun kommen wir zügiger voran“, sagte er.

„Ich bin gespannt, wie es in dem Urlaubsort so ist“, meinte Heike, und Karsten wollte wissen: „Lernen wir da auch neue Kinder kennen?“

„Seit wann unterscheidest du in neue und alte Kinder?“ lachte Simone.

Karsten erwiderte nichts darauf. Doch dann wandte er sich erneut an seine Mutter: „Hast du eigentlich alle meine Sachen eingepackt und den Schwimmreifen und die Luftmatratze nicht vergessen?“

Simone nickte ihm zu, und Karsten war zufrieden.

Nachdem sie schon eine Stunde auf der Autobahn unterwegs waren, schlug Andreas vor, auf einen Parkplatz zu fahren und eine Pause einzulegen.

Karsten stimmte sofort zu: „Ich muss sowieso mal austreten gehen.“ Und Heike meinte: „Heute morgen konnte ich noch nicht so richtig frühstücken, aber jetzt habe ich Hunger.“

Andreas und Karsten verschwanden hinter einem Gebüsch, und Simone holte die Tasche mit dem Proviant aus dem Kofferraum, während sich Heike die Füße vertrat und ein paar gymnastische Übungen neben dem Auto machte. Außer ihnen parkte um diese Zeit noch niemand hier.

Als Andreas mit Karsten zurückkam, rief Simone erschrocken: „Das glaub ich jetzt nicht! Du hast die Tasche mit den Getränken ins Auto gepackt ohne hineinzuschauen! Unsere Frühstücksbrote liegen noch zu Hause im Kühlschrank. Die haben wir vergessen.“

„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“, entfuhr es Andreas erschrocken.

Karsten lachte. „Dann hat Oma für die ganze Woche schon ihr Abendbrot!“

„Und was nun?“, rief Heike enttäuscht, „ich habe aber Hunger!“

„Wir trinken erst einmal etwas“, lenkte Simone ein. „Außerdem habe ich Schokolade und Kekse im Handschuhfach. Verhungern müsst ihr also nicht!“

Sie goss jedem nach Wunsch einen Becher Kaffee oder Tee ein und holte danach die Leckereien aus dem Auto, damit sich die Kinder bedienen konnten.

Andreas schlug vor weiterzufahren und den nächsten Rasthof aufzusuchen. Damit waren alle einverstanden.

Also fuhren sie in Richtung Berlin weiter. Hier war die Autobahn wesentlich voller als im mitteldeutschen Raum. Westautos, die sie sonst selten sahen, sausten an ihnen vorbei. Karsten freute sich, wenn er die Automarken erkannte.

„Die meisten kommen aus der Bundesrepublik und wollen nach Westberlin“, erklärte Andreas.

Die Kinder drehten sich im Fond um und schauten durch die Heckscheibe, um die Autos besser sehen zu können.

Jetzt fuhr hinter ihnen ein großer Lastzug mit einem hessischen Kennzeichen. Die Kinder winkten dem Brummifahrer zu, und der winkte zurück und lachte. Sie lachten ebenfalls und winkten noch einmal.

Nach einiger Zeit waren sie das Betrachten der vielen Autos und LKW leid. Deshalb kramte Karsten sein kleines Notizheftchen und den Kugelschreiber aus der Umhängetasche hervor und spielte „Schiffe versenken“, während sich Heike in ein Jugendbuch vertiefte, das sie sich von einer Freundin ausgeliehen hatte und nach den Ferien zurückgeben wollte.

So verging die Zeit, und schon bald verließ Andreas die Autobahn, weil der Rasthof angezeigt wurde, in dem sie das ausgefallene Frühstück nachholen wollten.

Froh gelaunt verließen sie das Auto und begaben sich in die Raststätte.

Hier war um diese Zeit schon allerhand Betrieb.

„Können wir uns nicht auf die Terrasse setzen? Hier ist es ziemlich verqualmt“, meinte Heike und ließ ihren Blick über eine Gruppe Männer streifen, die rauchend und laut diskutierend an mehreren Tischen saßen.

„Du hast recht, die frische Luft wird uns gut tun. Andreas, ich suche uns mit den Kindern einen freien Tisch und komme dann gleich zurück. Stell` du dich doch schon einmal an“, sagte Simone zu ihrem Mann und ging dann mit Heike und Karsten auf die Terrasse.

Bis auf einen Tisch, an dem eine Familie mit zwei Kindern Platz genommen hatte, war hier noch alles frei.

„Können wir uns dort in die Sonne setzen?“, fragte Heike und zeigte auf einen Tisch, unweit der Tür.

Simone nickte.

„Seid ihr mit belegten Brötchen und Cola einverstanden?“, wollte sie wissen, bevor sie sich wieder der Raststube zuwendete, in der Andreas in der Schlange vor der Theke wartete.

Die Kinder nickten zustimmend, und Simone verließ die Terrasse.

Wenig später kamen die Eltern zurück. Jeder trug ein Tablett, Simone brachte die belegten Brötchen und Andreas die Getränke.

„Von nun an kann es nur noch besser werden“, sagte Heike in aufkommender Urlaubsstimmung.

„Na, das ist doch mal eine gute Nachricht“, erwiderte ihr Vater und lachte. Er kannte ja seine Tochter. Wenn sie etwas Leckeres zu essen hatte, war sie stets gut gelaunt.

„Jetzt ist es erst kurz vor neun Uhr, und es ist schon so schön warm hier in der Sonne“, sagte Simone.

„Hoffentlich haben wir an der Ostsee auch so schönes Wetter. Ich bin schon gespannt, wie es dort ist“, meinte Karsten, und man konnte seine Neugier und Vorfreude ahnen.

Die Familie, die bereits auf der Terrasse gesessen hatte, schien jetzt aufbrechen zu wollen. Heike und Simone drehten ihre Köpfe zu ihnen hin. Die sind bestimmt aus dem Westen oder aus Westberlin. Ihre Kleidung unterscheidet sich ganz wesentlich von unserer, dachte Simone. Qualität, Farben und der Schnitt wirken einfach eleganter als unsere „Einheitsklamotten“.

Jetzt ging die fremde Frau an ihrem Tisch vorbei und nickte Simone freundlich zu. Ihre beiden Mädchen lächelten Heike an und sagten leise „Tschüss“.

Als Letzter folgte dem kleinen Trupp der Vater. Doch bevor er die Terrasse verließ, beugte er sich zu Andreas herunter und sagte leise: „Gestatten Sie, dass wir Ihren Kindern etwas schenken.“

Er legte ihnen ein Buch auf den Tisch und eilte sofort, ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, davon.

Die fremde Familie war verschwunden.

Andreas, Simone und die Kinder schauten sich überrascht an, und dann blickten sie auf das Buch, das vor ihnen auf dem Tisch lag.

„Solch ein Buch hat meine Schulfreundin Katrin auch. Ihre Oma hat es ihr mitgebracht, als sie zu Besuch im Westen war“, rief Heike und nahm das Geschenk in die Hand, um darin zu blättern.

Das Buch erzählte die Geschichte eines Mädchens in den Schweizer Bergen und war bunt bebildert. Ein kleines Mädchen, ihr Großvater, ein Junge mit Ziegen und vor allem eine faszinierende Bergwelt waren wunderschön dargestellt.

Heike reichte das Buch ihrem Bruder, der schon ungeduldig an dem Einband zog.

„Ich bin sprachlos, dass uns fremde Leute ein so schönes Geschenk gemacht haben. Aber wir haben uns nicht einmal bedanken können! Warum hatte es der Mann denn so eilig?“ fragte sie ihren Vater.

„Die sind ja alle vier förmlich davongerannt“, meinte auch Karsten.

„Nicht so laut, ihr zwei!“, flüsterte Andreas. „Lasst uns das um Gottes Willen nicht hier diskutieren. Wir reden im Auto darüber, aber nicht hier, nein, nicht hier!“

Er stand auf und wies Karsten an: „Schiebe das Buch unter dein T-Shirt.“

„Wir gehen“, sagte er mit Nachdruck und schaute sich um. Er wirkte auf einmal nervös und hatte es ziemlich eilig, den Rasthof zu verlassen. Doch zum Glück waren sie immer noch allein hier draußen, und niemand hatte etwas gesehen oder gehört.

Sie verließen die Terrasse ohne noch einmal durch das Lokal zu gehen.

Als sie wieder in ihrem Auto saßen, sagte Simone: „Das war eine westdeutsche oder Westberliner Familie auf der Durchreise. Sie dürfen auf Transitstrecken mit Bürgern aus der DDR keinen Kontakt aufnehmen. Das ist verboten. Sie bringen sich und die anderen damit in Gefahr.“

„Warum ist das denn verboten? Sie wollten uns doch nur eine Freude machen! So ein schönes Buch! Ich freue mich jedenfalls sehr darüber. Oma wird staunen, wenn sie das hört“, sagte Karsten.

„Ich verstehe auch nicht, warum westdeutsche Menschen mit DDR-Bürgern nicht sprechen sollen. Wir reden doch alle die gleiche Sprache! Da hätte mir die Frau wohl auch keine Auskunft geben dürfen, wenn ich sie nach der Toilette gefragt hätte?“, wollte Heike wissen.

Andreas startete das Auto. Er wollte schnell wieder zurück auf die Autobahn. Zu den Fragen seiner Kinder wusste er auch keine plausible Erklärung, schon gar nicht für den erst neunjährigen Karsten.

Simone wandte sich an Heike: „Du hast doch in der Schule schon einiges über die DDR und die Bundesrepublik gehört. Es sind beides deutsche Staaten, aber mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Jetzt lassen wir das Thema und freuen uns ganz einfach, dass es nette Leute waren, die euch eine Freude machen wollten.“

Andreas warf Simone einen kurzen Blick zu und lächelte sie verständnisvoll an.

Sie waren sich in Fragen der Kindererziehung immer einig, doch zu einer Diskussion mit ihren Sprösslingen über Ost-West-Beziehungen waren sie an diesem schönen Morgen nicht bereit.

Nun waren Heike und Karsten mit ihrem Geschenk beschäftigt, und die Eltern dachten über das eben Erlebte nach. Auch sie waren sehr stark berührt von der kurzen Begegnung mit der fremden Familie. Es ist wirklich trostlos, wenn man aus Angst nicht miteinander reden kann. Nur leider können wir kleinen Leute daran nichts ändern. Es ist nur gut, dass wir nicht beobachtet worden sind, sonst hätte uns noch sonst etwas angedichtet werden können.

Simone und Andreas hingen noch eine Weile schweigend ihren Gedanken nach.

Als sie den Berliner Raum hinter sich gelassen hatten, wurde es fast leer auf der Autobahn. Jetzt kamen sie wieder zügiger voran. Nach einer weiteren Stunde Fahrt legten sie noch einmal eine kleine Pause ein, um von ihrem Vorrat etwas zu trinken und sich die Füße zu vertreten.

„So, nun geht es in die Endphase. Noch ein paar Kilometer, dann verlassen wir die Autobahn, denn es ist nicht mehr sehr weit. Hoffentlich sind die Kreisstraßen nicht so schlecht, dass wir zügig fahren können“, sagte Andreas zu seiner Frau.

Simone nahm den Autoatlas und ließ sich von Andreas das letzte Stück ihrer Reiseroute zeigen.

„Gut, ich behalte die Karte auf meinem Schoß“, sagte sie, „da kann ich dir ansagen, wo wir abbiegen müssen.“

Sie starteten wieder. Die Kinder hatten jetzt ein bisschen ihre Müdigkeit abgestreift.

„Das ist gut, dass wir nun bald da sind. Ich bin gespannt, wie warm die Ostsee ist“, sagte Karsten.

„Vielleicht kommen wir heute noch gar nicht ans Wasser. Schließlich haben wir einen Ostseetourismus-Ferienplatz“, belehrte Andreas seinen Sohn.

„Ja, aber die Ostsee muss doch da sein!“, beharrte Karsten.

„Sie ist ja auch da, Karsten. Aber nach unserer Ankunft müssen wir erst unsere Sachen auspacken. Wenn wir uns frisch gemacht haben, schauen wir uns den Ort an. Ich denke, Papa ist heute genug gefahren. Wir wollen uns doch alle erholen“, erklärte Simone ihrem Sohn, wobei sie in ihrem letzten Satz das Wort „ alle“ besonders betonte.

Heike hatte zugehört ohne sich an dem Gespräch zu beteiligen. Sie schaute nach draußen, wo die Landschaft an ihr vorüberflog.

Hier ist alles eben, es gibt keine Berge, man kann ganz weit über riesige Felder und Wiesen schauen. Ab und zu liegt ein kleines Wäldchen dazwischen. Da lässt sich prima Rad fahren.

Simone hatte sich in die Straßenkarte vertieft und sagte nach kurzer Betrachtung des Wegenetzes: „Andreas, beim nächsten Dorf musst du rechts abbiegen.“

„Alles klar, dann sind wir spätestens in einer halben Stunde am Ziel.“

Die Kinder atmeten auf. Jetzt war ihre Müdigkeit endgültig verflogen. Sie schauten interessiert durch die Seitenscheiben und drehten sich im Fond um, um durch die Heckscheibe noch mehr von der Landschaft sehen zu können.

Im nächsten Dorf hielt Andreas mitten auf einer Kreuzung an. Hier gab es keine Hinweisschilder. „Was nun?“, fragte er stirnrunzelnd. „Welchen Weg müssen wir einschlagen?“

Da sah Simone eine ältere Frau mit einer Einkaufstasche aus einem Haus herauskommen.

„Ich werde die Frau dort nach dem Weg fragen“, sagte sie und stieg aus.

Sie ging ihr ein paar Schritte entgegen, grüßte freundlich und trug ihr Anliegen vor.

„Ach, dann sind Sie die neuen Urlauber von Familie Vollmers“, sagte sie lächelnd. „Hier kennt jeder jeden. Außerdem bin ich mit Anita Vollmers befreundet und daher weiß ich, dass heute Urlauberwechsel ist. Ja, nun zum Weg. Sie fahren hier links ab und immer geradeaus weiter. Dann sehen Sie ein kleines Wäldchen. Das ist ihr Ziel. Am Waldrand steht das Haus, Sie können es gar nicht verfehlen.“

Und nach einer kleinen Pause setzte sie fort: „Aber wundern Sie sich nicht über den Weg, hinter dem Dorf hört die gepflasterte Straße auf. Dann ist es ja auch nicht mehr weit. Also dann, einen schönen Urlaub wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie.“

„Vielen Dank, auch für Ihre freundliche Auskunft“, erwiderte Simon herzlich, ging zum Auto zurück und stieg ein.

Nachdem sie Andreas informiert hatte, kommentierte er die wenig erfreuliche Information

mit den Worten: „Da lassen wir uns mal überraschen“, und fuhr mit gemischten Gefühlen los.

Das Ende des Dorfes hatten sie schnell erreicht. Alle waren gespannt, wie es nun weitergehen würde.

Die Kinder reckten ihre Hälse und schauten durch die Frontscheibe nach vorn.

Andreas hatte das Tempo zurückgenommen und konzentrierte sich ganz auf den Weg.

„Ich sehe das Haus schon! Dort vorn beim Wald, das muss es sein“, rief Karsten.

In diesem Moment schlingerte das Auto. Es war mit dem linken Hinterrad in eine tiefe Sandspur geraten.

„Hoppla“, rief Simone erschrocken.

Andreas versuchte mit wenig Gas weiterzufahren. Aber das Hinterrad drehte durch und stiebte den Sand in die Luft.

„Wir steigen alle aus und dann, Simone, setzt du dich hinter das Lenkrad, und Heike und ich schieben“, schlug er vor.

Diese Aktion brachte jedoch keinen Erfolg. Deshalb sagte er: „Wir müssen etwas vor das Hinterrad legen, damit es greifen kann. Am besten, wir suchen ein paar Stöcke und Steine.“

Sofort begannen sie mit der Suche und wurden tatsächlich fündig.

Andreas packte alles vor das Hinterrad, stieg ein, startete den Wagen und hatte Glück.

Das Auto kam aus der Sandspur heraus und stand wieder auf dem Weg.

„Hurra! Klasse! Na also!“ riefen alle durcheinander und rannten hin.

Nachdem sie wieder eingestiegen waren, sagte Heike: „Hoffentlich passiert uns das nicht jeden Tag. So viele Steine und Stöcke liegen hier nämlich gar nicht herum.“

Die Eltern schwiegen, sie dachten sicher das gleiche.

Andreas war froh, dass keiner seine Gedanken erraten konnte.

Die Stimmung hatte sich seit diesem Vorfall verschlechtert. Nun fuhren sie schweigsam fast im Schneckentempo weiter, aus Angst sich noch einmal im Sand festzufahren.

So kamen sie nach weiteren zehn Minuten vor dem alleinstehenden Haus am Waldrand an.

Hier waren tatsächlich weit und breit keine anderen Häuser zu sehen, überall nur Felder und Brachland. Rechts vom Weg begann hinter einem Rübenfeld der Wald.

„In was für einer Einöde sind wir denn hier gelandet?!“; begann Heike ihren Gefühlen Luft zu machen. „Da steige ich gar nicht erst aus.“

„Ich auch nicht, hier will ich nicht bleiben“, maulte Karsten. Seine Stimme klang weinerlich.

Simone sah ihren Mann an. Sie dachte wohl ähnlich wie die Kinder. Doch dann gab sie sich einen Ruck.

„Das ist doch nur unser Übernachtungsquartier. Wir schlafen hier und fahren danach jeden Tag zum Strand. Bei Tourismus-Urlaub ist es nun einmal so, dass man viel unterwegs ist.“

Es war Simone schon fast gelungen, die Kinder zu beschwichtigen, als Andreas plötzlich zu schimpfen begann: „Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl mit dieser Art Tourismus. Ohne Beziehungen kriegt man keinen exklusiven oder wenigstens richtig guten Urlaubsplatz, so ist das nun leider mal bei uns in der DDR. Aber ihr wolltet ja unbedingt an die Ostsee! Schluss jetzt mit dem Gemaule! Ihr wolltet den Ferienplatz, und nun bleiben wir hier!“

Seine Worte hatten verärgert geklungen. Sie duldeten keinen Widerspruch, das wussten die Kinder sofort. Sie kannten ihren Vater gut und wussten, wann es besser war nichts mehr zu sagen.

Trotzdem wagte Heike noch einen Einwand: „Hoffentlich hält unser Auto diesen scheußlichen Weg zwei Wochen aus.“

„Schluss jetzt mit der Debatte! Wir steigen aus und melden uns erst einmal an, alles Weitere wird sich finden.“ Andreas war genervt. Er stieg aus und streckte sich.

Simone folgte seinem Beispiel.

Als die Eltern zu dem Backsteinhaus gingen, stiegen auch Karsten und Heike mit beleidigten Gesichtern aus.

Andreas drückte auf den Klingelknopf neben der Eingangstür.

Wenig später wurde von innen aufgeschlossen, und eine Frau erschien, die Simone auf etwa fünfundvierzig bis fünfzig Jahre schätzte und die fröhlich sagte: „Hallo, Sie sind sicher Familie Bauer. Herzlich willkommen!“

Sie gab jedem die Hand und stellte sich als Frau Vollmers vor.

„Wir sind Andreas und Simone Bauer, und das sind unsere Kinder Heike und Karsten“, gab Simone bereitwillig Auskunft.

„Hatten Sie eine gute Anreise?“, wollte Frau Vollmers wissen.

„Ja, bis auf das letzte Stück ging alles sehr gut, aber dann haben wir uns hier im Sande festgefahren.“ Andreas deutete mit seiner Hand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Aber halb so schlimm, nun sind wir ja da.“

„Ach, du meine Güte!“ rief Frau Vollmers erschrocken. „Da haben Sie wohl den falschen Abzweig genommen, der Weg hier durch den Wald ist befestigt. Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen. Auf dem Sandweg trifft man eigentlich nur Fußgänger oder höchstens mal Radfahrer an.“

„Da bin ich aber erleichtert, das ist ja eine richtig gute Nachricht.“ Andreas atmete auf.

Simone, Heike und Karsten wirkten jetzt auch entspannter. Nicht nur diese Auskunft, sondern auch Frau Vollmers Natürlichkeit gefiel ihnen.

„Aber jetzt kommen Sie doch erst einmal ins Haus.“ Mit einer einladenden Geste zeigte sie auf die Haustür und sagte: „Bitte schön! Treten Sie ein! Ich zeige Ihnen, wo Sie in den nächsten vierzehn Tagen wohnen werden.“

Familie Bauer folgte ihrer netten Vermieterin und gelangte in eine große Diele, die aber keineswegs wie ein üblicher Hausflur wirkte, sondern eher den Eindruck eines Empfangssalons machte. Mit ein paar gemütlichen Sesseln, einer Stehlampe und einer modernen Vitrine, in deren Glasfach verschiedene Gläser einsortiert waren, sowie mehreren großen Grünpflanzen wirkte der Raum geschmackvoll und gemütlich zugleich. An der Wand hinter den Sesseln hing ein Bord mit zahlreichen Büchern. Außerdem stand an der rechten Seite des Raumes ein mittelgroßer runder Tisch mit vier Polsterstühlen, die den gleichen beigefarbenen Bezugsstoff hatten wie die Sessel. Die Diele war mit einem braunen Teppich, den kleine bunte Ornamente zierten, ausgelegt.

„Hier werde ich Ihnen immer das Frühstück servieren.“ Dann öffnete sie die Zimmertür zu ihrer Linken, „ dieser Raum ist das Schlafzimmer der Eltern.“

Sie traten ein und befanden sich in einem hellen, komplett eingerichteten Doppelbettzimmer mit einer Verbindungstür zum Kinderzimmer, welches mit zwei Einzelbetten sowie dazu passenden Nachtschränkchen mit modernen Leselampen, einem Kleiderschrank, einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen und einem Bücherbord ausgestattet war. An den Wänden hingen mehrere Bilder. Alles wirkte modern und war sauber und gepflegt.

Frau Vollmers versuchte in den Gesichtern der Neuankömmlinge zu lesen und konnte gleich erkennen, dass alle zufrieden waren.

„Wird das so gehen, dass Heike und Karsten zusammen ein Zimmer haben?“ wandte sie sich an Simone.

„Ja, natürlich, und wenn nicht, dann schläft einer von den beiden draußen im Garten unter dem großen Baum“, lachte sie.

„Ach das wird kaum nötig sein“, erwiderte Frau Vollmers schmunzelnd und strich Karsten übers Haar.

„Nun zeige ich Ihnen noch das Badezimmer. Leider haben wir nur ein Bad mit WC. Das steht aber ausschließlich unseren Urlaubern zur Verfügung. Meine Familie hat andere Wasch- und Duschmöglichkeiten sowie eine Außentoilette.“

Sie führte die Neuankömmlinge durch die Diele direkt in ihre Küche, dann einen kleinen Flur entlang zum Bad, in dem außer einem Badeofen und dem WC auch eine große weiße Badewanne stand. Alles blitzte vor Sauberkeit. Die Wände und der Fußboden waren gefliest.

„Ist das so in Ordnung?“ fragte Frau Vollmers.

„Wunderbar, alles bestens. Da werden wir uns ganz sicher wohlfühlen“, antwortete Simone herzlich, und ihre Familie nickte zustimmend.

Sie gingen zurück zur Küche, wo ihre Gastgeberin ihnen die Schlüssel übergab und so nebenbei erklärte: „Übrigens benutzen Sie allein unseren Haupteingang zur Diele. Wir haben vom Hof her noch einen zweiten Eingang, aber das zeige ich Ihnen alles später. Sie werden also ungestört sein. Wollen sie jetzt Ihr Gepäck hereinholen? Ich helfe Ihnen gern dabei.“

„Vielen Dank, Frau Vollmers, das ist nett, aber nicht nötig“, bedankte sich Andreas. „ Wir schaffen das schon. Kommt, Kinder!“

Während sie zum Auto gingen, äußerten sich alle wohlwollend und zufrieden über die schöne Urlaubsunterkunft.

„Papa, das haben wir aber gut getroffen. Mir gefällt es jedenfalls, und die Frau Vollmers ist auch nett“, äußerte sich Heike als Erste, die bei ihrem Papa etwas gut zu machen hatte.

„Aber dass man immer durch die Küche laufen muss, das finde ich doof“, entgegnete Karsten.

„So oft gehst du doch gar nicht ins Bad. Wir sind fast den ganzen Tag nicht hier“, erwiderte Simone. „Außerdem wird Familie Vollmers das gewöhnt sein. Wir sind nicht ihre ersten Urlauber, und beißen wird dich bestimmt keiner“, neckte sie ihren Jüngsten.

„Na gut“, lenkte Karsten ein.

Andreas beteiligte sich nun auch an der Unterhaltung. „Ich denke, es wird doch noch ein schöner Urlaub werden. Der Anfang dazu ist jedenfalls gemacht. Jetzt packen wir erst einmal unsere Sachen aus, erholen uns von der Fahrt und gegen siebzehn Uhr suchen wir ein Lokal auf, das in der Nähe ist, und holen das ausgefallene Mittagessen nach. Was haltet ihr von meinem Vorschlag?“

Alle waren sofort einverstanden.

„Aber ein Lokal in der Nähe? Ob es das überhaupt gibt?“ bezweifelte Heike.

„Wir lassen uns von Frau Vollmers beraten. Doch das hat noch Zeit.“

Sie gingen zum Auto, luden das Gepäck aus und trugen es zum Hauseingang, als Simone plötzlich erschrocken rief: „Huch, was war denn das?!“

Irgendetwas war über ihren Köpfen hinweg gesaust.

Sie schauten alle nach oben und erkannten eine Schwalbe, die gerade ihr Nest verlassen hatte, denn oben in der Nische rechts neben der Eingangstür klebte ein Schwalbennest.

Da hörten sie auch schon das leise Tschilpen der kleinen Jungvögel, die nach Nahrung schrien.

„Wir stören gerade bei der Fütterung“, sagte Andreas leise. „Denkt also daran und nehmt Rücksicht, wenn ihr hier rein und raus geht“, flüsterte er den Kindern zu.

Dann verschwanden sie in ihren Zimmern, und es kehrte völlige Ruhe ein.

Später, so gegen sechzehn Uhr dreißig, klopfte Andreas an Familie Vollmers Küchentür, um sich nach dem Lokal zu erkundigen.

Jetzt war auch Herr Vollmers anwesend. Die Männer begrüßten sich und machten sich miteinander bekannt.

Herr Vollmers war ein etwa fünfzigjähriger Mann mit gebräuntem Gesicht und dunkelblondem, ein wenig schütterem Haar. Seine Statur wirkte muskulös, aber keineswegs dick.

Andreas trug sein Anliegen vor, und der freundliche Hausherr hatte sofort eine Empfehlung parat.

„Es gibt ein paar Kilometer von hier entfernt ein schönes Ausflugslokal mit Restaurant und einer guten Küche. Es heißt „Tannenhof“ und liegt direkt am Waldrand neben der Straße. Es ist nicht zu verfehlen. Die Parkmöglichkeiten sind auch gut. Für die Kinder gibt es einen kleinen Spielplatz, aber der wird euch sicherlich nicht interessieren, oder doch?“ Er schaute die Kinder, die sich inzwischen dazu gesellt hatten, freundlich an. Heike und Karsten lachten. Dann wandte er sich wieder an Andreas. „ Mit dem Auto ist man in zehn bis fünfzehn Minuten da. Dort speisen häufig unsere Urlauber, wenn sie vom Strand kommen. In der Umgebung ist das Lokal sehr beliebt.“

Dann erklärte Herr Vollmers ihm auch den Weg zum „Tannenhof“, denn er hatte von seiner Frau bereits von dem kleinen Malheur auf dem Sandweg gehört. Das sollte nicht noch einmal passieren.

„Herr Bauer“, sagte er, „ich zeige Ihnen am besten auch gleich, wo Sie Ihr Auto parken können. Kommen Sie.“ Sie gingen durch den hinteren Flur, den Andreas bereits kannte, auf den Hof. Hier war eine markierte Parkfläche, auf die drei bis vier Autos passten. Außerdem gab es noch eine Garage, die der Hausherr selbst nutzte.

„Wunderbar“, sagte Andreas, „es ist immer gut, wenn man auf einem Grundstück parken kann und das Fahrzeug nicht draußen stehen muss. Obwohl, bei Ihnen hier wird ja sowieso nichts passieren.“

„Ja, wir leben hier absolut ruhig und sicher. Die einzigen, die uns mal Schaden zufügen, sind im Herbst hin und wieder Wildschweine.“ Die beiden Männer lachten.

Jetzt kamen auch Frau Vollmers und Simone auf den Hof.

Andreas stellte Herrn Vollmers seine Frau vor. „Nun ist die Familie komplett. Unsere Kinder kennen Sie ja schon.“

„Sie haben ja ein riesiges Grundstück“, sagte Simone, die sich ein wenig neugierig umschaute.

Rechts neben dem Haus stand eine große Buche, und unter ihr war ein Zelt aufgebaut.

Der Hof war mit Rasen bewachsen. Nur ein gepflasterter Gehweg führte zur Garage und zu einem Stall. An der Umzäunung standen sowohl niedrige Ziergehölze als auch Beerensträucher.

Frau Vollmers, die Karsten anschaute und seinen Blick auf das Zelt gerichtet sah, sagte: „Na, Karsten du schaust dir das Zelt so an? Gefällt es dir? Es gehört unserem Sohn. Er baut es jeden Sommer auf, obwohl er schon einiges älter ist als du. Wenn es ihm nachmittags zu heiß ist, verkriecht er sich gern dorthin und liest. Aber du wirst das schon selbst sehen, wenn Frank wieder da ist. Er besucht zurzeit für ein paar Tage seine Großeltern, kommt aber bestimmt morgen zurück.“ Sie machte eine kleine Pause und setzte dann fort: „Außerdem treffen morgen weitere Urlaubsgäste ein. Da kommen auch noch Kinder mit. Es wird bestimmt nicht langweilig, und wenn ihr etwas braucht, dann sagt ihr es mir einfach. Wir haben von unseren Kindern noch viele schöne Bücher, Gesellschaftsspiele, Bälle und andere Sportgeräte, mit denen ihr euch beschäftigen könnt.“

Sie nickte auch Heike freundlich zu. „Das ist prima“, erwiderte diese erfreut.

Andreas und Herr Vollmers unterhielten sich inzwischen angeregt über die Freilandhaltung der Hühner auf einer eingezäunten Fläche außerhalb des Gartens und über die Nutzung des großen angrenzenden Feldes.

„Wir wollen Sie jetzt aber nicht länger aufhalten“, sagte Andreas mit Blick auf seine Uhr. „Danke für die Informationen und einen schönen Feierabend!“

„Tschüss, bis später!“, sagten Herr und Frau Vollmers fast gleichzeitig.

Familie Bauer machte sich auf den Weg.

Im Auto sagte Heike plötzlich: „Gestern sind bestimmt Urlauber, die vor uns hier waren, abgereist. Heute sind wir gekommen, und morgen kommen noch weitere. Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag.

„Nee, wie in einem Schwalbennest“, lachte Karsten. Von nun an hatte die Ferienunterkunft ihren Namen „ das Schwalbennest“.

Bald schon kamen sie bei dem empfohlenen Restaurant an. Die Gaststube machte einen einladenden Eindruck, und auch die Bedienung ließ nicht lange auf sich warten. Als die nette Kellnerin dann das gewünschte Essen serviert hatte, waren alle restlos zufrieden.

Der kleine Abendausflug war bereits ein erster Erfolg, und froh gestimmt kehrten sie in ihr „Schwalbennest“ zurück.

Die Entdeckung der Ostsee und vieler schöner Ferienorte

Am nächsten Tag fuhren sie gleich nach dem Frühstück an den Strand. Von ihrer Urlaubsunterkunft bis zur Ostsee waren es etwa zwölf Kilometer.

Während der Fahrt betrachteten sie aufmerksam die Landschaft. Sie fuhren durch ein paar Dörfer, die nur wenig den Ortschaften ihrer Heimatregion glichen, wo in sogenannten Haufendörfern ein Haus neben dem anderen stand. Hier hatte jedes Haus seinen „Freiraum“, einen Garten beziehungsweise ein Stück Wiese, je nachdem was sein Besitzer bevorzugte und angelegt hatte. Ab und zu sahen sie ein altes, gut erhaltenes Haus mit einem schweren Reetdach, eine Besonderheit dieser Landschaft. Eines davon gefiel ihnen besonders gut. Es war eine alte Fischerkate, die mit leuchtend roter und blauer Farbe frisch gestrichen worden war und nun in ihrer malerischen Schönheit bestimmt schon oft als Fotomotiv gedient hatte.

Manche Häuser hatten wunderschöne Haustüren mit Schnitzereien. Sie waren ebenfalls mit leuchtenden Farben bemalt und wirkten einladend und fröhlich auf ihre Betrachter.

„Was sind denn das für komische Haustüren?“ fragte Karsten, dem eine andere Besonderheit auffiel, und wies mit dem Finger auf eine Tür, von der nur die obere Hälfte geöffnet war.

„Das kann ich dir erklären“, sagte Andreas. „Das sind die sogenannten Klönstüren, die früher viele Häuser hatten. Klönen heißt so viel wie miteinander reden, plaudern. Dazu waren diese Haustüren sehr praktisch. Wenn jemand anklopfte, wurde die obere Hälfte der Haustür entriegelt und geöffnet. Man schaute also nur oben heraus und redete miteinander. Ungebetene Gäste drangen nicht ins Haus ein, und außerdem kühlte das Haus bei kaltem Wetter nicht so schnell aus, was gerade hier an der Ostseeküste in strengen Wintern und bei heftigen Stürmen sehr wichtig war.“

„Was du alles weißt, Papa“, staunte Karsten.

„Übrigens gibt es auch in unseren Dörfern auf manchen Bauernhöfen noch solche zweiteilige Türen, meistens allerdings an Ställen. Sie haben den Vorteil, dass das Vieh immer frische Luft hat, aber nicht aus dem Stall laufen kann“, ergänzte sein Vater.

„Wisst ihr, was mir hier auch noch so gut gefällt? Hier stehen vor vielen Häusern so hübsche Bänke, die meisten sind hellblau gestrichen. Überhaupt verwenden die Leute hier viel buntere Farben als bei uns, wo meistens Bänke, Türen und Tore braun gestrichen werden“, meinte Heike.

Ebenso beeindruckend waren aber auch die kleinen hölzernen Fensterläden, die passend zu den Haustüren bemalt und manche sogar mit originellen Schnitzereien oder Ornamenten verziert waren.

Vielerorts sahen die Betrachter auf großen Grundstücken neue Einfamilienhäuser mit schön angelegten Blumenrabatten und gepflegten Rasenflächen. In einigen Gärten waren Strandkörbe aufgestellt, und lustig flatternde Wimpelketten schmückten Birken und Kiefern, die man hier überall finden konnte. Gut sichtbare Wegweiser fielen sofort jedem Fremden auf. Sie zeigten den Neuankömmlingen den Weg zu ihren Urlaubsunterkünften, die mitunter putzige Namen trugen, wie z.B. „Zur Stranddistel“, „Beim Seebär Ole Jansen“ oder „Möwe Gustav“.

Bei ihrem ersten Bummel kamen sie an verschiedenen Wirtshäusern vorbei, die mit auffallend großen, vor den Gebäuden aufgestellten Speisekarten um Gäste warben, und sie stellten erfreut fest, dass es auch einige Bäckereien an ihrer Wegstrecke zum Strand gab.

„Das ist total schön hier“, rief Heike, die ihre Eindrücke kundtun musste. Sie war von dem bisher Gesehenen völlig begeistert.

„Aber wenn wir gleich die Ostsee sehen, dann ist es bestimmt erst richtig toll“, erwiderte Karsten, dem die Ungeduld anzumerken war.

„Wir sind spätestens in fünf Minuten da“, versprach ihnen ihr Vater.

So war es dann auch. Erfreulicherweise waren auf dem Parkplatz noch mehrere Parkmöglichkeiten frei, denn es war erst gegen zehn Uhr und wohl für Langschläfer unter den Urlaubern zu früh.

Deshalb hatte Andreas mit dem Parken kein Problem.

Nachdem sie ihre Badesachen aus dem Kofferraum genommen und Karsten sich mit seiner Luftmatratze, auf die er unter gar keinen Umständen verzichten wollte, ausgerüstet hatte, machten sie sich auf den Weg zum Strand.

Sie überquerten den Deich. Von hier führte ein schmaler Sandweg hinab zum Strand. Simone blieb einen Moment stehen und blickte gebannt auf das Meer.