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Tragödie in Graubünden Der Fund eines toten Neugeborenen erschüttert die Bewohner des Val Calanca – und in dem abgelegenen, wild-ursprünglichen Bündner Tal ist von einem auf den anderen Tag nichts mehr, wie es war. Der junge Ermittler Flurin Albertini und sein Team von der Kantonspolizei Graubünden nehmen Feriengäste, Zugezogene und Alteingesessene ins Visier. Nach und nach tun sich immer tiefere menschliche Abgründe vor ihnen auf. Doch als immer mehr Details ans Licht kommen, erscheint die Unglücksnacht plötzlich in einem ganz neuen Licht.
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Seitenzahl: 291
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Tina Schmid, geboren 1984 im Zürcher Oberland, schrieb ihre ersten Geschichten bereits als Kind. Das Schreiben begleitet sie in ihrer Tätigkeit als Primarlehrerin und insbesondere im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache. Sie lebt seit über zehn Jahren im Herzen der Stadt Zürich. Immer wieder entflieht sie dem Stadtleben und fährt ins ruhige Val Calanca im Kanton Graubünden, welches den Schauplatz für ihren ersten Kriminalroman bietet.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus Dirk Wustenhagen/Arcangel.com, picture alliance/KEYSTONE|ARNO BALZARINI
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Karte: Kurt Schmid
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-809-2
Originalausgabe
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Für Erika und Kurt Schmid. Dank euch habe ich das Val Calanca kennen- und lieben gelernt.
Ganz sorgfältig wurde es ins Wasser gelegt. Trotzdem dauerte es nur wenige Augenblicke, bis die Strömung das Kind verschlang.
Rasch zogen sie am Himmel vorbei, die Wolken, deren Formen sich von einem Augenblick zum nächsten komplett wandeln konnten. Es musste am starken Talwind liegen, der hier jeden Tag ab der Mittagszeit von Süden nach Norden durch das enge Val Calanca blies. Sie lag auf einem grossen, flachen Stein unten an der Calancasca und genoss eine wohlverdiente Pause. Die tiefen, ausgeschliffenen Becken luden trotz des eiskalten Wassers zum Baden ein, und sie bereute es, ihr Badekleid nicht eingepackt zu haben. In der letzten halben Stunde hatte sie den Wildwasserfluss in all seinen Facetten kennengelernt. Tiefe Schluchten mit tosenden Wasserfällen hatten sich mit gut zugänglichen Uferpassagen mit niedrigem Wasserstand abgewechselt. Sie war begeistert. Den Talboden von unten nach oben zu durchqueren, war das Ziel ihrer heutigen Wanderung.
Sie war allein unterwegs, Daniel mochte sie nicht begleiten. Er fühle sich nicht wohl, hatte er gemeint, vielleicht der Magen, etwas Falsches gegessen. Sie hatte genickt, obwohl sie wusste, dass die Gründe anderswo lagen. Das taten sie meistens. Eine seltsame Stimmung lag zwischen ihnen, seit sie vor zwei Tagen angekommen und in das Häuschen eingezogen waren. Sie fragte, er schwieg. Es war ihr daher ganz recht, dass sie das Tal heute ohne ihn erkunden konnte. Es war bereits Nachmittag, ihr Tempo war zügig gewesen, und sie hatte sich fast dazu zwingen müssen, eine kurze Pause einzulegen und einen Moment durchzuatmen.
Sie setzte sich auf und suchte in ihrem Rucksack nach der Karte. Sie befand sich zwischen den Dörfern Arvigo und Selma. Mit dem Finger fuhr sie den Weg nach. Er würde sie weiter dem Fluss entlang und nach einem Zwischenstück auf der Landstrasse bis nach Rossa bringen, dem hintersten Dorf im Tal. Sie sah auf die Uhr. Das letzte Postauto, das sie wieder zurückbringen würde nach Buseno, fuhr in zwei Stunden. Sie sollte aufbrechen.
Obwohl sie in Winterthur, im Flachland, aufgewachsen war, war ihr das Bergwandern in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater war Bergführer, und während ihre Schulfreundinnen ans Meer gefahren waren, war sie mit ihrer Familie von Hütte zu Hütte gewandert: im Alpstein, im Engadin oder auch mal im Berner Oberland. Manchmal hatte sie diese endlosen Wanderungen langweilig gefunden. Gleichzeitig war sie fasziniert gewesen von steilen Felswänden und tiefen Abgründen und hatte sich gefreut, sobald der Weg schmaler und steiniger und die Abgründe sichtbarer geworden waren. Sie hatte das freudige Kribbeln gemocht, das sich dann in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ihr Vater hatte bewusst versucht, diese Nervenkitzel in die Touren einzubauen, um sie und ihren Bruder bei Laune zu halten.
Schon als Kind war sie schnell unterwegs gewesen, um als Erste die spektakuläre Aussicht zu geniessen oder um die Anstrengung rasch hinter sich zu bringen. Diese Angewohnheit hatte sie bis heute beibehalten. Langsames Wandern machte sie unruhig, und es fiel ihr schwer, auch wenn sie es immer wieder versuchte, um ihre Begleiter nicht zu sehr zu verärgern. Heute spielte dies keine Rolle. Sie stand auf, warf sich den Rucksack über die Schultern und fand schnell in ihren Rhythmus zurück.
Den Blick auf den Waldboden gerichtet, marschierte sie vorwärts. Keine Menschenseele begegnete ihr, was einer der Gründe war, warum sie sich in diesem Tal schon bei ihrem ersten Besuch vor einem Jahr so wohlgefühlt hatte.
Es dauerte nicht lange, und der Lauf der Calancasca beruhigte sich, und der dichte Nadelwald wich einer sanften Wiesenlandschaft. Lea durchquerte Selma mit dem Dorfkern auf der einen und einer Pizzeria sowie der Seilbahnstation auf der anderen Seite und folgte weiter dem Wasser. Viele Birken mit Stämmen dünn wie Streichhölzer säumten das Ufer. Eine ältere Frau mit Hund, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, spazierte an ihr vorbei und grüsste murmelnd. Immer mehr Wolken türmten sich auf, der Himmel war jetzt fast vollständig bedeckt. Vorsorglich zog Lea die Regenjacke an. Sie genoss den Duft der frisch gemähten Wiese und dachte einen kurzen Moment an Daniel. Was er wohl gerade tat? Sie widerstand dem Drang, ihr Handy hervorzuholen.
Der Wanderweg lotste sie am Rande der Strasse entlang bis zu einer Postautohaltestelle. Gleich daneben führte eine Brücke in das nächste Dorf. Die Tafel auf der anderen Brückenseite bestätigte ihre Vermutung: Cauco. Obwohl die Sonne nicht mehr schien, war Leas Rücken durchnässt und ihr Gesicht von einem feinen Schweissfilm bedeckt. Die Temperaturen waren in diesem Spätsommer immer noch aussergewöhnlich hoch. Eine Abkühlung konnte nicht schaden. Gleich hinter der Brücke war die Böschung flach, und sie kam mühelos ans Wasser. Sie zog ihre Jacke aus, tauchte erst ihre Hände, dann ihre ganzen Arme ins Wasser und genoss das Prickeln auf der Haut. Dann benetzte sie den Nacken. Als sie sich umdrehen und zurück zum Weg klettern wollte, blieb ihr Blick an den Steinen im Wasser hängen. Etwas hatte sich verfangen, schien sich aber losreissen zu wollen. Sie setzte ihren Fuss auf einen Stein und balancierte auf den nächsten, um zu dem weiss-rot schimmernden Etwas zu gelangen. Sie zog es aus dem Wasser. Ein Schnuller. «I love mama», stand in schwarzen Buchstaben darauf geschrieben. Das Wort «love» wurde durch ein rotes Herz ersetzt. Der Schnuller kam ihr winzig vor. Das fiel ihr auf, obschon sie sich mit Babys überhaupt nicht auskannte. Kinder hatten sie bisher nie interessiert. Erst seit in ihrem Umfeld immer mehr Babys geboren wurden, begann sie darüber nachzudenken. Aber obwohl sie selbst «im besten Alter» war, wie ihre Mutter zu sagen pflegte, konnte sie sich ein eigenes Kind beim besten Willen nicht vorstellen. Daniel war anderer Meinung. Immer wieder hatte er das Thema in ein Gespräch einfliessen lassen. Sie hingegen versuchte stets das Thema zu wechseln. Vermutlich hatte seine Gereiztheit damit zu tun. Er konnte ihre Entscheidung nicht akzeptieren.
Was hatte ein Schnuller in einem Bergfluss zu suchen? Sie legte ihn auf einen grösseren Stein am Ufer. Besser, sie wurde ihn schnell wieder los. Ihre Gedanken drehten sich aber nicht lange um den Fund. Sobald sie sich erneut in Bewegung setzte, fiel ihr Blick auf die riesige, überhängende Felswand am Dorfrand von Cauco. Solche Gegensätze faszinierten sie sehr. Die Grösse und Wucht des Felsens und daneben die Siedlung.
Als sie ihr Handy aus dem Rucksack fischte, um ein Foto zu machen, sah sie die Nachricht von Daniel.
«Alles gut bei dir? Melde dich doch mal. D.»
Wann hatte er ihr das letzte Mal etwas Liebevolles oder sogar Zärtliches geschrieben? Sie konnte sich nicht erinnern.
«Ja», tippte sie und verstaute das Handy wieder im Seitenfach des Rucksacks.
Heftiger Regen setzte ein. Sie schaute auf die Uhr. Etwas mehr als eine Stunde blieb ihr noch. Würde es reichen, das Postauto in Rossa zu erwischen? Sie wusste nicht mehr genau, wo sie sich befand, wollte aber nicht auf der Karte nachsehen. Diese würde nur nass werden. Weit war sie seit Cauco noch nicht gegangen. Sie würde umdrehen und sich im Dorf nach einem Restaurant oder Unterstand umsehen. Sie sässe im Trockenen und würde das Postauto nicht verpassen. Rossa konnte sie sich ein anderes Mal ansehen.
Tatsächlich fand sie nach kurzer Zeit eine kleine Pension, zu der auch ein Restaurant gehörte. «Casa Stella», las sie auf einem rostigen Schild.
Der Geruch von starkem Kaffee stieg ihr in die Nase. Sie freute sich auf eine Tasse. Abgesehen von zwei älteren Männern, die an einem runden Tisch hockten, war sie der einzige Gast. Bei einer freundlichen älteren Frau bestellte sie in holprigem Italienisch einen Kaffee. Die beiden Männer musterten sie wieder und wieder, was ihr zunehmend unangenehm wurde. Erst als ihr der Kaffee serviert wurde, kehrten sie zu ihrem Gespräch zurück und beachteten sie nicht weiter. Mal meinte sie Schweizerdeutsch zu hören, mal klang es eher nach der italienischen Sprachmelodie. Sie verstand gar nichts und zwang sich, nicht mehr hinzusehen. Sie liess ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Einrichtung war schlicht und hatte so gar nichts, was man in einer traditionellen Dorfbeiz erwarten würde. Statt gemusterter Tischdecken standen Sträusschen frischer Blumen in schmalen Vasen auf den Tischen. Jemand gab sich viel Mühe, dachte sie, als die Stimmen am Nebentisch plötzlich lauter wurden. Die Männer waren aufgebracht.
«Incinta», hörte sie mehrmals, ohne die Bedeutung zu verstehen.
Sie nahm sich vor, das Wort im Wörterbuch nachzuschlagen, sobald sie wieder zurück war. Beim Gedanken an das Rustico wurde ihr warm ums Herz. Sie dachte an Daniel. Sie würde heute Abend einen Schritt auf ihn zugehen. Ihm zeigen, dass doch eigentlich alles gut war zwischen ihnen. Sie könnte etwas Feines kochen oder ihn mit einer Massage überraschen.
Das Geld für den Kaffee legte sie auf den Tisch, stand auf, verabschiedete sich und trat in den Regen hinaus. Es regnete weniger stark, als sie an der Haltestelle «Cauco ponte» stand. Eine ältere Frau sass auf einer Mauer. Andere Menschen waren keine zu sehen. Kurze Zeit später stiegen sie beide ins Postauto. Bei der Station «Botteghe», der Häusergruppe, die zum Dörfchen Buseno gehörte, stieg sie aus. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, und es liess sich sogar die Sonne hinter den Wolken erahnen. Zwei Esel und ein Pony weideten auf der Wiese neben den Häusern und machten sich lautstark bemerkbar.
Lea sog den Duft von nassem Asphalt in die Nase. Zügig ging sie dem Strässchen entlang, das sie zu ihrer Unterkunft und zu Daniel führte. Während des Aufstiegs sah sie auf den «Lagh de Buseno», einen Stausee unterhalb des Dorfes, hinunter.
Als sie eintrat, war es dunkel im Häuschen, obwohl es erst früher Abend war. Still war es auch. Der Geruch von frischer Minze lag in der Luft. Sie zog ihre nassen Kleider aus, hängte sie an die Garderobe und streckte den Kopf erst in die Küche und dann in das angrenzende Wohnzimmer. Daniel lag zusammengerollt auf dem Sofa und schien zu schlafen. Auf dem Tischchen stand eine Teetasse. Eine Bananenschale lag daneben. Sie ging in die Knie und küsste Daniel auf die Stirn. Nur langsam gab er ein seufzendes Geräusch von sich und öffnete die Augen.
«Schon so spät?», fragte er und versuchte im Halbdunkel die Zeit auf seiner Armbanduhr zu entziffern.
«Erst kurz nach halb acht», antwortete sie und fragte ihn nach seinem Bauch.
«Immer noch etwas flau im Magen», antwortete er.
Sie schlug ihm vor, etwas Kleines zu kochen, und er nickte dankbar, zeigte mit den Fingern aber an, dass er nur eine kleine Portion essen werde. Sie ging in die Küche, riss das Fenster auf, machte so viel Licht wie möglich und füllte einen Topf mit Wasser. Sie hatte Lust auf eine grosse Portion Spaghetti al pomodoro.
«Ich gehe noch mal kurz los, um Käse zu kaufen», rief sie in Richtung Wohnzimmer, ehe sie das Häuschen verliess. Der Laden hinter der Kirche war nach Bedarf geöffnet, solange Gäste im angrenzenden Restaurant «Claro» sassen.
Lea fand, was sie suchte. Als sie darauf wartete, dass sie beim Wirt bezahlen konnte, hörte sie zwei Männer diskutieren. Oder stritten sie? Die Stimmen kamen vom Gastraum her. Die beiden sprachen schweizerdeutsch, und zwar so laut, dass sie jedes Wort vernehmen konnte.
«Wie kann eine Mutter ihr eigenes Kind töten? Und dann auf so brutale Weise», sagte die eine Stimme.
«Ich dachte mir schon, dass mit diesem Mädchen etwas nicht stimmt», erwiderte der andere Mann.
Dann schwiegen beide.
«Che cosa desidera?», fragte der Wirt, der inzwischen in den Ladenbereich gekommen war. Er sprach langsam, und sie fragte sich, warum man ihr sofort ansah, wie miserabel ihr Italienisch war. Sie murmelte etwas Unverständliches, hielt ihm mit gesenktem Blick eine Zehnernote entgegen und verliess peinlich berührt, fast fluchtartig den Laden. Erst draussen fiel ihr ein, dass sie gern noch nach einer deutschsprachigen Zeitung gefragt hätte, entschied sich aber dagegen, noch einmal zurückzugehen.
Daniel war wieder eingeschlafen. Allmählich begann sie sich Sorgen zu machen. Vielleicht hatte er sich eine Grippe eingefangen. Sie schöpfte sich eine grosse Portion Spaghetti in einen Teller und setzte sich an den Küchentisch. Dann kramte sie ihr Handy aus der Jackentasche und scrollte durch die Newsseiten. Als sie den Teller – ohne es zu bemerken – fast leer gegessen hatte, stach ihr eine Schlagzeile ins Auge: «NEUGEBORENES TOT IN FLUSS AUFGEFUNDEN».
Ihre Hand zitterte, als sie den Artikel in der Boulevardzeitung öffnete und hastig las.
«Im abgelegenen Bündner Südalpental Val Calanca, bei Cauco, wurde gestern Montag ein nur wenige Tage altes Baby von einer Spaziergängerin im Fluss gefunden. Es konnte nur noch tot geborgen werden …»
***
Sie verbarg das Gesicht im Stoff ihres T-Shirts. Es roch nach ihm. Süsslich und mild. Die vielen Tränen durchnässten den Stoff. Sie lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Noch immer spürte sie die Schmerzen wie Messerstiche in ihrem Unterleib. Es war ihr egal. Es spielte keine Rolle mehr. Nichts spielte mehr eine Rolle.
***
In Chur klingelte das Telefon pausenlos. Seit der kurzen Medienkonferenz vom frühen Morgen waren bei der Bündner Kantonspolizei zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen. Flurin Albertini, der leitende Ermittler, hatte sich noch keinen Überblick verschaffen können. Klar war aber, dass wie immer viel Unbrauchbares dabei war. Dies kostete wertvolle Zeit, trotzdem kam es immer wieder vor, dass die wichtigsten Hinweise zur Aufklärung eines Verbrechens aus der Bevölkerung kamen. Aus diesem Grund hatte er sich für die öffentliche Medienkonferenz entschieden, obwohl erst ein Tag seit dem Leichenfund vergangen war. In einem Tal mit einer so geringen Bevölkerungsdichte, so schien es ihm, kriegten die Leute mit, was um sie herum passierte. Darauf setzte er seine Hoffnung. Tötungsdelikte und andere Gewaltverbrechen waren sein tägliches Brot. Es geschah aber sehr selten, dass Kinder als Opfer zu beklagen waren. Er musste unwillkürlich an seine Tochter denken, die erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen war. Flurin rieb sich mit beiden Händen fest über das Gesicht.
«Ich habe vielleicht was», rief Jon von seinem Schreibtisch aus.
Er hatte sein Headset in den Nacken gelegt und winkte Flurin zu sich. Jon Meier hatte erst vor Kurzem auf der Abteilung für Kapitaldelikte angefangen, nachdem sein Vorgänger seine Stelle aufgrund einer persönlichen Krise aufgegeben hatte. Flurin hatte mit dessen Abgang zu kämpfen, weil er sehr gut mit ihm zusammengearbeitet hatte. Diesen Unmut hatte Jon anfangs zu spüren bekommen, was Flurin inzwischen leidtat. Er hatte schnell gemerkt, dass Jon äusserst loyal und zuverlässig war.
«Ein Mann, der im Tal wohnt, hat angerufen und gemeint, er habe am Dienstag, also genau vor einer Woche, eine schwangere junge Frau in Begleitung eines älteren Mannes in Cauco in ein Auto steigen sehen.»
Flurin bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er fortfahren solle.
«Der Anrufer heisst Giorgio Rizzo und stammt aus dem Calancatal. Seit zehn Jahren wohnt er in Buseno, aufgewachsen ist er in Cauco. Er arbeitet als Taxifahrer in der Region Moesa.»
«Was hat er am Dienstag in Cauco gemacht?», fragte Flurin ungeduldig.
«Er besucht dort regelmässig seine Mutter, die verwitwet ist und alleine in ihrem Haus lebt. Der Vorfall sei ihm seltsam vorgekommen, weil man – abgesehen von Wanderern – selten junge Leute im Tal sehe und weil die Frau ihm doch sehr jung vorgekommen sei für eine Schwangerschaft. Er hat die ganze Zeit von una ragazza, einem Mädchen, gesprochen», fügte Jon hinzu.
«Wie haben die beiden auf ihn gewirkt? Fühlte sich die Frau bedroht? Gab es Anzeichen von Gewalt?»
Jon überflog seine Notizen. «Der Mann habe das Mädchen am Oberarm festgehalten und ins Auto gedrängt, wobei er seinen Kopf nach unten gedrückt habe. Ausserdem meinte er, das Mädchen schluchzen gehört zu haben. Er ist sich aber nicht sicher, weil es wegen einer Strassenbaustelle relativ laut war.»
Flurin seufzte. «Wie schätzt du seine Glaubwürdigkeit ein?»
Jon dachte nach und erwiderte: «Was er erzählt hat, scheint mir plausibel. Meine Fragen konnte er ohne Zögern beantworten. Und er wirkte nicht wie einer, der um jeden Preis Aufmerksamkeit erhaschen will. Allerdings müsste ich ihm persönlich gegenüberstehen, um ihn besser einschätzen zu können.»
«Kannst du ihn gleich morgen besuchen? Wir fahren zusammen ins Tal, und ich werde mich ebenfalls umhören. Eine Frage habe ich noch: Wie kann sich dieser Herr Rizzo so sicher sein, dass die Frau schwanger war?»
Jon lachte laut auf. «Bist du nicht gerade erst Vater geworden und weisst, wie eine hochschwangere Frau aussieht?»
Flurin schnitt eine Grimasse und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und bat Jon, ihm seine Notizen zu weiteren potenziell interessanten Anrufen auf den Schreibtisch zu legen, bevor er Feierabend machen würde. Jon nickte. Flurin schaute auf die Uhr. Es war halb zehn.
***
Obwohl ihr Herz wie wild klopfte, entschied sie sich, Daniel nicht zu wecken. Seine Stirn glühte, und als sie näher trat, sah sie Schweissperlen auf seiner Stirn. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, führten sie aber immer wieder an denselben Ort: an den Fluss, wo sie den Schnuller im Wasser hatte treiben sehen. Das konnte kein Zufall sein. Dann fiel ihr ein, dass sie ihn angefasst hatte, ja sogar aus dem Wasser gezogen. Ihr Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Dann erinnerte sie sich an die Gesprächsfetzen, die sie mitgehört hatte, und suchte mit ihrem Laptop im Internet nach der Bedeutung von «incinta». Einen Augenblick später las sie die deutsche Übersetzung: schwanger. Was sollte sie tun? Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste sich bei der Polizei melden. Als sie ihr Handy aus der Küche holte, sah sie auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Trotzdem öffnete sie noch einmal den Zeitungsartikel und wählte die angegebene Nummer der Kantonspolizei Graubünden.
***
Sie musste geschlafen haben, denn es war inzwischen stockdunkel geworden im Raum. Sie versuchte sich aufzurichten, hielt sich aber sofort den Bauch und stöhnte. Das Atmen fiel ihr schwer. Trotzdem setzte sie sich langsam auf, drehte sich um und kroch auf allen vieren zum Tisch, um sich an ihm hochzuziehen. Mit grosser Anstrengung schaffte sie es, sich auf die Holzbank sinken zu lassen. Wie viel Zeit war vergangen, seit sie angekommen war? Ein paar Tage oder nur eine Nacht? Sie wusste es nicht. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Trotz der starken Schmerzen meldete sich noch ein anderes Gefühl in ihrem Bauch. Wollte sie weiterleben, musste sie trinken und etwas essen. Hatte sie noch das Recht dazu? Der Wand entlang tastete sie sich in den Vorraum mit der Kochnische und dem Vorratsschrank. Wie erwartet fand sie dort, wonach sie suchte.
***
Jon war gerade nach Hause gegangen. Er hingegen sass noch immer an seinem Schreibtisch und versuchte auf einem grossen Blatt festzuhalten, was sie bisher wussten. Viel war es nicht. Er gähnte laut und dehnte die Arme über den Kopf. Sollte er nach Hause gehen? Er könnte Maja vielleicht einen Moment Ruhe schenken und sich um Mila kümmern. Er sah auf die Uhr und verwarf den Gedanken sofort wieder. Die beiden würden längst schlafen. Jons Telefonnotizen wollte er sich noch vornehmen oder sie zumindest kurz überfliegen. Als er nach dem Notizblock griff, klingelte das Telefon.
Kaum hatte ihm die Frau ihre Beobachtung mitgeteilt, war er wieder hellwach.
Flurin hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als der Wecker klingelte. Er brachte ihn schnell zum Schweigen, während er nach seiner Liebsten tastete. Ihre Bettseite war leer. Er setzte sich auf den Bettrand, streckte sich, gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann ging er durch den Flur ins Wohnzimmer und sah Maja auf dem Sofa schlafen. Sie lag auf dem Rücken. Mila hatte sie sich mit einem Tuch auf den Bauch gebunden. Sie schlief ebenfalls. Ein schönes Bild. Ihm stiegen Tränen der Rührung in die Augen. Leise schlich er sich ins Bad, duschte kalt und beschloss, seinen Kaffee im Büro zu trinken, um die beiden nicht zu wecken.
Obwohl es erst kurz nach sieben war, herrschte an diesem Mittwoch im Büro Hochbetrieb. Er arbeitete mit lauter Frühaufstehern zusammen. Wie in einem Ameisenhaufen wanderten die Mitarbeitenden umher und tauschten sich angeregt aus. Als Flurin eintrat, hielten sie kurz inne und blickten ihn erwartungsvoll an.
«Wir treffen uns um halb neun zu einer Lagebesprechung. Bitte bringt eure bisherigen Überlegungen schriftlich mit. Danke.»
Es war Flurin wichtig, klare Anweisungen zu geben und sich trotzdem nicht als Chef aufzuspielen. Er war der Überzeugung, dass in einem wertschätzenden Klima besser gearbeitet würde. Bei Jon hatte er dieses Ziel kurzfristig aus den Augen verloren, und sein Handeln war viel zu oft von seinen Emotionen bestimmt worden. Wie froh war er, dass sich das gelegt hatte. Immer wieder musste er sich eingestehen, dass er ein harmoniebedürftiger Mensch war.
Die Zeit bis zur Besprechung nutzte er für Recherchen. Er wollte herausfinden, wie die Rechtslage für minderjährige Schwangere aussah und welche Unterstützungsmöglichkeiten ihnen zustanden. Auch wenn der Zusammenhang zwischen der jungen Frau und dem toten Baby noch nicht geklärt war, schien ihm die Spur wichtig.
Er las sich durch die Paragrafen und stiess dann auf einen Artikel zur Babyklappe, die vor wenigen Jahren in Davos eingerichtet worden war. Eine solche gab es auch in Bellinzona. War es tatsächlich möglich, dass die Mutter ihr Kind selbst getötet hatte?
Er nahm den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der Rechtsmedizin.
«Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen», erläuterte Beatrice Linder, kühl wie immer.
«Das habe ich angenommen. Kannst du mir bitte trotzdem sagen, was ihr bereits wisst? Auch Vermutungen oder Annahmen könnten von Bedeutung sein. Es eilt», sagte Flurin mit Nachdruck.
«Eilen tut es immer», bemerkte Beatrice spitz und fuhr fort: «Das Kind war zwischen zwei und drei Stunden alt, als es ins Wasser gelegt wurde. Im Wasser lag es ungefähr zehn Stunden.»
«War es schon tot, als es abgelegt worden ist?»
«Mit Sicherheit können wir das nicht sagen. Der Grad der Unterkühlung und der allgemeine Zustand der Leiche schliessen aber nicht aus, dass es noch gelebt hat.»
Flurin spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er sah Mila vor sich, wie sie auf dem Bauch ihrer Mutter schlief. Er schwieg, sodass Beatrice weitersprach: «Das Kind wurde unsachgemäss entbunden, die Nabelschnur mit einem rostigen Messer oder einer Schere durchtrennt. Es war übrigens ein Mädchen.»
***
Sie wachte auf, weil Daniel die Toilettenspülung betätigte. Sie hatte lange nicht einschlafen können, war dann in einen traumreichen Schlaf gefallen. Jetzt waren die Bruchstücke zu undeutlich, um sie wieder zusammensetzen zu können. Sie stand auf und ging in die Küche, wo Daniel Wasser aufsetzte.
«Na du, wie geht’s dir?», fragte sie und streichelte ihm über den Rücken. «Hat der Schlaf geholfen?»
«Ein bisschen. Aber ich habe Gliederschmerzen, und mein Kopf platzt gleich.»
Sie holte den Fiebermesser aus dem Bad. «Du gehörst ins Bett», sagte sie bestimmt und nahm ihn an der Hand.
«Erzählst du mir noch, wo dich deine gestrige Wanderung hingeführt hat?», fragte er, nachdem er sich unter die noch warme Bettdecke gelegt hatte.
Sie erzählte ihm in wenigen Sätzen von der Wanderung und dafür umso ausführlicher von ihrer Entdeckung im Wasser, dem Zeitungsartikel und ihrem Anruf bei der Polizei. Daniel hörte aufmerksam zu. Er wirkte besorgt.
«Was haben die gesagt?»
«Sie kommen heute Nachmittag vorbei, um mir weitere Fragen zu stellen. Und ich soll ihnen die Stelle am Fluss zeigen.»
Daniel gab ein zustimmendes Geräusch von sich und schlief schnell ein.
***
«Warum hast du die verdammte Schlampe noch nicht gefunden?»
Die Stimme dröhnte so laut, dass er das Handy vom Ohr weghalten musste.
«Ich werde sie bald finden. Weit kann sie schliesslich in ihrem Zustand nicht gekommen sein», beschwichtigte er und versuchte so überzeugend wie möglich zu klingen und sich seine Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Diese Bemühung verlief ins Leere.
«Idiota! Und wenn sie zu den Bullen rennt?»
«Das wird sie nicht tun. Sie hat zu grosse Angst.»
«Ich warne dich –»
Er drückte den Anruf weg.
Die ganze Umgebung hatte er abgesucht. Keine Spur von ihr. Es war ihm ein Rätsel, wie sie trotz ihres Zustandes davongekommen war. Sollte er jemanden einweihen? Zu zweit oder zu dritt wäre die Chance um ein Vielfaches grösser, sie zu finden. Bevor die Polizei es tat. Aber er war sich nicht sicher, wem er trauen konnte. Lieber ging er noch einmal allein los. Er nahm seine Jacke vom Stuhl und trat hinaus.
***
Die Besprechung begann pünktlich. Alle waren versammelt. Jon, der Flurin erwartungsvoll anblickte; Alois Küng und Reto Gut, die beiden Ermittler mit langjähriger Erfahrung im Bereich Tötungsdelikte. Flurin hatte sie hinzugezogen, weil er wusste, dass möglichst viel Wissen für diesen Fall nötig war. Eigentlich waren sie seit einigen Monaten in der Abteilung für Sexualdelikte tätig. Wegen der Aussergewöhnlichkeit dieses Falles konnten sie aber temporär in ihre alte Abteilung zurückkehren. Ebenfalls am Tisch sassen Maria Rossi, die nur im Innendienst arbeitete und so etwas wie die gute Fee im Büro war, sowie Beatrice Linder, die Fachärztin für Rechtsmedizin. Auch der zuständige Kriminaltechniker Fritz Rüther war anwesend.
«Danke, dass ihr euch alle sofort in den Fall reingehängt habt», eröffnete Flurin die Sitzung. «Ich möchte mir zuerst einen Überblick verschaffen, was wir bereits haben, dann die weiteren Schritte planen und die dazugehörigen Aufgaben verteilen.» Er schaute in die Runde, sein Blick blieb auf Jon haften. «Beginnst du bitte?»
«Es sind genau zweiundsiebzig Anrufe aus der Bevölkerung eingegangen. Ohne Maria hätte ich das nicht geschafft.» Er lächelte sie dankbar an. «Wie immer waren viele dabei, die wir sofort abhaken konnten. Übrig geblieben sind fünf Anrufe, die wir als potenziell relevant eingestuft haben.»
Er berichtete von Giorgio Rizzo und dessen Beobachtungen und vom Anruf einer jungen Frau namens Lea Odermatt, den Flurin entgegengenommen hatte.
«Drei Anrufe betrafen ein türkisfarbenes Auto mit Zürcher Kennzeichen, das an zwei verschiedenen Orten gesichtet worden war. Es fiel vor allem wegen der auffälligen Farbe und den verdunkelten Scheiben auf. Das Auto war sowohl am Tag vor dem Leichenfund in Sta. Maria hinter der Kirche als auch drei Tage zuvor in Arvigo gesehen worden. Dort sei der Fahrer ausgestiegen und habe anschliessend die Seilbahn nach Braggio bestiegen. Die Personenbeschreibung ist allerdings dürftig, da es schon am Eindunkeln gewesen war. Ein Mann mittleren Alters, mit Bart und gewöhnlicher Statur sowie dunkler Kleidung.»
«Ein Normalo», bemerkte Alois zynisch.
Er bekam murmelnde Zustimmung. Jon trank einen Schluck Wasser. Alle hörten aufmerksam zu. Nur das häufige Husten von Alois unterbrach immer wieder die konzentrierte Atmosphäre.
«Was sind deine nächsten Schritte?», fragte Flurin.
«Ich werde heute Herrn Rizzo und Frau Odermatt besuchen. Auch bei den Personen, die den Wagen beobachtet haben, habe ich mich für heute angekündigt.»
«Alois wird dich begleiten, dann habt ihr die Kapazität, um noch weitere Anwohner zu befragen», sagte Flurin.
Jon und Alois nickten.
Beatrice Linder informierte als Nächste. Das meiste hatte sie Flurin bereits am Telefon mitgeteilt. Neu war die Erkenntnis, dass das Mädchen mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht immer nackt gewesen war seit seiner Geburt. Beatrice hatte winzige Faserrückstände unter den Fingernägeln des Babys gefunden.
Es erstaunte Flurin immer wieder, wie viele Schlüsse man aus der Untersuchung eines toten Körpers ziehen konnte.
«Aufgrund meiner Untersuchungen am Leichnam müssen wir von einem Tatzeitpunkt zwischen Sonntag einundzwanzig Uhr und Montag ein Uhr ausgehen. Das Kind wurde ins Wasser gelegt, nicht geworfen, kleinere Hämatome stammen von den Steinen im Wasser.»
Es war allen anzusehen, dass sie sich liebend gern die Ohren zugehalten hätten. Auch Flurin ging es so. Durch seine starke Fokussierung auf mögliche Schlussfolgerungen gelang es ihm aber, nicht an seine Tochter zu denken.
«Todesursache?», fragte er.
«Hypoxie», antwortete Beatrice knapp.
Nicht nur Flurin stand ein Fragezeichen ins Gesicht geschrieben.
«Und auf Normaldeutsch?», fragte Alois.
Beatrice verdrehte die Augen. «Das Kind ist erstickt.»
Einen Augenblick lang war es ganz still im Raum. Dann sagte sie: «Etwas habe ich noch. Das Mädchen ist auffallend klein. Es ist mindestens fünf Wochen zu früh geboren worden.»
Fritz Rüther hatte wenig zu berichten. Sein Team hatte gestern den Fundort untersucht, aber bisher keine brauchbaren Spuren gefunden. Verschiedene Fahrzeugspuren in näherer Umgebung befänden sich in der Analyse.
«Allerdings sind einige davon sicherlich den Bauern in der Umgebung und ihren Traktoren zuzuordnen. Wir klären das heute ab», sagte Fritz. «Blut haben wir keines gefunden, was bei der Strömung eines Bergflusses nicht verwunderlich ist. Zudem hat es gestern Nachmittag geregnet. Wir werden trotzdem nochmals hinfahren und unseren Suchradius ausweiten. Auch wollen wir die Böschung noch genauer untersuchen. Wenn man an dieser Stelle von der Dorfseite von Cauco her an den Fluss kommt, muss man die Böschung hinuntersteigen, um zum Wasser zu gelangen. Und natürlich müssen wir den Schnuller finden. Gestern haben wir nichts Derartiges gesehen. Die Frau meinte ja, sie hätte ihn auf einen Stein gelegt. Wir sollten das koordinieren, Jon. Gib mir Bescheid, wenn du mit ihr am Fluss bist.»
«Reto, ich möchte, dass du mit mir kommst», sagte Flurin.
«Erste Priorität ist es, die Mutter zu finden. Aufgrund der unsachgemässen Entbindung wird sie in schlechtem Zustand sein. Falls sie noch lebt.»
Er schwieg einen Moment.
«Ich habe für die Suche Hilfe von der Kantonspolizei Tessin angefordert. Die Einsatzkräfte aus Bellinzona kontrollieren das Gebiet ab der Kantonsgrenze in Roveredo. Zusätzlich wird sich Maria durch die Vermisstmeldungen der letzten Monate ackern. Vielleicht ist etwas aktenkundig. Ich bitte euch zu bedenken, dass die Mutter auch als mögliche Täterin in Frage kommen könnte. Ich will mich heute in den Dörfern des Tales umschauen, mir den Fundort genau ansehen und insbesondere mit den Hausbewohnern in Cauco sprechen, die eigentlich einen guten Blick auf die Brücke gehabt haben müssten. Nachmittags habe ich ein Treffen mit dem Gemeindepräsidenten der Gemeinde Calanca vereinbart.»
***
Die Hütte befand sich oberhalb von Landarenca im Wald. An die Fahrt von Selma mit der Seilbahn hinauf in das kleine Dorf konnte sie sich kaum erinnern. Die Schmerzen hatten ihr den Verstand geraubt. Auch wie sie es von der Bergstation zur Hütte geschafft hatte, wusste sie nicht. Sie schien sich den Weg eingeprägt zu haben. Wie weit würde er gehen, um sie zu finden? War sie hier sicher? Wo sollte sie sonst hin? Sich zu retten, das hatte ihr Körper ganz allein entschieden. Jetzt war sie hier und trotzdem verloren. Das Bild hatte sich eingebrannt. Das winzige, blutige, schreiende Bündel. Sie spürte eine nie da gewesene Leere in sich.
***
Lea tigerte durch das Häuschen. Kaum zwang sie sich, sich zu setzen, stand sie schon wieder auf. Polizeibesuch hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie gehabt. Warum nur hatte sie den Schnuller berührt? Vielleicht schaute sie zu viele Krimis im Fernsehen. Es war unwahrscheinlich, dass die Polizei sie verdächtigen würde. Warum hatte der Mann am Telefon so überrascht geklungen, als sie von ihrer Beobachtung erzählt hatte? Hatten sie den Schnuller nicht gefunden? Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Sie würden erst nach dem Mittag kommen. Einen genauen Zeitpunkt hatte er nicht nennen können.
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Zuerst suchte er nochmals das ganze Dorf ab. Viele ganzjährig bewohnte Häuser gab es nicht. Er schloss aber aus, dass sie sich in einem von ihnen versteckt hielt, da sie dafür mit jemandem in Kontakt hätte treten müssen. Er konzentrierte sich auf die unbewohnten Häuser, auf Hausruinen, von denen es im Val Calanca viele gab, und auf Ställe und Scheunen. Es war nicht einfach, sich in den Dörfern zu bewegen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Auch wenn sie manchmal wie ausgestorben wirkten, wusste er, dass die Bewohner registrierten, was um sie herum passierte. Als Wanderer war er hier definitiv nicht bekannt. Seine Streifzüge fielen bestimmt auf. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, grüsste er freundlich auf Italienisch, was ihm aufgrund seiner Zweisprachigkeit problemlos gelang.
Bereits zwei Stunden war er unterwegs und inzwischen bis nach Selma gelaufen, und trotzdem hatte er noch immer keine Spur von ihr gefunden. Als er die Hauptstrasse überquerte, um in den Waldweg Richtung Landarenca einzubiegen, sah er einen Polizeiwagen von Arvigo herkommend. Er zog sich sofort hinter die nächste Hausecke zurück, obwohl er wusste, dass ihn dieses Verhalten womöglich nur verdächtiger machen würde. Der Wagen hielt nicht an.
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Als es an die Tür klopfte, stand Lea direkt hinter ihr und öffnete sofort. Den beiden Polizisten stand die Verwunderung ins Gesicht geschrieben. Sie hatten wohl mit der üblichen Wartezeit gerechnet. Der eine war jung und stellte sich mit Meier vor, der andere hiess Küng und war deutlich älter.
«Mein Freund ist krank und schläft im Nebenzimmer. Kommen Sie herein», sagte Lea und versuchte ihre Nervosität so gut wie möglich zu verbergen.
Sie deutete auf das Sofa und bot Kaffee an, den die beiden dankend annahmen.
«Sind Sie in den Ferien im Calancatal?», fragte der Jüngere, während sich der Ältere ungeniert im Wohnzimmer umsah.
«Ja, das Häuschen gehört den Eltern einer Arbeitskollegin. Wir sind am Sonntag angekommen und bleiben zwei Wochen.»
Sie schaute ihm in die Augen, um zu erfahren, ob ihm die Antwort reichte.
«Können Sie uns nochmals ganz genau erklären, wie es zu Ihrem Fund gekommen ist?», bat er weiter.
Er sah freundlich aus und machte einen vertrauenswürdigen Eindruck. Lea entspannte sich langsam. Sie erzählte, wie sie sich während ihrer Wanderung am Wasser erfrischt hatte und auf den Schnuller aufmerksam geworden war.
«Und dann?», fragte der ältere Polizist, dessen Namen sie bereits wieder vergessen hatte.
Sie zögerte kurz, da sie meinte, Misstrauen in seinen Augen erkannt zu haben.
«Ich habe ihn rausgefischt und auf einen flachen Stein am Ufer gelegt. Dann bin ich –»
Er unterbrach sie ungeduldig: «Warum haben Sie das getan?»
Mit dieser Frage hatte sie gerechnet, trotzdem hatte sie die Antwort, die sie sich zurechtgelegt hatte, vergessen. Sie stockte und musste den Satz zweimal beginnen, ehe sie ihn beenden konnte. «Ich dachte, dass ihn vielleicht jemand sucht. Die Stelle ist von der Brücke aus gut einsehbar. Ich weiss, das klingt komisch, und natürlich fand ich es seltsam, aber man macht das doch so mit Fundstücken.»
Sie merkte selbst, wie merkwürdig ihre Erklärung klang. Zu ihrem Erstaunen schienen sich die beiden aber vorläufig damit zufriedenzugeben. Jedenfalls fragten sie nicht mehr nach.
«Wissen Sie, um welche Uhrzeit Sie den Fund gemacht haben?», fragte Herr Meier.
Diese Frage konnte sie aufgrund ihres Blickes auf die Uhr ziemlich genau beantworten. Dann bat er sie, ihnen die Stelle am Fluss zu zeigen. Sie nickte und ging ins Schlafzimmer, um Daniel Bescheid zu geben. Er hatte bisher nichts vom Besuch mitbekommen.
«Soll ich dich begleiten?», flüsterte er.
«Nein, du bist krank. Ich schaffe das schon», sagte sie und drückte seine heisse Hand.
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