Vampire - Edgar Allan Poe - E-Book

Vampire E-Book

Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Vampire - Tödliche Verführer Blutsaugende Nachtgestalten, die seit Jahrhunderten die Köpfe der Menschen beschäftigen. Wie real sind sie? Lesen Sie die ersten Geschichten und Gedichte, die je über Vampire geschrieben worden sind, von Goethe, Kipling, Poe, Heine und anderen. Wir wünschen angenehmes Gruseln - und lassen Sie das Licht an. Null Papier Verlag

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Jürgen Schulze

Vampire

Tödliche Verführer

Jürgen Schulze

Vampire

Tödliche Verführer

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen Schulze 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-21-6

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Vam­pir - Meyers Kon­ver­sa­ti­ons-Le­xi­kon, 1888

Der Vam­pyr / Der Vam­pir (The Vam­py­re) - John Wil­liam Po­li­do­ri, 1816

Be­re­ni­ce - Ed­gar Al­lan Poe, 1835

Die Be­schwö­rung - Hein­rich Hei­ne, 1844

Die Blu­me des Bö­sen / Les Fleurs du Mal - Charles Bau­de­laire, ca. 1840

Der Vam­pir

Die Ver­wand­lung des Vam­pirs

Die Cal­vi aus: Ve­ne­zia­ni­sche No­vel­len - Franz Frei­herr von Gau­dy, 1838

He­le­na - Hein­rich Hei­ne, 1852

Die Braut von Ko­rinth - Jo­hann Wolf­gang von Goe­the, ca. 1797

Mo­ses Gold­farb und sein Haus aus »Ju­den­ge­schich­ten« - Leo­pold Rit­ter von Sa­cher-Ma­soch, 1878

Ba­stard aus »Aber die Lie­be« - Richard Deh­mel, 1893

Voll­mond­zau­ber (Ro­man) - Os­sip Schu­bin, 1899

Ers­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Das Ende des So­kra­tes - Aus­zug aus dem Ro­man »Der gol­de­ne Esel« (De asi­no au­reo / Me­ta­mor­pho­ses) - Lu­ci­us Apu­lei­us, 2. Jahr­hun­dert n. Chr.

Der Vam­pir (Ro­man) - Wła­dysław Sta­nisław Rey­mont, 1914

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Leo­no­re - Gott­fried Au­gust Bür­ger, 1773

In­dex

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Hor­ror bei Null Pa­pier

Vam­pi­re - Töd­li­che Ver­füh­rer

Fran­ken­stein

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Dra­cu­la

Das Bild­nis des Do­ri­an Gray

Der Go­lem

Ja­pa­ni­sche Geis­ter­ge­schich­ten

Die ver­ges­se­ne Welt

Das Ende der Welt

Hor­ror

und wei­te­re …

Vampir - Meyers Konversations-Lexikon, 1888

Vam­pir, nach dem Volks­glau­ben, na­ment­lich der sla­wi­schen, ru­mä­ni­schen und grie­chi­schen Be­völ­ke­rung der un­tern Do­nau­län­der und der Bal­kan­halb­in­sel, Geist ei­nes Ver­stor­be­nen, der des Nachts sein Grab ver­läßt, um Le­ben­den das Blut aus­zusau­gen, von dem er sich nährt. Da die­ser Aber­glau­be noch jetzt sehr ver­brei­tet ist und so­fort auf­tritt, wenn in den be­tref­fen­den Ge­gen­den ei­nem Fa­mi­li­en­mit­glied and­re schnell in den Tod nach­fol­gen oder hin­sie­chen, so hat man al­ler­lei Vor­sichts­maß­re­geln und Ge­gen­mit­tel, zu de­nen das Be­de­cken des Mun­des, das Mit­ge­ben von al­ler­lei Be­schäf­ti­gungs­mit­teln im Sarg so­wie na­ment­lich das Haupt­ab­schla­gen des wie­der­aus­ge­gra­be­nen To­ten und Durch­sto­ßen mit ei­nem Holz­pfahl ge­hört. In die­sem Wahn führt der Glau­be an Vam­pi­re häu­fig zu Lei­chen­schän­dun­gen und Fried­hof­sent­wei­hun­gen. Abar­ten des Vam­pirs sind: der Nach­zeh­rer der Mark, der Blut­sau­ger in Preu­ßen und der Gier­fraß in Pom­mern; die Wi­lis oder Wil­lis, vor der Hoch­zeit ge­stor­be­ne Bräu­te, die jun­gen Bur­schen er­schei­nen, sie zum end­lo­sen Tanz ver­lo­cken, bis sie tot hin­stür­zen. Alle die­se Sa­gen ha­ben sich wohl aus den klas­si­schen Ge­stal­ten der La­mi­en und Em­pu­sen (s. d.) ent­wi­ckelt. Dich­te­risch be­han­delt wur­de die Sage be­reits im Al­ter­tum von Phi­lo­stra­tus und Phle­gon von Tral­les (aus wel­chem Goe­the den Stoff zu sei­ner »Braut von Ko­rinth« ent­nahm), in neue­rer Zeit von By­ron so­wie in ver­schie­de­nen Opern und Bal­let­ten. Vgl. Ranft, Trak­tat von dem Kau­en und Schmat­zen der To­ten in Grä­bern (Leipz. 1734).

Der Vampyr / Der Vampir (The Vampyre) - John William Polidori, 1816

Es er­eig­ne­te sich, dass, mit­ten un­ter den Zer­streu­un­gen ei­nes Win­ters in Lon­don, in den ver­schie­de­nen Ge­sell­schaf­ten der ton­an­ge­ben­den Vor­neh­men ein Edel­mann er­schi­en, der sich mehr durch sei­ne Son­der­bar­kei­ten, als durch sei­nen Rang aus­zeich­ne­te. Er blick­te auf die lau­te Fröh­lich­keit um ihn her mit ei­ner Mie­ne, als kön­ne er nicht an der­sel­ben teil­neh­men. Nur das leich­te La­chen der Schö­nen schi­en sei­ne Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen, al­lein, es schi­en auch, als wenn ein Blick aus sei­nem Auge es plötz­lich hem­me und Furcht in die vor­her hei­te­re und un­be­fan­ge­ne Brust der Fröh­li­chen streue. Die­je­ni­gen, wel­che die­sen Schau­der emp­fan­den, konn­ten nicht an­ge­ben, wo­her er ent­ste­he; ei­ni­ge schrie­ben ihn dem fast see­len­lo­sen grau­en Auge zu, das, wenn es sich auf das Auge des an­dern rich­te­te, ob­schon an sich nichts Ein­drin­gen­des zu ha­ben, doch oft mit ei­nem Blick das in­ners­te Herz zu durch­boh­ren schi­en, und rich­te­te es sich auf die Wan­ge, so schi­en der Strahl wie Blei auf der Haut zu las­ten, ohne sie durch­drin­gen zu kön­nen. Sei­ner Son­der­bar­keit we­gen wur­de er in je­des Haus ein­ge­la­den; alle wünsch­ten ihn zu se­hen, und die­je­ni­gen, wel­che an leb­haf­te Auf­re­gung ge­wohnt wa­ren und nun die Last der Lan­ge­wei­le fühl­ten, freu­ten sich, ein We­sen um sich zu se­hen, wel­ches ihre Auf­merk­sam­keit zu fes­seln ver­moch­te. Trotz der to­ten­blei­chen Far­be sei­nes Ge­sichts, das we­der von dem Er­rö­ten der Scham, noch dem Auf­wal­len der Lei­den­schaft je­mals ein wär­me­res Ko­lo­rit be­kam, ob­gleich die Form und Um­ris­se des­sel­ben sehr schön wa­ren, ver­such­ten es doch ei­ni­ge weib­li­che Glücks­jä­ger, sei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich zu zie­hen, um we­nigs­tens ei­ni­ge Be­wei­se von dem zu er­hal­ten, was sie Zu­nei­gung nen­nen moch­ten; Lady Mer­cer, wel­che seit ih­rer Ver­hei­ra­tung der Ge­gen­stand des Spot­tes je­der Häss­li­chen in der Ge­sell­schaft ge­we­sen war, stell­te sich ihm in den Weg und such­te auf alle Wei­se, selbst durch den auf­fallends­ten An­zug, sei­ne Auf­merk­sam­keit zu rei­zen. Al­lein um­sonst - wenn sie vor ihm stand, und sei­ne Au­gen dem An­schei­ne nach auf die ih­ri­gen ge­rich­tet wa­ren, schi­en es doch im­mer, als wür­de sie nicht be­merkt. Selbst ihre fre­che Un­ver­schämt­heit wur­de end­lich ver­wirrt, und sie ver­ließ das Feld. Al­lein ob­gleich eine so be­kann­te freie Dame nicht ein­mal die Rich­tung sei­ner Au­gen be­stim­men konn­te, schi­en das weib­li­che Ge­schlecht selbst ihm doch kei­nes­wegs gleich­gül­tig zu sein, in­des­sen war die an­schei­nen­de Vor­sicht mit der er ein tu­gend­haf­tes Weib, ein un­schul­di­ges Mäd­chen an­re­de­te, so groß, dass sich nur we­ni­ge über­haupt des­sen rüh­men konn­ten. Er be­haup­te­te je­doch den Ruf ei­nes ein­neh­men­den Spre­chers, und sei es nun, dass dies selbst die Furcht vor sei­ne selt­sa­men Cha­rak­ter über­wand, oder dass man sich von sei­nem an­schei­nen­den Has­se ge­gen das Las­ter rüh­ren ließ, ge­nug, er be­fand sich eben­so oft un­ter sol­chen Frau­en, wel­che den Glanz ih­res Ge­schlechts in häus­li­chen Tu­gen­den su­chen, als un­ter sol­chen, die ihn durch ihre Las­ter be­fle­cken.

Um die­se Zeit kam ein jun­ger Edel­mann, na­mens Au­brey, nach Lon­don. Er war ver­waist. Sei­ne El­tern, die er schon in frü­her Kind­heit ver­lor, hat­ten ihm und sei­ner ein­zi­gen Schwes­ter ein sehr großes Ver­mö­gen hin­ter­las­sen. Die Vor­mün­der nah­men sich mehr der Ver­wal­tung sei­nes Ver­mö­gens, als der Sor­ge für sei­ne Er­zie­hung an, und so blieb die­se in den Hän­den von Miet­lin­gen, wel­che mehr sei­ne Phan­ta­sie, als sei­nen Ver­stand zu bil­den such­ten. Er be­saß da­her je­nes hohe ro­man­ti­sche Ge­fühl für Ehre und Auf­rich­tig­keit, wel­ches täg­lich so viel hun­dert jun­ge Leu­te zu Grun­de rich­tet. Er glaub­te, alle Men­schen müss­ten die Tu­gend lie­ben, und dach­te, das Las­ter sei von der Vor­se­hung bloß des sze­ni­schen Ef­fek­tes we­gen in das Welt­dra­ma ein­ge­webt wor­den; er dach­te, das Elend in den Hüt­ten be­ste­he bloß in der Klei­dung, die aber doch warm sei und dem Auge des Ma­lers durch den un­re­gel­mä­ßi­gen Fal­ten­wurf, die bun­ten Fle­cke dar­auf bes­ser zu­sa­ge. Mit ei­nem Wor­te, er hielt die Träu­me der Dich­ter für die Wirk­lich­kei­ten des Le­bens. Er war hübsch, frei und reich; drei Ur­sa­chen, warum ihn beim Ein­tritt in die hei­tern Zir­kel der Welt vie­le Müt­ter um­ring­ten und al­les ver­such­ten, was ihre schmach­ten­den oder wil­den Lieb­lin­ge mit den leb­haf­tes­ten Far­ben aus­zu­stat­ten ver­moch­te, in­des die Töch­ter durch ihr glän­zen­des Be­neh­men, wenn er sich ih­nen nä­her­te, und durch ihre blit­zen­den Au­gen, wenn er die Lip­pen öff­ne­te, ihn zu falschen Vor­stel­lun­gen ver­lei­te­ten. Sei­ner ro­man­ti­schen Ein­sam­keit ganz hin­ge­ge­ben, staun­te er nicht we­nig, als er fand, dass, die Talg- oder Wachs­lich­ter aus­ge­nom­men, wel­che nicht vor der Ge­gen­wart ei­nes Geis­tes, son­dern aus Man­gel an Licht­put­zen flat­ter­ten, in dem wirk­li­chen Le­ben durch­aus kein Grund zu An­häu­fung je­ner la­chen­den Ge­mäl­de und Be­schrei­bun­gen vor­han­den sei, wie sie sich in den Bü­chern fan­den, die er zum Ge­gen­stand sei­nes Stu­di­ums ge­macht hat­te. Da er in­des­sen ei­ni­ge Ver­gü­tung in sei­ner ge­schmei­chel­ten Ei­tel­keit fand, war er im Be­griff, sei­ne Träu­me auf­zu­ge­ben, als das au­ßer­or­dent­li­che We­sen, wel­ches wir oben be­schrie­ben ha­ben, ihm in den Weg trat.

Er be­ob­ach­te­te ihn, und die völ­li­ge Un­mög­lich­keit, sich einen Be­griff von dem Cha­rak­ter ei­nes Man­nes zu bil­den, der, bloß in sich selbst ver­sun­ken, we­nig an­de­re Zei­chen sei­ner Be­ach­tung äu­ße­rer Ge­gen­stän­de von sich gab als die still­schwei­gen­de Aner­ken­nung ih­res Da­seins, vollen­de­te die Ver­mei­dung ge­gen­sei­ti­ger Berüh­rung. Da Au­brey sei­ner Phan­ta­sie ge­stat­te­te, je­des Ding, das sei­ner Nei­gung zu selt­sa­men und aus­schwei­fen­den Ide­en schmei­chel­te, sorg­fäl­tig aus­zu­ma­len, so hat­te er auch schon die­ses We­sen zum Hel­den ei­nes Ro­mans um­ge­bil­det und be­trach­te­te nun­mehr den Spröss­ling sei­ner Phan­ta­sie als die ein­zi­ge le­ben­de Per­son au­ßer ihm. Er wur­de be­kannt mit ihm, be­wies ihm Auf­merk­sam­kei­ten und ge­lang­te doch so weit bei ihm, dass er sei­ne Ge­gen­wart an­er­kann­te. Er er­fuhr nach und nach, dass Lord Ruth­vens An­ge­le­gen­hei­ten zer­rüt­tet sei­en, und dass er im Be­griff ste­he, eine Rei­se zu un­ter­neh­men. Voll Ver­lan­gen, über die­sen selt­sa­men Cha­rak­ter, der bis jetzt sei­ne Neu­gier nichts we­ni­ger als be­frie­digt hat­te, ge­naue­re For­schun­gen an­zu­stel­len, äu­ßer­te er sei­nen Vor­mün­dern, dass es nun Zeit für ihn sein möch­te, die Tour zu ma­chen, die man seit Jahr­hun­der­ten für nö­tig ge­hal­ten hat, um den Jüng­ling in den Stand zu set­zen, ei­ni­ge ra­sche Fort­schrit­te auf der Bahn des Las­ters zu ma­chen und so die äl­te­ren ein­zu­ho­len, da­mit er nicht wie aus den Wol­ken ge­fal­len schei­ne, wenn man em­pö­ren­de Int­ri­gen als Ge­gen­stän­de des Spot­tes oder Lo­bes be­han­delt, je nach­dem da­bei mehr oder we­ni­ger Ge­schick­lich­keit auf­ge­wendet wor­den ist. Sie stimm­ten in sein Be­geh­ren. Au­brey gab dem Lord Ruth­ven sei­ne Ab­sicht zu er­ken­nen und er­staun­te nicht we­nig, von ihm den An­trag zu er­hal­ten, die Rei­se ge­mein­schaft­lich zu ma­chen. Ge­schmei­chelt durch solch ein Zei­chen der Ach­tung von dem, der dem An­schei­ne nach mit an­dern Men­schen nichts ge­mein hat­te, nahm er ihn freu­dig an, und in we­ni­gen Ta­gen hat­ten sie das tren­nen­de Meer über­schrit­ten.

Bis­her hat­te Au­brey kei­ne Ge­le­gen­heit ge­habt, Lord Ruth­vens Cha­rak­ter zu stu­die­ren, und nun fand er, dass, da er meh­re­re sei­ner Hand­lun­gen be­ob­ach­ten konn­te, die Re­sul­ta­te ver­schie­de­ne Schlüs­se auf die schein­ba­ren Be­weg­grün­de sei­nes Be­tra­gens dar­bo­ten. Sein Ge­fähr­te war ver­schwen­de­risch frei­gie­big - der Fau­le, der Land­strei­cher, der Bett­ler er­hielt aus sei­nen Hän­den mehr als ge­nug, um den au­gen­blick­li­chen Man­gel zu stil­len. Der tu­gend­haf­te, un­ver­schul­de­te Arme hin­ge­gen ging oft un­be­frie­digt von sei­ner Türe, wur­de wohl gar mit höh­ni­schem La­chen ab­ge­wie­sen. Der Lüst­ling, der sich im­mer tiefer in den Schlamm sei­ner Aus­schwei­fun­gen ver­sen­ken woll­te, konn­te auf sei­ne Un­ter­stüt­zung rech­nen. Ein Um­stand war in­des bei den Ge­schen­ken des Lords sei­nem Ge­fähr­ten be­merk­lich ge­wor­den; es ruh­te of­fen­bar ein Fluch auf ih­nen, denn die Emp­fän­ger wa­ren ent­we­der da­durch auf das Scha­fott ge­bracht wor­den oder in das tiefs­te, ver­ach­tens­wer­tes­te Elend ver­sun­ken. In Brüs­sel und an­de­ren großen Städ­ten hat­te der Lord zu Au­breys Ver­wun­de­rung die Zir­kel der großen Welt auf­ge­sucht. Er spiel­te und wet­te­te, ers­te­res stets mit Glück, au­ßer wenn ein be­kann­ter Gau­ner sein Geg­ner war, dann ver­lor er mehr als er ge­won­nen hat­te; al­lein sein Ge­sicht be­hielt die­sel­be Un­ver­än­der­lich­keit, wo­mit er ge­mei­nig­lich die Ge­sell­schaft um­her be­ob­ach­te­te. Wenn er aber ei­nem ra­schen, un­be­son­ne­nen Jüng­lin­ge be­geg­ne­te, oder dem un­glück­li­chen Va­ter ei­ner zahl­rei­chen Fa­mi­lie, dann schi­en sein Wunsch For­tu­n­as Ge­setz zu wer­den, die an­schei­nen­de Abstrakt­heit sei­nes Ge­müts ver­schwand, und sei­ne Au­gen glänz­ten wie die der Kat­ze, wenn sie mit der halb­to­ten Maus spielt. In­des­sen nahm er kei­nen Gro­schen vom Spiel­ti­sche mit, son­dern ver­spiel­te zum Ruin man­ches an­dern die letz­te Mün­ze, die er eben aus der Hand der Verzweif­lung ge­won­nen hat­te; die­ses moch­te das Re­sul­tat ei­nes ge­wis­sen Gra­des von Ein­sicht sein, die je­doch nicht im­stan­de war, die schlaue­re Er­fah­rung zu täu­schen. Au­brey wünsch­te oft sei­nem Freun­de dies vor­zu­stel­len und ihn zu bit­ten, ei­ner Frei­ge­big­keit und ei­nem Ver­gnü­gen zu ent­sa­gen, wel­ches alle Men­schen un­glück­lich ma­che und ihm kei­nen Vor­teil ge­wäh­re, al­lein er ver­schob es im­mer, in der Hoff­nung, eine recht pas­sen­de Ge­le­gen­heit dazu zu er­hal­ten, wel­che sich nie zeig­te. Lord Ruth­ven war in sei­ner Lauf­bahn und mit­ten un­ter den man­nig­fa­chen, bald wil­den, bald la­chen­den Na­turs­ze­nen im­mer der­sel­be - sein Auge sprach noch we­ni­ger als sei­ne Lip­pen, und ob­gleich Au­brey nun dem Ge­gen­stan­de sei­ner Neu­gier so nahe war, als er sein konn­te, hat­te er doch da­durch nichts mehr, als eine stär­ke­re An­rei­zung zur Ent­hül­lung des Ge­heim­nis­ses er­hal­ten, das sei­ner ex­al­tier­ten Ein­bil­dungs­kraft im­mer mehr wie et­was Über­na­tür­li­ches vor­kam.

Sie ge­lang­ten bald nach Rom, und Au­brey ver­lor sei­nen Ge­fähr­ten ei­ni­ge Zeit aus den Au­gen. Die­ser be­fand sich täg­lich in den Mor­gen­zir­keln ei­ner ita­lie­ni­schen Grä­fin, in­des er die Denk­mä­ler ei­ner längst un­ter­ge­gan­ge­nen Vor­welt auf­such­te. Un­ter die­ser Be­schäf­ti­gung er­hielt er Brie­fe aus Eng­land, die er mit der größ­ten Sehn­sucht öff­ne­te. Der ers­te war von sei­ner Schwes­ter und at­me­te die reins­te Zärt­lich­keit; die an­de­ren wa­ren von sei­nen Vor­mün­dern, und die­se setz­ten ihn in Er­stau­nen. Hat­te er schon vor­her den Ge­dan­ken ge­hegt, dass in sei­nem Ge­fähr­ten ir­gend­ein bö­ser Geist woh­nen möge, so er­hielt der­sel­be nun da­durch vol­le Be­stä­ti­gung. Die Vor­mün­der dran­gen in ihn, er möch­te so­gleich sich von sei­nem Freun­de tren­nen, denn da die­ser eine un­wi­der­steh­li­che Macht der Ver­füh­rung zu be­sit­zen schei­ne, so wer­de sein Um­gang höchst ge­fähr­lich. Man habe näm­lich ent­deckt, dass sei­ne Ver­ach­tung ge­gen Lady Mer­cer nicht auf ih­ren Cha­rak­ter sich ge­grün­det, son­dern dass er, um sei­ne Gunst­be­zeu­gung zu er­hö­hen, ver­langt habe, dass sein Schlachtop­fer, die Teil­neh­me­rin sei­ner Schuld, von dem Gip­fel un­be­fleck­ter Tu­gend in den tiefs­ten Ab­grund des Las­ters habe her­ab­ge­schleu­dert wer­den sol­len. Auch sei man nun ge­wiss ge­wor­den, dass alle Frau­en, die er dem Schei­ne nach ih­rer Tu­gend we­gen auf­ge­sucht, seit sei­ner Abrei­se sich in ganz andrem Lich­te, ja in der höchs­ten Un­ver­schämt­heit ge­zeigt hät­ten.

Au­brey be­schloss, nun­mehr einen Mann zu ver­las­sen, des­sen Cha­rak­ter auch nicht einen Licht­strahl zeig­te, auf dem das Auge mit Lust wei­len konn­te. Er be­schloss, auf einen Vor­wand zu sin­nen und sich von ihm zu tren­nen, doch in der Zwi­schen­zeit ihn noch ge­nau­er als vor­her zu be­ob­ach­ten und nicht den ge­rings­ten Um­stand au­ßer acht zu las­sen. Er be­gab sich in den­sel­ben Zir­kel und sah, dass der Lord ver­such­te, auf die un­er­fah­re­ne Toch­ter des Hau­ses zu wir­ken. In Ita­li­en ist es sel­ten, dass man un­ver­mähl­te Da­men in der Ge­sell­schaft trifft, da­her muss­te er sei­ne Plä­ne im ge­hei­men aus­zu­füh­ren su­chen. Al­lein Au­breys Auge folg­te ihm in al­len sei­nen Wen­dun­gen, und bald be­merk­te er, dass es bis zu ei­nem Ren­dez­vous ge­kom­men sei, wo wahr­schein­lich die Un­schuld des ver­dacht­lo­sen Mäd­chens ge­op­fert wer­den soll­te. Ohne Zeit­ver­lust trat er zu Lord Ruth­ven ins Zim­mer und frag­te ihn un­ver­hoh­len nach sei­ner Ab­sicht mit der Si­gno­ra; der Lord ver­setz­te, sei­ne Ab­sicht sei die bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten ge­wöhn­li­che, und auf die aber­ma­li­ge Fra­ge, ob er denn das Mäd­chen zu hei­ra­ten ge­den­ke, lach­te er laut. Au­brey ent­fern­te sich, schrieb ihm aber auf der Stel­le einen Ab­schieds­brief, ließ sei­ne Sa­chen in eine an­de­re Woh­nung brin­gen und un­ter­rich­te­te die Mut­ter von al­lem, was er wuss­te, auch von des Lords Cha­rak­ter. Das Ren­dez­vous wur­de ver­hin­dert. Den an­dern Tag sand­te der Lord eine Er­klä­rung, dass er mit der Tren­nung wohl zu­frie­den sei, ließ aber nicht das Ge­rings­te mer­ken, dass er wis­se, sein Plan sei durch Au­brey ver­ei­telt wor­den.

Nach­dem Au­brey Rom ver­las­sen, wand­te er sei­ne Schrit­te nach Grie­chen­land und be­fand sich nach Durch­strei­fung der Halb­in­sel zu Athen. Er nahm hier sei­ne Woh­nung in dem Hau­se ei­nes Grie­chen, und bald be­schäf­tig­te er sich da­mit, die er­blei­chen­den Erin­ne­run­gen al­ter Herr­lich­keit auf den Denk­mä­lern auf­zu­su­chen, die, sich schä­mend, die Ta­ten frei­er Men­schen vor Skla­ven zu er­zäh­len, sich ent­we­der in die schüt­zen­de Erde ver­steckt oder hin­ter ran­ken­de Ge­sträu­che ver­bor­gen hat­ten. Mit ihm un­ter ei­nem Da­che aber leb­te ein We­sen so zart und schön, dass es ei­nem Ma­ler hät­te zum Mo­dell die­nen kön­nen, der die den Gläu­bi­gen in Mo­ham­meds Pa­ra­die­se ver­spro­che­ne Hoff­nung hät­te le­bend ab­bil­den wol­len, nur dass ihr Auge zu viel See­le zeig­te, als dass man es de­nen hät­te zu­tei­len kön­nen, wel­che kei­ne See­len ha­ben. Wenn sie auf der Ebe­ne tanz­te oder längs den Ge­bir­gen hin­sprang, glaub­te man eine Ga­zel­le zu se­hen, aber ihr Auge, aus dem die gan­ze be­seel­te Na­tur zu spre­chen schi­en, wo hät­te die­ses ein Gleich­nis ge­fun­den? - Jan­thes leich­ter Schritt be­glei­te­te Au­brey oft auf sei­nen for­schen­den Wan­de­run­gen, und nicht sel­ten ent­hüll­te das un­be­fan­ge­ne Ge­schöpf bei Ver­fol­gung ei­nes Schmet­ter­lings alle Rei­ze sei­ner schö­nen Ge­stalt dem gie­ri­gen Bli­cke des Fremd­lings, der nun gern die kaum ent­zif­fer­ten Buch­sta­ben auf ei­ner halb­ver­lösch­ten Ta­fel über dem An­schau­en die­ser le­ben­den Schön­heit ver­gaß. Die Flech­ten ih­res schö­nen blon­den Haa­res gli­chen, um ihr Haupt her­ab­fal­lend, den Son­nen­strah­len und ver­dun­kel­ten das Auge des An­ti­quars, statt es zu er­leuch­ten. Doch wozu der Ver­such, das Un­be­schreib­li­che zu be­schrei­ben?

Wenn er be­müht war, die Über­res­te der al­ten Welt in Zeich­nun­gen für künf­ti­ge Stun­den auf­zu­be­wah­ren, so stand das Mäd­chen bei ihm, sei­ne Ar­beit be­wun­dernd und ihm die länd­li­chen Tän­ze ih­rer Hei­mat be­schrei­bend oder einen Hoch­zeits­zug, des­sen sie sich noch aus ih­rer Kind­heit er­in­ner­te. Oft er­zähl­te sie ihm auch Mär­chen, wor­un­ter sich das von ei­nem le­ben­den Vam­pyr be­fand, der jah­re­lang un­ter sei­nen Freun­den und Ver­wand­ten um­her­ge­gan­gen sei, ge­zwun­gen, je­des Jahr durch Auf­zeh­rung des Le­bens ei­nes schö­nen Wei­bes sei­ne Exis­tenz für die nächs­te Zeit zu ver­län­gern. Au­brey ge­rann da­bei das Blut in den Adern, in­des er ver­such­te, die Er­zäh­le­rin we­gen ih­rer furcht­ba­ren Phan­tasi­en aus­zu­la­chen. Jan­the aber nann­te ihm die Na­men al­ter Leu­te, wel­che ein sol­ches We­sen erst un­ter sich ent­deckt hat­ten, als vie­le ih­rer nächs­ten Ver­wand­ten und Kin­der mit den Zei­chen des ge­still­ten Ap­pe­tits ih­res Fein­des ge­fun­den wor­den wa­ren, und als sie ihn so un­gläu­big fand, bat sie ihn, ihr doch ja zu glau­ben, denn man habe be­merkt, dass die, wel­che es ge­wagt hät­ten, die Exis­tenz der Vam­py­re zu be­zwei­feln, ge­nö­tigt wor­den wa­ren, mit ge­bro­che­nem Her­zen end­lich die Wahr­heit ein­zu­ge­ste­hen. Sie be­schrieb ihm das Äu­ße­re die­ser We­sen der Sage ge­mäß, und wie groß war sein Ent­set­zen, als er dar­in eine treue Schil­de­rung des Lord Ruth­ven er­kann­te; dem­un­ge­ach­tet such­te er ihr die Furcht aus­zu­re­den, ob er sich gleich wun­der­te über so man­ches, das hier zu­sam­men­ge­trof­fen war, um den Glau­ben an eine über­na­tür­li­che Ge­walt des Lord Ruth­ven zu be­grün­den.

Au­brey neig­te sich mehr und mehr zu Jan­then hin; ihre Un­schuld, im Kon­tras­te mit den af­fek­tier­ten Tu­gen­den der Wei­ber, un­ter de­nen er Ur­bil­der sei­ner ro­man­ti­schen Ide­en ge­sucht hat­te, ge­wann sein Herz, und in­des er es lä­cher­lich fand, dass ein jun­ger Eng­län­der ein un­er­zo­ge­nes grie­chi­sches Mäd­chen hei­ra­ten wol­le, fand er sich im­mer stär­ker von der schöns­ten Ge­stalt an­ge­zo­gen, die er je ge­se­hen hat­te. Jan­the ahn­te die­se auf­kei­men­de Lie­be nicht und blieb sich in ih­rer ers­ten kind­li­chen Un­be­fan­gen­heit im­mer gleich. Sie trenn­te sich zwar im­mer un­gern von Au­brey, al­lein meis­tens des­halb, weil sie nun nie­mand hat­te, un­ter des­sen Schutz sie ihre Lieb­ling­sor­te be­su­chen konn­te. In Hin­sicht der Vam­py­re hat­te sie sich auf ihre El­tern be­ru­fen, und bei­de be­stä­tig­ten, bleich vor Schre­cken schon bei Nen­nung des Wor­tes, die Wahr­heit der Sa­che.

Kurz dar­auf woll­te Au­brey wie­der einen Aus­flug ma­chen, der ihn ei­ni­ge Stun­den be­schäf­ti­gen konn­te; als die Leu­te den Na­men des Or­tes hör­ten, ba­ten sie ihn drin­gend, nur nicht des Nachts zu­rück­zu­keh­ren, weil er durch einen Wald rei­ten müs­se, wo sich kein Grie­che nach Son­nen­un­ter­gang zu ver­wei­len pfle­ge. Hier hiel­ten näm­lich die Vam­py­re ihre nächt­li­chen Or­gi­en, und wehe dem, der ih­nen da­bei be­geg­ne­te. Die Leu­te ent­setz­ten sich, als er es wag­te, über die Ge­walt un­ter­ir­di­scher Mäch­te zu spot­ten, und so schwieg er.

Am nächs­ten Mor­gen be­gab sich Au­brey ohne alle Beglei­tung auf sei­ne Wan­de­rung; er wun­der­te sich über das schwer­mü­ti­ge Aus­se­hen sei­nes Wir­tes und war sehr be­wegt, als er hör­te, dass sei­ne Wor­te, wo­mit er den Glau­ben an jene furcht­ba­ren Fein­de hat­te ver­spot­ten wol­len, auf die Fa­mi­lie so schre­ckend ge­wirkt hat­ten. Als er sich zu Pfer­de setz­te, bat ihn Jan­the noch­mals, vor nachts zu­rück­zu­keh­ren, und er ver­sprach es.

Sei­ne Nach­for­schun­gen be­schäf­tig­ten ihn in­des­sen der­ge­stalt, dass er das Ab­neh­men des Ta­ges nicht be­merk­te, und wie sich am Ho­ri­zon­te eine von den klei­nen Wol­ken zeig­te, die in wär­me­ren Kli­ma­ten so schnell zu furcht­ba­ren Ge­wit­tern an­wach­sen und oft Ver­hee­rung über gan­ze Ge­gen­den ver­brei­ten. Er be­stieg dem­un­ge­ach­tet sein Pferd, um durch Eile die ver­säum­te Zeit nach­zu­ho­len, al­lein zu spät; die Däm­me­rung ist in je­nen Ge­gen­den fast ganz un­be­kannt; so­gleich nach Un­ter­gang der Son­ne wird es Nacht, und er war noch nicht weit ge­rit­ten, als das Un­ge­wit­ter mit Sturm, Re­gen, Blitz und Don­ner los­brach. Sein Pferd wur­de scheu und stürm­te mit furcht­ba­rer Schnel­lig­keit durch den fin­stren Wald hin. End­lich blieb es er­mü­det ste­hen, und beim Schei­ne der Blit­ze er­kann­te er, dass er sich in der Nähe ei­ner Hüt­te von Bin­sen oder Rohr be­fin­de, die kaum aus der Mas­se wel­ker Blät­ter und ver­wor­re­nen Ge­bü­sches her­vor­sah, wo­mit sie um­ge­ben war. Er stieg ab und nä­her­te sich, in der Hoff­nung, ent­we­der einen Füh­rer nach der Stadt oder we­nigs­tens Schutz vor dem Un­ge­wit­ter zu fin­den. Als er ganz nahe war und der Don­ner einen Au­gen­blick schwieg, ver­nahm er das schreck­li­che Ge­schrei ei­ner weib­li­chen Stim­me, un­ter­mischt mit ei­nem höh­ni­schen Ge­läch­ter, das fast un­un­ter­bro­chen fort­dau­er­te. Er stutz­te, aber auf­ge­schreckt von dem über ihn hin­rol­len­den Don­ner er­brach er mit ei­ner ge­wal­ti­gen An­stren­gung die Tür der Hüt­te. Er stand in di­cker Fins­ter­nis, doch lei­te­te ihn der Schall; er rief, aber der Ton dau­er­te fort. Man schi­en ihn nicht zu be­mer­ken. Er stieß end­lich mit je­mand zu­sam­men, den er so­gleich fass­te; da schrie eine Stim­me: »Aber­mals ge­täuscht!« wor­auf ein lau­tes Ge­läch­ter folg­te. End­lich fühl­te er sich selbst von je­mand er­grif­fen, der eine über­mensch­li­che Stär­ke zu ha­ben schi­en. Er be­schloss, sein Le­ben so teu­er als mög­lich zu ver­kau­fen, und kämpf­te, al­lein ver­ge­bens, sei­ne Füße glit­ten aus, und er wur­de mit un­ge­heu­rer Ge­walt zu Bo­den ge­wor­fen. Sein Feind warf sich auf ihn und stemm­te ihm die Hand auf die Brust, da fiel der Schein ei­ni­ger Fa­ckeln durch das Loch, durch die das Ta­ges­licht ein­drang; so­gleich sprang je­ner auf, ließ sei­ne Beu­te los, rann­te zur Tür hin­aus, und bald ver­nahm man das Geräusch der Zwei­ge nicht mehr, durch die er sich Bahn ge­macht hat­te.

Der Sturm war nun vor­über, und Au­brey, der sich nicht rüh­ren konn­te, wur­de von de­nen ge­hört, die drau­ßen wa­ren. Sie tra­ten her­ein; das Licht der Fa­ckeln fiel auf die schmut­zi­gen Wän­de und die ein­zel­nen La­ger­stät­ten von Stroh und Bin­sen, wor­auf ei­ni­ge Klei­dungs­stücke la­gen. Auf Au­breys Be­geh­ren such­te man nach der­je­ni­gen, de­ren Ge­schrei ihn an­ge­zo­gen hat­te. Er blieb nun wie­der im Dun­keln; al­lein wer malt sein Ent­set­zen, als er beim Lich­te der rück­keh­ren­den Fa­ckeln die rei­zen­de Ge­stalt sei­nen Füh­re­rin er­kann­te, die jetzt ein leb­lo­ser Leich­nam war! Er trau­te sei­nen Au­gen kaum, doch ein aber­ma­li­ges Hin­star­ren über­zeug­te ihn, dass es wirk­lich das lieb­li­che Ge­schöpf sei. Auf ih­ren Wan­gen, selbst auf ih­ren Lip­pen war kei­ne Far­be mehr; doch war über das Ge­sicht eine Ruhe ver­brei­tet, die fast so an­zie­hend schi­en als das sonst hier woh­nen­de Le­ben; auf ih­rem Na­cken und ih­rer Brust war Blut sicht­bar, und an der letz­te­ren so­gar das Zei­chen von Zäh­nen, die eine Ader ge­öff­net hat­ten. Plötz­lich rie­fen die Män­ner, mit Ent­set­zen dar­auf hin­deu­tend: »Ein Vam­pyr! ein Vam­pyr!« Man mach­te eine Trag­bah­re und leg­te Au­brey an die Sei­te der­je­ni­gen, wel­che vor kur­z­em noch Ge­gen­stand sei­ner Be­wun­de­rung und man­ches sü­ßen Trau­mes ge­we­sen war. Er wuss­te nicht, was er den­ken soll­te, sein Geist ver­sank in eine wohl­tä­ti­ge Be­täu­bung; auf ein­mal er­griff er fast be­wusst­los einen nack­ten Dolch von ganz be­son­de­rer Bil­dung, der in der Hüt­te am Bo­den ge­le­gen hat­te; da er­schie­nen auch Leu­te, die die Ver­miss­te im Na­men der El­tern such­ten. Als sie sie fan­den, schri­en sie laut auf; und als end­lich die El­tern das un­glück­li­che Kind er­kann­ten, star­ben bei­de in kur­z­em vor Schmerz und Gram.

Au­brey wur­de von ei­nem hit­zi­gen Fie­ber be­fal­len und hat­te oft Geis­tes­ab­we­sen­hei­ten; in die­sen rief er den Lord Ruth­ven und Jan­the - durch eine un­er­klär­li­che Ver­bin­dung der Ide­en schi­en er sei­nen frü­he­ren Ge­fähr­ten zu bit­ten, das Le­ben der­je­ni­gen zu scho­nen, die er lieb­te. Zu an­dern Zei­ten schüt­te­te er mehr Ver­wün­schun­gen über sein Haupt aus, als über ih­ren Mör­der und Ver­füh­rer.

Lord Ruth­ven kam um die­se Zeit selbst nach Athen, und so­bald er von Au­breys Zu­stan­de hör­te, nahm er sei­ne Woh­nung gleich­falls in dem­sel­ben Hau­se und wur­de sein im­mer­wäh­ren­der Ge­sell­schaf­ter. Als der Kran­ke aus sei­ner Geis­tes­ab­we­sen­heit zu sich kam, er­schrak und er­staun­te er über den An­blick des­je­ni­gen, des­sen Bild er stets mit dem ei­nes Vam­pyrs ver­wech­selt hat­te; al­lein Lord Ruth­ven ver­söhn­te den Kran­ken bald mit sei­ner Ge­gen­wart durch sei­ne freund­li­chen Re­den und durch die Reue, die er über den Feh­ler be­zeug­te, der ihre Tren­nung ver­an­lasst hat­te, mehr noch aber durch die Auf­merk­sam­keit, Be­sorg­lich­keit und Teil­nah­me, die er ihm be­wies.

Der Lord schi­en in der Tat gänz­lich ver­än­dert. Er war gar nicht mehr das teil­nahms­lo­se We­sen, das so furcht­bar auf Au­brey ge­wirkt hat­te; al­lein so­wie des­sen Ge­ne­sung fort­schritt, fiel je­ner auch wie­der in sein vo­ri­ges We­sen zu­rück, und Au­brey be­merk­te kei­ne Ver­än­de­rung an ihm, als das zu­wei­len Ruth­vens Blick mit ei­nem Aus­dru­cke von höh­ni­schem Lä­cheln um die Lip­pen fest auf ihm zu ru­hen schi­en. Die­ses Lä­cheln er­füll­te ihn mit ge­hei­mem Schau­der, ohne dass er wuss­te warum.

Au­breys Ge­müt war durch die­se Er­schüt­te­rung äu­ßerst an­ge­grif­fen wor­den, und jene geis­ti­ge Elas­ti­zi­tät, die ihn sonst aus­ge­zeich­net hat­te, schi­en auf im­mer ver­schwun­den. Er war jetzt ein eben­so großer Lieb­ha­ber der Ein­sam­keit als Lord Ruth­ven, al­lein sein Ge­müt konn­te die­ses Ver­lan­gen nicht in der Nach­bar­schaft von Athen er­füllt fin­den; wo im­mer er sich hier hin­be­gab, stand Jan­thes lieb­li­che Ge­stalt vor ihm; in den Wäl­dern glaub­te er ih­ren leich­ten Schritt zu be­mer­ken, wie sie Veil­chen und an­de­re Früh­lings­blu­men such­te, bis sie ihm plötz­lich ihr blei­ches Ge­sicht und ihre ver­wun­de­te Brust mit ei­nem hold­se­li­gen Lä­cheln auf den ro­si­gen Lip­pen zu zei­gen schi­en. Er be­schloss, eine Ge­gend zu flie­hen, wo ihn sol­che Erin­ne­run­gen ver­folg­ten, und mach­te da­her dem Lord Ruth­ven, dem er sich für die zar­te Teil­nah­me ver­bun­den fühl­te, die er ihm wäh­rend sei­ner Krank­heit be­wie­sen hat­te, den Vor­schlag, die­je­ni­gen Ge­gen­den Grie­chen­lands zu be­su­chen, die sie noch nicht ge­se­hen hat­ten. Sie durch­streif­ten nun das Land in al­len Rich­tun­gen, ohne je­doch das sehr zu be­ach­ten, was sich ih­ren Bli­cken dar­bot. Sie hör­ten viel von Räu­bern, fin­gen je­doch an, auf die­se Nach­rich­ten we­ni­ger acht zu ge­ben, weil sie sie für die Er­fin­dung ei­gen­nüt­zi­ger Per­so­nen hiel­ten, wel­che ih­ren Schutz teu­er ver­kau­fen woll­ten. Die War­nung der Ein­woh­ner über­se­hend, reis­ten sie auch einst nur mit we­ni­ger Be­de­ckung, die ih­nen mehr zu Füh­rern als zum Schut­ze diente. In ei­nem en­gen Hohl­weg, in des­sen Tie­fe ein Bach hin­rausch­te, und den auf bei­den Sei­ten hohe Fels­mas­sen um­starr­ten, hat­ten sie Ur­sa­che, ihre Nach­läs­sig­keit zu be­reu­en; denn kaum war der gan­ze Zug in den Eng­pass hin­ein, als sie durch das Pfei­fen von Ku­geln dicht über ih­ren Häup­tern, durch den Knall von Flin­ten­schüs­sen, die das Echo wie­der­hol­te, er­schreckt wur­den. In ei­nem Au­gen­bli­cke hat­ten ihre Wa­chen sie ver­las­sen, und, hin­ter die Fel­sen sich stel­lend, be­gan­nen die­se in der Rich­tung zu feu­ern, wo­her die Schüs­se tön­ten. Lord Ruth­ven und Au­brey, ihr Bei­spiel nach­ah­mend, zo­gen sich für einen Au­gen­blick hin­ter die schüt­zen­den Sei­ten­wän­de des Hohl­we­ges zu­rück, al­lein, sich schä­mend, dass sie sich vor ei­nem Fein­de ver­ste­cken soll­ten, der sie her­aus­zu­for­dern schi­en, und fürch­tend, hier end­lich im Rücken ge­nom­men zu wer­den, be­schlos­sen sie, den An­grei­fern mu­tig ent­ge­gen zu ge­hen. Je­doch, kaum hat­ten sie ih­ren Schutzort ver­las­sen, als Lord Ruth­ven einen Schuss in die Schul­ter er­hielt, der ihn zu Bo­den streck­te. Au­brey eil­te ihm zu Hil­fe und sah sich bald nun von den Räu­bern um­ringt, denn die Beglei­ter hat­ten schon ihre Waf­fen weg­ge­wor­fen und sich er­ge­ben.

Durch Ver­spre­chung großer Be­loh­nung brach­te Au­brey die Räu­ber da­hin, sei­nen ver­wun­de­ten Freund in eine nahe Hüt­te zu tra­gen, und nach­dem er ein Lö­se­geld ver­spro­chen hat­te, wur­de er nicht mehr durch ihre Ge­gen­wart be­läs­tigt, denn sie be­gnüg­ten sich, bloß den Ein­gang zu be­wa­chen, bis der Ab­ge­schick­te mit dem Lö­se­geld zu­rück­ge­kehrt sein wür­de.

Lord Ruth­vens Kräf­te nah­men schnell ab, in zwei Ta­gen war er dem Tode nahe, und er fühl­te die­sen mit schnel­len Schrit­ten sich na­hen. Sein Aus­se­hen und Be­neh­men hat­te sich nicht ver­än­dert, er schi­en we­der der Schmer­zen noch sei­ner Um­ge­bung zu ach­ten, ge­gen Ende des letz­ten Abends aber wur­de er sicht­bar un­ru­hig, und sein Auge hef­te­te sich oft auf Au­brey, der ihm sei­nen Bei­stand mit mehr als ge­wöhn­li­chem Ernst an­zu­bie­ten sich ge­drun­gen fühl­te.

»Hel­fen Sie mir! Sie kön­nen mich ret­ten! Sie kön­nen mehr tun als das! - Ich mei­ne nicht mein Le­ben, ich ach­te den Ver­lust des­sel­ben nicht hö­her als den des schei­den­den Ta­ges, aber - mei­ne Ehre kön­nen Sie ret­ten, Ihres Freun­des Ehre! - «

»Wie? Re­den Sie! Ich wer­de al­les tun, was ich ver­mag«, ver­setz­te Au­brey.

»Ich be­darf nur we­nig ... mein Le­ben ent­flieht schnell ... ich kann nicht al­les ent­hül­len ... wenn Sie aber, was Sie von mir wis­sen, ver­ber­gen wol­len, so wür­de mei­ne Ehre vom Ge­re­de der Welt un­be­fleckt blei­ben ... und wenn mein Tod ei­ni­ge Zeit in Eng­land un­be­kannt blie­be ... Ich ... aber das Le­ben ... «

»Er soll nicht be­kannt wer­den!«

»Schwö­ren Sie!« rief der Ster­ben­de, in­dem er sich mit un­ge­wöhn­li­cher Hef­tig­keit auf­rich­te­te. - »Schwö­ren Sie bei al­lem, was Ih­nen hei­lig ist, bei al­lem, was Sie fürch­ten, dass Sie bin­nen Jahr und Tag kei­nem le­ben­den We­sen auf ir­gend­ei­ne Art das mit­tei­len wol­len, was Ih­nen von mei­nem Ver­bre­chen und mei­nem Tode be­kannt ist, es mag sich er­eig­nen, was da will, Sie mö­gen se­hen, was Sie wol­len.« Sei­ne Au­gen schie­nen sich bei die­ser Rede aus ih­ren Krei­sen zu dre­hen.

»Ich schwö­re!« rief Au­brey, und je­ner sank ster­bend auf sein Kis­sen zu­rück und at­me­te nicht mehr. Au­brey be­gab sich zwar zur Ruhe, konn­te aber nicht schla­fen, die man­cher­lei Um­stän­de, wo­von sei­ne Be­kannt­schaft mit die­sem Man­ne be­glei­tet ge­we­sen war, wur­den wie­der klar in sei­ner See­le; und er wuss­te nicht, wie es ge­sch­ah, wenn er sich sei­nes Schwu­res er­in­ner­te, über­fiel ihn ein kal­ter Schau­er, wie das Vor­ge­fühl von et­was Schreck­li­chem, das ihn er­war­te­te.

Mit dem frü­he­s­ten Mor­gen stand er auf, und eben war er im Be­griff, die Hüt­te zu be­tre­ten, wo er den Leich­nam ver­las­sen hat­te, als ihm ein Räu­ber ent­ge­gen­trat und ihm mel­de­te, dass sich je­ner nicht mehr dort be­fin­de, in­dem er von ihm und sei­nen Ka­me­ra­den auf den Gip­fel ei­nes be­nach­bar­ten Ber­ges ge­tra­gen wor­den sei, in Ge­mäß­heit des Ver­spre­chens, das sie dem Lord ge­ge­ben, dass er dem ers­ten kal­ten Strah­le des Mon­des, der nach sei­nem Tode auf­ge­hen wür­de, aus­ge­setzt wer­den soll­te. Au­brey er­staun­te, nahm ei­ni­ge der Män­ner mit sich, ent­schlos­sen, den Berg zu be­stei­gen und den Leich­nam an dem Orte zu be­er­di­gen, wo er läge. Al­lein, als er den Gip­fel er­reicht hat­te, fand er we­der Spu­ren von dem Leich­nam, noch von den Klei­dern, ob­gleich die Räu­ber schwo­ren, das sei der­sel­be Fel­sen, wo­hin sie den To­ten ge­legt. Er ver­lor sich ei­ni­ge Zeit in selt­sa­men Ver­mu­tun­gen, al­lein end­lich kehr­te er zu­rück, in der Über­zeu­gung, dass sie den Kör­per, um die Klei­der zu ge­win­nen, be­er­digt hät­ten.

Über­drüs­sig ei­ner Ge­gend, wo er so furcht­ba­res Miß­ge­schick er­fah­ren, und wo sich al­les ver­schwo­ren zu ha­ben schi­en, jene zum Aber­glau­ben sich nei­gen­de Schwer­mut zu näh­ren, die sich sei­nes Ge­müts be­mäch­tigt hat­te, be­schloss er ab­zu­rei­sen, und in kur­z­em be­fand er sich in Smyr­na. In­des er auf ein Schiff war­te­te, wel­ches ihn nach Otran­to oder Nea­pel über­füh­ren soll­te, be­schäf­tig­te er sich mit Ord­nung der Sa­chen, die er als dem Lord Ruth­ven zu­ge­hö­rig mit sich ge­nom­men hat­te. Un­ter den­sel­ben be­fand sich auch eine Kis­te, wel­che ver­schie­de­ne An­griffs­waf­fen ent­hielt, die mehr oder we­ni­ger ge­eig­net wa­ren, un­fehl­bar den Tod zu ge­ben. Auch meh­re­re Dol­che und Ja­tagans wa­ren da­bei. In­dem er ihre selt­sa­me Ge­stalt be­trach­te­te, wie er­schrak er, als er eine Schei­de fand, in der­sel­ben Art ver­ziert wie der Dolch, den er in je­ner Hüt­te ge­fun­den hat­te! ... Er schau­der­te ... Nach wei­te­ren Be­wei­sen su­chend, fand er auch die Waf­fe, und man kann sich sei­nen Schreck den­ken, als er ent­deck­te, dass sie, wenn auch be­son­ders ge­formt, in die Schei­de ge­nau pass­te, die er in der Hand hielt. Wie gern hät­te er ge­zwei­felt. Er starr­te fest auf den Dolch hin, ja! er war es ... auch Bluts­trop­fen wa­ren auf ihm und der Schei­de zu be­mer­ken! - Er ver­ließ Smyr­na, und auf sei­nem Rück­we­ge nach der Hei­mat war es in Rom sein ers­tes Ge­schäft, sich nach der jun­gen Dame zu er­kun­di­gen, die er aus des Lord Ruth­vens Fall­stri­cken zu be­frei­en ge­sucht hat­te. Ihre El­tern leb­ten im Elen­de, ihr Ver­mö­gen war zu Grun­de ge­rich­tet, und man hat­te seit des Lords Abrei­se nichts wie­der von ihr ge­hört. Au­breys Ge­müt er­lag fast un­ter den Stür­men so wie­der­hol­ter Schreck­nis­se, er fürch­te­te, auch die jun­ge Ita­li­e­ne­rin möch­te Jan­thes Ver­füh­rer zur Beu­te ge­wor­den sein. Er wur­de düs­ter und ein­sil­big; sein Ge­schäft be­stand bloß dar­in, die Po­stil­li­ons zur Eile an­zu­trei­ben, gleich als sei er im Be­griff, das Le­ben ei­nes ihm teu­ren We­sens zu ret­ten. So kam er in Calais an; ein Land­wind, der sei­nen Wün­schen güns­tig war, brach­te ihn schnell an Eng­lands Küs­te. Er eil­te nach dem vä­ter­li­chen Hau­se, und hier schi­en er, auf Au­gen­bli­cke we­nigs­tens, in den Umar­mun­gen sei­ner Schwes­ter die Erin­ne­run­gen des Ver­gan­ge­nen aus den Au­gen zu ver­lie­ren. Hat­te sie schon frü­her durch ihre kind­li­chen Lieb­ko­sun­gen sei­ne Zu­nei­gung ge­won­nen, so er­schi­en sie ihm jetzt als Jung­frau noch rei­zen­der und lie­bens­wer­ter.

Miss Au­brey be­saß nicht je­nes ein­neh­men­de We­sen, wel­ches die Auf­merk­sam­keit und den Bei­fall großer Ge­sell­schaf­ten zu er­re­gen im­stan­de ist, nichts von je­nem glän­zen­den Schim­mer, der nur in der er­hitz­ten At­mo­sphä­re eine voll­ge­stopf­ten Zim­mers leuch­tet. Ihre blau­en Au­gen wa­ren nicht die leicht be­weg­li­chen Spie­gel ei­nes leicht­sin­ni­gen Ge­müts. Ein me­lan­cho­li­scher Reiz wohn­te in ih­nen, der nicht von Un­glück, son­dern von ei­nem tiefe­ren Ge­fühl her­zu­rüh­ren schi­en, das auf eine See­le schlie­ßen ließ, die sich ei­nes hö­he­ren Va­ter­lan­des be­wusst war. Ihr Schritt war nicht ein leich­tes Hüp­fen, durch einen Schmet­ter­ling oder eine glän­zen­de Blu­me an­ge­zo­gen, son­dern ernst und sin­nend. Wenn sie al­lein war, wur­de ihr Ge­sicht nie durch das Lä­cheln der Freu­de ver­klärt, aber wenn ihr Bru­der ihr sei­ne Lie­be be­wies, wenn er in ih­rem Um­gan­ge je­nen Gram zu ver­ges­sen such­te, der, wie sie wuss­te, sei­ne Ruhe un­ter­grub, wer hät­te dann ihr Lä­cheln ge­gen das der Wol­lust ver­tauscht? - Dann schi­en es, als glänz­ten die­se Au­gen, die­ses Ge­sicht in dem Lich­te ih­res schö­ne­ren Ge­burts­lan­des. Sie stand erst im acht­zehn­ten Jah­re und war noch nicht in die Welt ein­ge­führt wor­den, in­dem es ihre Vor­mün­der für bes­ser ge­hal­ten hat­ten, ihre Vor­stel­lung da­selbst so lan­ge zu ver­schie­ben, bis ihr Bru­der, vom Fest­lan­de zu­rück­ge­kehrt, öf­fent­lich als ihr Be­schüt­zer wür­de auf­tre­ten kön­nen.

Es war nun be­stimmt, dass der nächs­te Hof­zir­kel, der nicht sehr ent­fernt war, die Epo­che ih­res Ein­tritts auf den ge­räusch­vol­len Schau­platz wer­den soll­te. Au­brey hät­te sich frei­lich lie­ber auf sein vä­ter­li­ches Haus be­schränkt und der Me­lan­cho­lie Nah­rung ge­ge­ben, die sich sei­ner ganz und gar be­mäch­tig­te. Er konn­te kei­ne Teil­nah­me emp­fin­den an dem leicht­fer­ti­gen Ge­spräch mo­di­scher Frem­der, in­des sein Ge­müt durch die Be­ge­ben­hei­ten zer­ris­sen wur­de, von de­nen er Au­gen­zeu­ge ge­we­sen war; al­lein er be­schloss, sei­ne ei­ge­ne Be­quem­lich­keit der Be­schüt­zung sei­ner Schwes­ter auf­zu­op­fern. Bald tra­fen sie in der Stadt ein und rüs­te­ten sich für den nächs­ten Tag, der zum Gala­ta­ge an­ge­setzt war. Die Men­schen­men­ge war au­ßer­or­dent­lich, seit lan­ger Zeit war kein Zir­kel ge­we­sen, und al­les, was sich in dem Lä­cheln der Ho­heit zu son­nen trach­te­te, eil­te sehn­suchts­voll her­bei. Au­brey mit sei­ner Schwes­ter hat­te sich gleich­falls ein­ge­fun­den. In­des er ein­sam in ei­ner Ecke stand, die Um­ge­bun­gen we­nig be­ach­tend, ver­sank er in die Erin­ne­rung, dass er an der­sel­ben Stel­le den Lord Ruth­ven zum ers­ten Mal ge­se­hen habe ... Da fühl­te er sich plötz­lich am Arme er­grif­fen, und eine nur zu be­kann­te Stim­me raun­te ihm ins Ohr: »Ge­den­ke dei­nes Ei­des!« Er hat­te kaum den Mut, sich um­zu­se­hen, fürch­tend, er möch­te ein Ge­s­penst er­bli­cken, als er in ei­ni­ger Ent­fer­nung die­sel­be Ge­stalt wahr­nahm, wel­che sei­ne Auf­merk­sam­keit beim ers­ten Ein­trit­te in die­sen Saal auf sich ge­zo­gen hat­te. Er starr­te dar­auf hin, bis ihn sei­ne Füße nicht mehr tra­gen woll­ten, dann fass­te er den Arm ei­nes Freun­des, bahn­te sich einen Weg durch die Men­ge, warf sich in den Wa­gen und eil­te nach Hau­se. Hier schritt er mit hef­ti­gen Schrit­ten das Zim­mer auf und ab, die Hand an die Stirn ge­legt, gleich als fürch­te­te er, die Ge­dan­ken möch­ten die­se zer­spren­gen. Lord Ruth­ven stand vor ihm ... Um­stän­de aus der Ver­gan­gen­heit be­leb­ten sich ... der Dolch ... sein Eid! - Soll­ten die To­ten auf­er­ste­hen? - Er glaub­te, sei­ne Phan­ta­sie habe bloß das Bild be­lebt, wel­ches in sei­ner See­le wohn­te. Es konn­te un­mög­lich Wirk­lich­keit sein, er be­schloss da­her, wie­der in Ge­sell­schaft zu ge­hen; denn ob­gleich er ver­sucht hat­te, sich nach Lord Ruth­ven zu er­kun­di­gen, so erstarb doch der Name auf sei­nen Lip­pen, und er ver­moch­te nichts über ihn zu er­fah­ren.

Ei­ni­ge Tage nach­her be­such­te er mit sei­ner Schwes­ter eine Ge­sell­schaft bei ei­nem na­hen Ver­wand­ten. Er ließ sie un­ter dem Schut­ze ei­ner äl­te­ren Dame und be­gab sich an einen stil­len Ort, wo er sei­nen Ge­dan­ken nach­hing. Da er aber end­lich be­merk­te, dass ei­ni­ge Ab­schied nah­men, er­hob er sich, ging in ein an­de­res Zim­mer und fand hier sei­ne Schwes­ter von meh­re­ren um­ge­ben und, wie es schi­en, im erns­ten Ge­sprä­che: er such­te sich Platz zu ma­chen und zu ihr zu ge­lan­gen, da wand­te sich je­mand, den er bat, ihn durch­zu­las­sen, und - er er­kann­te die­sel­ben Züge, die er so sehr ver­ab­scheu­te. Schnell er­griff er den Arm sei­ner Schwes­ter und zog sie ei­lig mit sich fort auf die Stra­ße. An der Tür wur­de er durch die Men­ge der Die­ner ver­hin­dert, vor­wärts zu kom­men, und in­dem er sich durch­drän­gen woll­te, hör­te er, dass eine Stim­me wie­der ganz dicht bei ihm flüs­ter­te: »Ge­den­ke dei­nes Ei­des!« Er wag­te es nicht, sich um­zu­schau­en, son­dern eil­te, sei­ne Schwes­ter mit sich fort­zie­hend, schnell nach Hau­se.

Au­brey wur­de fast wahn­sin­nig. War sein Geist schon vor­her in einen ein­zi­gen Ge­dan­ken ver­sun­ken ge­we­sen, wie sehr wur­de die­ser Zu­stand ver­stärkt, da er nun die Ge­wiss­heit hat­te, dass des Un­ge­heu­ers Le­ben von neu­em sein Ge­müt be­las­te­te. Er be­ach­te­te sei­ner Schwes­ter Zärt­lich­keit kaum, und ver­ge­bens drang sie in ihn, nach der Ur­sa­che sei­nes rät­sel­haf­ten Be­neh­mens for­schend. Er stieß bloß we­ni­ge Wor­te aus, und die­se er­schreck­ten sie. Je mehr er nachsann, umso ver­stör­ter wur­de er. Sein Eid mach­te ihn schau­dern ... soll­te er denn ge­stat­ten, dass das Un­ge­heu­er Ver­der­ben hau­chend un­ter al­len, die ihm teu­er wa­ren, um­her­ge­he, und nicht ver­su­chen, sei­ne Fort­schrit­te zu hem­men? Sei­ne ei­ge­ne Schwes­ter konn­te ja von ihm er­reicht wer­den! - Aber ge­setzt auch, er woll­te sei­nen Eid bre­chen und sei­ne Ver­mu­tun­gen laut wer­den las­sen, wer wür­de ihm glau­ben? Er kam wohl auf den Ge­dan­ken, sei­ne ei­ge­ne Hand zu brau­chen, um die Welt von solch ei­nem Elen­den zu be­frei­en, al­lein der Tod, er­in­ner­te er sich, hat­te ja kei­ne Ge­walt über ihn. Meh­re­re Tage blieb er in die­sem Zu­stan­de, schloss sich in sei­nem Zim­mer ein und ge­noss bloß ei­ni­ge Nah­rung, wenn sei­ne Schwes­ter zu ihm kam und ihn mit trä­nen­den Au­gen bat, doch um ih­ret­wil­len sei­ne Kräf­te nicht sin­ken zu las­sen. End­lich konn­te er selbst die Stil­le und Ein­sam­keit nicht län­ger er­tra­gen, er ver­ließ sei­ne Woh­nung und eil­te von Stra­ße zu Stra­ße, ängst­lich flie­hend vor dem Bil­de, wel­ches ihn im­mer­wäh­rend ver­folg­te. Er ver­nach­läs­sig­te sei­ne Klei­dung und wan­der­te eben­so am hel­len Tage wie um Mit­ter­nacht um­her. Man er­kann­te ihn kaum. An­fangs kehr­te er mit dem Abend nach Hau­se zu­rück, al­lein end­lich leg­te er sich da nie­der, wo ihn die Er­mü­dung über­fal­len hat­te. Sei­ne Schwes­ter, be­sorgt für sei­ne Ge­sund­heit, stell­te Leu­te an, die ihm fol­gen muss­ten, aber sie ver­lo­ren ihn bald aus dem Ge­sicht, denn er floh vor je­dem Ver­fol­gen­den schnel­ler, als man­cher vor Ge­dan­ken.

In­des­sen än­der­te sich mit ei­nem Male sein Be­neh­men. Er­grif­fen von der Idee, dass er in sei­ner Ab­we­sen­heit alle sei­ne Freun­de mit ei­nem Fein­de al­lein ließ, des­sen Ge­gen­wart sie nicht ahn­ten, be­schloss er, wie­der in Ge­sell­schaft zu ge­hen und ihn ge­nau zu be­wa­chen, in der Ab­sicht, trotz sei­nes Ei­des alle zu war­nen, de­nen sich Lord Ruth­ven auf eine ver­trau­li­che Art nä­hern moch­te. Doch wenn er in einen ge­sel­li­gen Kreis trat, wa­ren sei­ne lau­ern­den, spä­hen­den Bli­cke so er­grei­fend, sein in­ner­li­cher Schau­der so sicht­bar, dass sich sei­ne Schwes­ter end­lich ge­nö­tigt sah, ihn zu bit­ten, er möge ih­ret­we­gen doch nicht eine Ge­sell­schaft be­su­chen, wel­che einen so un­an­ge­neh­men Ein­druck auf ihn zu ma­chen schei­ne. Da je­doch alle Vor­stel­lun­gen frucht­los wa­ren, glaub­ten die Vor­mün­der, sich ins Mit­tel schla­gen zu müs­sen, und fürch­tend, dass sein Geist zer­rüt­tet wer­den moch­te, hiel­ten sie es für hohe Zeit, ein Amt wie­der zu über­neh­men, das ih­nen schon vor­her von Au­breys El­tern über­tra­gen wor­den war.

Voll Ver­lan­gen, ihn vor den Be­lei­di­gun­gen und Unan­nehm­lich­kei­ten zu schüt­zen, die er täg­lich auf sei­nen Wan­de­run­gen er­fuhr, und den Au­gen der Men­ge nicht das bloß­zu­stel­len, was sie für Zei­chen des Wahn­sinns hiel­ten, ver­an­lass­ten sie einen Arzt, in sei­nem Hau­se Woh­nung zu neh­men und ihn in ste­ter Ob­hut zu hal­ten. Er schi­en dies kaum zu be­mer­ken, so sehr war sein Geist nur mit dem ein­zi­gen furcht­ba­ren Ge­gen­stan­de be­schäf­tigt. Sei­ne in­ne­re Ver­wor­ren­heit wur­de end­lich so groß, dass er auf sein Zim­mer be­schränkt wer­den muss­te. Hier lag er denn oft auf ei­ner Stel­le ta­ge­lang, ohne dass er im­stan­de war, auf­zu­ste­hen. Er war äu­ßerst ma­ger ge­wor­den, sei­ne Au­gen hat­ten ein glä­ser­nes Aus­se­hen be­kom­men, das ein­zi­ge Zei­chen von Ge­fühl und Erin­ne­rung ent­fal­te­te er beim Ein­tritt sei­ner Schwes­ter, dann sprang er zu­wei­len auf, und ihre Hand er­grei­fend, bat er sie mit Bli­cken, die sie in in­ners­ter See­le durch­dran­gen, sie möge ihn nicht be­rüh­ren. »O!« sag­te er, »be­rüh­re ihn ja nicht!« Wenn sie nun forsch­te, wor­auf sich die­se Bit­te be­zö­ge, war sei­ne ein­zi­ge Ant­wort: »Ge­wiss! Ge­wiss!« und dann sank er wie­der in einen Zu­stand zu­rück, aus dem auch sie ihn nicht er­he­ben konn­te. So blieb es meh­re­re Mo­na­te; so­wie in­des das Jahr all­mäh­lich vor­über­ging, wur­den auch sei­ne Ge­müts­zer­rüt­tun­gen min­der häu­fig, und sein Geist be­frei­te sich zum Teil von sei­ner Ver­düs­te­rung. Sei­ne Wäch­ter be­merk­ten auch, dass er des Tags zu­wei­len eine ge­wis­se Zahl an den Fin­gern be­rech­ne­te und dann lä­chel­te. Fast war die Zeit ver­flos­sen, als am letz­ten Tage des Jah­res ei­ner sei­ner Vor­mün­der in das Zim­mer trat und mit dem Arzt über den trau­ri­gen Um­stand sprach, dass sich Au­brey noch im­mer in ei­ner so schreck­li­chen Lage be­fin­de, in­des sei­ne Schwes­ter nächs­tens ver­hei­ra­tet wer­den wür­de. Dies er­reg­te so­gleich Au­breys Auf­merk­sam­keit, und er frag­te ängst­lich, an wen? - Voll Freu­de über die­sen Be­weis des rück­keh­ren­den Ver­stan­des, des­sen sie ihn schon für ganz be­raubt ge­hal­ten hat­ten, nann­ten sie ihm den Na­men des Earl of Mars­den. Da er dach­te, dass dies ein jun­ger Edel­mann sei, den er in Ge­sell­schaft ge­se­hen habe, schi­en Au­brey sehr zu­frie­den und setz­te die Vor­mün­der noch mehr da­durch in Ver­wun­de­rung, dass er den Wunsch zu er­ken­nen gab, bei der Hoch­zeit zu­ge­gen zu sein und sei­ne Schwes­ter zu se­hen. Sie ant­wor­te­ten ihm nichts, aber in we­ni­gen Mi­nu­ten war sei­ne Schwes­ter bei ihm.

Er war dem An­schei­ne nach noch fä­hig, von der Wir­kung ih­res lieb­li­chen Lä­chelns ge­rührt zu wer­den, denn er drück­te sie an sei­ne Brust und küss­te ihre Wan­ge, wel­che Trä­nen be­netz­ten, die dem Ge­dan­ken flos­sen, dass ih­res Bru­ders Ge­müt den Emp­fin­dun­gen der Lie­be wie­der ge­öff­net sei. Er be­gann nun, mit all sei­ner ge­wöhn­li­chen Wär­me zu spre­chen und ihr Glück zu wün­schen zu ih­rer Ver­mäh­lung mit ei­nem durch Rang und an­de­re Voll­kom­men­hei­ten so aus­ge­zeich­ne­ten Man­ne; da be­merk­te er plötz­lich ein Mi­nia­tur­bild auf ih­rer Brust; er be­trach­te­te es ge­nau­er, und wie groß war sein Er­stau­nen, als er die Züge des Un­ge­heu­ers er­kann­te, wel­ches einen so lan­gen Ein­fluss auf sein Le­ben ge­habt hat­te. In ei­nem An­fall von Wut er­griff er das Por­trät und trat es mit Fü­ßen. Als sie ihn frag­te, warum er so die Ab­bil­dung ih­res künf­ti­gen Ge­mahls zer­stö­re, sah er sie an, als wenn er sie nicht ver­stün­de, dann er­griff er ihre Hän­de und schau­te sie mit ei­nem Aus­druck wil­der Ver­wir­rung an, in­dem er sie bat, zu schwö­ren, dass sie nie die­ses Un­ge­heu­er hei­ra­ten wol­le, denn er ... Er konn­te nicht wei­ter spre­chen, es schi­en, als ob die Stim­me ihn wie­der auf­for­der­te, sei­nes Ei­des zu ge­den­ken, - schnell wand­te er sich um und dach­te Lord Ruth­ven zu er­bli­cken, al­lein er sah nie­mand. Un­ter­des­sen wa­ren die Vor­mün­der und der Arzt ein­ge­tre­ten, wel­che das al­les mit an­ge­hört hat­ten, und da sie es für die Rück­kehr sei­nes Wahn­sin­nes hiel­ten, trenn­ten sie ihn mit Ge­walt von Miss Au­brey und ba­ten sie, sich zu ent­fer­nen. Nun fiel er ih­nen zu Fü­ßen, bat, be­schwor sie nur einen Tag um Auf­schub. Sie wur­den da­durch noch mehr in ih­rer Mei­nung von dem rück­keh­ren­den Wahn­sin­ne Au­breys be­stärkt, ver­such­ten ihn zu be­ru­hi­gen und ent­fern­ten sich.

Lord Ruth­ven hat­te den Mor­gen nach dem Hof­zir­kel sei­nen Be­such ma­chen wol­len, war je­doch so wie nie­mand an­ge­nom­men wor­den. Als er von Au­breys Übel­be­fin­den hör­te, fühl­te er wohl, dass er es ver­ur­sacht habe; als er aber vollends er­fuhr, er sei wahn­sin­nig ge­wor­den, konn­te er sei­ne Freu­de kaum vor de­nen ver­ber­gen, von de­nen er die­se Nach­richt er­fah­ren hat­te. Er eil­te nach der Woh­nung sei­nes frü­he­ren Ge­fähr­ten, und durch be­harr­li­che Auf­merk­sam­keit, so­wie durch Äu­ße­rung ei­ner großen Zärt­lich­keit ge­gen den Bru­der und Teil­neh­mer an sei­nem Un­glücke, ge­lang es ihm, all­mäh­lich bei Miss Au­brey Ge­hör zu fin­den. Wer ver­moch­te auch sei­nen Küns­ten zu wi­der­stre­ben? Er hat­te Ge­fah­ren und Be­schwer­den zu er­zäh­len - sprach von sich selbst, als von ei­nem We­sen, wel­ches durch­aus mit kei­nem an­de­ren auf der Welt, au­ßer mit der, an die er sei­ne Wor­te rich­te­te, über­ein­stim­mend emp­fin­de, er­zähl­te ihr, wie nur, seit­dem er sie ken­ne, sein Da­sein ihm der Er­hal­tung wert ge­schie­nen habe, gleich als ob er nur ih­ren schmei­cheln­den Wor­ten und Tö­nen habe lau­schen wol­len - mit ei­nem Wor­te, er wuss­te die Schlan­gen­küns­te so treff­lich zu ge­brau­chen, oder es war viel­mehr der Wil­le des Schick­sals, dass er ihre vol­le Zu­nei­gung ge­wann. Da der Ti­tel des äl­te­ren Zwei­ges der Fa­mi­lie mit der Zeit auf ihn fiel, so er­hielt er einen an­sehn­li­chen Ge­sandt­schafts­pos­ten, der ihm zur Ent­schul­di­gung diente, dass er die Ver­mäh­lung (trotz des Bru­ders zer­rüt­te­ter Ge­sund­heit) be­schleu­nig­te, denn sie soll­te den Tag vor sei­ner Abrei­se nach dem Fest­land statt­fin­den.

Au­brey ver­such­te, als ihn die Vor­mün­der und der Arzt ver­las­sen hat­ten, die Die­ner zu be­ste­chen, doch ver­ge­bens! Er ver­lang­te Fe­der und Tin­te. Sie wur­den ihm ge­reicht; er schrieb einen Brief an sei­ne Schwes­ter, in dem er sie be­schwor, so wert ihr ihre ei­ge­ne Glück­se­lig­keit, ihre ei­ge­ne Ehre und die Ehre de­rer sei, die nun im Gra­be schlum­mer­ten, aber sie einst als die Hoff­nung ih­res Hau­ses in ih­ren Ar­men hiel­ten, nur um we­ni­ge Stun­den eine Ver­mäh­lung zu ver­schie­ben, auf die er die schreck­lichs­ten Ver­wün­schun­gen aus­schüt­te­te. Die Die­ner ver­spra­chen ihm, den Brief zu be­stel­len, über­ga­ben ihn aber dem Arz­te, der es für bes­ser hielt, das Ge­müt der Miss Au­brey nicht noch mehr durch das zu ängs­ti­gen, was er für An­fäl­le ei­nes Wahn­sin­ni­gen hielt.

Die Nacht ver­strich den ge­schäf­ti­gen Be­woh­nern des Hau­ses ohne Ruhe, und Au­brey hör­te mit ei­nem Ent­set­zen, das man sich eher vor­stel­len als be­schrei­ben kann, die Zei­chen ge­schäf­ti­ger Vor­be­rei­tun­gen. Der Mor­gen kam, und das Geräusch der an­fah­ren­den Wa­gen be­rühr­te sein Ohr. Au­brey ge­riet ganz au­ßer sich. Die Neu­gier der Die­ner be­sieg­te end­lich ihre Wach­sam­keit; sie stahlen sich all­mäh­lich weg und lie­ßen Au­brey un­ter der Auf­sicht ei­nes al­ten schwa­chen Wei­bes. Er be­nutz­te die­se Ge­le­gen­heit. Mit ei­nem Sprun­ge war er aus dem Zim­mer, und in ei­nem Au­gen­bli­cke stand er in dem, wo sich al­les zur Fei­er­lich­keit ver­sam­melt hat­te. Lord Ruth­ven war der ers­te, der ihn be­merk­te; er trat so­gleich zu je­nem hin, er­griff ihn hef­tig beim Arme und riss ihn, sprach­los vor Wut, mit sich aus dem Zim­mer. Auf der Trep­pe raun­te ihm Lord Ruth­ven ins Ohr: »Erin­nern Sie sich Ihres Ei­des, und be­den­ken Sie, dass, wenn Ihre Schwes­ter nicht heu­te mei­ne Ge­mah­lin wird, sie ent­ehrt ist! Die Wei­ber sind schwach!« - Mit die­sen Wor­ten dräng­te er ihn ge­gen sei­ne Die­ner hin, wel­che, durch das alte Weib auf­ge­regt, ihn zu su­chen ge­kom­men wa­ren. Au­brey konn­te sich nicht län­ger auf­recht er­hal­ten. Sei­ne Wut, die kei­nen Aus­bruch fand, hat­te ein Blut­ge­fäß zer­ris­sen, und er wur­de zu­gleich zu Bet­te ge­bracht. Dies wur­de in­des­sen sei­ner Schwes­ter ver­schwie­gen, wel­che bei sei­nem Ein­tritt nicht zu­ge­gen ge­we­sen war, denn der Arzt woll­te sie nicht be­un­ru­hi­gen. Die Ver­mäh­lung wur­de voll­zo­gen, und Braut und Bräu­ti­gam ver­lie­ßen Lon­don.

Au­breys Schwä­che nahm im­mer mehr zu; der Blut­ver­lust er­zeug­te Sym­pto­me des her­an­na­hen­den To­des. Er wünsch­te, sei­ner Schwes­ter Vor­mün­der möch­ten zu ihm ge­ru­fen wer­den, und als die Glo­cke Mit­ter­nacht ge­schla­gen hat­te, er­zähl­te er al­les, was die Le­ser auf den vor­ste­hen­den Blät­tern ge­fun­den ha­ben, und starb au­gen­blick­lich.

Die Vor­mün­der eil­ten fort, Miss Au­brey zu ret­ten, al­lein, es war zu spät. Lord Ruth­ven war ver­schwun­den und Au­breys Schwes­ter hat­te den Durst ei­nes Vam­pyrs ge­stillt.

John Wil­liam Po­li­do­ri - 1795 - 1821. Eng­li­scher Leib­arzt und da­durch Rei­se­ge­fähr­te von Lord By­ron. Im Al­ter von 26 Jah­ren be­ging Po­li­do­ri Selbst­mord.

Berenice - Edgar Allan Poe, 1835

»Di­ce­bant mihi so­da­les, si se­pulchrum ami­cae vi­si­ta­rem, cu­ras meas ali­quan­tu­lum fo­re­le­vat­as.« (Ebn Zai­at)

(»Mei­ne Freun­de er­klär­ten mir, dass ich eine Er­leich­te­rung mei­nes Elen­des fin­den kön­ne, wenn ich das Grab mei­ner Ge­lieb­ten be­such­te.«)

Mein Tauf­na­me ist Egaeus; mei­nen Fa­mi­li­enna­men will ich nicht nen­nen. Doch gibt es im gan­zen Land kei­ne Zin­nen, die mehr Jah­re und Ruhm ge­se­hen als die des düs­te­ren Schlos­ses mei­ner Vä­ter. Man hat un­se­re Fa­mi­lie ein Ge­schlecht von Geis­ter­se­hern ge­nannt; und vie­le Ein­zel­hei­ten, die an dem Äu­ße­ren un­se­res Stamm­schlos­ses auf­fie­len, ga­ben die­sem Glau­ben eine ge­wis­se Be­rech­ti­gung; ich den­ke an die Fres­ken des Sa­lons, die Wand­be­klei­dun­gen der Schlaf­zim­mer, die zi­se­lier­ten Stre­be­pfei­ler der Waf­fen­kam­mer, dann ganz be­son­ders an die Ga­le­rie al­ter Ge­mäl­de, an den Ein­druck, den das Biblio­thek­zim­mer mach­te, und end­lich an den In­halt der Biblio­thek selbst.

Alle Erin­ne­run­gen aus mei­ner frü­hen Ju­gend sind mit die­sem Zim­mer und sei­nen Bü­chern, von de­nen ich je­doch nichts wei­ter sa­gen will, aufs engs­te ver­bun­den. In die­sem Ge­mach starb mei­ne Mut­ter. Hier wur­de ich ge­bo­ren. Aber es ist wohl mü­ßig, zu be­haup­ten, dass ich nicht schon vor­her ge­lebt - dass un­se­re See­le kei­ne Vor­exis­tenz habe. Sie leug­nen es? Wir wol­len nicht wei­ter dar­über strei­ten! Ich bin über­zeugt und habe kein Ver­lan­gen, an­de­re zu über­zeu­gen. Ich bin über­zeugt, denn mich be­glei­tet eine Erin­ne­rung an äthe­ri­sche For­men, an geis­ter­haf­ter viel sa­gen­de Au­gen, an me­lo­di­sche, trau­ri­ge Töne - eine Erin­ne­rung, die mich nie ver­las­sen wird, ein An­den­ken, wie ein Schat­ten un­be­stimmt, un­be­stän­dig, ver­än­der­lich und auch ei­nem Schat­ten ähn­lich in der Un­mög­lich­keit, mich da­von zu be­frei­en, so­lan­ge die Son­ne mei­ner Ver­nunft leuch­tet.

In die­sem Zim­mer wur­de ich also ge­bo­ren. Ich kam aus der lan­gen Nacht, die nur schein­bar das Nicht-Da­sein ist, in ein Geis­ter­land, in ein Zau­ber­schloss, in die selt­sa­men Ge­fil­de des Ge­dan­kens und klös­ter­li­cher Ge­lehr­sam­keit. Ist es da ver­wun­der­lich, dass ich mit er­schro­cke­nen, hei­ßen Au­gen um mich blick­te, dass ich mein Kna­ben­al­ter un­ter Bü­chern be­grub und mei­ne Ju­gend an Träu­me­rei­en ver­lor?

Selt­sam und ver­wun­der­lich ist nur, dass, als die Jah­re flo­hen und der vol­le Mit­tag mei­ner Männ­lich­keit mich noch im Hau­se mei­ner Vä­ter fand, die Quel­len mei­nes Le­bens plötz­lich zu ver­sie­gen schie­nen und sich eine voll­stän­di­ge Ver­än­de­rung in dem We­sen selbst mei­ner ge­wöhn­lichs­ten Ge­dan­ken voll­zog. Die Wirk­lich­kei­ten der Welt be­rühr­ten mich wie Vi­sio­nen und nur wie Vi­sio­nen, wäh­rend die selt­sa­men Vor­stel­lun­gen des Traum­lan­des nicht etwa die Nah­rung mei­nes Da­seins wur­den, son­dern ein­zig und al­lein dies Da­sein selbst! Be­re­ni­ce und ich wa­ren Ge­schwis­ter­kin­der und wuch­sen zu­sam­men in mei­nem vä­ter­li­chen Hau­se auf. Doch ent­wi­ckel­ten wir uns ver­schie­den: ich war kränk­lich und stets in tie­fen Me­lan­cho­li­en ver­sun­ken - sie da­ge­gen leb­haft, gra­zi­ös und von über­strö­men­der Le­bens­kraft. Ich ver­grub mich in mein Stu­dier­zim­mer - sie sprang mun­ter auf den Hü­geln und Fel­dern um­her. Ich leb­te nur in mei­nem Her­zen und weih­te Kör­per und Geist den tiefs­ten, schmerz­volls­ten Be­trach­tun­gen - sie eil­te sorg­los durch das Le­ben, ohne an die Schat­ten auf ih­rem Pfa­de zu den­ken oder je­mals über die schweig­sa­me Flucht der schwarz­be­schwing­ten Stun­den zu er­schre­cken. Be­re­ni­ce! Be­re­ni­ce! Laut rufe ich ih­ren Na­men, und in wil­dem Aufruhr flat­tern auf fins­te­ren Eu­len­flü­geln tau­send Ge­dan­ken aus den grau­en Rui­nen der Erin­ne­rung her­vor! Und wie­der steht sie deut­lich vor mir wie in den ers­ten Ta­gen ih­rer leicht­her­zi­gen Fröh­lich­keit. Be­re­ni­ce, die strah­len­de, phan­tas­ti­sche Schön­heit, die Syl­phi­de in den Ge­bü­schen der hei­mat­li­chen Flur, die Na­ja­de ih­rer Quel­len!

Und dann wur­de al­les in ihr Ge­heim­nis und Grau­en - dann be­gann eine Ge­schich­te, die man nicht er­zäh­len soll­te.

Ein Übel, ein ver­häng­nis­vol­les Übel über­fiel sie wie ein Sa­mum. Vor mei­nen Au­gen wur­den ihr Kör­per, ihr Ge­müt, die gan­ze Ein­heit ih­res We­sens eine Beu­te des gräss­li­chen Zer­stö­rers, der wie ein Ver­nich­ter kam und ging! Doch wo blieb sein Op­fer? Die Kran­ke kann­te ich nicht - kann­te sie nicht als Be­re­ni­ce!

Un­ter dem zahl­rei­chen Ge­fol­ge von Lei­den, wel­che die­ser ers­te furcht­ba­re Aufruhr in dem kör­per­li­chen und geis­ti­gen Ver­hal­ten der Cou­si­ne nach sich zog, muss ich eine Art von Epi­lep­sie als ei­nes der trau­rigs­ten und hart­nä­ckigs­ten be­zeich­nen. Die­se ging häu­fig in voll­stän­di­gen Starr­krampf über, der alle Merk­ma­le der wirk­li­chen Auf­lö­sung an sich trug, ob­wohl sich die Kran­ke stets wie­der, und zwar ganz plötz­lich, von ihm er­hol­te.

Zu glei­cher Zeit wuchs mein ei­ge­nes Übel er­schre­ckend schnell und bil­de­te sich zu ei­ner Mo­no­ma­nie aus, die sich auf ganz neue, au­ßer­or­dent­li­che Wei­se äu­ßer­te. Von Stun­de zu Stun­de, von Mi­nu­te zu Mi­nu­te wur­de sie stär­ker und er­rang zu­letzt eine un­be­schränk­te Herr­schaft über mich. Die­se Mo­no­ma­nie be­stand in ei­ner krank­haf­ten Reiz­bar­keit je­ner geis­ti­gen Fä­hig­keit, wel­che die psy­cho­lo­gi­sche Wis­sen­schaft un­ter dem Aus­druck ›die Fä­hig­keit zur Auf­merk­sam­keit‹ be­greift. Man wird mich höchst­wahr­schein­lich nicht ver­ste­hen, denn ich fürch­te, es wird auf kei­ne Art und Wei­se mög­lich sein, einen ge­nau­en Be­griff von der In­ner­lich­keit des ner­vö­sen In­ter­es­ses zu ge­ben, mit wel­chem ich mich auf die Be­trach­tung der au­ßer­ge­wöhn­lichs­ten Ge­gen­stän­de des Wel­talls warf und in die­se ver­grub.

Ich konn­te stun­den­lang und un­er­müd­lich über ir­gend­ei­ne kin­di­sche, ober­fläch­li­che Be­mer­kung am Rand oder im Text ei­nes Bu­ches nach­sin­nen. Zu­wei­len wur­de ich den größ­ten Teil ei­nes Som­mer­ta­ges ganz von der Be­trach­tung ir­gend­ei­nes Schat­tens in An­spruch ge­nom­men, der schräg auf die Ta­pe­te oder den Fuß­bo­den fiel. Es war mög­lich, dass ich mich eine gan­ze Nacht hin­durch in den An­blick der ru­hi­gen Flam­me ei­ner Lam­pe oder der Glut ei­nes Koh­len­feu­ers ver­lor oder ganz mo­no­ton ein all­täg­li­ches Wort so lan­ge wie­der­hol­te, bis sein Klang je­den Sinn für mich ver­lo­ren hat­te. Manch­mal er­stick­te ich auch in mir je­des Ge­fühl kör­per­li­chen Da­seins durch eine hart­nä­ckig fort­ge­setz­te, voll­kom­me­ne Ruhe.

Das sind ei­ni­ge der häu­figs­ten und harm­lo­ses­ten Abir­run­gen mei­nes kran­ken Geis­tes. Vi­el­leicht er­schei­nen sie nicht ganz ohne Bei­spiel - je­den­falls spot­ten sie je­der Er­klä­rung.

Doch möch­te ich nicht miss­ver­stan­den wer­den. Die­se un­ge­bühr­lich tie­fe, krank­haf­te Auf­merk­sam­keit, wel­che von an sich ganz un­be­deu­ten­den Din­gen er­regt wur­de, darf nicht mit dem na­tür­li­chen Hang zum Grü­beln ver­gli­chen wer­den, den alle Men­schen mehr oder we­ni­ger ver­spü­ren und dem sich ganz be­son­ders Per­so­nen mit leb­haf­ter Phan­ta­sie oft über­las­sen. Mei­ne Krank­heit war nicht, wie es viel­leicht schei­nen könn­te, der äu­ßers­te Aus­druck die­ser Nei­gung, son­dern et­was von ihr ur­sprüng­lich und we­sent­lich Ver­schie­de­nes. Im ers­ten Fall wird der Träu­mer, der Schwär­mer, ge­wöhn­lich durch einen nicht all­täg­li­chen, nicht ba­na­len Ge­gen­stand an­ge­regt, und in ei­ner Wild­nis von De­duk­tio­nen und Sug­ge­s­tio­nen, die ihm der­sel­be auf zwingt, ver­liert er un­be­merkt die­sen Ge­gen­stand selbst aus den Au­gen, so daß er schließ­lich, am Ende sei­ner Träu­me, die für ihn selbst üb­ri­gens meist an­ge­nehm, wol­lüs­tig an­ge­nehm sind, die ers­te Ur­sa­che sei­nes Nach­den­kens ver­lo­ren und ver­ges­sen hat. In mei­nem Fall je­doch war der Aus­gangs­punkt stets un­be­deu­tend, ob­wohl er durch das Me­di­um mei­ner krank­haf­ten An­schau­ung eine schein­ba­re Wich­tig­keit er­hielt. Nur äu­ßerst sel­ten gab ich mich ir­gend­wel­chen Fol­ge­run­gen hin; und wenn es ein­mal der Fall war, kehr­ten sie stets wie­der mit Hart­nä­ckig­keit auf ih­ren Aus­gangs­punkt zu­rück.

Die Be­trach­tun­gen wa­ren nie­mals an­ge­nehm; und zum Schluss war mir die ers­te Ur­sa­che der Grü­belei nicht ent­schwun­den, son­dern hat­te in mir eben je­nes un­heim­li­che, un­na­tür­lich ge­stei­ger­te In­ter­es­se er­regt, das als das ei­gent­li­che Merk­mal mei­nes Übels an­zu­se­hen ist.

Kurz also: die Fä­hig­keit des Geis­tes, die bei mir krank­haft reiz­bar war, be­stand, wie ich schon sag­te, in ei­ner Fä­hig­keit zur Auf­merk­sam­keit, wäh­rend bei dem ge­wöhn­li­chen Träu­mer die Gabe der Be­trach­tung in Tä­tig­keit tritt.

Wenn die Bü­cher, die ich in je­ner Epo­che las, das Übel auch nicht ge­ra­de er­reg­ten, so stei­ger­te ihr mys­ti­scher und zu­wei­len we­nig lo­gi­scher In­halt, der mich zu im­mer neu­em Grü­beln trieb, mei­ne Krank­heit doch in be­ängs­ti­gen­der Wei­se. Ich er­in­ne­re mich un­ter an­de­rem noch sehr ge­nau der Ab­hand­lung des ed­len Ita­li­e­ners Co­eli­us Se­cun­dus Cu­rio »De Am­pli­tu­di­ne Bea­ti Reg­ni Dei«, des großen Wer­kes des hei­li­gen Au­gus­ti­nus »Der Got­tes­staat« und Ter­tul­lians »De Car­ne Chris­ti«, in wel­chem sich der pa­ra­do­xe Auss­pruch fin­det, der mich meh­re­re Wo­chen lang in schwe­rem, frucht­lo­sem Nach­den­ken ge­bannt hielt: »Mor­tu­us est Dei fi­li­us; cre­di­bi­le est quia in­ep­tum est; et se­pul­tus re­s­urr­e­xit; cer­tum et quia im­pos­si­bi­le est.« -

Mein Geist, den so un­be­deu­ten­de Din­ge aus dem Gleich­ge­wicht brin­gen konn­ten, moch­te wohl Ähn­lich­keit mit je­nem Mee­res­fel­sen ha­ben, von dem Pto­le­mä­us He­phe­s­ti­on er­zählt, dass er al­ler mensch­li­chen Ge­walt, ja dem wil­den An­sturm der Ele­men­te wi­der­stand, doch in sei­nen Grund­fes­ten er­beb­te, wenn man ihn mit der Blu­me As­pho­dill be­rühr­te. So wird nur ein ober­fläch­li­cher Den­ker glau­ben kön­nen, dass ich über die Ver­wüs­tun­gen, die das un­glück­se­li­ge Lei­den in dem see­li­schen Zu­stand Be­re­ni­cens an­ge­rich­tet hat­te, in mei­ner krank­haf­ten Art nach­ge­grü­belt hät­te. Tat­säch­lich war dies durch­aus nicht der Fall.

In mei­nen kla­ren Au­gen­bli­cken emp­fand ich wohl sehr viel Kum­mer über ihr Un­glück; der Ge­dan­ke an den voll­stän­di­gen Schiff­bruch, den ihr schö­nes, hei­te­res Le­ben er­lit­ten, schnitt mir tief ins Herz, und ich dach­te oft und mit Bit­ter­keit über die bö­sen Zau­ber­kräf­te nach, die eine so grau­en­haf­te Um­wand­lung be­wir­ken konn­ten. Doch hat­ten die­se Re­fle­xio­nen nichts von der Idio­syn­kra­sie mei­nes Übels an sich und moch­ten in die­ser Ge­stalt un­ter ähn­li­chen Um­stän­den wohl an al­len Men­schen an­ge­stellt wer­den. Mein kran­kes Grü­beln be­schäf­tig­te sich viel­mehr mit den we­ni­ger wich­ti­gen, aber viel­leicht auf­fal­len­de­ren Ver­än­de­run­gen, die sich in der kör­per­li­chen Er­schei­nung Be­re­ni­cens voll­zo­gen hat­ten - mit der son­der­ba­ren und er­schre­cken­den Ver­zer­rung ih­res äu­ße­ren We­sens.

Ich wuss­te be­stimmt, dass ich sie in den strah­len­den Ta­gen ih­rer un­ver­gleich­li­chen Schön­heit nicht ge­liebt hat­te. Die selt­sa­me Anoma­lie in mei­nem Da­sein ließ mei­ne Ge­füh­le nie­mals dem Her­zen, ließ mei­ne Lei­den­schaf­ten stets dem Ge­dan­ken ent­sprin­gen. In frü­her, grau­er Mor­gen­däm­me­rung, zu Mit­tag un­ter den zit­tern­den Schat­ten des Wal­des, des Nachts in der Stil­le mei­nes Biblio­thek­zim­mers war sie vor mei­nen Au­gen er­schie­nen: nicht als die le­ben­de, at­men­de Be­re­ni­ce, son­dern als die Be­re­ni­ce ei­nes Trau­mes; nicht als ein ir­di­sches We­sen von Fleisch und Blut, son­dern als die Abstrak­ti­on ei­nes sol­chen Ge­schöp­fes, nicht als ein Ge­gen­stand der Be­wun­de­rung, son­dern als ein Ob­jekt der Ana­ly­se, nicht als ein We­sen, ge­schaf­fen zur Lie­be, son­dern als The­ma sinn- und plan­lo­sen Nach­den­kens. Und nun - nun er­beb­te ich in ih­rer Ge­gen­wart, nun erb­lass­te ich, wenn sie sich mir nä­her­te, und plötz­lich ward mir be­wusst, dass sie mich seit lan­gem lieb­te, und ich sprach ihr in ei­ner bö­sen Stun­de trotz ih­res zer­fal­le­nen, trost­lo­sen Zu­stan­des von Hei­rat.

Der Tag, den wir für die Hoch­zeit fest­ge­setzt hat­ten, nah­te her­an. Ich saß an ei­nem Win­ter­nach­mit­tag - es war ein son­der­bar ru­hi­ges, ne­be­li­ges, war­mes Wet­ter - in mei­nem Biblio­thek­zim­mer und glaub­te mich al­lein. Doch als ich mei­ne Au­gen er­hob, sah ich Be­re­ni­ce vor mir ste­hen.

Lag es an mei­ner über­er­reg­ten Phan­ta­sie - oder an dem Ein­fluss der Ne­bel­luft, an der un­be­stimm­ten Däm­me­rung im Zim­mer, an der dunklen Klei­dung, die sie in lan­gen Fal­ten um­hüll­te, dass mir ihre Um­ris­se so schwan­kend und un­deut­lich er­schie­nen? Ich ver­mag es nicht zu ent­schei­den. Vi­el­leicht war sie wäh­rend ih­rer Krank­heit ge­wach­sen!? Sie sag­te kein Wort, und ich - hät­te nicht für die Welt eine Sil­be spre­chen kön­nen. Ein Schau­der durch­fuhr mei­nen Kör­per; ein Ge­fühl un­er­träg­li­cher Angst be­druck­te mich; eine ver­zeh­ren­de Neu­gier­de rang sich in mei­ner See­le hoch; ich sank in mei­nen Stuhl zu­rück und ver­harr­te eine Zeit lang re­gungs­los, atem­los, die Bli­cke fest auf Be­re­ni­ce ge­rich­tet. Ach, wie er­schre­ckend sie ab­ge­ma­gert war! Ich konn­te kei­ne Spur des frü­he­ren We­sens auch nur im flüch­tigs­ten Um­riss wie­der er­ken­nen.

Mei­ne wil­den Bli­cke fie­len end­lich auf ihr Ge­sicht: die Stirn war hoch, sehr bleich und son­der­bar ru­hig. Ihr frü­her pech­schwar­zes Haar fiel zum Teil über die Stirn und be­schat­te­te die hoh­len Schlä­fen mit zahl­lo­sen Lo­cken von schrei­end gel­ber Far­be, de­ren phan­tas­ti­scher An­blick grau­sam ge­gen die müde Trau­er ih­rer Züge ab­stach. Die Au­gen wa­ren ohne Le­ben und Glanz und schein­bar ohne Pu­pil­len, und un­will­kür­lich schra­ken mei­ne Bli­cke vor ih­rem glä­ser­nen Star­ren zu­rück und be­trach­te­ten ihre dün­nen, zu­sam­men­ge­schrumpf­ten Lip­pen. Sie teil­ten sich, und mit ei­nem be­son­de­ren, be­deut­sa­men Lä­cheln ent­hüll­ten sich die Zäh­ne der also ver­än­der­ten Be­re­ni­ce. Woll­te Gott, dass ich sie nie ge­se­hen hät­te oder dass ich nach ih­rem An­blick ge­stor­ben wäre!