4,99 €
“Er macht mich wahnsinnig, aber er ist der Mann, den ich will – und ich bekomme immer genau das.”
Als Assistenzärztin Elaine Finley am Morgen vor ihrer Schicht in einen Streit gerät, ahnt sie nicht, dass der ungehobelte Typ aus der Tiefgarage niemand geringerer ist als ihr neuer Oberarzt Dr. Lucas King. Trotz anfänglicher Abneigung spüren sie bald jedoch eine unwiderstehliche Anziehungskraft, die beide nur schwer ignorieren können.
Lucas kann sich nicht von Elaine fernhalten, gleichzeitig fällt es ihm schwer, sich ihr zu öffnen. Nach einem Schicksalsschlag zog er sich vollkommen zurück und stellte die Karriere und seine Tochter Grace in den Mittelpunkt seines Lebens.
Elaine glaubt an ihre Verbindung, doch seine Geheimnisse und immer noch viel zu präsente Vergangenheit lassen sie zweifeln. Lucas muss sich entscheiden, was er will, und dabei nicht nur an sich und sein Herz denken, sondern auch an die Zukunft, die er für Grace will. Können sie lernen, einander zu vertrauen und zu unterstützen, oder stehen zu viele Hindernisse zwischen ihnen für ein Happy End?
“Vancouver Secrets” von Mrs Kristal ist ein packender Liebesroman über Verlust, Vertrauen und Verlagen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
_____________________
Texte: Mrs Kristal
Cover: Art for your Book
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat:
Dr. Andreas Fischer, Nadine Löhle - Goldfeder Texte
_____________________
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
_____________________
ISBN: 978-3-9671-4443-7
Das Krankenhaus in Vancouver gleicht einer Festung. Einer aus Beton bestehenden und vergessenen, grauen, sehr hässlichen Festung. Es ist keines dieser hübschen Gebäude aus der Kolonialzeit, das die Gründerväter unserer Nation aus roten Sandsteinen gebaut haben. Nein, es ist ein grauer Klotz, der die Skyline von Vancouver beschmutzt. In den Neunzehnhundertsiebzigerjahren legte man scheinbar keinen Wert auf schöne, sondern lediglich auf möglichst funktionale und beständige Gebäude. Wobei ›beständig‹ nicht das richtige Adjektiv ist, um das Krankenhaus von außen zu beschreiben. Die Fassade muss immer wieder mit Gerüsten gestützt und erneuert werden. Der Putz bröckelt ab, und wenn man in den Sommermonaten im Innenhof sitzt, um einen Kaffee zu genießen, kann es passieren, dass man Stücke der Fassade in diesem wiederfindet.
Ich fahre mit meinem hellblauen VW Beetle an die Schranke der Tiefgarage heran und halte den Wagen an. Anschließend lasse ich das Fenster herunter und strecke meinen linken Arm aus, um festzustellen, dass ich mal wieder zu weit von dem erlösenden Knopf für das Öffnen der Schranke entfernt gehalten habe. Gequält stöhne ich auf, während die Fahrertür zu öffnen, mich abzuschnallen und den Knopf zu drücken. Ich weiß, dass das vielen Leuten passiert, aber in diesen Momenten habe ich das Gefühl, dass ich die Einzige bin. Als das endlich getan ist, gleite ich zurück in den Sitz und fahre in die Tiefgarage. Zielsicher manövriere ich mein Baby, das ich mir vor einigen Tagen finanziert habe, durch die engen Gänge. Bei meinem klapprigen Ford Focus, den ich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr fahren musste – und davor mein älterer Bruder Ben –, hatte ich nie Angst, dass ich vielleicht anecke. Aber bei meinem eigenen Wagen schlottern mir jedes Mal die Knie, wenn ich das Gaspedal drücke. Ich kann die Stimme meines Vaters wieder und wieder hören. Als er ihn zum ersten Mal sah, hat er mich mahnend gemustert und mir mit strenger Stimme eingebläut, dass ich vorsichtig fahren solle. Nicht zu vergleichen mit unserem Ford Focus, den nun meine jüngere Schwester Brenda übernommen hat.
Die Finleys sind eine waschechte Ärztefamilie. Unsere Eltern Elise und Bernard sind Allgemeinmediziner mit einer Praxis in einem Vorort von Vancouver. Mein Dad stammt von dort, meine Mom aus Victoria. Sie haben sich im Studium kennengelernt, ineinander verliebt und eine Familie gegründet.
Brenda ist siebzehn Jahre alt und hat dieses Jahr die Highschool beendet. Zum Leidwesen unserer Eltern will sie nicht Medizinerin werden, sondern strebt ein Praktikum bei einer Zeitung an.
Ben ist Chirurg im Krankenhaus in Vancouver, und ich arbeite in der Gynäkologie. Wenn also Brenda nicht Medizin studiert, wird niemand von uns die Praxis übernehmen.
Zurück zu meinem wunderschönen VW Beetle, der nun perfekt in der Parklücke steht, sodass ich den Motor abstellen kann. Er fährt nicht über die Straße, er gleitet. Keine störenden Motorengeräusche oder fragenden Blicke, ob das Teil noch verkehrstauglich ist. Unfassbar, dass meine Eltern Brenda immer noch mit der klapprigen Kiste rumfahren lassen. Der war schon am Ende, als ich ihn von Ben geerbt habe.
Ich greife nach meiner Handtasche, die auf dem Beifahrersitz liegt, und nach meinem Handy und will die Tür öffnen, als plötzlich ein großes, schwarzes Auto in die Parklücke neben mir fährt.
Ein panischer Aufschrei verlässt meine Kehle, und mein Herz rast. Geistesgegenwärtig ziehe ich die Tür wieder zu, bevor ein Kratzer drankommt. Ich schließe sogar die Augen, um wirklich sicher zu sein, dass nichts passiert ist. Was ich nicht gesehen habe, das kann ich auch nicht bezeugen. Neben mir in der Parklücke steht ein riesiges, schwarzes Monster auf vier Rädern. Vorsichtig öffne ich die Tür und dränge mich aus dem Wagen. Der Fahrer des SUV steigt ebenfalls aus und wirft die Tür zu. Ich zerre meine Tasche hinter mir her, weil der Platz, den ich zuvor noch hatte, deutlich geschwunden ist. Obwohl, nein … Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Geschwunden, dass ich nicht lache! Ich fühle mich wie eine Sardine in der Dose. Hätte ich meine Fahrertür einen Millimeter weiter aufgestoßen, hätte der Besitzer des schwarzen Monstrums sie mir abgefahren. Ich wäre gespannt, wie er oder sie – man weiß es nicht – das meinem Dad erklärt hätte. Denn ich hätte es ganz sicher nicht getan. Es wäre nicht meine Schuld gewesen.
Mit einem Piepen verschließt die Zentralverriegelung meinen Beetle.
»So eine verdammte …«, fluche ich, während ich mich weiter zwischen den Autos hindurchquetsche. »Das darf doch wohl nicht wahr sein. Welcher Idiot parkt so?«
»Ich!«, erklingt eine raue und sehr männliche Stimme.
Erschrocken fahre ich herum. Meine langen blonden Haare fliegen durch die Luft, weil ich sie vor Schichtbeginn nie in einem Zopf trage. Ich liebe sie viel zu sehr, um sie in ein Haargummi zu zwängen.
Vor mir steht ein wahnsinnig attraktiver Mann. Er muss mindestens eins neunzig groß sein. Seine kurzen braunen Haare sind ein wenig mit Gel gestylt, und sein Dreitagebart lässt ihn unheimlich sexy wirken. Die braunen Augen sehen mich eindringlich an. Er mustert mich, so wie ich ihn. In der linken Hand hält er eine Aktentasche und in der rechten einen Autoschlüssel. Seine Sonnenbrille muss er sich in die Haare geschoben haben. Das weiße Shirt betont seine muskulöse Brust, und die Lederjacke gibt seinem Outfit etwas Verwegenes. Die zerrissene Blue-Jeans und die weißen Sneakers runden das Bild dieses Prachtkerls ab. Er sieht unwahrscheinlich gut aus. Doch als er noch einen Schritt auf mich zumacht, fällt mir wieder ein, dass er der Fahrer des Monstrums ist.
»Sie sind der Fahrer dieses Wagens?« Ich deute darauf. Er nickt. »Haben Sie den Führerschein im Lotto gewonnen, oder was?«
Himmel, was bin ich wütend. Er öffnet den Mund, um mir zu antworten, aber das lasse ich nicht zu. Oh nein, das diskutieren wir nicht aus. Er bekommt jetzt eine Ansage. Ich bin Dr. Elaine Finley und Ärztin dieses Krankenhauses. Na gut, ich bin eine kleine, unbedeutende Assistenzärztin, die mit viel Glück heute eine Geburt leiten darf, aber ich bin eine Frau Doktor. Dieser ungehobelte Kerl wird einer dieser neuen Schickimicki-Typen sein, die in den gläsernen Gebäuden am Hafen wohnen. Diese Wolkenkratzer strotzen nur so vor Geld und Arroganz. Außerdem sind sie direkt vor meiner Nase. Ich wohne nämlich in zweiter Reihe dahinter.
»Sie müssen den Führerschein im Lotto gewonnen haben«, zetere ich weiter. »Das Auto ist zu groß für die Parklücke, und außerdem bezweifle ich, dass Sie sich vor dem Einparken angemessen umgesehen haben.«
Er zieht die Augenbrauen hoch und wirft noch einen Blick auf unsere Wagen. »Hören Sie«, meint er ruhig. »Ich bin spät dran, und wie ich sehe, ist weder an Ihrer babyblauen Schleuder –«
»Himmelblau«, werfe ich ein. »Die Farbe nennt sich Himmelblau.«
»Himmelblauen Schleuder«, korrigiert er sich und wagt es, seine Lippen zu einem Grinsen zu verziehen. »Weder an meinem Range Rover noch an Ihrem Wagen ist auch nur ein Kratzer. Daher denke ich, dass alles okay ist.«
»Wie bitte?« Schockiert lege ich mir die Hand aufs Herz und sehe ihn an. »Sie haben mir fast die Tür abgefahren.«
Er schüttelt belustigt den Kopf und schließt sein Auto ab. Die Rücklichter blinken auf und mir direkt in die Augen.
»Die Betonung scheint an dieser Stelle ganz klar und deutlich auf ›fast‹ zu liegen«, antwortet er. »Ich habe es demnach nicht getan. Und nun …«, er macht eine verhängnisvolle Pause und grinst mich an, »hoffe ich, dass wir uns nie wiedersehen.«
Ich öffne den Mund, um etwas zu entgegnen, aber bin zu schockiert von seinem schamlosen Verhalten. Hat er wirklich zu mir gesagt, er hoffe, dass wir uns nicht mehr sehen würden? Nun gut, das beruht auf Gegenseitigkeit, aber trotzdem finde ich es unmöglich. Dann dreht er sich um und schlendert in Richtung der Aufzüge.
»Ich hoffe auch, dass wir uns nie wiedersehen!«, rufe ich ihm nach und stampfe wie ein beleidigtes kleines Kind mit dem Fuß auf dem Boden auf.
Dummerweise muss ich ihm dann aber folgen, weil ich ebenfalls mit dem Lift nach oben fahren will, um meine Schicht anzutreten. Erleichtert stelle ich fest, dass er den Besucheraufzug nimmt und nicht den fürs Personal. Das wäre ja noch schöner, wenn der hier arbeiten würde. So wie der aussieht, ist er wohl auf dem Weg zu Ben, um seine Freundin abzuholen, die sich die Titten hat aufpumpen lassen. Nicht, dass das das tägliche Brot meines Bruders wäre – solange er in Elternzeit ist, ohnehin nicht –, aber er macht solche Eingriffe ab und zu.
An den Liften ziehe ich meine Chipkarte für Mitarbeiter aus meiner Handtasche und halte sie an den Sensor. Unser Lottogewinner sieht zu mir herüber und lächelt mich an.
»Sie arbeiten hier?«, fragt er.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, aber ja. Ich arbeite hier«, erwidere ich zickig und bin froh, dass sein Aufzug sich in diesem Moment ankündigt und öffnet.
Er schaut mich noch einmal an, ehe er in die Kabine tritt. »Dann hoffe ich noch mehr, dass wir uns nicht mehr sehen werden«, meint er. »Und übrigens?«
»Was?«, fauche ich. Meine Stimme bebt.
»Ihr Auto ist babyblau«, stellt er nochmals fest und verschwindet im Aufzug. Zu seinem Glück schließen sich die Türen augenblicklich, sonst hätte ich ihn einen Kopf kürzer gemacht.
Mein Auto ist himmelblau.
* * *
Abgehetzt komme ich zur Spätschicht auf der gynäkologischen Station an. Nach dem Stress in der Tiefgarage habe ich beim Umziehen ein wenig getrödelt. Ich trödele nie, aber der Typ ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Sein belustigter Kommentar über mein Auto hat sich tief in mein Gehirn gebrannt. Nur, weil er einen dicken Range Rover fährt, hat er meinem Baby nicht die Farbe Babyblau zu verpassen.
»Hallo.« Ich lächle meine Kollegin und Hebamme Eve an, und sie nickt mir zu.
»Guten Tag, Dr. Finley«, begrüßt sie mich kichernd und reicht mir eine Akte. »Du bist spät.«
Ich sollte erwähnen, dass Eve nicht nur meine Kollegin, sondern auch eine sehr gute Freundin ist. Wir haben zwei Semester zusammen studiert, bevor sie eine Ausbildung als Hebamme begonnen hat. Dass wir nun wieder zusammenarbeiten, ist ein glücklicher Zufall. Ihre langen braunen Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden. Ihre Arme sind mit Tattoos übersät. Sie ist ein ausgeflippter Mensch, der immer einen flotten Spruch auf den Lippen hat, und ihr offenes Wesen tut den werdenden Eltern gut. Vor allem, weil wir Ärzte meist den nicht so schönen Part im Kreißsaal übernehmen.
»Ja«, räume ich ein. »Es gab einen kleinen Zwischenfall in der Tiefgarage.«
›Kleiner Zwischenfall‹ ist eine gute Umschreibung für das, was geschehen ist. Besorgt sieht Eve mich an. Dann fragt sie mit gesenkter Stimme: »Hast du dein neues Auto an einen Pfeiler gesetzt und musst es deinem Dad erklären?«
Warum zum Kuckuck denkt jeder, dass ich eine Beule an mein neues Auto fahre? Ich bin seit über zehn Jahren unfallfrei.
»Nein!«, gebe ich empört zurück. »So ein Idiot ist mit seinem Range Rover in die Parklücke neben meiner gerauscht und hätte mir fast die Tür abgefahren.«
Eve hebt wissbegierig die Augenbrauen, als wartete sie auf die interessanten Informationen. »Und dann hat der Kerl auch noch die Frechheit besessen, mein Auto als ›babyblaue Schleuder‹ zu bezeichnen.«
Sie prustet los und hält sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Ich finde es nicht lustig, dass er die Farbe meines Beetles absolut verkannt hat. Er ist himmelblau und nicht babyblau.
»Du musst zugeben, dass Babyblau und Himmelblau ziemlich identische Farben sind«, wirft sie ein.
»Spinnst du?«, frage ich. »Identisch, dass ich nicht lache. Das sind zwei völlig verschiedene Farben. Das wirst du merken, wenn du sie nebeneinander auf einer Farbkarte siehst.«
Eves Blick nach zu urteilen, hält sie mich vermutlich für verrückt, aber das bin ich nicht. Mein Auto ist himmelblau und nicht babyblau.
»Wie dem auch sei«, meint sie. »Was war das für ein Kerl?«
Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Es ist doch völlig egal, was das für ein Kerl war, oder nicht? Fakt ist, dass er fast mein Auto zu Schrott gefahren hat. Mehr muss sie als meine Freundin nun wirklich nicht wissen.
»Er hat zuerst mein Auto und dann mich beleidigt«, sage ich. »Wen interessiert es, was für ein Kerl er war?«
»Deiner Reaktion nach zu urteilen, ist er heiß. Vielleicht arbeitet er hier«, mutmaßt sie. »Ein süßer, neuer Arzt womöglich.«
Ich verdrehe die Augen und kann nicht glauben, dass ich es ihr erzählt habe.
»Er hat den Aufzug für Besucher genommen«, erkläre ich und lächele sie an. »Demnach ist er kein neuer Arzt.«
»Schade«, meint sie und zuckt mit den Schultern. Ich folge ihr aus dem Stationszimmer auf den Flur. Eve will etwas sagen, als die große Eingangstür zur Station aufgeht und der Krankenhausdirektor Mr. Miller eintritt. Wir werfen uns fragende Blicke zu, weil er sich in den meisten Fällen vorher ankündigt.
»Was will der denn hier?«, flüstert Eve, und ich zucke mit den Schultern. Ich habe keine Ahnung, was er will. Bloß weil ich aktuell die einzige feste Ärztin der Gynäkologie bin, da Dr. Burnes im Urlaub und Dr. Cargery vor einem Monat in Rente gegangen ist, heißt das noch lange nicht, dass ich über alles informiert bin.
»Dr. Finley.« Mr. Miller wirkt erfreut. »Wie schön, dass ich Sie direkt auf dem Flur antreffe und nicht suchen muss.«
Er nickt Eve zu, ohne sie anderweitig zu begrüßen, was ich nicht nur anmaßend, sondern auch ungerecht finde. Die Hebammen verdienen denselben Respekt wie wir Ärzte. Ohne sie würde hier gar nichts laufen. Dasselbe gilt für die Schwestern, die sich um unsere Patientinnen und deren Neugeborene kümmern.
»Guten Tag, Mr. Miller.« Ich schüttle seine Hand. Sie ist feucht und fühlt sich unangenehm an. »Was kann ich für Sie tun?«
Er lächelt mich an und tritt zur Seite. Ein Mann kommt hinter ihm zum Vorschein, und mir klappt die Kinnlade runter. Vor mir steht der Rüpel aus der Tiefgarage. Der Kerl, der mein Auto beschimpft und gesagt hat, dass er mich nie wiedersehen möchte. Er hat seine schwarze Lederjacke und die Jeans gegen einen Kittel und eine weiße Hose getauscht. Ein Stethoskop hängt locker um seinen Hals. Einzelne Stifte stecken in der Brusttasche des Kittels, und er sieht zum Anbeißen aus in diesem Outfit. Eve scheint der gleichen Meinung zu sein, denn sie seufzt leise, sodass ich ihr einen Tritt verpasse.
»Darf ich die Herrschaften bekannt machen?« Mr. Miller zeigt auf den Rüpel und dann auf mich. »Dr. Lucas King, der neue Oberarzt der Gynäkologie.«
Bitte was ist er? Er ist mein neuer Vorgesetzter? Ach du heilige Scheiße, das kann doch nicht wahr sein.
»Dr. King, das ist Dr. Elaine Finley. Sie ist unsere Assistenzärztin und die rechte Hand von Dr. Burnes. Ich erzählte Ihnen bereits, dass sie im Urlaub ist. Bis Dr. Burnes zurückkehrt, übergebe ich Sie an Dr. Finley.«
Ich bekomme keinen Ton heraus und starre ihn fassungslos an. Zu meinem Glück scheint es ihm auch nicht besser zu gehen.
Es müssen Minuten vergehen, in denen ich Dr. Lucas King sprachlos anschaue.. Es beruhigt mich allerdings, dass er ebenso perplex ist, mich zu sehen. Denn seien wir mal ehrlich, Lucas – ich meine Dr. King – wollte mich nicht wiedersehen und ich ihn auch nicht. Wir mögen einander nicht, und das wird sich so schnell auch nicht ändern.
Mal etwas anderes: Heißt der Kerl wirklich King mit Nachnamen? Da wundert es mich nicht, dass er ein dermaßen arroganter und missbilligender Zeitgenosse ist. Kein Mensch mit normalem Verstand heißt King mit Nachnamen. Er ist arrogant, anmaßend und frech. Sein Nachname setzt dem Ganzen die Krone auf. In seiner Kindheit war er bestimmt der kleine Prince, der zum King erzogen werden sollte. Einen winzigen Moment überlege ich, ob seine Mutter eine glühende Elvis-Fanatikerin war und sie deswegen den Nachnamen King tragen. Es ist für mich kein richtiger Nachname. Obwohl ich an diesem Punkt zugeben muss, dass Finley auch ein männlicher Vorname ist. Verdammt.
Dr. Lucas King sieht fantastisch aus in dem weißen Shirt und dem Kittel darüber. Bei so einem Gynäkologen haben wir sicherlich bald nicht nur werdende Mütter auf dem Flur sitzen, sondern auch solche, die wissen möchten, wo man Männer wie ihn zur Befruchtung findet.
Ein Stoß in die Rippen lässt mich aufschrecken, und ich sehe Eve an. Sie hat die Augenbrauen zusammengezogen und mustert mich skeptisch. Oh fuck. Ich war so komplett in Gedanken versunken wegen Dr. King, dass ich nicht mitbekommen habe, wie Mr. Miller mit mir gesprochen hat.
»Entschuldigen Sie.« Ich räuspere mich und schenke ihm meine volle Aufmerksamkeit. »Was sagten Sie?«
»Ich sagte, dass ich Ihnen Dr. King nun überlassen werde und hoffe, Sie werden sich gut um ihn kümmern.«
Ich werfe ihm einen Blick zu und sehe, wie Dr. King grinst. Er hat mir scheinbar ganz genau angemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders war. Es ärgert mich, dass ich manchmal so durchschaubar bin. Vor allem in Momenten, in denen ich vor meinem Gegenüber stark und tough wirken möchte. Ich bin keine dumme Blondine, der die Farbtinktur zu weit ins Gehirn eingezogen ist. Rein äußerlich bin ich mit meiner schmalen Figur, den langen blondierten Haaren und meiner makellosen Haut eine Barbie, aber ich habe einen Doktortitel und verdammt viel auf dem Kasten.
»Ich verabschiede mich.« Mr. Miller schüttelt Dr. King die Hand. »Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten Arbeitstag«, sagt er. »Auf Wiedersehen, Dr. Finley.«
»Wiedersehen.« Ich schüttle seine Hand ebenfalls.
Nachdem Mr. Miller gegangen ist, tritt ein unangenehmes Schweigen zwischen uns ein, bis Eve die Initiative ergreift.
»Ich bin Eve«, stellt sie sich vor. »Schön, Sie kennenzulernen.«
»Ich bin Dr. Lucas King.« Er nimmt ihre Hand an. »Lucas reicht völlig aus, solange wir unter uns sind. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Ich schaue ihn mit großen Augen an, weil er Eve das Du angeboten hat und mich weiterhin ignoriert.
Eventuell ist mir das jetzt doch ein bisschen zu viel des Guten. Er ist immerhin ihr Vorgesetzter. Er lächelt sie freundlich an, und für einen kurzen Moment bin ich tatsächlich neidisch. Mich hat er noch nie angelächelt. Nein, er beleidigt mich lieber. Ich räuspere mich, sodass ich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehe.
»Ich würde Ihnen gern Ihr neues Büro zeigen und dann zur Übergabe ins Schwesternzimmer gehen«, schlage ich vor. »Wir hängen ein wenig hinter dem Zeitplan. Einige Geburten schreiten rasant voran.«
Eve zieht wieder die Augenbrauen hoch und ist sich meiner Lüge absolut bewusst. Die Geburten in der Nacht sind gut vonstattengegangen, und aktuell ist alles ruhig. Wir haben lediglich zwei gebärende Frauen auf der Station, aber beide befinden sich noch in der Eröffnungsphase. Es wird vermutlich Stunden dauern, bis die Kinder auf die Welt kommen. Es ist absoluter Blödsinn, was ich erzähle.
»Ist das so?« Dr. King grinst mich an und schiebt die Hände in die Taschen seiner Hose. Dann leckt er sich kurz über die Lippen. Ich beobachte ihn dabei und muss zugeben, dass es wahnsinnig sexy aussieht. Alles, was er tut, ist irgendwie sexy. »Dann sollten wir uns wohl auf den Weg machen, was? Hat mich gefreut, Eve.« Er lächelt sie freundlich an und richtet dann seinen Blick auf mich. »Gehen wir?«
Ich antworte ihm nicht, sondern nicke stattdessen und gehe voran. Es bereitet mir ein mulmiges Gefühl, dass er mir folgt und wir einen dermaßen schlechten Start in der Tiefgarage hatten. Immerhin ist er ab sofort mein Vorgesetzter, und ich bekomme ein großes Problem, wenn sich unsere gegenseitige Abneigung nicht legt. Vielleicht ist am Ende noch meine Karriere von seinem Wohlgefallen abhängig. Woran denke ich denn nur? Wir hatten einen schlechten Start, und ich male direkt den Teufel an die Wand.
»Wo haben Sie zuvor gearbeitet?«, frage ich, um ein wenig Small Talk zu halten.
»Montréal«, erwidert er einsilbig. »Bitte zeigen Sie mir die Station.«
Gut, dann lassen wir das mit dem Small Talk auch sein. Schweigend laufen wir den Gang der Station entlang, und ich erkläre ihm, was sich in den einzelnen Räumen befindet.
»Hier sind die Kreißsäle.« Ich deute auf zwei gegenüberliegende große Türen. »Sie sind entgegengesetzt angeordnet, sodass –«
»Ich möglichst schnell von einem in den anderen gelange?«, unterbricht er mich. »Das ist in jedem kanadischen Krankenhaus der Fall.« Ich presse die Lippen zusammen, um ihm keinen schnippischen Kommentar entgegenzuschleudern. »Ich glaube sogar, dass es weltweit Standard ist.«
Was zur Hölle soll das? Mir wurde von Mr. Miller aufgetragen, ihm alles zu zeigen, und das tue ich. Natürlich ist das in jedem Land so, aber ich will nett sein und meinen Job machen. Dazu gehört wohl auch, dass ich meine Erklärungen ein wenig ausschmücke. Ich beschließe, es mir zu schenken, ihm die einzelnen Zimmer für die werdenden Mütter zu zeigen. Er würde mich damit aufziehen, dass das in jedem kanadischen Krankenhaus so ist.
»Ihr Büro.« Ich deute auf die Tür. »Kommen Sie.«
Dr. King geht an mir vorbei in den Raum, sodass mir sein herbes Aftershave um die Nase weht. Ich liebe Hugo Boss. Der meiner Meinung nach beste Duft für einen Mann, und er trägt ihn. So ein verdammter Mist. Ich will nicht, dass er auch noch gut riecht. Es langt, dass er wahnsinnig gut aussieht. Ich betrete hinter ihm das Büro und schließe leise die Tür.
»Da wären wir.« Ich mache eine ausladende Handbewegung und zeige ihm sein neues Reich. Dr. King geht in den Raum hinein und sieht sich um. Ich folge seinen Blicken. Es ist kein schickes Upperclass-Büro, aber definitiv in Ordnung. Ein großer Schreibtisch in der Mitte, mit einem Computer sowie wichtiger Fachliteratur, auf die er möglicherweise zurückgreifen möchte. Vor dem Schreibtisch stehen zwei Stühle. Es ist das alte Büro von Dr. Cargery. Er hat die Geburtsstation fast dreißig Jahre geleitet, und ich bin froh, dass ich ihn noch kennenlernen und mit ihm arbeiten durfte. Leider sieht das Büro aber auch genauso aus – dreißig Jahre alt. Ich folge Dr. King und versuche herauszufinden, wie es ihm gefällt.
»Was meinen Sie?«, hake ich vorsichtig nach. »Es ist kein Neubau, aber Dr. Cargery hat es gut gepflegt.«
»Es ist okay«, erwidert er und dreht sich zu mir herum. »Ich möchte, dass Sie alle verfügbaren Schwestern und Hebammen, die heute Frühdienst hatten, im Stationszimmer versammeln. Ich möchte mich vor der Übergabe offiziell bei ihnen vorstellen.«
Ich bin überrascht über diese Aussage. Noch nie wollte sich ein neuer Oberarzt bei den Hebammen und Schwestern persönlich vorstellen. Es genügte ihnen meistens, die Assistenzärzte zu kennen. Da spreche ich nicht mal davon, dass sie unsere Namen kannten. Dafür waren selbst wir zu unwichtig. Dr. Cargery war ein großartiger Gynäkologe, keine Frage, aber bis heute habe ich keinen Schimmer, ob er meinen Namen wusste. Dr. King hat den zweithöchsten Rang auf der Station.
»Dr. Finley?« Ich zucke zusammen und sehe ihn an. Er hat die Augenbrauen in die Höhe gezogen und die Hände lässig in die Taschen seiner Hose geschoben. »Gibt es ein Problem?«
Ich bemerke erst jetzt, dass ich wieder in Gedanken versunken war.
»Nein, ich … bin nur überrascht«, antworte ich ehrlich. »Die letzten Oberärzte wollten das Team nie persönlich kennenlernen.«
»Ich bin nicht die letzten Oberärzte«, erwidert er. »Hören Sie, wir hatten heute Morgen keinen guten Start.«
Jetzt ziehe ich die Augenbrauen hoch. ›Keinen guten Start‹ ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts für das, was zwischen uns vorgefallen ist. Er hat mir fast die Tür meines neuen Autos abgefahren, dann hat er mein Auto beleidigt und sich schließlich über mich lustig gemacht.
»Keinen guten Start?«, hake ich nach. »So kann man es auch nennen.«
Ich rümpfe die Nase und würde am liebsten einen verächtlichen Laut von mir geben, kann mich aber gerade noch so beherrschen.
»Meine Güte!«, ruft er und massiert mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Sie sind wirklich sehr nachtragend.«
Bei dem, was er sich in den letzten Stunden geleistet hat, ist es doch wohl klar, dass ich nachtragend bin, oder nicht? Das wäre jeder an meiner Stelle.
»Sie waren auch nicht sonderlich nett zu mir«, fauche ich und sehe ihn herausfordernd an. »Natürlich bin ich nachtragend.«
»Und Sie waren nett zu mir?«, erwidert er. »Sie haben mich einen Lottogewinner für den Führerschein und einen Idioten genannt.«
Dr. King zieht auffordernd die Augenbrauen nach oben, als würde er darauf warten, dass es mir wieder einfällt. Es ist mir längst eingefallen, aber er hat es verdient. Dr. Lucas King hat seinen Führerschein im Lotto gewonnen, und er ist ein Idiot. Mit den Händen immer noch in seinen Hosentaschen kommt er auf mich zu. Ich beobachte jede seiner Bewegungen und versuche dabei nicht auf seine muskulösen Arme oder seine starke Brust zu starren. Meine beste Freundin Chloé würde sagen, dass ich dringend wieder einen Kerl zwischen den Beinen bräuchte. Darum reagiere ich auch so derart unpassend auf diesen Mann. Der noch dazu mein neuer Vorgesetzter ist.
»Sie sind eine verdammte Zicke«, knurrt er. »Ich habe versucht, mich bei Ihnen zu entschuldigen, und Ihnen mehr oder weniger einen Waffenstillstand angeboten.«
Seine Stimme wird immer lauter, und er kommt näher. Ich weiche gleichzeitig zurück. Dieses Spielchen spielen wir so lange, bis ich rumpelnd gegen die geschlossene Bürotür stoße und er vor mich tritt.
Dr. King ist mindestens zwei Köpfe größer als ich. Er sieht auf mich herab, und seine Mundwinkel verziehen sich zu einem arroganten, fast schon bösartigen Lächeln.
»Ich kann Ihr größter Gönner oder Ihr größter Albtraum sein, Dr. Finley.« Er starrt mich nieder.
»Drohen Sie mir?«, entgegne ich.
Denn ich sehe in seiner Aussage ganz eindeutig eine Drohung. Ich soll nett zu ihm sein, und im Gegenzug macht er mir das Leben im Krankenhaus nicht zur Hölle. Seine Mundwinkel wandern bei meiner Frage in die Höhe. Dieser Bastard lacht mich aus. Ich balle die Hände zu Fäusten, weil ich ihm am liebsten so dermaßen viele Beleidigungen an den Kopf schmeißen möchte und mir gleichermaßen vorstelle, meinen willigen Körper gegen seinen zu pressen. Dieser Mann ist unendlich attraktiv und absolut mein Typ. Könnte ich mir meinen Traummann rein äußerlich backen, käme Dr. Lucas King sehr nah heran. Aber das kann ich nicht, und sein abscheulicher Charakter lässt mich erschaudern.
»Warum sollte ich Ihnen drohen?«, fragt er. »Das habe ich nicht nötig, aber ich lasse mich von einer Assistenzärztin nicht zweimal derart anfahren. Wir vergessen den Vorfall in der Tiefgarage und arbeiten zusammen. Mir fehlt gerade nur die Vorstellung, dass Sie so viel Professionalität an den Tag legen können.«
»Ich bin professionell«, zische ich. »Daher werde ich jetzt gehen und das Team zusammenrufen. Die Zeit drängt, und Babys warten ungern auf den Arzt.«
»Und schon wieder können Sie dieses vorlaute Mundwerk nicht halten, Dr. Finley.« Er schmunzelt. »Ich bin Ihr Vorgesetzter, und als dieser haben Sie mir einen gewissen Grad an Respekt entgegenzubringen. Wenn Sie das nicht können, sind Sie hier fehl am Platz. Ich bin vielleicht noch jung, aber ich bin nicht dumm.«
»Ich habe nie gesagt, dass Sie dumm sind, oder?« Ich suche seinen Blick. »Vergessen wir den Vorfall in der Tiefgarage und fangen nochmal von vorne an.«
Es liegt mir absolut fern, ihm in den Arsch zu kriechen und sein Friedensangebot anzunehmen, aber er hat leider recht. Wenn er so möchte, kontrolliere ich die kommenden Monate maximal Nachgeburten. Er bestimmt über meine Karriere und mein Beisein während der Geburten. Ich muss nett zu ihm sein, wenn ich hier noch mehr lernen und Karriere machen möchte. Egal, wie ätzend ich ihn finde.
»Gut.« Abrupt tritt er zurück, dreht sich um und schlendert auf seinen Schreibtisch zu. »Es ist jetzt fast ein Uhr. Ich denke, dass wir bis um halb zwei mit der Vorstellung durch sind. Danach möchte ich jede Patientin sehen. Ich erwarte von Ihnen absolute Professionalität und Fachwissen.«
»Natürlich«, bringe ich hervor. »Möchten Sie heute bereits eine Geburt leiten oder –?«
»Ich bin der Oberarzt«, fährt er mich an. »Natürlich leite ich eine Geburt. Jetzt würde ich mich gern auf das Team vorbereiten.«
Ohne noch etwas zu sagen, stürme ich aus dem Büro und schlage die Tür hinter mir zu. Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn. Eve und Caroline, eine der Krankenschwestern, stehen wenige Meter entfernt den Gang runter und starren mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Dieses aufgeblasene, dumme –
»Dr. Finley!« Ich zucke zusammen, als er die Tür wieder aufreißt. »Knallen Sie bei sich zu Hause auch Türen?«
Wie ein kleines Kind, das genau weiß, was es verbrochen hat, sehe ich ihn an.
»Ich kann es mir kaum vorstellen. Und deswegen möchte ich, dass Sie das auch zukünftig auf meiner Station unterlassen.«
Bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich herum und schließt die Tür. So betont leise, dass ich schreien möchte.
Erhobenen Hauptes, und das, obwohl ich innerlich immer noch koche, gehe ich auf Eve und Caroline zu. Ihre Augenbrauen sind nach wie vor in die Höhe gezogen. Lu–, nein, Dr. Kings Verhalten ist unter aller Sau, und er stellt mich als hysterische Zicke dar. Das heute Morgen in der Tiefgarage war reine Provokation seinerseits. Er hätte langsam in die Parklücke fahren müssen, umsichtig sein und mich nicht behindern sollen. So lernt man das in der Fahrschule. Dann wäre alles in Ordnung gewesen, und ich hätte ihm auch niemals die Meinung gesagt. Oder ihn eventuell als Lottogewinner und Idioten beschimpft.
Bei Eve und Caroline angekommen, stelle ich mich ihren fragenden Blicken. Während Eve in meinem Alter ist, ist Caroline Ende dreißig. Sie hat zwei Kinder und lebt mit ihrem Mann in einem Vorort von Vancouver. Dort ist es deutlich ruhiger und günstiger als in der Stadt, und dennoch kann sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit kommen. Ihr Mann nutzt das Familienauto.
Ich seufze und suche ihre Blicke. Als ich aber nichts sage, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, eröffnet Eve das Gespräch. »Alles okay?«
Ich nicke und sehe zwischen ihr und Caroline hin und her.
»Alles bestens«, lüge ich mit einem falschen Lächeln auf den Lippen. »Dr. King möchte alle verfügbaren Hebammen und Schwestern im Stationszimmer kennenlernen.«
Kaum dass ich das gesagt habe, schauen sie einander an und ziehen wieder die Augenbrauen hoch. Könnten die beiden bitte damit aufhören, das ständig zu tun? Das macht mich wahnsinnig. Es vermittelt mir nämlich genau den Eindruck, den ich die ganze Zeit schon habe: Sie glauben mir kein Wort.
»Guckt mich nicht so an«, sage ich. »Ich bin genauso überrascht wie ihr.«
»Du hast doch nicht die Tür zugeschlagen, weil er uns kennenlernen will«, wirft Eve ein.
»Er will euch alle sehen. Wer geht die Zimmer ab und sagt Bescheid?« Mein Blick wandert zwischen ihnen hin und her.
Schließlich hebt Caroline die Hand. »Ich übernehme das«, murmelt sie. »Bis gleich.«
Sie dreht sich herum und steuert das erste Patientenzimmer an.
»Was ist passiert?«, meint Eve, als ich gehen will. Sie greift nach meinem Oberarm und sorgt dafür, dass ich mich ihr zuwende. Über meine Schulter hinweg behält sie Dr. Kings Bürotür im Blick, damit er diese nicht plötzlich öffnet und unser Gespräch belauscht. Besser ist das. Dieser irre Typ wirft mir am Ende noch vor, dass ich eine Petze sei und die Belegschaft gegen ihn aufhetze.
»Er hat … er ist … er meint …«, stammle ich. »Er ist ein Idiot.«
Eve sieht mich skeptisch an und glaubt mir kein Wort. Ich bin sehr zufrieden mit meiner Aussage, aber Eve lässt sie nicht gelten. »Also«, meint sie. »Was ist zwischen dir und Dr. Sexy wirklich vorgefallen?«
Ich stöhne entnervt auf, als ich ihre Beschreibung für Dr. King höre, und drehe den Kopf herum, um sicher zu sein, dass er das wirklich nicht gehört hat. Es würde mein Ende bedeuten.
»Er hat es nicht mitbekommen«, meint sie rasch. »Was ist passiert?«
Sicherheitshalber drehe ich den Kopf noch einmal herum, bevor ich ihr antworte. Bei dem Gedanken an seine starke Brust, den sexy Haarschnitt und sein wunderbares Aftershave von Hugo Boss ist er von Dr. Sexy wirklich nicht weit entfernt. Würde sein Charakter noch mit seinem Aussehen übereinstimmen, wäre er sogar Mr. Perfect.
»Elaine?« Ich zucke zusammen. »Was ist passiert?«
»Der Kerl aus der Tiefgarage, wegen dem ich zu spät war?« Eve nickt. »Er war das … Dr. King ist der Kerl.«
Sie schnappt nach Luft und sieht mich mit großen Augen an. Immerhin kommt es nicht jeden Tag vor, ach, was rede ich da, das kommt nie vor. Kein Mensch hat so viel Pech und trifft seinen neuen Vorgesetzten bei einer handfesten Auseinandersetzung in der Tiefgarage inklusive Beleidigungen zum ersten Mal. Hoffentlich kann Eve nun nachvollziehen, dass ich immer noch sauer bin und nicht gut auf ihn zu sprechen.
»Er ist das?«, japst sie. »Und ihr habt nochmal darüber gesprochen?«
»Er hat wieder begonnen, über die Autos zu diskutieren, und ich habe es mir nicht gefallen lassen, und dann hat er gemeint, dass er mir hier die Hölle auf Erden bescheren kann.« Eve sieht alles andere als überzeugt aus. »Glaubst du mir nicht?«, frage ich und mache mich auf den Weg zum Stationszimmer.
Wir dürfen nicht noch zu spät kommen zu seiner Kennenlernrunde, oder vielmehr ich darf es nicht. Dann zerreißt er mich komplett in der Luft.
»Doch, natürlich«, ereifert sich meine Freundin. »Er wirkt nett, und als würde er hier wirklich gut reinpassen. Es wundert mich nur, dass du so gar nicht mit ihm klarkommst.«
Ich bezweifle nicht mal, dass er das nicht tut. Er wird ein guter Gynäkologe sein, und so, wie er sich Eve gegenüber präsentiert hat und darauf besteht, das ganze Team kennenzulernen, ist er auch ein guter Mensch. Dennoch bleibt dieses persönliche Problem, das ich mit ihm habe. Und ich habe keine Ahnung, wie wir es aus der Welt schaffen sollen. Wir passen zwischenmenschlich absolut nicht zusammen. Zumindest nicht auf diese Art und Weise. Andere Arten, die vielleicht mit weniger Stoff und mehr Stöhnen zu tun haben, wären etwas anderes. Stopp, Elaine!
Darüber darf ich nicht weiter nachdenken. Niemals werde ich mit ihm in die Kiste steigen. Egal, wie berauschend er riecht und aussieht.
»Ich bezweifle auch nicht, dass er einen guten Job macht«, erwidere ich und sehe Eve an. »Du hättest ihn erleben müssen. Als wäre er derjenige, der über alles bestimmen darf.«
»Er hat dir doch nicht einfach so gedroht, dass er dir die Hölle auf Erden bescheren kann, oder?« Eve verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich abwartend an.
»Ach scheiße!«, fluche ich. »Er hat mir ein Friedensangebot gemacht, und ich habe … nun ja … abgelehnt?«
Schuldbewusst schaue ich sie an.
»Nur, dass ich das jetzt richtig verstehe. Er hat dir ein Friedensangebot gemacht à la ›vergessen wir die Sache‹, und du bist wieder ausgeflippt?«, fasst sie zusammen.
»Das klingt so … streng.« Verlegen wende ich den Blick ab, weil es den Nagel auf den Kopf trifft.
»Elaine!«, rügt sie mich. »Du kannst von mir aus über ihn denken, was du willst, aber er wollte es aus der Welt schaffen und du flippst aus. Es wundert mich nicht, dass er seinen Standpunkt und Status danach klargemacht hat.«
»Aber er hat …« Ich versuche mich weiterhin zu rechtfertigen, weil er angefangen hat. Er ist in die Parklücke gerast, und er hat mir fast die Tür abgefahren.
»Und was hast du gemacht?«, unterbricht sie mich. »Du hast doch in der Tiefgarage nicht brav abgewartet.«
»Nein«, sage ich. »Aber ich hätte fast nur noch eine Vordertür wegen ihm.«
»Das habe ich verstanden, und ich verstehe auch, dass du sauer bist. Aber trotzdem glaube ich, dass er sich ernsthaft entschuldigen wollte. Dieser Zug ist jetzt wohl abgefahren.«
Eve zuckt mit den Schultern und geht an mir vorbei ins Stationszimmer.
»Wie meinst du das, dass der Zug abgefahren ist?«, hake ich nach und folge ihr.
»Muss ich dir das wirklich erklären?«, will sie wissen. »Du wirst keine Chance mehr bei ihm haben, das geradezubiegen.«
Wir beenden das Gespräch, als Caroline mit den anderen Schwestern und Hebammen das Stationszimmer betritt.
»Weißt du, was er möchte?«, fragt mich unsere Auszubildende Cindy.
»Er möchte sich vorstellen«, antworte ich. »Und euch kennenlernen. Das Team, mit dem er zukünftig zusammenarbeitet.«
»Wie aufregend«, meint sie und grinst mich breit an. »Wie alt ist er? Sieht er gut aus?«
Ich verdrehe die Augen, weil das wohl eine typische Frage für ein siebzehn Jahre altes Mädchen ist. Die Aussage könnte eins zu eins von meiner kleinen Schwester kommen.
»Das wirst du noch früh genug erfahren«, erwidere ich und zwinkere ihr zu.
»Er sieht also nicht gut aus«, schlussfolgert sie beinahe enttäuscht. »Wäre auch zu schön gewesen, mal einen attraktiven Oberarzt zu haben.«
»Wir wollen doch nicht, dass unsere Gebärenden Orgasmen statt Presswehen bekommen«, meint Eve und zwinkert Cindy zu.
Alle Anwesenden prusten los und müssen herzlich lachen.
»Guten Morgen!« Dr. Kings Stimme lässt mich zusammenzucken, und ich fahre herum. Von links höre ich ein gedämpftes »Wow« aus Cindys Mund. Auch andere Schwestern und Hebammen halten die Luft an, als er hereinkommt. »Vielen Dank, dass das so schnell funktioniert hat. Fehlt noch jemand aus der jetzigen Schicht?«
Er sieht durch die Reihen, und sein Blick bleibt schließlich an mir hängen. Ich wünschte, er würde mich nicht derart intensiv ansehen. Seine dunklen Augen durchbohren mich, und mein Magen kribbelt verräterisch. Es ist, als würde er ganz tief in meine Seele blicken.
»Wir sind vollzählig. Sie haben das Wort«, beantworte ich seine Frage.
Dr. Kings Mundwinkel zucken amüsiert, und ich könnte schwören, dass er mir einen Kommentar entgegenschleudern möchte.
»Danke, Dr. Finley«, sagt er stattdessen und schaut in die Runde. »Guten Morgen. Mein Name ist Dr. Lucas King, und ich bin ab heute der neue Oberarzt der Gynäkologie.« Wir klatschen kurz, was er direkt abweist und lacht. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie für mich applaudieren.« Sein Blick geht durch die Reihen, als würde er versuchen, sich jedes Gesicht und jedes Namensschildchen einzuprägen. Bis er schließlich wieder an mir hängen bleibt. Ich erwidere seinen Blick und frage mich, ob er möchte, dass ich das Gespräch ab hier leite.
»Kurz ein paar Worte zu meiner Person«, ergänzt er. »Mein Name ist Lucas King, und ich stamme aus einer Kleinstadt in der Nähe der US-amerikanischen Grenze. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, habe in Montréal studiert und die letzten Jahre dort praktiziert.«
Kollektives Nicken.
»Wer von Ihnen hat Kinder?«, fragt er, und neben Caroline melden sich zwei weitere Frauen.
»Sehr schön«, fährt er fort. »Auszubildende?« Cindy hebt die Hand. »Welches Jahr?«