Vega – Der Wind in meinen Händen - Marion Perko - E-Book

Vega – Der Wind in meinen Händen E-Book

Marion Perko

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Beschreibung

Deutschland 2052: Die Menschen leiden unter heißen, trockenen Sommern. Um die Wasserknappheit zu lindern, arbeitet Vega als Wettermacherin – sie beeinflusst die Wolken und lässt es regnen. Doch sie hütet ein Geheimnis: Anders als ihre Kollegen benutzt sie dazu keine Chemikalien und Drohnen. Denn Vega kann mit der Kraft ihrer Gedanken Wind und Regen rufen.

Als bei einem rätselhaften Wetterunfall Kinder verletzt werden, wird Vega zur Zielscheibe. Wie soll sie ihre Unschuld beweisen, wenn niemand von ihrer Gabe erfahren darf? Hilfe erhält sie unerwartet von Leo, einem jungen Wissenschaftler, der das Wesen von Stürmen erforscht. Auf ihrer Suche nach der Wahrheit gerät Vega immer tiefer in ein Netz aus einflussreichen Umweltbehörden, Aktivisten und Konzernen ... Wem kann sie noch vertrauen? Und wie die Menschen schützen, die sie liebt?


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Seitenzahl: 456

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Titel

Marion Perko

VEGA

Der Wind in meinen Händen

Band 1

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022:

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin 2022Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München. Alle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz

Abbildungsnachweis Umschlag: Isabelle Hirtz

eISBN 978-3-458-77503-4

www.suhrkamp.de

VEGA

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Informationen zum Buch

Ich weiß noch, wie ich mich aufs Dach schlich, jeden Abend vor dem Schlafengehen und manchmal lange danach. Dort saß ich dann und sah dem Wetter zu. Meine Augen folgten den Wolken, während sie über den Himmel zogen, betrachteten den Regen, wenn er heftig und schwer am Horizont herabstürzte. Ich stellte mich in den Sturm, ohne Angst, voller Zutrauen – denn ich kannte ihn. Ich kannte den Sturm, so wie ich den Schnee kannte und den Nebel und die Wolkensäulen, die hoch in den Himmel stiegen und als Gewitter niedergingen. Sie alle kannte ich, als wären sie meine Geschwister.

Ich wusste immer, wie das Wetter werden würde. Lange bevor ich die Zeichen deuten konnte – die Formen und Farben der Wolken, die Wärme und Stärke des Windes –, spürte ich, ob es Regen geben oder die Sonne scheinen würde. Ich fühlte es in meinen Knochen, tief in meinem Bauch, bis in die Spitzen meiner Finger. Nur den Sturm, der die Welt verändern würde, den sah ich nicht kommen.

1

Mir rinnt eine Schweißperle über die Schläfe und ich wische sie am kurzen Ärmel meiner Bluse ab. Nicht einmal die Klimaanlage des Busses richtet etwas gegen die brütende Hitze aus, die draußen herrscht. Ich fächle mir Luft zu und Esper lächelt mich flüchtig an. Wir sind gleich da, soll das heißen, gleich kommen wir hier raus. Er streckt die Hand aus und schiebt mir eine Strähne hinters Ohr. Ich kann seinen Blick, diese Sorge darin, gerade nicht gebrauchen, also blicke ich an ihm vorbei zum Fenster und lasse die Wohnblocks und verdorrten Rasenflächen an mir vorüberziehen, ohne viel davon wahrzunehmen.

Fast unmerklich wird es grüner. Hohe Bäume mit ausladenden Kronen werfen Schatten, hier und da wachsen ein paar Lavendelsträucher und spärliche Oleanderbüsche. Hecken ziehen sich an der Straße entlang und durch die Lüftung des Busses weht ein Hauch von Rosmarin herein. Diesmal ist Espers Lächeln amüsiert, als ich mich aufrechter hinsetze, aber ich gehe nicht darauf ein. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, das Grün in den Gärten aufzusaugen und für die Tage zu verwahren, an denen uns kein Auftrag aus der Stadt hinausführt. Pflanzen wachsen schlecht in der Stadt. Menschen auch.

Zehn Minuten später sind wir die letzten Passagiere. Der Bus spuckt uns an der Endstation aus – weiter hinaus aufs Land fährt er nicht. Wohin auch? Es gibt jenseits der Stadt nichts mehr, keine Siedlungen, keine Menschen. Wer zur Wartung der riesigen Landmaschinen auf die Äcker muss, hat sein eigenes EUV.

Esper wirft einen Blick in die Navi-App auf seinem Unice.

»Da lang«, sagt er, schultert den Koffer mit den beiden Drohnen und stapft los.

Ich rücke meine Brille zurecht, wechsle die Tasche mit dem Ordner voller Blankopapier, dem Tablet, der Thermoskanne und der Schokolade auf die andere Schulter und folge ihm. Ordner mit Papier, echt. Als würde heute noch irgendwer mit Papier arbeiten. Doch Esper besteht darauf, er meint, es vervollständigt meine Verkleidung. Und es würde die Leute, die vor der Krise geboren wurden, von unserer Seriosität überzeugen.

Seriös, das ist das Stichwort. Deswegen schleiche ich hier auch mit dieser spießigen Bluse und einer Brille mit Fensterglas herum. Deswegen halte ich mich immer im Hintergrund und versuche, so überzeugend wie möglich Espers Assistentin zu spielen. Ha.

Aber eine Assistentin darf jung sein. Eine Operative nicht.

Auf der Suche nach dem Eingang der Kleingartensiedlung, für die wir heute gebucht sind, laufen wir an einer Baumschule vorbei. In Reih und Glied ragen Ginkgos und Silberlinden in den blauen Himmel. Dass es so was noch gibt! Aber klar, die Stadtverwaltung startet jedes Jahr wieder einen Versuch, die Plätze im Zentrum zu begrünen. Irgendwo müssen die jungen Bäume ja wachsen.

»Wie geht's dir?«, fragt Esper und betrachtet mich forschend. Eine blonde Strähne fällt ihm in die Stirn und lässt ihn jünger wirken. Ich sage nichts dazu, denn ich mag diese weiche Seite an ihm, doch heute Abend muss ich ihm bestimmt die Haare schneiden. Unsere Kunden sollen gar nicht erst auf die Idee kommen zu fragen, ob er schon volljährig ist.

Ich zucke mit den Schultern. »Alles gut. Die Luft fühlt sich feuchter an.«

Das war nicht, was er gefragt hat, doch es entscheidet darüber, wie ich den Tag überstehe. Wir mussten den Termin heute um vierundzwanzig Stunden verschieben, weil ich mich vorgestern zu sehr verausgabt habe. Esper sagt immer, ich muss lernen, mit meiner Energie zu haushalten, aber er hat ja auch keine Ahnung, wie es ist, wenn du genau fühlst, dass das Wasser antwortet. Dass es sich sammelt und formt und aufsteigt und tut, was du von ihm willst. Da kannst du zwischendrin nicht einfach aufhören. Und am Ende ist mir ja auch nichts passiert.

Mein Blick fällt auf einen Transporter, der am Straßenrand parkt, direkt vor dem Eingang zur Baumschule und gleich neben dem Tor der Gartenanlage. Stöhnend bleibe ich stehen.

Esper dreht sich zu mir um und runzelt die Stirn. »Alles in Ordnung?«

Ich schüttle den Kopf und deute auf den Transporter. »Willem.«

Er grinst. »Super, da kann ich ihm ja endlich mal Hallo sagen.«

Ich remple ihn an. Das ist überhaupt nicht komisch. Ich hatte erst letzte Woche einen Zusammenstoß mit Willem, auf eine Wiederholung bin ich wirklich nicht scharf. Irgendwie schafft Esper es, dem Typ aus dem Weg zu gehen, aber auf mich hat er es aus unerklärlichen Gründen abgesehen.

Doch wir können es uns nicht leisten, den Auftrag sausen zu lassen. Und abgesehen davon ist Willem garantiert der Letzte, vor dem ich wegrenne.

Esper legt den Arm um meine Schultern und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. »Dann lass uns loslegen. Vielleicht merkt er gar nicht, dass wir hier sind. Und wenn doch, kann ich dich heute ja beschützen.« Er zwinkert mir zu.

Ich schnaube, aber bevor ich antworten kann, öffnet sich knarrend das Tor, das zur Gartenanlage führt. Wir bringen etwas Abstand zwischen uns. Eine Frau und zwei Männer treten auf die Straße.

»Esper Lund?«, fragt die Frau. Sie ist vielleicht fünfzig, ein gutes Stück kleiner als ich und ziemlich füllig, doch das Auffälligste an ihr sind die rabenschwarzen, glänzenden Haare, die sie zu einem Zopf geflochten hat.

Esper setzt sein bestes Kundenlächeln auf. Mit ausgestreckter Hand geht er auf die Frau zu. »Genau der. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Frau Wintorf, nehme ich an?«

Die Frau nickt. »Alma.« Sie schüttelt Espers Hand, dann deutet sie auf die beiden Männer, der eine etwa in ihrem Alter, der andere sicher zwanzig Jahre älter. »Das sind Yegor und Albert.«

Esper winkt mich an seine Seite. »Meine Assistentin Vega.«

Wir nicken und lächeln uns freundlich zu, dann bittet uns Alma in die Anlage. Sie erzählt Esper alles Mögliche zur Geschichte der Gärten, zu Größe und Anzahl der Parzellen und anderes unnützes Zeug, aber damit muss er sich jetzt rumschlagen. Ich falle ein Stück zurück und fühle. Es ist ein glücklicher Ort, dafür braucht es keine Hellseherei, da reicht es, einzuatmen und hinzuhören. Ein paar Gärten weiter spielen Kinder, fröhliches Kreischen und Lachen unterbricht immer wieder die Stille, die über der Anlage liegt. Ein zarter Duft erfüllt die Luft, süß und gleichzeitig ein wenig zitronig, und erst kann ich ihn nicht zuordnen, aber dann begreife ich, dass er von einer Kletterrose stammt, die an der Wand eines blau gestrichenen Gartenhäuschens hinaufrankt und Dutzende strahlend gelber Blüten trägt. Ein ganzer Bienenschwarm summt um sie herum.

Rosen. Es muss sechs Jahre her sein, dass ich zuletzt welche gesehen habe, vielleicht sieben. Rosen kann man nicht essen und sie spenden keinen Schatten, deswegen gibt es sie in der Stadt nicht mehr. Doch jetzt, wo ich mich dabei ertappe, dass ich stehen geblieben bin und tief einatme, so als könnte ich den Duft in mir festhalten, ihn speichern wie Wärme in einer Mauer, frage ich mich, ob Überleben genug ist. Ob wir dem Leben überhaupt noch Raum lassen.

Neben dem blauen Häuschen kniet eine Frau an einem Gemüsebeet. Sie ist auf mich aufmerksam geworden. Mit einer Hand beschattet sie die Augen gegen die grelle Sonne, dann hellt sich ihr Gesicht auf und sie winkt mir zu. Von ihren Handschuhen bröckelt Erde.

Ich lächle. Normalerweise würde ich weitergehen, aber irgendetwas bringt mich dazu, auf die Ranken um die weißen Fensterrahmen zu deuten. »Die Rosen sind wunderschön.«

Verlegen wende ich mich ab, doch da ist sie schon aufgestanden und klopft sich Staub von den Knien.

»Warte«, sagt sie mit einer Stimme, der man anhört, dass sie gern lacht, und mir geht auf, dass sie jünger ist, als ich dachte. Sie zieht eine kleine Schere aus einem Holster an ihrem Gürtel, tritt unter den Rosenbusch, wählt eine Blüte aus und schneidet sie ab. Sie lächelt, als sie auf mich zukommt und mir die Rose über den Zaun entgegenhält. Die Fältchen um ihre Augen haben nichts mit den Furchen zu tun, die sich in die Gesichter der Stadtleute graben. Ich frage mich, wie es ist, hier draußen zu wohnen. Die Gartenanlagen, in denen Esper und ich bisher zu tun hatten, waren kleine Äcker, da gab es keine spielenden Kinder, keine Liegestühle unter knorrigen Obstbäumen wie neben dem blauen Häuschen und ganz sicher keine Rosen.

»Danke«, sage ich, als ich die gelbe Blüte annehme. Ich kann nicht anders, ich rieche daran, und der Duft ist so intensiv, dass ich kurz die Augen schließen muss.

Als ich sie wieder öffne, mustert mich die Frau. »Wir haben alle zusammengelegt, weißt du«, sagt sie leise und deutet mit dem Kinn auf die kleine Gruppe um Esper und Alma. »Seit Februar hat es nur zweimal geregnet, und das bisschen, was wir auffangen konnten, ist so gut wie aufgebraucht. Ihr werdet Erfolg haben, nicht wahr?«

Ihr Blick wandert zu Esper. Ich erkenne Hoffnung in ihren Augen, als sie ihn betrachtet. Esper kann das. Er gibt den Leuten das Gefühl, dass sie ihm vertrauen können. Wir wären längst nicht so gut gebucht, wenn sie wüssten, dass ihre Hoffnungen auf mir liegen. Doch das darf niemand erfahren, niemals.

»Ja«, antworte ich, während wir zusehen, wie Esper auf einem wackligen Holztisch den Koffer aufklappt und die Chem-Patronen sortiert. Sie sind nur Attrappe, aber sie gehören eben zur Ausstattung. Selbst wenn sie mit Seifenblasenwasser gefüllt wären, würde es keinen Unterschied machen – genau wie die Drohnen sollen sie nur von mir ablenken. »Wir werden Erfolg haben«, verspreche ich mit einem letzten Lächeln und winke der Frau zu.

Mit ein paar Schritten schließe ich zu Esper, Alma und den beiden Männern auf. Esper wirft mir einen genervten Blick zu, weil ich getrödelt habe und er noch eine Weile länger Small Talk betreiben musste, doch ich verziehe keine Miene. In aller Seelenruhe stelle ich mein Gepäck am Fuß des Tisches ab, während Esper von Luftdruck und Luftfeuchtigkeit schwafelt, als hätte er Ahnung. Ich ziehe einen kleinen schwarzen Kasten aus der Tasche, klemme mir das Tablet unter den Arm und verdrücke mich auf einen schmalen Pfad, der vom Hauptweg abzweigt. Solange mich Alma und die beiden Männer sehen können, halte ich das schwarze Kästchen in die Luft, als würde ich Messungen vornehmen, dann spare ich mir den Zirkus und suche mir ein ruhiges Plätzchen.

Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus, denn kaum bin ich ein paar Meter gelaufen, höre ich Stimmen.

»… dort drüben, sehen Sie? Der komplette Ulmenbestand von hier bis zur Grundstücksgrenze hat gelitten.«

»Das geschieht leider zu oft, dass es beim Einsatz von atmoaktiven Substanzen zu unerwünschten Nebenwirkungen kommt.«

Die Frau auf der anderen Seite der Hecke – die Inhaberin der Baumschule, vermute ich – schnaubt. »So kann man das sagen. Haben Sie eine Ahnung, was hier schiefgegangen sein könnte?«

»Die häufigsten Unfälle passieren mit falsch dosierten oder verunreinigten Chemikalien.«

Ich habe ja versucht, nicht zu lauschen, aber Willem macht es mir schwer. Was erzählt er denn da? Nach Werbung für die Wettermacher klingt das nicht.

»Und Sie sagen, Sie hätten bei der PAO Beschwerde eingereicht?«, fragt er jetzt. Sein Tonfall zwischen Schleimerei und Arroganz jagt mir einen Schauer über den Rücken.

»Sobald das ganze Ausmaß sichtbar wurde«, bestätigt die Frau. »Aber die meinten da nur, der Zusammenhang zwischen der Wettermodifikation und der eingetretenen Schädigung sei nicht nachweisbar.«

»Typischer Fall. Die PAO kriegt den Markt nicht in den Griff und das will sie natürlich nicht zugeben. Es sind zu viele unregistrierte Agenturen unterwegs. Sie erinnern sich nicht zufällig daran, wen Sie engagiert hatten?«

Ich kann sein anbiederndes Grinsen fast durch die Hecke blitzen sehen, doch die Frau ist genauso irritiert wie ich.

»Wozu wollen Sie das wissen?«, fragt sie misstrauisch.

Das würde mich auch interessieren.

»Sie könnten sich mit Ihrer Beschwerde an die Gewerkschaft der Wettermacher wenden. Wenn Sie mir den Namen des Kollegen …«

»Sie haben eine Gewerkschaft? Davon habe ich ja noch nie gehört.«

Da geht es ihr ganz genau wie mir. Was redet Willem da? Wieso braucht er so dringend den Namen? Bestimmt hat er sich wieder mit jemandem angelegt und will ihm jetzt eins auswischen. Zuzutrauen ist Willem alles.

»Es ist eher so was wie ein Verbund, der Rücklagen für Fälle wie Ihren bildet«, schwadroniert er weiter. »Vielleicht haben Sie ja noch die entsprechenden Dokumente.«

»Hm, ja, vielleicht …« Nach einer kleinen Pause fährt sie fort: »Wie wäre es, wenn ich einen Blick in meine Unterlagen werfe, und sobald Sie hier fertig sind, kommen Sie zu mir ins Büro, und wir trinken einen Kaffee?«

»Fünf Minuten, länger brauche ich nicht.« Willem klingt extrem zufrieden mit sich.

»Wunderbar«, zirpt die Frau, und ihre Schritte entfernen sich.

»Würg«, flüstere ich und lache in mich hinein, weil sich Willem verwirrt umblickt. Als er mich zwischen den Zweigen der Hecke entdeckt und sein Gesichtsausdruck schlagartig finster wird, sage ich: »Du bist dir echt für nichts zu schade, oder?«

Er biegt die Zweige etwas zur Seite, sodass ich in den vollen Genuss seines Anblicks komme. Er wirkt nicht im Geringsten verlegen, sondern selbstherrlich wie immer. »Lustig, dass das gerade von dir kommt. Die Sache neulich mit deinem angeblichen Kontakt …«

»Wieso angeblich?«, stelle ich mich dumm, aber ich weiß natürlich, dass es keine Händlerin namens Rita gibt, die auf dem Schwarzmarkt Silberiodid anbietet, wie ich behauptet habe.

»Du hältst dich für ganz schlau, was?« Willem stellt sich näher an die Hecke und ist so empört, dass seine Spucke in Tröpfchen durch das Laub fliegt. »Deine Rita heißt Riva und ist Undercoveragentin der PAO. Fünf Stunden hat sie mich gegrillt!«

Ich verkneife mir ein Grinsen. Der Name war ausgedacht, ich hatte keine Ahnung, dass die Prüfstelle für atmosphärische Optimierung jetzt auch den Schwarzmarkt aufmischt. Normalerweise dürfen wir Wettermacher uns mit den Leuten von der PAO herumärgern. Doch die Geschichte erklärt, warum Willem heute besonders ätzend ist.

»Das tut mir echt leid für dich«, sage ich mit so viel falschem Mitleid in der Stimme, dass es Willem die Zornesröte ins Gesicht treibt, »aber ich muss dann auch mal.« Mit einem kleinen Winken drehe ich mich weg.

»Vega, eines Tages …«, knurrt er hinter mir, doch das höre ich schon fast nicht mehr.

Auf der Suche nach einer ruhigen Ecke finde ich in einer Hecke eine schmale Lücke, durch die ich auf eine Streuobstwiese gelange. Es kommt mir vor, als würde ich aus der Wüste in eine Oase treten. Niedrige knorrige Bäume mit winzigen Äpfeln und Birnen an den Ästen beschatten Glockenblumen, Salbei und Minze. Durch die Zweige flirrt das Sonnenlicht und zaubert Goldflecken auf den Boden. Die Wiese wirkt wie aus einer anderen Zeit. Wie aus einem Märchen. Ich hätte nicht geglaubt, dass es so etwas noch gibt.

Mit einem Mal geben meine Knie nach. Einen Herzschlag lang bin ich nicht hier, am Stadtrand, unter einer unbarmherzigen Sonne, ich bin keine siebzehn, sondern fünf und renne mit den Schmetterlingen in unserem Garten um die Wette. Ich schummle ein bisschen, und sie wiegen sich in der leichten Brise, die ich rufe, damit sie nicht davonflattern. Stattdessen führen sie einen Tanz auf, rings um mich herum, und ich strecke die Arme in den Himmel und tanze mit ihnen.

Der Boden unter meinen Knien ist hart. Er ist so trocken, dass kein Moos wächst und das Gras nur spärlich. Um die Blüten von Thymian und Lavendel schwirren keine leuchtend bunten Schmetterlinge, sondern kleine braune Falter und dicke Hummeln, doch selbst sie sind so selten geworden, dass ihr Anblick das unwirkliche Gefühl verstärkt. Ich schüttle den Kopf und stemme mich mühsam auf die Füße. Für Erinnerungen ist keine Zeit, sie machen mich rührselig und das kann ich nicht gebrauchen. Ich muss meine Aufmerksamkeit auf das richten, was da ist, was real ist. Alles andere hat keine Bedeutung mehr.

Ich schließe die Augen und lausche, atme und fühle. Summen flutet meine Ohren, dahinter wieder das Kinderlachen und, viel, viel leiser, sodass ich eine Weile brauche, bis ich es zuordnen kann, das Rascheln winziger Beine im trockenen Gras. Staub und die scharfen ätherischen Öle der Kräuter liegen in der Luft, aber auch mehr Feuchtigkeit, als ich seit Wochen gespürt habe. Ein Windhauch, erzeugt von winzigen Flügeln, streift meine Haut.

Dann rufe ich. Wärme durchströmt mich, als sich mein Bewusstsein vorantastet, zu den Wäldern, wo es kühl und schattig ist und wo mehr, viel mehr Wasser gespeichert ist als in diesem Garten. Es dauert, bis das Wasser antwortet. Ich blende alles aus, was mich ablenken könnte, Stimmen, Geräusche, das Surren von Espers und Willems Drohnen. Mein Wille streckt sich, ich fühle die Energie fließen, aber dann halte ich inne. Es ist, als würden meine Sinne mit der Luft kollidieren. Ich versuche es erneut, mit ein bisschen mehr Nachdruck, und das Gefühl verschwindet.

Mit geschlossenen Augen stehe ich da und warte. Zeit vergeht mit jedem meiner Herzschläge. Meine Fingerspitzen kribbeln, genau wie meine Kopfhaut. Endlich spüre ich es. Wie eine Daunenfeder streicht die Luft über meine nackten Arme, hauchzart erst, dann deutlicher. Wind. Er hebt die Haare in meinem Nacken hoch, weht mir Strähnen ins Gesicht, aber noch immer schlage ich die Augen nicht auf. Ich warte, bis ich das Säuseln hören kann. Es wird lauter, wird zum Rauschen und jetzt zerrt der Wind an meinen Klamotten. Jedes andere Geräusch verstummt. Es ist, als seien die Insekten und Vögel erstaunt, dass sich die Luft bewegt, selbst von den spielenden Kindern ist nichts mehr zu hören.

Ich atme tief ein und öffne die Augen. Blinzelnd komme ich zurück ins Hier. Meine Arbeit ist getan, ich kann es fühlen. Nur noch ein bisschen Geduld und über der Gartenanlage wird es regnen, so ausgiebig wie seit Monaten nicht.

Meine Hände und Füße prickeln, und ich strecke den Arm aus, um mich an einem der niedrigen Stämme abzustützen. Jetzt bereue ich es, meine Tasche bei Esper und den Kunden gelassen zu haben, denn ein Schluck Tee und ein Stück Schokolade würden das wacklige Gefühl in meinen Beinen vertreiben. Oder besser eine ganze Tafel Schokolade.

Ich schüttle den Kopf, um die schwarzen Ränder um mein Blickfeld zu verscheuchen, und reibe mir über die Arme, um die Gänsehaut, so gut es geht, zu vertreiben. Mit staksigen Schritten bahne ich mir einen Weg durch die Hecke und zurück zu Esper, der unter Almas strenger Aufsicht mit der Fernbedienung der Drohne hantiert. Als er mich aus dem Augenwinkel wahrnimmt und mir einen schnellen Blick zuwirft, zupfe ich an meinem linken Ohrläppchen. Unser Geheimzeichen für »Ja«. Ich kann sehen, wie sich seine Schultern senken.

Möglichst unauffällig trete ich an die vier heran und angle nach meiner Tasche. Während ich etwas trinke und mich abwende, um mir den ersten Brocken Schokolade zwischen die Zähne zu schieben, setzt Esper zu einer vollmundigen Rede an, der ich nur mit halbem Ohr lausche. Wichtiger finde ich es, auf den Beinen zu bleiben.

Mit jedem Bissen geht es mir besser. Das Gefühl kehrt in meine Zehen und Finger zurück, und endlich dringt auch Espers Stimme in mein Bewusstsein vor: »… ein paar Minuten, dann sollten wir erste Ergebnisse sehen.«

Da täuscht er sich. Ich brauche mich nicht mal umzudrehen, ich fühle, dass sich der Himmel in unserem Rücken verdunkelt. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, schieben sich die ersten Quellwolken über die Gartenanlage. Alma und die beiden Männer verfolgen, wie Esper unsere Drohne weich im trockenen Gras aufsetzen lässt. Sie sind immer noch nicht auf den Wind aufmerksam geworden, aber jetzt sehen sie sich um. Staunend deutet der Mann, den Alma Albert genannt hat, nach Nordwesten.

»Das glaube ich ja nicht … Geht das so schnell?«

Während die drei auf den Horizont starren, sucht Esper meinen Blick. Ich nicke.

»Ja, so schnell geht das«, antwortet er. Mit geübten Handgriffen fängt er an, die Drohne zusammenzuklappen. »Wenn wir dann die Bezahlung regeln könnten … Wir müssen heute noch zu einem anderen Kunden.«

Der Wind fährt in Almas Flatterhose und bauscht sie. Sie dreht sich zu uns um und lächelt, als sie einen Umschlag aus der Innentasche ihrer Weste zieht. Im selben Moment platzt ein Tropfen auf ihrer Schulter. Fasziniert betrachtet sie den dunklen Fleck, der sich auf dem hellgrünen Stoff ausbreitet.

»Bitte sehr«, sagt sie und hält Esper den Umschlag hin, doch sie wirkt abwesend. Der Blick aus ihren blauen Augen rührt mich. Das, was zu mir gehört, seit ich denken kann, ist wie ein Wunder für sie. Und so muss es bleiben, denn was ich kann, darf nie bekannt werden. Ich habe meine Lektion gelernt.

Die Quellwolken haben sich verdichtet, über uns erstreckt sich jetzt eine grau brodelnde Wolkendecke und auf dem Boden und in unseren Haaren zerspringt Tropfen für Tropfen, immer mehr, bis aus dem Tröpfeln ein Klopfen und aus dem Klopfen ein Trommeln wird. Esper, Alma und die beiden Männer reden automatisch lauter, aber ich verliere die Geduld und klappe den Deckel des Koffers zu. Mein Kopf dröhnt. Ich will nach Hause. Ich brauche Ruhe.

Winkend verabschieden uns die Gartenbesitzer am Tor und scheinen zu genießen, dass ihnen der Regen mittlerweile von der Nase rinnt. Eine Minute oder zwei waren die Kinder still, jetzt tauchen ein paar von ihnen auf einem Pfad auf und biegen in den Hauptweg ein. Sie johlen und hüpfen durch den prasselnden Regen, und ich lache auf, als eins von ihnen, ein vielleicht sechsjähriger Junge, sich auf den Boden wirft und die Tropfen mit der Zunge auffängt. Seine Arme und Beine schlagen hin und her, so wie früher, als es noch richtige Winter gab und man im frisch gefallenen Schnee einen Engel zeichnen konnte.

Esper greift nach meinem Arm und will mich weiterziehen, doch etwas Bitteres sticht in meine Nase und lässt mein Lachen einfrieren. Der Druck auf meinen Kopf, den ich eben noch als Erschöpfung abgetan habe, wird zu einem Stechen. Obwohl mir die Tränen in die Augen schießen, ist mein Blick an dem Jungen wie festgeklebt, und ich spüre, wie sich Kälte über meinen Rücken frisst, die nichts damit zu tun hat, dass mir die dünne Bluse mittlerweile am Körper klebt. Ich setze die Brille mit den nassen Gläsern ab, reiße mich von Esper los und stürze durch das Tor zurück in die Gartenanlage.

»Vega!«

Ich ignoriere ihn.

Neben dem Jungen liegt jetzt ein kleines Mädchen und ihr Schreien klingt nicht mehr fröhlich. Genau wie der Junge kreischt sie, als würde ihr die Haut vom Leib gerissen.

Hinter mir fühle ich Espers Körperwärme. Auch er hat jetzt begriffen, was hier passiert. Die drei Erwachsenen und das dritte Kind stehen mit offenem Mund da und können anscheinend nicht glauben, was sie sehen.

»Los!«, brülle ich. »Wir müssen sie ins Trockene bringen! Suchen Sie sich einen Unterstand! Gehen Sie aus dem Regen!«

Ich weiß nicht, wie viele Menschen meine Anweisungen hören, aber ich hoffe, dass der Rest selbst auf die Idee kommt. Spätestens wenn die Schmerzen beginnen.

Ich erreiche das kleine Mädchen, eine Sekunde bevor sich Esper neben den Jungen kniet, ihn in die Arme nimmt und hochhebt.

»Wohin?«, fragt er, und ich deute auf das blaue Häuschen.

Die junge Frau ist an den Zaun gekommen, öffnet die Pforte und greift nach dem anderen Jungen, der sich widerstandslos mitziehen lässt.

»Schhh«, mache ich, als das Mädchen sich in meinen Armen windet und nach mir schlägt, sodass ich Mühe habe, es durch den trommelnden Regen zu tragen.

»Mach, dass es aufhört! Mach, dass es aufhört!«, kreischt sie immer wieder.

In Alma und die beiden Männer kommt endlich Leben, Yegor und Albert stürzen auf mich zu, um mir das Mädchen abzunehmen. Ich überlasse sie ihnen, und auch wenn meine Haut anfängt zu brennen, die anderen längst in dem blauen Häuschen verschwunden sind und Esper meinen Namen ruft, bleibe ich im Regen stehen und tue, was das Mädchen von mir verlangt hat: Ich lasse es aufhören.

Kaum habe ich damit begonnen, fange ich an zu zittern – ich habe mich von vorhin noch nicht erholt und jeder Regentropfen ist wie ein Wespenstich, giftig und quälend. Doch wenn das hier nicht zur Katastrophe werden soll, muss ich es beenden.

Aus dem Augenwinkel meine ich, eine Bewegung in einer Laube wahrzunehmen, einen Schatten, der erst auf mich zugleitet, aber dann zuckend wieder in den Schutz der Überdachung verschwindet. Ich habe keine Aufmerksamkeit für ihn übrig, ich halte mich gerade noch auf den Beinen, während um mich herum der Wind tost und den Regen in wilden Wirbeln gegen meine Beine und meinen Rücken, gegen die Hecken und Zäune presst. Der Druck in meinem Kopf lässt meine Ohren klingeln. Ich beiße die Zähne zusammen, als sich die Säure mein Rückgrat hinabfrisst, ich muss den Schmerz wegdrücken.

Dumpf pocht er vor sich hin, während ich den Sturm entfessle. Meine Arme krampfen unter der Wucht, mit der die Luft auf mich trifft, das Heulen in meinen Ohren übertönt jedes andere Geräusch, selbst Espers panische Rufe, aber ich stelle mich aufrechter in den Wind und schicke den vergifteten Regen hinaus aufs Land, weg von diesen Gärten, weg von der Stadt, dorthin, wo er nicht noch mehr Menschen verletzen kann.

Wenigstens hat der Sturm die Leute in die Häuser getrieben, also bin ich die Einzige, die ein paar Minuten später mitbekommt, dass vor dem Tor zu der Gartenanlage zwei Einsatzfahrzeuge der PAO halten. Ich und der Schatten in der Laube.

Die Türen lassen sich im Sturm fast nicht öffnen, doch schließlich stemmen sich Beamte in Schutzanzügen gegen den Wind und steigen aus.

Und ich falle um.

2

Ich wache auf, als mir jemand mit einem feuchten Tuch den Rücken abtupft. Es brennt, aber beinahe sofort lassen die Schmerzen nach. Langsam atme ich aus und lasse den Kopf wieder auf die Pritsche fallen.

»Gleich wird es besser«, sagt eine weibliche Stimme, und ich will ihr recht geben, doch dann lenkt mich die Kälte ab. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klappern, und meine Fingerspitzen schimmern blau. Als ich mich hochstemmen will, legt sich eine Hand auf meine Schulter und drückt mich sanft zurück auf meine Unterlage.

»Noch nicht«, höre ich die Frau wieder.

Sie breitet eine Decke über mich und ich stöhne beinahe auf vor Erleichterung. Nach ein paar Sekunden ist die Kälte nicht mehr ganz so durchdringend und mein Schlottern geht in ein zahmeres Beben über. Mein Rücken und mein Bauch entkrampfen sich.

Wer ist die Frau? Ich drehe den Kopf, aber sie ist verschwunden. Stattdessen konzentriere ich mich auf meine Umgebung und versuche, mich zu orientieren.

Ich liege auf dem Bauch auf einer Pritsche und bin unter der Decke so gut wie nackt. Nach dem toxischen Regen war das wahrscheinlich nötig, es verstört mich trotzdem, dass ich nicht mitbekommen habe, wie mich die Frau ausgezogen hat. War es überhaupt die Frau? Wer ist sie? Sie klang anders als die Rosenfrau. Und wo ist Esper?

Mit einem kleinen Schock fallen mir die PAO-Leute wieder ein. Der harte Kunststoff der Pritsche, der scharfe Geruch nach Desinfektionsmittel … Ein Verdacht keimt in mir und mein Herz beginnt zu rasen. Mühsam drehe ich den Kopf noch ein Stück weiter und erkenne nicht nur den orangen Kittel einer Sanitäterin, sondern auch alle möglichen medizinischen Apparate, Monitore, einen Defibrillator. Strahler an der niedrigen Decke werfen kaltes Licht auf weiße Schränke, unter dem beißenden Geruch des Antiseptikums liegen die dumpfen Ausdünstungen von Gummi. Mein Blick bleibt an einer Packung Einweghandschuhen hängen, die neben einem Beatmungsgerät an der nahen Wand befestigt ist.

Verdammt.

Ein Gesicht taucht neben meinem auf, ein breiter Mund, eine Stupsnase mit Sommersprossen und riesengroße braune Augen. »Hast du noch Schmerzen?«

Ich höre in meinen Körper hinein. Richtig warm ist mir noch immer nicht, aber das Brennen auf meinem Rücken ist beinahe verschwunden. Die Haut spannt, doch auch das wird vorübergehen. Langsam schüttle ich den Kopf.

»Dann auf mit dir«, sagt die stupsnasige Sanitäterin und hält mir die Hand hin.

Irgendwie rapple ich mich so weit hoch, dass sie mich in eine sitzende Position ziehen kann. Die Decke gleitet über meinen Rücken, als ich sie mir vor die Brust zerre, und ich verziehe das Gesicht. Anscheinend ist die Haut dort noch empfindlicher, als ich dachte.

»Du hattest Glück. Du hast richtig was von dem toxischen Regen abbekommen, aber das wird wieder. In ein paar Tagen merkst du nichts mehr davon.«

Ich nicke. Sie hat recht. Von den Reizungen wird nichts bleiben. Bei mir zumindest …

Ich räuspere mich. »Wie geht es den Kindern?«

Die Sanitäterin dreht sich zu mir um und hält mir ein Bündel frische Klamotten hin. Einen Moment betrachtet sie mich schweigend. »Das darf ich dir nicht sagen.« Ihr Gesichtsausdruck verheißt nichts Gutes für die beiden, und mein Magen krampft sich zusammen, doch als sie sieht, wie ich die Augen aufreiße, entspannt sich ihre Stirn. »Sie sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie kommen durch.«

So schlimm ist es? Tränen schießen mir in die Augen und ich beiße mir fest auf die Unterlippe.

»Haben sie Willem verhaftet?«, krächze ich. Das ist die einzige Erklärung, die ich für den Unfall finde: Willem hat sich bei der Dosierung seiner Chems verschätzt.

Der Ausdruck der Sanitäterin wird wieder düster. Sie macht eine ungeduldige Geste mit der Hand, die mir die Kleidung hinhält, und ich nehme die Hose und den Hoodie entgegen. »Dein Freund ist verschwunden.«

»Willem ist nicht mein Freund«, höre ich mich sagen, während mir im selben Moment aufgeht, was hier los ist. Warum Esper nicht bei mir ist. »Willem Ulbricht ist ein Wettermacher«, fange ich an zu erklären. »Er hat den toxischen Regen verursacht. Er hatte drüben in der Baumschule einen Einsatz … Jemand muss ihn verhaften!«

Ich bin laut geworden und jetzt ist der Blick der Sanitäterin richtig streng. Sie glaubt mir nicht. »Das kannst du der PAO erklären. Los, zieh dich an, sie warten schon auf dich.«

Sie kümmert sich wieder um ihren Bürokratiekram, und während ich mir so langsam wie möglich den kratzigen, viel zu warmen Hoodie überstreife und in die Hose steige, wandern meine Augen hektisch hin und her.

Denk nach, beschwöre ich mich, denk nach. Ist Esper wirklich weggerannt? Hat er die Ausrüstung mitgenommen? Und wenn nicht, wie erklären sie sich, dass die Chem-Patronen leer sind? Glaubt die PAO, dass ich den toxischen Regen verursacht habe? Wie hätte ich das tun sollen ohne Chems? Aber diese Frage kann ich ihnen schlecht stellen, sie würde so viele Gegenfragen nach sich ziehen, dass ich an Weihnachten noch nicht wieder aus der PAO-Zentrale raus wäre. Und was ist mit Willem? Haben sie ihn befragt oder hat er sich vorher abgesetzt?

Die Sanitäterin wird ungeduldig, drängt sich an mir vorbei und hält mir die Tür auf. Suchend sehe ich mich nach meinen eigenen Klamotten und meiner Tasche um.

Sie deutet meinen Blick richtig. »Deine Kleidung musste ich aufschneiden, das sind nur noch Fetzen. Alles andere hat die PAO.«

Einen Moment zögere ich noch, dann flüstere ich: »Danke«, und klettere aus dem Rettungswagen. Immerhin war sie freundlicher, als ihr Job es vorschreibt.

Kaum stehe ich auf der Straße, schlägt mir Gebrüll entgegen. Eine Gruppe von zwanzig, vielleicht dreißig Gaffern hinter einer Absperrung aus Flatterband starrt erbost zu mir herüber.

»Sie pfeifen auf Naturgesetze«, skandieren die Leute, »Wettermacher sind das Letzte!«

Ein paar zücken ihre Unices, sodass ich mir schnell die Kapuze des Hoodies über den Kopf ziehe. Auf Videos von mir im Netz kann ich gut verzichten.

Der Spruch ergibt zwar keinen Sinn, trotzdem weiß ich jetzt, was los ist. Und richtig, hinter den Protestierenden erkenne ich zwei Banner, eins mit der Aufschrift »Schluss mit gefährlichen Wetterexperimenten«, das andere mit einem grünen Frosch auf gelbem Grund. Das Logo von EcoQuest.

Eine Hand schließt sich um meinen Arm und ich fahre herum. Beinahe bin ich erleichtert, dass es ein PAO-Beamter ist und nicht einer dieser durchgeknallten Ökoaktivisten, die jede Gelegenheit nutzen, die Wettermacher in den Dreck zu ziehen. Er lässt mir kaum Zeit, mich zu wundern, wie EcoQuest so schnell von dem Unfall hier Wind bekommen hat, sondern führt mich zwischen mittlerweile einem halben Dutzend Einsatzfahrzeugen hindurch zu einem Bus, dessen Schiebetür offen steht. Normalerweise würde ich mich losreißen, doch ich glaube kaum, dass eine Provokation gerade gut ankäme, und außerdem bin ich ein klitzekleines bisschen froh, dass er mich aufrecht hält. In meinem Kopf dreht sich alles, der Stoff des Hoodies kratzt auf meinem Rücken und das Zittern ist wieder stärker geworden. Eine Hühnersuppe und zwölf Stunden Schlaf, das bräuchte ich jetzt. Doch es ist eher unwahrscheinlich, dass mich in dem PAO-Bus so viel Luxus erwartet.

Wortlos schiebt mich der Beamte durch die Bustür und schließt sie hinter mir, bevor ich mich noch einmal umdrehen und mich vergewissern kann, dass ich mir den Schatten am Zaun nur eingebildet habe. Was ist heute nur mit meinen Augen? Es ist immer noch früh am Nachmittag, die Sonne steht hoch, der Himmel ist wieder strahlend blau. Warum habe ich ständig den Eindruck, ich würde in dunklen Ecken etwas erkennen?

»Setzen Sie sich«, sagt eine angenehm dunkle Stimme.

Ich rutsche gegenüber der Frau auf eine Bank. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Zwielicht im Bus, und ich merke, dass hinter ihr ein zweiter Beamter vor einem Monitor sitzt. Er nickt mir zu, ich nicke zurück. Vage kommt er mir bekannt vor mit seinen raspelkurzen blonden Haaren und dem markanten Vollbart. Vielleicht habe ich ihn mal bei einer PAO-Kontrolle gesehen.

Die Frau vor mir kenne ich nicht. Sie hätte ich mir gemerkt, denn sie sieht kaum älter aus als ich, allerhöchstens Anfang zwanzig. Sie trägt einen mädchenhaften Pferdeschwanz aus glänzenden schwarzen Wellen und ihre dunklen Augen werden von langen dichten Wimpern umrahmt. Genau wie ihr Kollege hat sie eine Hose und das passende Shirt in diesem hässlichen PAO-Lila an.

Eine Weile wischt sie auf einem Tablet herum, ohne mich zu beachten. Sicher irgendeine Verhörtechnik, doch ich weigere mich, deswegen nervös zu werden. Im Gegenteil, je länger sie mich nachdenken lässt, desto größer ist die Chance, dass mir eine Geschichte einfällt, die glaubwürdig genug klingt, damit ich die Wahrheit verschweigen kann. Die Wahrheit würde sie mir sowieso nicht abkaufen.

Als mir der andere Beamte nach einem prüfenden Blick auf meine zitternden Hände auch noch einen Becher mit Tee vor die Nase stellt, bin ich beinahe zufrieden. Es ist keine Hühnersuppe, aber immerhin ist der Tee warm.

Mein Blick schweift durch den Bus, und in einem Regal mit Metallkörben entdecke ich, eingepackt in eine Plastiktüte und säuberlich beschriftet, meine Tasche. Das Tablet, der Ordner und mein Unice liegen hinter einer Glastür in einem Schränkchen daneben. Ich widerstehe dem Impuls, aufzuspringen und nachzusehen, ob Esper eine Nachricht gesandt hat. Er weiß bestimmt, dass ich in Gewahrsam der PAO bin, und wird sich hüten, ihnen in die Hände zu spielen. In einer halben Stunde bin ich hier sowieso raus, immerhin bin ich nur die Assistentin. Ich habe ja noch nicht mal eine Lizenz. Und abgesehen davon sollten sie sich ohnehin Willem vorknöpfen, statt mich hier schmoren zu lassen.

Während ich den Tee trinke – irgendeine widerliche Mischung aus Zitrone und Hagebutte –, denke ich darüber nach, was heute Vormittag passiert ist. Die Tasse hinterlässt feuchte Ringe auf der Tischplatte, die ich mit Teewasserlinien zu absurden chemischen Modellen verbinde. Welche Stoffe hat Willem wohl verwendet? Wo hat er sich verrechnet, und wie kann es sein, dass daraus ein so gewaltiger Störfall entstanden ist?

Vielleicht spürt die Beamtin, dass ihr Verhalten den gegenteiligen Effekt hat, dass ich mich immer mehr entspanne, vielleicht ist sie aber auch wirklich fertig mit ihrer Wischerei, jedenfalls versichert sie sich ein weiteres Mal, dass ich nicht auf das Tablet sehen kann, setzt sich aufrechter hin und mustert mich einen Moment.

»Mein Name ist Elif Tekin«, sagt sie dann. »Ich arbeite für die Prüfstelle für atmosphärische Optimierung.«

Ja, so viel war mir klar. Sie erwartet irgendeine Reaktion, deswegen nicke ich.

»Frau Sellin, wie ich sehe, geht es Ihnen besser. Ich werde Ihnen nun einige Fragen zu den Ereignissen von heute Vormittag stellen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alle Ihre Aussagen protokolliert werden und vor Gericht gegen Sie verwendet werden können. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern, allerdings muss ich Sie dann in die Zentrale mitnehmen.«

Sie rattert den Rest meiner Rechte und Pflichten herunter, aber ich höre kaum hin. Ich warte nur darauf, dass sie zu reden aufhört und ich fragen kann: »Vor Gericht? Heißt das, ich bin tatverdächtig? Ich war das nicht!«

Sie nickt bedächtig, und wenn mich diese Geste bei einer älteren Frau vielleicht nicht gestört hätte, bei ihr bringt sie mich auf die Palme. Das Gute daran ist: Jedes Kälteempfinden ist verschwunden.

»Gehen wir erst einmal durch, was heute Morgen geschehen ist.«

Weil es sowieso nichts bringt, mich mit ihr anzulegen, atme ich tief durch und erzähle ihr, wie der Einsatz in der Gartenanlage abgelaufen ist. Das heißt, ich erzähle ihr eine Version, die mit den Richtlinien der PAO vereinbar ist.

Leider lässt sie sich nicht so schnell einwickeln. »Das ist eine interessante Geschichte, Frau Sellin.« Sie deutet auf das Fach mit der Glastür. »Aber können Sie mir erklären, warum weder Ihr Tablet noch Ihr Universal Device eine Steuerungsapp aufweist?«

Einen Moment muss ich fast überlegen, was sie meint. Welcher Mensch sagt Universal Device?

Ich lehne mich ein wenig nach vorn. »Dafür gibt es einen einfachen Grund: Ich bin noch nicht achtzehn.«

Tekins Mundwinkel zucken. »Dass Sie selbst noch keine Lizenz haben, ist mir bewusst. Meine Frage zielte darauf ab, wie Sie und Ihr Partner die Eingriffe in das lokale Wetter zuwege gebracht haben wollen, wenn Ihre Ausrüstung doch, sagen wir, dürftig ist.«

»Wir …« Ich stocke, aber dann reiße ich mich zusammen und richte mich auf. »Wir nutzen ein neuartiges Verfahren, das den Einsatz von Chemikalien minimiert. Dadurch werden Nebenwirkungen reduziert.«

»Nebenwirkungen, wie sie heute aufgetreten sind?« Sie verzieht den Mund zu einem verächtlichen Lächeln, und ich fange an, sie wirklich zu hassen. »Ist das der Grund, warum Sie dieses neue Verfahren offensichtlich noch nicht von der PAO haben zertifizieren lassen?«

Ich halte ihrem Blick stand. »Worüber reden wir hier? Dass wir uns möglicherweise nicht ganz an die Regeln gehalten haben oder dass Willem Ulbricht heute einen Chem-Unfall verursacht hat?«

Die Beamtin beugt sich minimal vor. »Wir reden darüber, dass gerade zwei schwer verletzte Kinder ins Krankenhaus gefahren und dort notoperiert werden«, zischt sie. »Ich rate Ihnen dringend, mit uns zu kooperieren, statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.«

Meine Kehle wird eng, doch bevor ich etwas sagen kann, kracht es draußen ohrenbetäubend, und wir fahren alle drei zusammen. Tekin ist schon halb aus der Bank, während ich noch versuche herauszufinden, aus welcher Richtung der Knall kam.

»Bleib hier«, weist sie ihren Kollegen an und schiebt die Tür des Busses auf. Dann ist sie weg.

Der Mann und ich tauschen einen Blick.

»Was war das?«, frage ich.

Er zuckt mit den Schultern. »Klang nach einer Explosion.«

Darauf sage ich nichts, denn zu dem Schluss bin ich auch schon gekommen. Aber was sollte in einer Gartenanlage bitte explodieren?

Ich richte meine Aufmerksamkeit nach draußen, von wo schnelle Schritte und gebrüllte Befehle zu hören sind. Und dann, lauter und näher als zuvor, knallt es wieder und der ganze Bus vibriert unter der Wucht der Detonation.

Fluchend springt der Beamte auf. Mit einem flüchtigen Blick auf mich klemmt er sich seinen Laptop unter den Arm, schnappt sich das Tablet, das noch vor mir auf dem kleinen Tisch liegt, und springt ebenfalls aus dem Bus.

»Was ist los?«, höre ich ihn fragen, bevor er die Tür zuschiebt und sie ins Schloss klickt.

Egal, was dort draußen vor sich geht, ich habe keine Zeit zu verlieren. Diese PAO-Tante hat sich auf mich eingeschossen, so viel ist klar, und ich werde einen Teufel tun und hier darauf warten, dass sie mir den Unfall anhängt. Ich stehe auf, ziehe den Korb mit meiner Tasche aus dem Regal und hänge sie mir quer über die Schulter. Als ich das Tablet und mein Unice aus dem Fach nehmen will, fluche ich leise. Es ist abgeschlossen. Ich rüttle an der Tür, hole sogar mit dem Ellbogen aus, um das Glas einzuschlagen, aber außer einem stechenden Schmerz, der den ganzen Arm hinaufschießt, erreiche ich nichts.

Was jetzt? Wenn ich ohne das Unice abhaue, habe ich nichts mehr, keinen Zugriff auf mein Geld, keine ID und keine Möglichkeit, Esper zu kontaktieren. Einen Moment schließe ich die Augen, dann atme ich zischend ein. Darüber mache ich mir später Gedanken, vor allen Dingen muss ich hier raus.

Hektisch sehe ich mich um. Die Tür ist abgeschlossen, das Fenster auf der straßenzugewandten Seite des Busses gesichert. Bleibt der Fahrerraum. Ein Gitter trennt ihn vom hinteren Teil des Busses. Ich stecke die Finger hindurch und taste nach der Verriegelung, aber ich bin nicht kräftig genug, um sie zu öffnen. Wütend schlage ich gegen die Verstrebung und rüttle daran, werfe mich mit meinem vollen Gewicht dagegen, als die Fahrertür aufgeht. Ich erstarre.

Der Mann – eigentlich ist er fast noch ein Junge – trägt keine PAO-Uniform. Er wirft mir nur einen kurzen Blick zu, dann greift er nach der Verriegelung, drückt sie auf und schiebt die eine Hälfte des Gitters zur Seite. Dann hält er mir die Hand hin.

»Los.«

Ich beschließe, dass jetzt nicht die Zeit für Fragen ist, fasse nach seiner Hand, stoße mich ab und lasse mich in den Fahrerraum ziehen. Sein Griff ist sicher und seine Bewegungen mühelos, obwohl er nicht gerade einer von der muskulösen Sorte ist. Ungeschickt zwänge ich mich am Lenkrad vorbei, sodass ich meine Beine aus dem Bus strecken kann und auf dem Boden lande. Wir pressen uns an die Seitenwand und schauen uns um, aber es ist niemand zu sehen.

»Danke«, sage ich und suche seinen Blick – ein dunkles, samtiges Grau, ungewöhnlich –, dann drehe ich mich weg und schleiche am Bus entlang.

Als er wieder nach meiner Hand fasst, wende ich mich um.

»Wo willst du hin?«, flüstert er. »Mein Auto steht dahinten.« Er deutet die Straße hinunter, aber ich schüttle den Kopf.

»Wie gesagt, danke. Ab jetzt komme ich klar.«

»Hier sind überall PAO-Leute. Wir haben vielleicht zwei Minuten, dann sind sie zurück. Wenn sie sehen, dass du getürmt bist, riegeln sie sofort alles ab. Zu Fuß kommst du nicht weit.«

Wie um seine Worte zu bestätigen, nähern sich Schritte. Schritte von mehr als einer Person.

Mein Herz rast. Tausend Gedanken stürzen in meinem Kopf übereinander – Wo ist Esper? Du musst ihn suchen! Wo willst du heute Nacht schlafen, was hat Willem gemacht, wer ist der Typ, was will er von dirworaufwartestdukommindiegänge! –, und endlich drängt sich der wichtigste nach vorn: Wir müssen hier weg! Ich blinzle, als ich merke, dass ich dem Typen in die Augen gestarrt habe, und nicke.

Er verstärkt den Griff um meine Hand und zieht mich in die andere Richtung, auf die grölende Menge zu. In die Anti-Wettermacher-Sprüche mischen sich mittlerweile auch handfeste Drohungen. Ich blende den Lärm aus, so gut es geht.

»Wie willst du denn an denen vorbeikommen?«, flüstere ich, während wir in der Deckung der Einsatzfahrzeuge weiterlaufen.

»Das klappt schon.«

Sein Optimismus in allen Ehren, doch wenn ich einem Wildfremden vertrauen soll, hätte ich gern ein paar mehr Einzelheiten. Am Heck eines Einsatzbusses bleibe ich deswegen stehen und halte ihn am Arm fest.

Der Typ dreht sich zu mir um, lässt mich aber gar nicht zu Wort kommen. »Wenn ich es sage, stellst du dich ohnmächtig, okay?«

»Was? Ich …«

»Bitte, keine Diskussion jetzt. Ich bringe uns hier raus.«

Weil ich leider nicht die geringste Idee habe, wie ich das allein schaffen könnte, nicke ich knapp, doch es fällt mir schwer. So ein Großkotz ist genau, was mir gefehlt hat.

Er übergeht mein mürrisches Gesicht, schiebt seinen rechten Arm in meine Kniekehlen und hebt mich mit einem Ruck hoch.

»Jetzt«, keucht er.

Er tritt um den Bus herum auf die Menge zu. Von einer Sekunde auf die andere schlägt mein Ärger in Panik um, sodass ich mitspiele und meinen Kopf schwer gegen seine Schulter rollen lasse. Jeder meiner Muskeln ist angespannt, also zwinge ich mich, meinen Körper lockerzulassen, damit man nicht auf den ersten Blick sieht, dass ich diese Ohnmacht nur vortäusche. Ich bringe es nicht über mich, meine Augen komplett zu schließen, deswegen versuche ich, möglichst viel unter meinen Lidern hervor mitzubekommen.

»Dahinten«, ruft mein Begleiter gegen den Protest an und deutet mit dem Kinn in Richtung der Gartenanlage, »da sind noch mehr Verletzte. Die brauchen Hilfe. Beeilung!«

Er klingt wie jemand, der es gewohnt ist, Befehle zu erteilen, und in die Leute kommt Bewegung. Die ersten bücken sich unter der PAO-Absperrung hindurch.

»Aus dem Weg, ich muss sie in Sicherheit bringen«, schiebt er noch hinterher. Ich bete, dass die PAO-Leute alle anderswo beschäftigt sind.

Jemand hält uns das Absperrband hoch, sodass mich der Kerl darunter hindurchtragen kann. Inzwischen atmet er heftiger, und ich höre, wie schnell sein Herz schlägt. Unauffällig spanne ich meinen Arm um seine Schultern an, damit er nicht mein ganzes Gewicht tragen muss. Sein linker Arm zieht mich näher an ihn.

Auf meinem Rücken bildet sich ein Schweißfilm, und ich würde eine Menge dafür geben, den Kopf heben und über seine Schulter spähen zu können, ob jemand Verdacht geschöpft hat und uns folgt. Stattdessen dringt ein anderer Gedanke durch meine Panik oder eher eine Empfindung. Es ist sein Geruch, der mich ablenkt, herb und holzig, so ganz anders als die zitronigen Duftnoten der handelsüblichen Seifen und trotzdem auf ferne Art vertraut. Ich durchkämme mein Gehirn nach der Erinnerung, mit der ich diesen Geruch verbinde, aber da biegen wir in eine Einfahrt, und er flüstert: »Vorsicht.«

Keine Sekunde später stehe ich wieder auf den Füßen. An unserer Koordination müssen wir definitiv noch arbeiten, denn als wir um die Ecke sehen wollen, ob uns jemand folgt, stoßen wir zusammen. Ich halte mich an seinen Armen fest und seine Hand gleitet in meinen Rücken, und obwohl die Situation peinlich sein könnte, grinsen wir beide. Nicht verlegen, sondern … verschworen irgendwie. Na ja, es haben mich ja auch noch nicht so viele Männer durch die Gegend geschleppt, so was schafft schon Nähe.

»Danke«, sage ich, als klar ist, dass sich niemand für uns interessiert, für den Moment jedenfalls nicht.

»Kein Thema.« Sein Grinsen bleibt, aber es wird weicher, als er mir die Hand hinhält. »Leo.«

»Vega«, antworte ich und schlage ein.

Er hat meine Hand noch nicht wieder losgelassen, als Leos Blick auf etwas hinter mir fällt. »Oh nein.«

Ich muss mich gar nicht umdrehen, ich höre die Fußtritte deutlich genug. Sie nähern sich schnell.

Leo linst um die Ecke, die Straße hinunter, zieht seinen Kopf aber hastig zurück. »Aus der Richtung kommen auch welche. Wir schaffen es nicht bis zum Auto.«

Dann bleibt ja nur noch eins. Ich deute auf die Steinmauer, die die Zufahrt einfasst. »Los, hilf mir rauf.«

Leo versteht sofort. Er hält mir seine verschränkten Hände hin, ich stelle meinen linken Fuß in die Räuberleiter und greife nach oben.

»Eins, zwei, drei«, zählt er und wirft mich mühelos auf die Mauer.

Einen kurzen Moment bleibe ich liegen und suche mein Gleichgewicht, dann ziehe ich die Beine an und drehe mich um. Er greift nach meiner ausgestreckten Hand, und ein paar Sekunden später habe ich es geschafft, ihn neben mich zu zerren.

Aus dem Augenwinkel sehe ich ein halbes Dutzend Leute, die in unsere Richtung laufen. Es sind keine PAO-Beamten.

»Da sind sie!«, brüllt einer der Männer. »Schnappt sie euch! Sie haben die Kinder auf dem Gewissen!«

Erst bin ich wie erstarrt, als das Bild des kleinen Mädchens in meiner Erinnerung aufblinkt, aber dann stürzen immer mehr Menschen in unsere Richtung, und ich weiß, dass ich meine Panik auf später verschieben muss.

Vor uns breitet sich das Gelände der Baumschule aus.

Ich lasse mich von der Mauer auf das Gras unter uns gleiten. Nur einen Moment später landet Leo neben mir. Wir wenden uns nach links und laufen los.

Hinter uns werden die Schreie der Meute lauter. »Wo sind sie hin? Habt ihr gesehen, wohin sie verschwunden sind?«

Wir sind noch keine fünfzig Meter weit gekommen, als hinter uns dumpfe Geräusche zu hören sind, so als würden Körper schwer auf dem Boden auftreffen. Neue Rufe feuern unsere Verfolger an und Leos und meine Schritte werden länger. So aggressiv, wie die Leute hinter uns klingen, möchte ich nicht wissen, was sie mit uns anstellen, wenn sie uns in die Finger bekommen. Aber ich darf jetzt nicht denken, ich muss rennen. Atmen, auf den Boden achten, die Füße abrollen, die Arme nah am Körper lassen. Mit Leo Schritt halten. Atmen.

Hinter uns wird es stiller, doch ich hege keine Hoffnung, dass sie die Verfolgung aufgegeben haben. Wahrscheinlich sparen sie sich nur ihren Atem, genau wie wir.

Lange kann ich das Tempo nicht mehr halten. Mittlerweile habe ich nicht nur Seitenstechen, je länger wir laufen, desto stärker scheuert auch der raue Stoff des Hoodies über meinen Rücken, und meine gereizte Haut brennt mit jedem Schritt mehr. Meine Füße sind bleischwer.

Wir rennen auf einen hohen Zaun zu, und obwohl wir keine Zeit zu verlieren haben, bin ich dankbar, dass wir davor stehen bleiben, weil ich nur noch pfeifend Luft holen kann.

»Auf der anderen Seite finden wir ein Versteck«, versichert Leo leise, und ich beiße die Zähne zusammen und schaue weg, weil es mich wütend macht, dass er mich in diesem Zustand sieht. Wer auf der Straße Schwäche zeigt, kann sich gleich eine Zielscheibe auf die Stirn malen, sagt Esper immer, und wer auch immer dieser Kerl ist, was auch immer hinter seiner Freundlichkeit steckt, ich will nicht sein Opfer werden.

Doch dieser Unmut ist ein Luxusproblem. Ich werde gleich jemand anders zum Opfer fallen, wenn ich Leo nicht schleunigst hinterherklettere. Drei unserer Verfolger, unauffällige Typen eigentlich, deren Gesichter vor Anstrengung und blankem Hass verzerrt sind, haben aufgeholt. Sie haben uns fast erreicht.

Mein Fuß rutscht ab, als ich ihn gegen die Bretter stemme, aber dann finde ich Halt und schaffe es, meine Finger oben um den Zaun zu schlingen. Auf der anderen Seite lässt sich Leo auf den Boden fallen und sieht mich durch die Latten an. Seine Augen werden groß, und er öffnet den Mund, doch was er mir zuruft, verstehe ich nicht, denn im selben Moment kracht etwas in den Zaun und lässt ihn erzittern. Wie durch ein Wunder schaffe ich es, mein rechtes Bein über den Zaun zu schwingen, aber gerade als ich meinen linken Fuß über den Rand schiebe und mich fallen lassen will, grapscht eine Hand nach mir.

Sie verfehlt meinen Arm, doch sie krallt sich in die Kapuze meines Hoodies. Es ist zu spät, um mich gegen den Griff zu wehren oder mein Gewicht nach hinten zu verlagern. Ich werfe mich vornüber, die Hand lässt nicht los, und obwohl eine Naht meines Hoodies ein schauerliches Ratschen von sich gibt, bleibe ich in der Luft hängen.

Der Kragen zieht sich um meinen Hals zusammen und ich strample panisch mit den Beinen, dann ist Leo bei mir.

»Lass sie los, Mann!«, brüllt er und greift nach meinen Füßen, bekommt sie aber nicht zu fassen, weil ich einfach nicht stillhalten kann. Meine Hände zerren an meinem Kragen, meine Fingernägel schlagen sich in die Hand, die mich festhält, doch ich merke, dass mein Blickfeld schwarz wird. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappe ich nach Luft, genauso vergebens, ich höre ein Röcheln und immer wieder Leos Stimme, dann gibt die nächste Naht nach, und der Druck auf meinen Hals verschwindet. Ich falle mit den Händen und Knien auf den Boden, ich spüre es, doch ich sehe es nicht.

Zwei Hände ziehen mich auf die Füße, dann schlingt sich ein Arm um meine Schultern und ich stolpere blind vorwärts. Ich weiß nicht, wohin wir gehen, ich bin nur damit beschäftigt, Luft durch meine Kehle zu pressen.

Hinter uns höre ich Geschrei und Schritte, laute, hektische Schritte, aber auch wir halten nicht an, bis Leo mich in eine Nische schiebt, einen Spalt zwischen zwei Wänden.

»Ruhig jetzt«, raunt er, stellt sich vor mich und zieht meinen Kopf an seine Brust, und selbst wenn ich reden könnte, würde ich nichts sagen. Ich bin vollauf damit beschäftigt, auf den Beinen zu bleiben. Leos Geruch lässt mich zum ersten Mal seit dem Zaun daran glauben, dass ich vielleicht nicht sterben muss.

Die Schritte und Stimmen ziehen an unserem Versteck vorbei und irgendwann beruhigt sich sogar mein Herzschlag. Noch immer liegt Leos Hand an meinem Hinterkopf, die andere an meinem Rücken. Dann flüstert er: »Bleib hier«, lässt mich los und verschwindet.

Ich gehe in die Knie.