Venedig kann sehr kalt sein - Patricia Highsmith - E-Book

Venedig kann sehr kalt sein E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Den Glutkern des Buches bildet ein Paar, das allein auf der Welt ist: zwei Männer, die sich miteinander unterhalten. Ein paar Worte nur, dann zieht der eine seine Pistole und feuert einen Schuß ab. Der andere fällt in eine Hecke, doch als er wieder auf den Füßen steht, ist der Angreifer verschwunden. Der Überlebende hätte allen Grund, um den Schützen einen Bogen zu machen. Doch dieser ist sein Schwiegervater, besser: sein ehemaliger Schwiegervater.

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Patricia Highsmith

Venedig kann sehr kalt sein

Roman

Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Venedig kann sehr kalt sein

Für Lil Picard, Malerin,

Schriftstellerin und eine

meiner anregenderen

Freundinnen

1

Coleman sagte: »Sie war mein einziges Kind. Aber nicht Ihre einzige Frau. Nur Ihre letzte.«

Ray schwieg. Was für eine Antwort erwartete Coleman darauf? Dachten denn andere schon zehn Tage nach dem Tod ihrer Frau daran, wieder zu heiraten? Brachten sie überhaupt die Kraft auf, bei solch einer Bemerkung wütend zu werden? Ray ging mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Er zitterte. Die schneidende Kälte des kommenden Winters lag in der römischen Nachtluft. Die Straße, durch die sie gingen, war dunkel. Ray hob den Kopf, suchte ein Straßenschild, fand aber keines. »Sie wissen den Weg?« fragte er Coleman.

»Da unten sind sicher Taxis«, sagte Coleman und wies mit dem Kopf nach vorne.

Der Gehweg führte abwärts. Ihre Schritte klangen heller, denn die Schuhe rutschten ein bißchen: schripp, schrapp, schripp, schrapp. Für einen Schritt von Ray brauchte der andere fast zwei. Der Mann war klein, sein Gang schnell, abgehackt und wiegend zugleich. Ab und zu wehte der Qualm von Colemans Zigarre, die er zwischen den Vorderzähnen hielt, schwarz und bitter herüber und stieg Ray in die Nase. Coleman hatte zu einem Restaurant gewollt, für das es sich nicht lohnte, Rom zu durchqueren, fand Ray. Er war mit Coleman um acht im Caffè Greco verabredet gewesen. Coleman hatte gesagt, er müsse in dem Restaurant einen Mann treffen (wie war noch sein Name?), doch der war nicht gekommen. Und sobald sie dort waren, hatte Coleman ihn kein einziges Mal erwähnt – Ray fragte sich inzwischen, ob es den Mann überhaupt gab. Coleman war eigenartig. Vielleicht hatte er in diesem Restaurant ein paarmal mit Peggy gegessen, mittags oder abends, und mochte es wegen der Erinnerungen. Im Restaurant hatte er vor allem von Peggy gesprochen, nicht so zornig wie auf Mallorca; heute abend hatte er sogar ab und zu leise gelacht. Aber sein Groll, seine Frage standen ihm immer noch ins Gesicht geschrieben. Und Rays Versuch, mit ihm zu reden, hatte zu nichts geführt. Für Ray war das nur ein weiterer Abend, den er über sich ergehen ließ, ein Abend wie viele andere auf Mallorca, seit Peggys Tod vor zehn Tagen: farblos, gedämpft, wie von der Welt getrennt – Abende mit Speisen, die gegessen wurden, ganz oder zur Hälfte, nur weil sie auf den Tisch kamen.

»Sie fliegen weiter nach New York«, sagte Coleman.

»Zuerst nach Paris.«

»Geschäftlich?«

»Sozusagen. Doch das läßt sich alles in zwei Tagen erledigen.« Ray wollte in Rom einige Maler treffen und sehen, ob sie Interesse hatten, sich von seiner Galerie in New York vertreten zu lassen. Die Galerie gab es noch gar nicht. Heute hatte er keine Telefongespräche geführt, obwohl er seit Mittag in Rom war. Er seufzte, weil er wußte, daß er nicht den Mut hatte, die Maler zu treffen und zu überzeugen, die Galerie Garrett werde ein Erfolg werden.

Viale Pola, las Ray auf einem Straßenschild.

Vor ihm lag ein breiterer Boulevard: Das dürfte die Nomentana sein.

Undeutlich nahm er wahr, wie Coleman etwas aus seiner Manteltasche zog. Dann drehte der Mann sich plötzlich ihm zu, ein Schuß fiel, explodierte zwischen ihnen, schleuderte Ray rückwärts gegen eine Hecke und dröhnte ihm so laut in den Ohren, daß er einige Sekunden lang Colemans davoneilende Schritte auf dem Pflaster nicht hören konnte. Jetzt war Coleman schon außer Sicht, und Ray wußte nicht, ob eine Kugel ihn zurückgeschleudert hatte oder ob er vor Überraschung hintenübergefallen war.

»Che c’è?« schrie ein Mann aus einem Fenster.

Ray rang keuchend nach Luft – er hatte den Atem angehalten –, mühte sich dann, aus der Hecke herauszukommen und aufzustehen. »Niente«, rief er automatisch zurück. Wenn er tief einatmete, tat nichts weh. Er war also nicht getroffen, sagte er sich und ging langsam weiter in die Richtung, die Coleman und er vorher eingeschlagen hatten.

»Das ist der Mann!«

»Was ist passiert?«

Die Stimmen wurden leiser, als Ray die Nomentana erreichte. Sofort kam ein Taxi von links. Er winkte es heran.

»Albergo Mediterraneo.« Er sank zurück in den Sitz, spürte ein Stechen, ein Brennen im linken Oberarm. Er hob den Arm: Die Kugel hatte den Knochen sicherlich nicht durchschlagen. Er tastete den Mantelärmel ab und blieb mit einem Finger in dem Loch im Ärmel hängen. Nach weiterem Suchen fand er das Austrittsloch auf der anderen Seite des Ärmels. Und nun spürte er die warme Nässe in seiner Armbeuge, wo sich das Blut sammelte.

Das Mediterraneo war ein modernes Hotel, dessen Stil Ray nicht gefiel, doch seine Lieblingshotels waren alle ausgebucht gewesen. Er holte sich seinen Schlüssel und fuhr mit dem Pagen hinauf, die Linke in der Manteltasche, damit kein Blut auf den Teppichboden tropfte. Die Tür seines Zimmers hinter sich zu schließen gab ihm ein Gefühl der Sicherheit; dennoch mußte Ray in allen Ecken nachsehen, nachdem er Licht gemacht hatte, als rechne er damit, Coleman in einer zu entdecken.

Er ging ins Badezimmer, fuhr aus seinem Mantel und warf ihn auf das Bett im Schlafzimmer, zog dann sein Jakkett aus und sah Blutspritzer und einen blutigen Streifen, der sich den blauweiß gestreiften Hemdsärmel hinabzog. Weg mit dem Hemd.

Die Wunde war eine kleine Kerbe, etwa einen Zentimeter lang, ein klassischer Streifschuß. Er näßte einen sauberen Waschlappen und wusch die Wunde aus, holte ein Pflaster aus einem Seitenfach des Koffers und erinnerte sich, daß nur noch dieses breite Pflaster in der Blechbüchse übrig gewesen war, als er das Arzneischränkchen auf Mallorca ausgeräumt hatte. Dann nahm er die Zähne zu Hilfe und band sich ein Taschentuch fest um den Arm. Das Hemd weichte er in kaltem Wasser ein.

Fünf Minuten später, im Pyjama, rief Ray die Bar an und bestellte einen doppelten Dewar’s. Dem Zimmerjungen gab er ein gutes Trinkgeld. Dann löschte er das Licht und trat mit dem Drink ans Fenster. Sein Zimmer lag ziemlich weit oben. Rom wirkte weit und flach, bis auf die ferne, massige Kuppel des Petersdoms und die Säule der Trinità dei Monti über der Spanischen Treppe. So wie er rückwärts in die Hecke gefallen war, dachte Ray, könnte Coleman annehmen, er sei tot. Er lächelte dünn, runzelte aber die Stirn: Wo hatte sich Coleman die Pistole beschafft? Und wann?

Der Mann flog morgen mit einer Mittagsmaschine nach Venedig. Mit Inez und Antonio, hatte Coleman am Abend gesagt – er brauche Tapetenwechsel, wolle etwas Schönes sehen und eine bessere Stadt als Venedig sei ihm nicht eingefallen. Würde Coleman morgen früh anrufen, um zu erfahren, ob er in sein Hotel zurückgekehrt war? Und wenn man im Hotel sagte: »Ja, Mr. Garrett ist im Hause« – würde der andere aufhängen? Außerdem: Wenn Coleman glaubte, ihn getötet zu haben, was würde er dann Inez sagen? »Ray und ich haben uns in der Nähe der Nomentana getrennt und verschiedene Taxis genommen. Keine Ahnung, wer das getan haben könnte.« Oder hatte Coleman vorher das Abendessen mit ihm gar nicht erwähnt, sondern gesagt, er werde mit jemand anderem essen? Und hatte er die Pistole sofort, heute abend noch, von einer Brücke in den Tiber geworfen?

Ray nahm einen größeren Schluck Whisky. Coleman würde nicht hier im Hotel anrufen, ihm wäre das schlichtweg egal. Und sollte man ihn darauf ansprechen, würde er lügen, und zwar gut.

Außerdem würde der Mann selbstverständlich herausfinden, daß er noch am Leben war, einfach weil in den Zeitungen nichts von seinem Tod oder einer schweren Verletzung stehen würde. Und sollte er dann schon in Paris oder New York sein, dann sähe das für Coleman so aus, als sei er geflüchtet, weggelaufen wie ein Feigling, bevor alles erklärt, etikettiert und analysiert werden konnte. Ray wußte, daß er nach Venedig fliegen mußte. Er wußte auch, daß weitere Gespräche folgen würden.

Der Drink half; Ray entspannte sich auf einmal und wurde müde. Er starrte zu seinem großen, offenen Koffer auf der Ablage hinüber. Auf Mallorca hatte er klug gepackt, weder die Manschettenknöpfe vergessen noch den Zeichenblock, seinen Tintenfüller und die Adreßbücher. Seine restlichen Sachen, zwei Kisten und mehrere große Kartons, hatte er nach Paris geschickt. Warum Paris und nicht New York, wußte er selber nicht, denn in Paris würde er sie doch nur nach New York weitersenden müssen. Praktisch war die Regelung nicht, aber angesichts der verwirrenden Umstände, unter denen er auf Mallorca gepackt hatte, fand er es erstaunlich, daß er alles so gut geschafft hatte. Coleman war am Tag vor der Beerdigung von Rom herübergeflogen und hinterher noch drei Tage geblieben, und in dieser Zeit hatte Ray Peggys und seine Sachen gepackt, Rechnungen mit örtlichen Lieferanten beglichen, Briefe geschrieben, telefonisch den Vertrag mit seinem Vermieter Dekkard gekündigt, der in Madrid wohnte. Und die ganze Zeit war Coleman durch das Haus geschlichen, wie betäubt, eher schweigsam, doch Ray hatte gesehen, wie sein schmaler Mund sich zu einem kurzen geraden Strich verdünnte, während sein Zorn auf Ray allmählich wuchs und sich verhärtete. Ray wußte noch, wie er einmal ins Wohnzimmer gekommen war, weil er Coleman etwas fragen wollte (Coleman hätte das Gästezimmer haben können, schlief aber lieber auf der Couch), und den anderen dort angetroffen hatte, einen Lampenständer aus Terracotta in den Händen, der wie ein großer Flaschenkürbis geformt war – und wie er einen Moment gedacht hatte, der Mann würde damit nach ihm werfen. Aber Coleman hatte ihn wieder hingestellt. Ray hatte ihn gefragt, ob er mit ins vierzig Kilometer entfernte Palma fahren wolle – er mußte in die Stadt, um sich um den Versand seiner Sachen zu kümmern. Coleman hatte abgelehnt. Tags darauf war er von Palma nach Rom zurückgeflogen, zu Inez, seiner gegenwärtigen Geliebten. Ray kannte sie noch nicht. Sie hatte Coleman zweimal auf Mallorca angerufen. Man hatte ihn auf das Postamt geholt, um die Anrufe entgegenzunehmen, denn im Haus gab es kein Telefon. Frauen hatte Coleman immer, obwohl Ray nicht verstand, was sie an ihm fanden.

Vorsichtig schlüpfte er ins Bett; er wollte vermeiden, daß sein Arm noch mehr blutete. Ärgerlich, daß Inez und Antonio, der Italiener, Coleman begleiten würden. Ray hatte Antonio noch nie getroffen, aber den Typ konnte er sich vorstellen: schwach, gutaussehend und jung, gut gekleidet, ohne Geld; jetzt nur noch ein Anhang, doch wahrscheinlich Inez’ früherer Liebhaber. Inez dürfte in den Vierzigern sein, Witwe vielleicht, wohlhabend, womöglich selber Malerin, allerdings eine schlechte. Könnte er in Venedig Coleman nur noch einmal allein treffen, dann könnte er vielleicht alles in einfachen Worten erklären: die schlichte Tatsache, daß er nicht wußte, warum Peggy sich umgebracht hatte, daß er es wirklich nicht erklären konnte. Sollte er Coleman dazu bringen, das zu glauben (und nicht, daß sein Schwiegersohn ihm eine entscheidende Tatsache oder ein Geheimnis vorenthielt), dann – ja, was dann? Ray wollte sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Er schlief ein.

Am nächsten Morgen buchte er einen Abendflug nach Venedig, reservierte telegrafisch ein Zimmer in der Pensione Seguso am Zattere-Kai und erledigte vier Anrufe bei Malern und Kunstgalerien in Rom, die ihm zwei Termine eintrugen. Bei diesen wiederum konnte er sich einen Maler für die zukünftige Galerie Garrett sichern, einen gewissen Guglielmo Guardini, der phantastische Landschaften malte, in allen Einzelheiten und mit feinen Pinselstrichen. Nur eine mündliche Übereinkunft, nichts Schriftliches; dennoch munterte es Ray auf. Vielleicht würden Bruce und er in New York nun doch nicht die Galerie der Schlechten Kunst eröffnen müssen. Das war Rays Idee gewesen, die letzte Rettung sozusagen: Sollten sie keine guten Maler finden können, dann eben die schlechtesten, und die Leute würden kommen, lachen, bleiben und kaufen, um etwas anderes zu haben als andere, die nur »die Besten« sammelten. »Wir brauchen bloß herumzusitzen und zu warten«, hatte Bruce gesagt, »nur die Schlechtesten nehmen und nicht erklären, was wir da tun. Galerie der Schlechten Kunst müssen wir sie ja nicht nennen. Sagen wir Galerie Zero. Die Öffentlichkeit wird schon bald dahinterkommen.« Sie hatten gelacht, als sie auf Mallorca darüber redeten: Bruce hatte den letzten Sommer dort verbracht. Und vielleicht war die Idee gar nicht so abwegig; dennoch war Ray an jenem Abend in Rom froh, mit dem Maler Guardini festeren Boden unter den Füßen zu haben.

Als er nach dem einsamen Abendessen seinen Koffer aus dem Hotel holte, hatte niemand für ihn angerufen.

2

Die anderen waren zuerst eingetroffen, mindestens zehn Stunden vor ihm vermutlich. Die Maschine entließ ihre Passagiere um halb vier Uhr früh in die eiskalte Dunkelheit. Ray erfuhr, daß es um diese Zeit keine Busse gab, nur Boote.

Das Boot war eine große Barkasse und füllte sich schnell mit förmlichen, schweigsamen Engländern und blonden Skandinaviern, die schon gewartet hatten, als Rays Flugzeug landete. Die Barkasse setzte zurück, wendete elegant, senkte das Heck wie ein angaloppierendes Pferd und schoß mit Höchstgeschwindigkeit davon. Heitere Klaviermusik, wie man sie in einer Cocktailbar erwartet hätte, drang leise aus dem Lautsprecher, schien aber bei keinem die Stimmung zu heben. Sprachlos, kreidebleich im Gesicht, schauten alle nach vorn, als rasten sie auf dem Boot ihrer eigenen Hinrichtung entgegen. Die Barkasse setzte sie am Alitalia-Flughafenzubringer ab, an der Pier nahe der Haltestelle San Marco. Dort hoffte Ray, einen vaporetto zur Accademia zu finden, seiner Endhaltestelle, doch bevor er sich’s versah, lag sein Koffer auf einem Gepäckkarren und wurde in das Alitalia-Gebäude geschoben. Ray rannte hinterher, wurde aber vom Gedränge der Leute in der Tür aufgehalten, und als er hineinkam, war sein Koffer nicht zu sehen. Er mußte an einem Schalter warten, während zwei Gepäckträger genug damit zu tun hatten, auf die Rufe von vier Dutzend Reisenden zu achten und jedem das richtige Gepäckstück zu geben. Als Ray seinen Koffer bekommen hatte und das Gebäude verließ, legte ein vaporetto gerade von der Markusplatz-Pier ab.

Das bedeutete wahrscheinlich eine lange Wartezeit, was ihm aber nicht allzuviel ausmachte.

»Wohin wollen Sie, Sir? Ich trage ihn für Sie«, sagte ein kräftiger Gepäckträger in verwaschenem Blau und griff nach seinem Koffer.

»Accademia.«

»Ah, Sie haben gerade einen vaporetto verpaßt.« Er lächelte. »Eine Dreiviertelstunde bis zum nächsten. Pensione Seguso?«

»Sì«, sagte Ray.

»Ich begleite Sie. Mille lire.«

»Grazie. Ist nicht weit zu Fuß von der Accademia.«

»Zehn Minuten schon.«

Bestimmt nicht. Lächelnd winkte Ray ihn weg. Er ging zur Pier am Markusplatz, betrat den schwankenden, knarrenden Anleger und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Wasser regte sich gerade nichts. Die große Kirche Santa Maria della Salute, auf der anderen Kanalseite gegenüber, war nur schwach beleuchtet, so nachlässig wie die Straßenlaternen, wohl weil der November nicht in die Touristensaison fiel, vermutete Ray. Die Wellen schlugen sanft, doch kraftvoll gegen die Pfeiler der Pier. Ray dachte an Coleman, Inez und Antonio, die jetzt irgendwo in Venedig schliefen – Coleman und Inez vielleicht im selben Bett, etwa im Gritti oder Danieli, weil Inez die Rechnung zahlen würde. (Coleman hatte ihn wissen lassen, daß sie wohlhabend war.) Antonio dürfte billiger untergekommen sein, obwohl ihm Inez auch diese Reise wahrscheinlich zahlte.

Zwei gut gekleidete Italiener mit Aktenkoffern traten zu ihm auf den Anleger. Sie sprachen davon, irgendwo ein Parkhaus auszubauen. Irgendwie beruhigte Ray ihre Anwesenheit und die Unterhaltung, aber er fror immer noch und sah sich zum zweitenmal, und wieder vergeblich, nach einer Kaffeebar um. Harry’s Bar wirkte wie ein graues Grab aus Glas und Stein. Und kein einziges Fenster in der roten Vorderfront des Hotels Monaco e Canal Grande gegenüber davon war erleuchtet. Ray stapfte in kleinen Kreisen um seinen Koffer herum.

Zuerst sah er den vaporetto aus einer dunklen Kanalbiegung weit auf der Linken kommen, ein kleines, hell leuchtendes, willkommenes Licht. Der Wasserbus bremste ab und legte eine Haltestelle vor San Marco an. Ray und die beiden Italiener starrten ihn gebannt an. Das Boot kam näher, wurde größer, bis Ray eine Handvoll Passagiere an Bord ausmachen konnte, auch das ruhige, gutgeschnittene Gesicht des Mannes mit der weißen Yachtmütze, der das Tau zum Festmachen schleudern würde. An Bord kaufte Ray einen Fahrschein und noch einen für seinen Koffer, für fünfzig Lire. Das Boot passierte Santa Maria della Salute und bog in den schmaleren Arm des Canal Grande ein. Die Lichter des Gritti Palace waren elegant und gedämpft: zwei sanft leuchtende elektrische Lampen, emporgehalten von zwei überdimensionalen weiblichen Statuen am Wasserrand. Boote, die zum Hotel wollten, legten zwischen ihnen an. Unter Segeltuchplanen dümpelten zwei Motorboote zwischen den Pfosten. Sie hießen Ca’ Corner und Aldebaran. Alles war schwarz, die seltenen Lampen waren vor diesem Hintergrund nur kleine gelbe Lichttupfer, die ab und zu blaßroten oder fahlgrünen Stein beleuchteten.

An der dritten Haltestelle, der Accademia, nahm Ray seinen Koffer und ging schnell zu dem breiten, gepflasterten Weg, der über die Insel zum Zattere-Kai führte. Durch eine kleine Arkade gelangte er in eine Gasse, anscheinend eine Sackgasse, doch dann erinnerte er sich, daß sie ein paar Meter weiter links abbog, und er erinnerte sich auch an die blaue Emailleplakette an der Seite des Hauses genau vor ihm, die verkündete, John Ruskin habe dort gewohnt und gearbeitet. Die Pensione Seguso lag gleich links hinter der Linkskurve. Ray war es unangenehm, den Portier zu wekken. Er drückte dennoch auf die Klingel.

Nach einer kleinen Weile öffnete ein alter Mann in einem roten Jackett die Tür (er hatte sich nicht die Zeit genommen, es zuzuknöpfen), begrüßte ihn höflich und fuhr mit ihm in einem kleinen Aufzug hinauf in den zweiten Stock.

Sein Zimmer war einfach und sauber; durch seine hohen Fenster bot es einen Blick auf die Insel Giudecca jenseits des Wassers und, direkt darunter, auf den schmalen Kanal, der eine Seite der Pension säumte. Ray schlüpfte in seinen Pyjama, wusch sich über dem Waschbecken – ein Zimmer mit Bad sei nicht mehr frei gewesen, sagte der Portier – und fiel ins Bett. Er war sehr müde gewesen, doch nach ein paar Minuten wußte er, daß er nicht würde einschlafen können. Er kannte das Gefühl von der Zeit auf Mallorca: eine zittrige Erschöpfung, die sich als leichtes Beben in seinem Federstrich oder seiner Handschrift zeigte. Dagegen half nur ein Spaziergang. Er stand auf, zog bequeme Sachen an und verließ leise das Hotel.

Der Morgen dämmerte schon. Ein Gondoliere in Marineblau ruderte eine Ladung Coca-Cola-Kisten in den Kanal neben der Pension; ein Motorboot schoß schnurgerade über den Canale della Giudecca, als ob es schuldbewußt nach einer langen Party schnell und heimlich nach Hause wollte.

Ray lief die gebogenen Stufen der Akademiebrücke hinauf, Richtung San Marco, landeinwärts. Er ging durch schmale graue Gassen, deren Läden fest verschlossen waren, über kleine Plätze: Campo Morosini, Campo Manin – vertraut, unverändert und Ray doch nicht so gut bekannt, daß er sich an jede Einzelheit erinnerte. Nur ein Mensch begegnete ihm, eine alte Frau mit einem großen, flachen Korb Rosenkohl. Dann tauchten unter seinen Füßen die Fliesen von American Express auf, deren Pfeil zu ihrem Büro wies, und vor sich sah er die unteren Hälften der Säulen vor der Piazza San Marco.

Er betrat das riesige Rechteck des Platzes. In seinen Ohren hallte der weite Raum wie ein »Aaahh«, wie das endlose Ausatmen eines Geistes. Zur Rechten und zur Linken wurden die Bögen der Arkaden in regelmäßigem Abstand mit der Entfernung immer kleiner. Das Stillstehen machte ihn seltsam befangen, und Ray ging weiter, scheute selbst das leise Schlurfen seiner Schnürstiefel auf dem Zement. Ein paar Tauben erwachten, umflatterten ihre Nester in den Arkaden, zwei oder drei flogen herab, um auf dem Platz nach Futter zu picken. Ray ging ganz dicht an ihnen vorbei, doch sie beachteten ihn nicht, so als ob es ihn gar nicht gäbe. Dann suchte er den Schutz der Arkaden. Die Juwelierläden waren verhängt und hinter Faltgittern verbarrikadiert. Kurz vor dem Ende der Arkaden trat er wieder auf den Platz hinaus und schaute sich im Vorbeigehen die Kathedrale an, mußte blinzeln, wie immer, angesichts ihrer komplexen Struktur, der Vielzahl verschiedener Stile auf engstem Raum. Künstlerisch vermutlich ein heilloses Durcheinander, doch sie sollte beeindrucken und in Staunen versetzen, dazu war sie errichtet und darin war sie erfolgreich.

Ray war schon fünf- oder sechsmal in Venedig gewesen, erstmals mit seinen Eltern, im Alter von vierzehn. Seine Mutter hatte Europa viel besser gekannt als sein Vater, der aber hatte ihn strenger angehalten, etwas darüber zu lernen und seine italienischen und französischen Sprachlehrplatten zu hören. In dem Sommer, als er siebzehn war, hatte sein Vater ihn zu einem französischen Schnellkurs auf die Berlitz School in St. Louis geschickt. Italien und seine Städte hatten Ray immer schon besser gefallen als Paris, besser als die Loire mit ihren Schlössern, die sein Vater so bewunderte: Diese waren dem jungen Ray damals so vorgekommen, als ob er Kalenderfotos betrachtete.

Viertel vor sieben. Ray fand eine bar-caffè, die gerade aufmachte, trat ein und stellte sich an den Tresen. Bei einem frischen blonden Mädchen mit großen blaugrauen Augen und Wangen wie Pfirsiche bestellte er einen Cappuccino; sie brühte ihn selbst an der Espressomaschine. Ein junger Helfer war damit beschäftigt, Glasbehälter mit panini zu füllen. Das Mädchen trug einen sauberen hellblauen Arbeitskittel. Sie sah ihm in die Augen, als sie die Tasse vor ihn hinstellte – ohne zu flirten, ohne ihn auch nur persönlich zu meinen, sondern so, dachte Ray, wie Italiener gleich welchen Alters oder Geschlechts andere anschauten –, als ob sie die Menschen wirklich sähen. Wohnte sie noch bei ihren Eltern, oder war sie frisch verheiratet? Doch sie ging wieder, bevor er einen Ring an ihrer Hand entdecken konnte, und eigentlich war es ihm auch egal. Er legte seine kalten Hände um die heiße Tasse und ahnte das frische, fröhliche Gesicht des Mädchens hinter der Theke, ohne sie noch einmal anzusehen. Zu seinem zweiten Kaffee nahm er sich ein Croissant, zahlte extra für einen Sitzplatz und ging zu einem kleinen Tisch. Nebenan konnte er mittlerweile eine Zeitung kaufen. Fast eine Stunde saß er da, während um ihn die Stadt erwachte und sich die Straße draußen mit hin und her eilenden Menschen füllte. Der schmächtige kleine Junge in schwarzer Hose und weißem Jackett trug ein Tablett mit Cappuccini nach dem anderen hinaus, belieferte die Nachbarschaft und kehrte zurück mit dem leeren Tablett, das er zwischen Daumen und Zeigefinger schlenkerte. Obwohl er höchstens wie zwölf aussah und in die Schule gehörte, schwärmte er für das blonde Mädchen, das ihn wie einen kleinen Bruder behandelte und ihn hinten am Haar zupfte.

Coleman und seine Gruppe zu suchen, das war wohl seine Aufgabe, dachte Ray, damit sie einander nicht in einem Restaurant oder auf der Piazza über den Weg liefen – Coleman würde vielleicht zusammenfahren oder ausrufen: »Ray, Sie hier, was für eine Überraschung!« Aber es war gerade acht, zu früh, um im Gritti oder sonstwo anzurufen und nach ihnen zu fragen. Ray überlegte, in die Pension zurückzukehren und eine Weile zu schlafen, beschloß dann aber, noch ein Stück weiterzugehen. Ladenbesitzer legten gerade ihre Waren aus, hängten Schals und steckten Taschenbücher vor die Türen ihrer beengten Läden, zogen die Rolläden hoch und zeigten Schaufenster voller Lederwaren.

In einem Fenster sah Ray einen Schal mit grüngelbschwarzen Blumen auf weißem Grund, den das Muster fast völlig verdeckte. Der Anblick hatte ihm einen Stich gegeben – erst danach schien er den Schal wirklich wahrzunehmen, und noch einen Moment später wurde ihm klar, daß er den Schal deshalb bemerkt hatte, weil er ihn an Peggy erinnerte. Sie hätte ihn sehr gern gemocht, obwohl er sich eigentlich bei ihr an keinen ähnlichen Schal erinnern konnte. Er ging ein paar Schritte weiter, kehrte dann um: Er wollte den Schal. Der Laden war noch geschlossen. Ray schlug die Zeit mit einem Espresso und noch einer Zigarette tot, in einer Bar an derselben Straße. Als er zurückkam, wurde gerade aufgemacht, und er kaufte den Schal für zweitausend Lire. Die junge Verkäuferin steckte ihn in eine hübsche Schachtel, die sie sorgfältig einpackte – sicher dachte sie, er würde ihn einem Mädchen schenken.

Dann ging Ray zurück zur Pensione Seguso. Er war jetzt ruhiger. In seinem Zimmer hängte er den Schal über die Stuhllehne, warf Papier und Schachtel weg und zog wieder den Pyjama an. Er saß auf dem Bett und betrachtete den Schal: als wäre Peggy bei ihm, hier im Zimmer. Auch ohne einen Hauch ihres Parfüms, ohne die Falten, wenn sie ihn umgebunden hätte, sah er Peggy genau vor sich, und Ray fragte sich, ob er den Schal nicht weglegen sollte. Dann fand er das lächerlich, legte sich hin und schlief ein.

Er erwachte um elf zum Läuten von Kirchenglocken, die allerdings jede Viertelstunde geschlagen haben mußten, seit er eingeschlafen war. Versuch, Coleman zu erreichen, dachte er, sonst gehen sie zum Mittagessen aus und kommen nicht vor fünf zurück. In seinem Zimmer gab es kein Telefon. Ray warf seinen Trenchcoat über und ging in den Flur, wo das Telefon auf einem Sideboard stand.

»Würden Sie mich bitte mit dem Hotel Gritti Palace verbinden?« fragte er.

Im Gritti wohnte niemand namens Coleman.

Ray fragte nach im Royal Danieli.

Wieder war die Antwort nein.

Hatte Coleman gelogen, als er sagte, er wolle nach Venedig? Wahrscheinlich ja – er hätte auf jeden Fall gelogen, ob er Ray nun töten wollte oder nicht. Bei dem Gedanken, Coleman könnte in Neapel oder Paris sein, oder gar noch in Rom, mußte Ray lächeln.

Da war noch das Bauer-Grünwald. Oder das Monaco. Er hob wieder ab. »Das Hotel Bauer-Grünwald, bitte.« Nach längerem Warten eine andere Stimme; er stellte seine Frage.

»Signor Coleman? Einen Moment, bitte.«

Ray wartete.

»’allô?« Eine Frauenstimme.

»Madame – Inez?« Ihren Nachnamen wußte er nicht. »Hier ist Ray Garrett. Verzeihen Sie die Störung. Ich wollte mit Ed sprechen.«

»Oh, Ray? Wo sind Sie? ’ier?«

»Ja, ich bin in Venedig. Ist Ed da? Wenn nicht, kann ich –«

»Er ist ’ier.« Sie klang beruhigend bestimmt und verschluckte alle ihre H. »Ray, einen Augenblick, bitte.«

Der Augenblick dauerte lange. Wollte Coleman nicht mit ihm sprechen? Dann die Stimme des anderen: »Ja?«

»Hallo. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß ich in der Stadt bin.«

»So so. Was für eine Überraschung. Wie lange bleiben Sie?«

»Nur einen Tag etwa. Wenn möglich, würde ich Sie gern sprechen.«

»Auf jeden Fall. Und Sie sollten Inez kennenlernen – Inez Schneider.« Coleman klang leicht verwirrt, fing sich aber wieder, als er fortfuhr: »Heute zum Abendessen? Wohin gehen wir noch mal, Inez? … Da Colombo, etwa halb neun«, sagte er zu Ray.

»Vielleicht könnten wir uns nach dem Essen treffen. Oder heute nachmittag? Allein wäre mir lieber.« Der Ausbruch am anderen Ende, wie ein verächtliches Zischen, betäubte ihn kurz; er verstand Colemans Worte nicht. »Tut mir leid, aber könnten Sie das noch einmal sagen?«

Colemans angespannte, gewöhnliche amerikanische Stimme wiederholte in gelangweiltem Ton: »Ich sagte: ›Höchste Zeit, daß Sie Inez kennenlernen.‹ Bis um halb neun im Da Colombo, Ray.« Coleman legte auf.

Ray war wütend. Sollte er zurückrufen und sagen, daß er zum Abendessen nicht kommen, daß er ihn sonst irgendwann treffen werde? Er ging auf sein Zimmer, weil er nachdenken wollte, beschloß aber gleich darauf, nicht anzurufen und um halb neun zu erscheinen.

3

Ray kam absichtlich eine Viertelstunde zu spät, aber nicht spät genug: Coleman war noch nicht da. Er suchte das große Restaurant zweimal nach ihm ab, ging dann wieder hinaus, betrat die nächste Bar, die er fand, und bestellte einen Scotch.

Dann sah er Coleman und eine Frau sowie einen jungen Mann an der Bar vorbeigehen. Coleman lachte gerade laut über irgend etwas und warf den Kopf zurück. Und das keine zwei Wochen nach dem Tod seines einzigen Kindes, dachte Ray. Ein seltsamer Mann. Er leerte sein Glas.

Als er fand, sie könnten inzwischen Platz genommen haben, betrat er das Restaurant. Die drei saßen in dem zweiten Raum, in den er hineinsah. Ray mußte ganz dicht an den Tisch treten, bevor Coleman so gnädig war, aufzuschauen und ihn zu grüßen.

»Ah, Ray. Setzen Sie sich. Inez, darf ich vorstellen? Inez Schneider – Ray Garrett.«

»Enchantée, Monsieur Garrett«, sagte sie.

»Enchanté, Madame.«

»Und Antonio Santini.« Coleman zeigte auf den jungen Italiener am Tisch, dunkler Teint, gewelltes Haar.

Antonio stand halb vom Stuhl auf und reichte Ray die Hand. »Piacere.«

»Piacere.« Ray schüttelte sie.

»Setzen Sie sich«, sagte Coleman.

Ray hängte den Mantel an einen Haken und nahm Platz. Er warf einen Blick auf Inez, die ihn betrachtete. Dunkelblond, etwa fünfundvierzig, zierlich, teurer Schmuck. Sie war nicht richtig hübsch, nicht mit diesem fliehenden und ziemlich spitzen Kinn, doch spürte Ray in ihr eine Wärme und Weiblichkeit, die überaus anziehend waren, vielleicht sogar etwas Mütterliches hatten. Und wieder fragte sich Ray, als er Colemans aufgedunsenes Gesicht musterte, seinen abstoßenden braunen Schnurrbart, die beginnende Glatze auf dem Kopf, seit Mallorca übersät mit Sommersprossen, und sich den Bierbauch unter dem Tisch vorstellte, wie dieser Mann so anspruchsvolle Frauen anziehen konnte, wie Inez anscheinend eine war. Als Ray ihn und Peggy kennengelernt hatte, im vorletzten Frühjahr auf einer Ausstellung in der Via Margutta, hatte Coleman eine Frau genau vom gleichen Typ dabeigehabt. »Es ist immer mein Vater, der sie verläßt« – Peggys Worte klangen Ray noch im Ohr, und er rückte nervös auf seinem Stuhl vor.

»Sie sind Maler?« fragte Antonio zu seiner Rechten auf italienisch.

»Ein schlechter Maler. Ein besserer Sammler.« Er hatte weder Lust noch Energie, zurückzufragen, was Antonio von Beruf sei. Maler, hatte Coleman gesagt.

»Ich bin so froh, Sie endlich kennenzulernen«, sagte Inez zu ihm. »Das wollte ich schon in Rom.«

Ray lächelte dünn; er wußte dazu nichts zu sagen. War nicht wichtig. Er spürte, daß Inez das nachempfinden konnte. Sie hatte ein teures, intensives Parfüm aufgelegt, trug Ohrhänger mit grünen Steinen zu einem schwarzgrünen Jerseykleid.

Der Kellner kam, sie bestellten, dann fragte Inez: »Sie fliegen zurück in die Staaten?«

»Irgendwann ja, aber zuerst nach Paris. Ich muß dort ein paar Maler treffen.«

»Von meinem Werk hält er nichts«, knurrte Coleman undeutlich an seiner Zigarre vorbei.

»Ach, Edouard …«, sagte Inez.

Ray gab vor, das überhört zu haben. Colemans gegenwärtige Pop-art-Phase gefiel ihm nicht besonders, doch war es ihm schlicht nie in den Sinn gekommen, den Mann zu Ausstellungen in seiner Galerie einzuladen. Coleman hielt sich mittlerweile für »europäisch«; soweit Ray wußte, wurde er von keiner New Yorker Galerie vertreten und wollte das auch gar nicht. Er hatte seine Arbeit als Bauingenieur aufgegeben, als Peggy vier war, und angefangen, Bilder zu malen. Deshalb mochte ihn Ray, und deshalb hatte Peggys Mutter sich scheiden lassen und die Tochter mitgenommen. (Womöglich war da auch noch eine andere Frau im Spiel gewesen.) Kein Jahr später war seine ehemalige Ehefrau hinter dem Steuer ihres Wagens bei einem Unfall umgekommen. In Paris erfuhr Coleman, daß nun er das Sorgerecht für seine Tochter und daß seine verstorbene Ex-Gattin, eine reiche Frau, einen Treuhandfonds für die Tochter angelegt habe, den er nicht anrühren konnte. Das Geld würde Peggys Ausbildung finanzieren und ihr ein Einkommen sichern, sobald sie einundzwanzig wurde. Peggy hatte Ray das alles erzählt. Sie wurde einundzwanzig, als sie schon verheiratet waren; von dem Geld hatte sie nur vier Monate etwas gehabt. Weder ihrem Vater noch sonst jemandem könne sie es vererben, hatte Peggy gesagt. Bei ihrem Tod ging das Vermögen auf eine Tante in Amerika über.

»Sie wollen eine Galerie in New York aufmachen?« fragte Inez.

»Ja. Mein Partner, Bruce Main, hat bislang noch keine Räume gefunden. Wir suchen noch.« Ray konnte nur mit Mühe sprechen. »Diese Idee verfolge ich schon seit langem. Peggy und ich, wir hatten –« Unwillkürlich sah er zu Coleman hinüber, der ihn mit seinen kleinen Augen berechnend musterte. »Wir hatten geplant, nach unserem Jahr auf Mallorca nach New York zu gehen.«

»Etwas mehr als ein Jahr«, warf Coleman ein.

»Peggy wollte länger bleiben«, sagte Ray.

Coleman zuckte die Achseln, als glaube er das nicht oder als sei es bedeutungslos gewesen, was Peggy gewollt hatte.

»Treffen Sie hier in Venedig auch Maler?« fragte Inez.

Ray war dankbar für ihre höfliche, kultivierte Stimme. »Nein«, sagte er.

Das Essen kam. Ray hatte Cannelloni bestellt. Die Fleischfüllung wirkte abstoßend, die Pasta selber wenig verlockend. Coleman langte herzhaft zu.

»Worüber wollten Sie sprechen?« fragte er Ray. Aus der Karaffe goß er erst sich selber Wein ein, dann Ray.

»Vielleicht können wir uns morgen irgendwann treffen«, erwiderte Ray.

Antonio hörte genau zu, hing an jedem Wort, das sie wechselten. Ray wollte ihn schon als unwichtig abtun, als ihm aufging, daß der Italiener Colemans Partner sein könnte – ein junger Mann, der dem Amerikaner helfen würde, ihn für eine Handvoll Lire loszuwerden. Ray warf einen kurzen Blick auf Antonios dunkel schimmernde Augen, seine aufgeworfenen Lippen mit dem ernsten Zug, die jetzt von Olivenöl glänzten, und wurde sich nicht schlüssig. Außerdem war Coleman, der nun mit Inez redete, nicht auf seinen Vorschlag eingegangen, sich morgen zu treffen.

»Wo wohnen Sie?« fragte ihn Coleman.

»Pensione Seguso.«

»Wo ist das?«

»Bei der Accademia.«

Die Männer an einem großen Tisch hinten im Raum machten einen Heidenlärm.

Ray beugte sich vor und fragte Coleman: »Könnten wir uns nicht morgen irgendwann treffen?«

»Morgen? Ich weiß nicht.« Coleman aß, ohne Ray anzusehen. »Wir haben Freunde hier, mit denen wir anschließend verabredet sind.« Coleman warf einen Blick zur Tür, dann auf seine Uhr. »Wann sagten sie noch?« fragte er Inez.

»Um halb zehn. Sie essen früh, weißt du.«

Ray hätte sich ohrfeigen können, an diesem Abend gekommen zu sein. So wie die Dinge standen, blieb ihm nichts anderes übrig, als höflich zu bleiben und so bald wie möglich zu gehen. Aber ihm wollte nichts, rein gar nichts einfallen, was er zu Inez hätte sagen können. Nicht einmal über Venedig.

Zäh zog die Zeit sich hin. Antonio sprach mit Inez und Coleman über Pferderennen in Rom. Er klang begeistert. Ray konnte nicht zuhören.

Coleman stand auf, ließ dabei seine Serviette fallen. »Na, besser spät als gar nicht. Da sind sie!«

Ein Mann und eine Frau näherten sich ihrem Tisch. Mit einiger Mühe faßte Ray sie ins Auge.

»Hallo, Laura!« sagte Coleman. »Francis, wie geht es Ihnen? Mr . and Mrs. Smith-Peters – mein … früherer Schwiegersohn, Ray Garrett.«

Ray erhob sich, nickte höflich trotz der brüskierenden Vorstellung und besorgte den zusätzlichen Stuhl, den sie brauchten. Die beiden wirkten wie ganz gewöhnliche Amerikaner, etwa Mitte Fünfzig, und schienen wohlhabend.

»Ach, danke, wir haben schon gegessen.« Laura Smith-Peters setzte sich. »Amerikaner, Sie wissen schon – wir essen immer noch gern gegen acht.« Die Worte galten Inez. Die Frau hatte rötliches Haar, ihre Stimme war zu hoch und nasal. Das harte R verriet Ray, daß sie aus Wisconsin oder Indiana kam.

»Und im Monaco haben wir Halbpension, deshalb dachten wir, heute abend sollten wir dort essen, weil wir zum Lunch woanders waren«, sagte Mr. Smith-Peters scherzhaft pedantisch und wandte Inez lächelnd sein Vogelgesicht zu.

Ray merkte, daß Mrs. Smith-Peters kurz davor stand, ihn anzusprechen. Sicher wegen Peggy. Er wappnete sich innerlich.

»Hat uns sehr leid getan, von der Tragödie zu hören, die Sie erlitten haben«, sagte sie. »Wir kannten Peggy, seit sie achtzehn war. Allerdings nicht gut, sie war ja immer im Internat. Was für ein wunderbares Mädchen.«

Ray nickte.

»Wir kommen aus Milwaukee. Ich jedenfalls. Mein Mann ist aus Kalifornien, aber die meiste Zeit haben wir in Milwaukee gelebt. Nur letztes Jahr nicht. Woher sind Sie?«

»St. Louis«, sagte Ray.

Coleman bestellte noch einen Liter Wein und Gläser für das Paar. Doch Mrs. Smith-Peters wollte keinen Wein. Schließlich ließ sie sich von Coleman zu einer Tasse Tee überreden.

»Was machen Sie beruflich?« Ray spürte, daß ihr Mann die Frage unverfänglich finden würde.

»Herstellung von Sportzubehör«, versetzte Mr. Smith-Peters knapp. »Golf bälle, Tennisschläger, Tauchausrüstung. Mein Partner führt die Firma in Milwaukee weiter, mir aber hat der Arzt völlige Ruhe verordnet. Herzinfarkt, vor einem Jahr. Also erklimmen wir jetzt halsbrecherisch die steinernen Stufen zum dritten Stock, in Florenz, dort leben wir nämlich, und rennen in Venedig herum –«

»Schatz, seit wann rennen wir denn?« warf seine Frau ein.

Ihr Mann war einer, der alles gern schnell tat – Ray sah das. Sein Haar war fast weiß. Ray konnte ihn sich nicht jung oder gewichtiger vorstellen, aber es fiel ihm nicht schwer, seine Gattin als junge Frau vor sich zu sehen: hellblaue Augen, verwegener Blick und hübsch auf diese eher gewöhnliche irische Art, die nach der Jugend verging. Mr. Smith-Peters’ Gesicht erinnerte Ray an die Bilder bestimmter Baseballspieler von früher, die er gelegentlich auf den Sportseiten in den Staaten sah (die Meldungen über sie las er nie) – hager, hakennasig, grinsend. Ray vermied die Frage, ob er vor der Gründung seiner Firma Sport getrieben habe. Golf oder Baseball wäre die Antwort, das wußte er.

Ray spürte, wie Mrs. Smith-Peters’ Blick auf ihm ruhte – vielleicht suchte sie nach Zeichen von Trauer, vielleicht auch von einer Kälte oder Gewalttätigkeit, die Peggys Selbstmord ausgelöst haben mochten. Er wußte nicht, was Coleman ihnen erzählt hatte, aber bestimmt nichts Gutes, außer vielleicht, daß er Geld hatte – was Coleman mit leiser Verachtung bemerkt haben würde. Und doch hatte der Mann selber eine gute Nase fürs Geld, siehe seine Ex-Frau sowie seine jetzige Begleiterin. Und die Smith-Peters: Das Paar war typisch für die Sorte von Menschen, die Coleman aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen sammelte. Kunst bedeutete ihnen wahrscheinlich wenig, aber er könnte ihnen trotzdem eines seiner Gemälde verkaufen. Er könnte eine Frau, bei der er an eine Affäre dachte, zu einer Party von Leuten wie den Smith-Peters mitnehmen und sie damit beeindrucken. Trotz ihres fast archaischen Schrekkens und ihrer Ehrfurcht vor dem Vater waren Peggy dessen Schnorren und Speichellecken stets ein Greuel gewesen.

»Wir waren so verblüfft, als Ed heute morgen auf der Piazza auf uns zukam«, sagte Mrs. Smith-Peters zu Inez. »Hatten ja keine Ahnung, daß er hier ist. Wir sind nur für ein paar Wochen in der Stadt, während in unserem Haus in Florenz eine Zentralheizung eingebaut wird.« Sie sah Ray an: »Ed und Peggy haben wir irgendwann Weihnachten in St. Moritz kennengelernt.«

»Laura, hätten Sie gern einen Cognac zu Ihrem Tee?« unterbrach sie Coleman.

»Nein, danke, Ed. Nach Cognac kann ich nicht schlafen«, antwortete Mrs. Smith-Peters. Sie wandte sich an Inez: »Bleiben Sie länger hier, Madame Schneider?«

»Das müssen Sie Edward fragen.« Inez winkte ab. »Er sagte, er wollte hier malen – also, wer weiß?«

Daß sie offen eingestand, Coleman habe das Sagen, schien Mrs. Smith-Peters zu verblüffen, die vermutet haben mochte, daß sie eine Beziehung hatten, nicht aber, daß die Frau das offenbaren würde. »Malen? Was – Venedig?«

Ray suchte sich vorzustellen, was Colemans schwere schwarze Umrisse und die flächig aufgetragene, immer gleiche Farbe aus Venedig machen würden.

»Sie kommen mir ziemlich niedergeschlagen vor«, sagte Mrs. Smith-Peters sanft zu Ray, dem es zuwider war, daß Coleman das mitbekam.

Coleman hörte aufmerksam zu.

»Da kann man nichts machen«, erwiderte Ray ebenso leise und doch so deutlich, daß er hoffte, das Thema sei damit erledigt. Aber Coleman sagte: »Wieso sollte er auch nicht schwermütig sein – ein Mann, der vor zwei Wochen seine Frau, noch ein Mädchen, hat sterben sehen?« Zur Betonung schwenkte er seine Zigarre.

»Er hat nicht gesehen, wie sie starb, Edward.« Inez beugte sich vor.

»Stück für Stück sah er sie sterben, bevor er sie tot auffand«, gab Coleman zurück. Bestimmt war er nicht mehr nüchtern, aber noch lange nicht betrunken.

Mrs. Smith-Peters schien etwas fragen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Sie wirkte wie ein kleines irisches Mädchen in Not.

»Das alles ist passiert, als Ray einige Stunden lang nicht im Haus war«, erklärte ihr Inez.

»Ganz recht. Und wo war er?« Coleman lächelte Antonio zu, der nach wie vor ernsthaft und aufmerksam zuhörte; dann wandte er sich an Mr. Smith-Peters, den er ins Gespräch ziehen wollte: »Er war im Haus einer Nachbarin. An dem Tag, da seine Frau offensichtlich Probleme hatte, war er morgens oder nachmittags woanders.«

Ray konnte keinem am Tisch in die Augen sehen. Aber seltsamerweise verletzten ihn Colemans Worte jetzt weniger als damals auf Mallorca, als er mit dem Mann allein gewesen war. »An jenem Tag war sie nicht sichtlich in Not«, sagte Ray.

»Sie meinen, nicht mehr als an jedem anderen Tag«, erwiderte Coleman.

»Edward, wir wollen das alles sicher nicht noch einmal hören.« Inez klopfte mit dem Griff ihres Messers auf das Tischtuch. Sie hielt das Messer senkrecht. »Jedenfalls die Smith-Peters nicht.«

»Sonst war niemand im Haus?« fragte Mrs. Smith-Peters leise. Womöglich hatte sie nur höfliches Interesse bekunden wollen, doch nun wurde es furchtbar.

»Das Zimmermädchen war da, aber sie ist um eins gegangen, nachdem sie das Mittagessen gekocht hatte«, sagte Coleman, froh über jeden Zuhörer. »Ray kam nach drei nach Hause und fand Peggy in der Badewanne. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Und sich ertränkt.«

Selbst Antonio wand sich.

»Wie furchtbar!« murmelte Mrs. Smith-Peters.

»Großer Gott!« flüsterte ihr Gatte. Er räusperte sich.

»Ray war an jenem Tag zum Mittagessen nicht zu Hause«, fuhr Coleman bedeutungsvoll fort.

Was nicht einmal besonders weh tat. Ray war im Haus einer Amerikanerin gewesen – Elizabeth Bayard, Mitte Zwanzig etwa – und hatte sich ihre Zeichnungen angesehen, die besser waren als ihre Bilder. Sie war neu im Dorf; Peggy und er waren erst einmal bei ihr gewesen. Sie hatte ihm einen Dubonnet mit Soda und Eis angeboten, und er hatte an jenem Tag, das wußte er noch, viel geredet und gelächelt, hatte ihre Gesellschaft genossen, weil sie attraktiv war, anständig und gutmütig. Andererseits hätte es dieser Eigenschaften nicht einmal bedurft, um die paar Stunden mit ihr zu einem Genuß zu machen, denn er war die Handvoll anderer Amerikaner und Engländer im Dorf leid. Er hatte gesagt: »Peggy macht es sicher nichts aus, wenn ich zum Lunch nicht zurück bin. Ich sagte ihr auch, vielleicht käme ich nicht.« Mittags aßen sie immer kalt, und beide entschieden selber, ob und wann sie essen wollten. Ja, es stimmte schon, was Coleman angedeutet hatte: Er fand Elizabeth Bayard attraktiv (in Mallorca hatte Coleman stärkere Worte verwendet, aber in diesem Punkt hatte Ray nichts zugegeben), und er erinnerte sich noch, daß er an jenem Nachmittag gedacht hatte, er könne wahrscheinlich, sollte ihm danach sein, eine Affäre mit ihr anfangen und das vor Peggy geheimhalten – und daß Elizabeth vermutlich zärtlich und unkompliziert wäre, eine heilsame Abwechslung zu Peggys mystischer Schwärmerei. Ray wußte auch, daß er niemals etwas mit einer anderen angefangen hätte. Das ging nicht, wenn man ein Mädchen wie Peggy zur Frau hatte, für die Ideale wirklich waren, ja unzerstörbar, wirklicher womöglich als alles andere auf der Welt. Außerdem fehlte ihm für eine Affäre sowieso die Energie, jedenfalls körperlich.

»Er kommt mir so schwermütig vor, daß er sich umbringen könnte. Vielleicht tut er’s ja noch«, knurrte Coleman, wieder kaum verständlich.

»Edward, damit muß jetzt Schluß sein«, sagte Inez.

Aber Mrs. Smith-Peters hatte noch eine drängende Frage. Sie sah zu ihrem Mann hinüber, wie um seine Erlaubnis einzuholen, doch der hielt den Blick auf das Tischtuch gesenkt. »Hat sie überhaupt gemalt?« fragte sie Ray.

»Immer weniger, fürchte ich. Was sehr schade war, weil – wir hatten genug Personal. Und jede Menge Zeit.«

Coleman hörte wieder argwöhnisch zu.

Ray fuhr fort: »Aber da war diese allgemeine Trägheit. Ich hatte eine gewisse Tagesroutine, alles andere als anstrengend – aber ganz ohne sie zerbrechen die Menschen. Peggy hat aufgehört, morgens zu malen, und es auf den späten Nachmittag verschoben. Wenn sie überhaupt malte.«

»Klingt zutiefst deprimierend«, sagte Coleman.

Und doch hatte Peggy nicht depressiv gewirkt, dachte Ray. Das konnte er aber nicht sagen; es hätte nach einer Rechtfertigung geklungen. Allerdings – mit welchem Recht saßen diese fremden Leute über Peggy und ihn zu Gericht? Nervös warf er die Serviette auf den Tisch.

Mrs. Smith-Peters sah auf ihre Uhr und sagte, sie müßten gehen. Und an Inez gewandt: »Würden Sie und Ed wohl zur Ca’ Rezzonico mitkommen? Das Haus mag ich so gern. Morgen vormittag, dachte ich.«

»Können wir Sie nach dem Frühstück anrufen?« fragte Inez. »Neun, halb zehn – ist das zu früh?«

»Du liebe Güte, nein, wir sind ab acht auf«, sagte Mrs. Smith-Peters.

Ihr Mann erhob sich zuerst.

»Vielleicht würden Sie auch gern mitkommen?« fragte seine Frau Ray, als sie aufstand.

»Ich kann leider nicht«, erwiderte Ray. »Aber danke.«

Die Smith-Peters’ gingen.

»Begleichst du die Rechnung, Inez? Bin gleich wieder da.« Auch Coleman stand auf und verschwand im hinteren Teil des Restaurants.

Sobald er ihnen den Rücken zudrehte, erhob sich Antonio. »Wenn Sie mich entschuldigen würden«, sagte er auf englisch. »Ich glaube, ich gehe zurück ins Hotel. Bin todmüde. Muß meiner Mutter schreiben.«

»Aber natürlich, Antonio. Wir sehen uns morgen.«

»Ja, morgen.« Antonio beugte sich über ihre Rechte und deutete einen Handkuß an. »Gute Nacht«, sagte er zu Ray. »Gute Nacht, Madame.«

Inez sah sich nach einem Kellner um.

Ray hob den Arm, doch der Mann bemerkte ihn nicht.

»Ray, ich wünschte, Sie würden Venedig verlassen«, sagte Inez. »Was nützt es Ihnen, Edward noch einmal zu treffen?«

Er seufzte: »Ed hat mich noch nicht verstanden. Ich muß es ihm irgendwie besser erklären.«

»Hat er neulich in Rom mit Ihnen zu Abend gegessen?«

»Ja.«

»Das dachte ich mir. Er aber sagte, es wäre jemand anders gewesen. Hören Sie, Ray: Edward wird das nie verstehen. Er war so verrückt nach seiner Tochter …« Sie schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken, doch nur für einen Moment – sie wollte keine Zeit verlieren und weiterreden, bevor Coleman zurückkam. »Ich habe Peggy nie kennengelernt, doch von vielen Leuten über sie gehört. Eine Tagträumerin, sagen sie. Für Edward war sie wie eine Göttin, jemand Übermenschliches. Zu gut für normale Sterbliche.«

»Ich weiß.«

»Er hält Sie für völlig gefühllos. Ich sehe, daß das nicht stimmt. Aber ich sehe auch das: Er wird niemals verstehen, daß es nicht Ihre Schuld war.«

Was sie sagte, überraschte ihn nicht. Coleman hatte ihn auf Mallorca gefühllos genannt, hätte das vermutlich bei jedem Gatten seiner Tochter getan, selbst wenn Peggy in der Ehe glücklich geworden wäre, viele Kinder bekommen hätte – selbst wenn sie Freude, Erfüllung und so weiter ausgestrahlt hätte.

»Stimmt es, daß Peggy Angst vor Sex hatte?« fragte Inez.

»Nein. Wirklich nicht, im Gegenteil – er kommt zurück.«

»Können Sie die Stadt morgen verlassen?«

»Nein, ich –«

»Morgen muß ich Sie sprechen. Um elf im Florian?«

Ray konnte nicht mehr antworten, da sich Coleman gerade setzte, nickte ihr aber kurz zu. Das war leichter, als nein zu sagen.

»Unser Kellner hat so viel zu tun«, stöhnte Inez überzeugend verärgert, als hätten sie die ganze Zeit versucht, ihn herbeizurufen.

»Herrgott noch mal!« Coleman seufzte, rutschte auf seinem Stuhl herum. »Cameriere! Il conto, per favore!«

Ray zog zwei Tausendlirescheine hervor, mehr als seinen Anteil.

»Lassen Sie das«, sagte Coleman.

»Nein, ich bestehe darauf.« Ray steckte seine Brieftasche wieder ein.

»Lassen Sie das, hab ich gesagt!« fauchte Coleman. Er würde bezahlen, bestimmt mit Geld, das sie ihm irgendwann zugesteckt hatte.

Ray schwieg. Dann stand er auf: »Wenn Sie gestatten, sage ich jetzt gute Nacht.« Er verbeugte sich vor Inez und ging seinen Mantel vom Haken holen – den einzigen dicken Mantel, den er mitgebracht hatte, mit den zwei Schußlöchern im linken Ärmel. Aber der Mantel war fast schwarz, und die Löcher fielen kaum auf. Ray hob lächelnd den linken Arm, als er ging.

4

Strahlender Sonnenschein am nächsten Morgen. Unter dem Fenster von Rays pensione sangen die Bauarbeiter, als wäre es Frühling oder Sommer; ein Zimmermädchen sang beim Wischen des Flurs vor seiner Tür, und jenseits des schmalen Kanals sang ein Käfigvogel hinter einem Fenster der monegassischen Botschaft.

Als Ray die Pension um halb elf verließ, um sich mit Inez zu treffen, hatte er zwei Briefe eingesteckt: einen an seine Eltern, den anderen an deren Gärtner Benson, der ihm einen kurzen Kondolenzbrief nach Mallorca geschickt hatte. Seinen Eltern hatte Ray geschrieben, er danke ihnen für das Angebot, für eine Weile nach Hause zu kommen, habe aber noch geschäftlich in Europa zu tun und halte es für besser, gemeinsam mit Bruce Main die New Yorker Galerie aufzubauen. Ray antwortete damit auf den zweiten Brief seiner Eltern, den sie geschickt hatten, seit er ihnen das mit Peggy telegrafiert und geschrieben hatte. Er betrat einen Tabakladen in den Arkaden am Markusplatz, kaufte Briefmarken und warf die frankierten Briefe in einen Postkasten vor dem Laden. Er war zehn Minuten zu früh. Langsam schlenderte er über die Piazza, bis er schließlich Inez’ kleine, schlanke Gestalt erblickte, die auf hohen Absätzen von San Moisè, einer Ecke des Platzes, rasch herüberkam.

»Guten Morgen!« sagte er, bevor sie ihn sah.

»Ach, hallo!« Sie blieb stehen. »Bin ich zu spät?«

»Nein, sogar zu früh.« Ray lächelte.