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Sylt, im Winter: Als sich Hannah Lamberts Abi-Jahrgang nach über dreißig Jahren trifft, endet die feuchtfröhliche Zusammenkunft für eine der Frauen mit traurigen Nachrichten. Zum ersten Mal persönlich involviert, treibt Hannah ihre Kollegen der Mordkommission zu Höchstleistungen an. Doch auch das hilft nicht, denn schon bald gibt es bereits das nächste Opfer. Spätestens jetzt ist klar, dass jemand alte Rechnungen begleichen will und dabei skrupellos über Leichen geht …
"Vergangenes Sylt" ist Teil der Reihe "Hannah Lambert ermittelt".
Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)
Bisher erschienen:
"Ausgerechnet Sylt"
"Eiskaltes Sylt"
"Mörderisches Sylt"
"Stürmisches Sylt"
"Schneeweißes Sylt"
"Gieriges Sylt"
"Turbulentes Sylt"
"Düsteres Sylt"
"Funkelndes Sylt"
"Brennendes Sylt"
"Vergangenes Sylt" - JETZT BRANDNEU!
"Hannah Lambert ermittelt" ist mit über 1 Mio. verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook, Taschenbuch und Hörbuch verfügbar (der neueste Teil als Hörbuch folgt in Kürze).
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HANNAH LAMBERT ERMITTELT - FRIESENKRIM-IREIHE
BUCH 11
Verlag:
Zeilenfluss
Werinherstr. 3
81541 München
Deutschland
ISBN: 978-3-96714-553-3
Cover: MT-Design
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Copyright © Thomas Herzberg 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sämtliche Äußerungen, insbesondere in Teilen der wörtlichen Rede, dienen lediglich der glaubhaften und realistischen Darstellung des Geschehens. Ich verurteile jegliche Art von politischem oder sonstigem Extremismus, der Gewalt verherrlicht, zu selbiger auffordert oder auch nur dazu ermuntert!
Fassung: 1.0
"Vergangenes Sylt" ist Teil 11 der Reihe "Hannah Lambert ermittelt". Jeder Fall ist in sich abgeschlossen. Es kann allerdings nicht schaden, auch die vorangegangenen Fälle zu kennen ;)
Bisher erschienen:
"Hannah Lambert ermittelt" ist mit über 1 Mio. verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Krimi-Serien der letzten Jahre. Alle Teile sind als eBook und Taschenbuch verfügbar. Band 1-10 auch als Hörbuch … der 11. Teil folgt in Kürze.
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Sylt, im Winter: Als sich Hannah Lamberts Abi-Jahrgang nach über dreißig Jahren trifft, endet die feuchtfröhliche Zusammenkunft für eine der Frauen mit traurigen Nachrichten. Zum ersten Mal persönlich involviert, treibt Hannah ihre Kollegen der Mordkommission zu Höchstleistungen an. Doch auch das hilft nicht, denn schon bald gibt es bereits das nächste Opfer. Spätestens jetzt ist klar, dass jemand alte Rechnungen begleichen will und dabei skrupellos über Leichen geht …
»Rüm hart, klaar kiming« (weites Herz – klarer Horizont): Ein Zitat, das den inselfriesischen Kapitänen zugeordnet wird. Damit beschreiben sie – neben der Mentalität der Menschen, die dort zu Hause sind – auch eine in Deutschland einzigartige Landschaft. Sylt ist vermutlich der bekannteste Teil davon. Aber wer glaubt, auf der beliebten Ferieninsel nur Schickimicki vorzufinden, irrt gewaltig. Denn wer genauer hinsieht und einen kleinen Fußmarsch nicht scheut, stößt hier auf einmalige Orte, die man nie wieder vergisst. Es heißt nicht umsonst: »Wer sich in Sylt verliebt, den lässt die Leidenschaft nie wieder los.« Vom Millionär und Gentleman-Playboy Gunter Sachs stammt folgendes Zitat zum anderen Gesicht der Insel: »Ich fühle mich in Kampen auf Sylt ein bisschen wie ein Affe im Zoo … aber mit lieben Besuchern.«
Klar, wer den Sound neuester Sportwagen, Champagner und teure Boutiquen zum Glücklichsein braucht, wird auf Sylt ebenfalls fündig. Jeder wie er mag … und ich glaube, das beschreibt die Mentalität der Menschen hier am besten.
Sylt in Zahlen:
Länge von Nord nach Süd: 38 Kilometer
Breite von West nach Ost: 12,6 Kilometer (an der schmalsten Stelle sind es weniger als 500 Meter)
Und weil eben keine Straße nach Sylt führt, erfolgt die Anreise nur per Autozug, Fähre oder Flugzeug. Wer sich auf den Weg macht, dem wünsche ich viel Spaß auf der Insel. Vielleicht laufen wir uns ja zufällig bei Gosch über den Weg und essen zusammen ein Fischbrötchen. Aber Vorsicht: Nicht nur ich, sondern auch die Möwen dort sind verdammt hungrig ;)
Wir danken dem Hartung-Verlag/Neumünster für die Zurverfügungstellung des Motivs (Design: Stephanie Wilm).
»Wenn du noch länger in der Küche rumorst, verpasst du den Anfang vom Film«, rief Beate Koopmann und kicherte über ihre eigene Bemerkung. »Was treibst du da eigentlich?« Sie lauschte, hörte ihren Mann Helmut mit Schüsseln klappern. Dem Porzellan-Konzert nach zu urteilen, mit weit mehr als nur einer. »Jetzt komm schon, sonst muss ich dir wieder alles erzählen, was bis dahin …«
»Rieke sagt, bei dem neuen Fernseher kann man irgendwo auf Pause drücken«, erklang es dumpf aus der Küche. Der Rest wurde vom Rascheln einer Chipstüte übertönt.
»›Pause drücken‹«, wiederholte Beate flüsternd im Wohnzimmer. Sie starrte auf die Fernbedienung und schüttelte den Kopf. Ganz unten stand etwas von Magic Remote, darüber befanden sich etwa hundert Knöpfe. Von den meisten dieser magischen Knöpfe ließ sie vorsichtshalber die Finger. Falls dieser Fernseher auch so etwas wie eine Selbstzerstörungsfunktion besaß, wollte sie definitiv nicht für deren Auslösung verantwortlich sein. Ihr Mann war keinen Deut besser. Er drückte immer sämtliche Knöpfe, bis gar nichts mehr ging und Tochter Rieke mal wieder für Abhilfe sorgen musste. Manchmal am Telefon, manchmal war auch ein Notfalltermin vor Ort erforderlich.
Auf dem riesigen Flachbildschirm lief der Vorspann zum Samstagabend-Blockbuster. Während hinter Beate Koopmann unverändert Schüsseln klimperten, tauchten vor ihr die Namen diverser Hollywoodgrößen auf. Um die bis zum Ende begleiten zu dürfen, würden sie etliche Werbeblöcke von geradezu epischen Ausmaßen über sich ergehen lassen müssen. Zuletzt hatte Rieke einige Anläufe unternommen, um ihren Eltern dieses neumodische Streaming zu erklären. Mit dürftigem Erfolg und dem Resultat, dass monatlich zwei Kleinbeträge vom gemeinsamen Konto der Eheleute abgebucht wurden.
»Tom Hanks ist ganz schön alt geworden … und dick. Findest du nicht?«, rief Beate in Richtung Küche. »Ich weiß noch, wie ich früher für ihn geschwärmt habe und …« Sie verstummte mitten im Satz. Kein Wunder! Das Küchenkonzert hatte sich grundlegend verändert und klang plötzlich, als würde dort ein Polterabend stattfinden.
»Was ist denn los?« Statt auf eine Antwort zu warten, erhob sich Beate Koopmann stöhnend aus ihrem Fernsehsessel und fluchte: »Jetzt kann ich wahrscheinlich bis zur ersten Pause Scherben zusammenfegen und verpasse selbst …« In der Küchentür hielt sie abrupt inne. Auf den Fliesen zu ihren Füßen hatten sich Scherben, Chips, Erdnüsse und Gummibärchen großflächig verteilt. Wobei ihr etwas anderes die Sprache verschlagen hatte.
Sie ging in die Knie, schließlich lag ihr Mann mitten im scherbenreichen Chaos und regte sich nicht.
»Was ist denn passiert, Helmut?« Sie spürte, wie nackte Panik Besitz von ihr ergriff. »Ist dir wieder schwindlig geworden? Nun sag doch was!«
Die Antwort bestand nicht aus Worten, sondern einer Pfütze, die unter Koopmanns Kopf wuchs. Die wirkte beinahe schwarz, weil ihr Mann lediglich die Lampen über dem Küchenbuffet eingeschaltet hatte, die bestenfalls Zwielicht erzeugten.
Beate Koopmann merkte, wie ihr von einer Sekunde zur nächsten jegliche Kraft abhandenkam. Eben noch bei ihrem Mann kniend, sackte sie in sich zusammen und fand sich gleichermaßen auf dem Boden wieder. Direkt vor ihrem Gesicht lag ein rotes Gummibärchen, das zu grinsen schien.
Von rechts, dort war die Speisekammer, vernahm sie ein Geräusch. Zuerst dachte sie an Kater Balduin, bis ihr einfiel, dass sie das Tier im stolzen Alter von achtzehn Jahren vor ein paar Wochen hatten einschläfern lassen. Ein Drama, das – zumindest in ihrem Fall – für eine tagelange Tränenflut gesorgt hatte. Helmut war mit solchen Dingen zeitlebens deutlich nüchterner umgegangen und philosophierte gerne darüber, dass jeder sein Ablaufdatum hätte.
Sie hob den Blick und betrachtete über das Gummibärchen hinweg die Pfütze, die sich immer weiter ausdehnte und inzwischen unter den Küchenschränken angekommen war. Das vorherige Geräusch hatte sie längst vergessen. Bis sie es ein zweites Mal hörte. Jetzt knirschten Scherben und Chips unter Schuhsohlen und sorgten bei Beate für absurde Gedanken: Selbst wenn Kater Balduin noch am Leben wäre – Schuhe hatte er nie getragen …
»Wer hat sich dieses dämliche Jahrgangstreffen eigentlich einfallen lassen?«, moserte Ole. »Noch dazu an einem Samstagabend um neun! Wieso fangt ihr nicht um sechs an, dann wäre es bei euch Langweilern spätestens Mitternacht vorbei?«
Hannah war eben auf den Parkplatz abgebogen, der zur Sansibar, dem Sylter Kult-Restaurant, gehörte. Sie steuerte ihren Wagen in eine der vielen Parklücken, stellte den Motor ab und entließ geräuschvoll den Atem.
»Lass bloß die Standheizung laufen«, meckerte Ole munter weiter. »Ich meine … es ist erst halb neun. Du willst doch hoffentlich nicht als Erste da oben aufkreuzen, oder?«
Hannah hielt an ihrem Schweigen fest, wobei ihr anzusehen war, dass sie längst an einer umfangreichen Gegenattacke bastelte.
»Jedenfalls kann ich heute mal den Anzug tragen, den ich mir extra für deine Hochzeit gekauft hatte«, fuhr Ole fort. »Ich weiß nicht, aber irgendwie kneift die Hose neuerdings.«
»Also«, begann Hannah nach einem schweren Atemzug. »Die Idee mit dem Jahrgangstreffen stammt von Andrea Schulte. Und bevor du wieder nervst: Sie war ’ne ziemlich üble Streberin und hat – wenn ich mich recht erinnere – das zweitbeste Abi hingelegt.«
»Und hinterher? Ist sie Ärztin, Wissenschaftlerin oder Staranwältin geworden?«
»Die Tinte auf unseren letzten Klausuren war kaum trocken, da wurde sie schwanger. Inzwischen hat sie vier erwachsene Kinder und offenbar genug Zeit, um solche Klassentreffen zu organisieren. Reicht das?«
»Und wieso muss das unbedingt in der ersten Januarwoche stattfinden?«
»Mit der Terminplanung hatte ich nichts zu tun«, konterte Hannah schnippisch. »Welcher Termin hätte Ihnen denn gepasst, Herr Friedrichsen?«
»Dreißigster Februar.«
»Sehr witzig! Aber zurück zu deinen Fragen: Wir beginnen erst um neun, weil zwei Teilnehmer aus München anreisen und einer von denen heute früh noch ein wichtiges Meeting hatte. Und deine Anzughose kneift, weil du dich über Weihnachten von meiner Mutter wie eine Gans hast mästen lassen. Bei der Völlerei hab ich gedacht, du platzt jeden Moment.«
»Kommt Frank eigentlich auch?«, versuchte Ole vom Thema abzulenken. »Ihr wart doch in einer Jahrgangsstufe, oder nicht?«
Hannah bemühte ihren nüchternsten Ton: »Mein Ex-Verlobter und ich sind uns einig, dass ein Zusammentreffen hier und in diesem Stadium unangebracht wäre.«
»Mir bleibt auch wirklich nichts erspart. Ich hatte gehofft, wenigstens mit Frank quatschen zu können.«
»Du bist nur meine Begleitung, weil ich bei den anderen nicht als vertrocknete Jungfer rüberkommen will! Du tust gefälligst so, als wärst du mein Toyboy und würdest gar nicht genug von mir kriegen. Das hatten wir doch alles ausführlich besprochen!«
»Deshalb klingt es nicht weniger schräg«, monierte Ole lachend. »Weißt du mittlerweile, wieso nur elf Leute zugesagt haben, für die ich den Liebeskasper mimen darf?«
»Andrea konnte viele nicht erreichen, ein paar leben im Ausland und …«
»Denen ist der Weg für einen Abend Blödsinn zu weit«, unterbrach Ole. »Ich kann’s verstehen. Wahrscheinlich würde ich schon grübeln, wenn mein Jahrgangstreffen um die Ecke stattfände und ich zu Fuß hingehen könnte.«
»… und drei sind inzwischen gestorben«, fuhr Hannah nahtlos mit ihrer Erklärung fort. »Eine übrigens erst vor Kurzem.«
»Unfall?«
»Suizid!«
»Puh … das ist krass. Wart ihr damals befreundet?«
Hannah überlegte. »Nö, die gehörte zu ’ner anderen Clique.«
»Und in welcher warst du?«
»In der, die irgendwann von dämlichen Fragen die Schnauze voll hatte. Lass uns endlich! Wir können auch bei Hagebuttentee weiterquatschen.«
»›Hagebuttentee‹? In der Sansibar? Was hast du denn eingeworfen?«
Ohne zu antworten, zog Hannah am Türöffner, stieg wieselflink aus und war längst im Begriff, in der Dunkelheit zu verschwinden.
»Jetzt warte gefälligst!«, rief ihr Ole hinterher. »Oder willst du da oben doch als vertrocknete Jungfer aufschlagen, die keinen Mann an ihrer Seite hat?«
Dieses Argument zog, denn Hannah blieb unvermittelt stehen. Sie drehte sich um und musterte Ole giftig. »Komm bloß nicht auf die Idee, den ganzen Abend blöde Witze zu reißen. Am besten machst du einen auf krank, bist übelst erkältet und bringst kaum einen Ton raus.«
»Und wenn ich völlig stumm bin? Du könntest deinen Leuten ja verklickern, dass ich …«
»Kannst du dich nicht einmal wie ein ganz normaler Mensch benehmen? Falls dich jemand fragt, röchelst du, wir hätten uns bei der Arbeit kennengelernt und ineinander verliebt. Solche Geschichten passieren jeden Tag.«
Die etwa zweihundert Meter vom Parkplatz hinauf zur Sansibar legten Hannah und Ole schweigend zurück. Erst an der Tür zum Kultrestaurant machte Hannah halt und klang halbwegs versöhnlich. »Ich freue mich sogar ein bisschen, meine alten Klassenkameraden wiederzusehen. Bin gespannt, was die so zu erzählen haben.«
»Wie lange ist dein Abi eigentlich her?«
»Ewigkeiten!«
»Tolle Antwort!«, raunte Ole und hielt seiner Chefin die Tür auf.
»Himmelherrgott … gut dreißig Jahre plus minus. Oder willst du es auf den Tag genau wissen?«
»Nein danke!« Ole übte sich in einer Verbeugung. »Nach Ihnen, Gnädigste. Es sei denn, Sie möchten hier draußen erfrieren. In dem Fall werde ich feierlich geloben, dass das mit Ihnen die ganz große Liebe war.«
»Halt die Klappe, bevor uns noch einer hört!«
»Gut voll«, lautete Oles Kommentar, als er neben Hannah im Eingangsbereich der Sansibar stand. »Siehst du deine Leute schon?« Weil Hannah nicht reagierte, drehte sich Ole zu ihr und fand sie zur Salzsäule erstarrt, mit offenem Mund vor. »Was ist denn los? Wieso …?«
»Er ist doch gekommen«, stammelte Hannah, während Frank Förster im Anmarsch war.
»Hat er gesagt, dass er auf das Jahrgangstreffen verzichtet? Ich meine … klipp und klar?«
»Für mich hörte es sich auf jeden Fall so an!«
»Also hast du nichts Schriftliches?«
Hannah musterte Ole aus eiskalten Augen. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Vollidiot bist?«
»Mag sein, aber das behältst du fortan schön für dich. Offiziell sind wir nämlich bis über beide Ohren ineinander verliebt.«
»Das Märchen vergisst du ganz schnell wieder! Wie soll ich das denn Frank erklären?«
»Ich mach mich herzlich gern vom Acker. Ein Wort genügt.«
»Du bleibst! Falls es handgreiflich wird, braucht er jemanden, der ihm beisteht.«
Ole stöhnte derart laut, dass ein älteres Ehepaar am Tresen erschrocken in seine Richtung sah. »Das kann ja heiter werden. Hast du wenigstens deine Dienstwaffe im Präsidium gelassen?«
»Wenn ich gewusst hätte, dass Frank kommt, läge sie nicht dort.« Hannah wollte sich in Bewegung setzen, doch Ole hielt sie am Ärmel fest.
»Bleib friedlich! Immerhin wart ihr mal verlobt, und ich kann mich nicht erinnern, dass eure ach so tolle Romanze mit einem Rosenkrieg geendet hätte. Ihr passt einfach nicht zueinander und habt die Verlobung gecancelt. So was passiert übrigens auch jeden Tag!«
»Mir nicht!«, fauchte Hannah und versuchte, sich loszureißen.
Erfolglos, denn Ole hatte sie fest im Griff. »Hältst du dich zurück und bleibst friedlich?«
»Ja … und jetzt nimm gefälligst deine Finger weg!«
Ole tat, wie befohlen. Von nun an blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Chefin hinterherzusehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Zweifellos war hier ein Chaos vorprogrammiert.
Das Paar am Tresen musterte ihn ununterbrochen, inzwischen aber eher mitleidvoll. Der Mann probierte es mit einer Frage: »Beziehungsstress?«
Ole musste nicht lange über eine Antwort nachdenken: »Viel schlimmer!«
Ralf Jansen, der Dritte im Team der Niebüller Mordkommission, war gleich während der ersten Werbepause vor dem Fernseher eingeschlafen. Deshalb musste er nun mit ansehen, wie Tom Hanks – in diesem Film Kapitän eines Containerfrachters – mittlerweile von somalischen Piraten entführt und auf eine Art Rettungsboot verfrachtet worden war.
Ralf gähnte herzhaft und beschloss, ins Bett umzuziehen. Er war schon auf dem Weg dorthin, als im Wohnzimmer sein Handy klingelte. Da sich Hannah und Ole für den kompletten Abend abgemeldet hatten, oblag es ihm, in puncto Arbeit die Stellung zu halten. Folglich schlurfte er zurück ins Wohnzimmer und identifizierte die Nummer auf dem Display als die der Einsatzleitstelle. Entsprechend formal meldete er sich: »Jansen, Kripo Niebüll.«
»Ich kann deine Chefin nicht erreichen«, begann ein Kollege, der kurz vor seiner Pensionierung stand.
Ralf war derartige Begrüßungen längst gewohnt und erwiderte gelassen: »Verrätst du mir auch, was du von meiner Chefin wolltest? Einfach nur Smalltalk oder …?«
»Vor ’ner Viertelstunde hab ich ’ne Streife nach Kampen geschickt. Beim Notruf hieß es, einer hätte seine Nachbarin blutüberströmt durch den Garten taumeln sehen …«
»Und was ist an der Sache dran?«
»Als die Kollegen eintrafen, war die Frau bereits tot. Die haben trotzdem einen RTW angefordert und dann im Haus noch ’ne Leiche gefunden. Klingt nach Arbeit für euch, würde ich sagen.«
»Messerscharf kombiniert!«, urteilte Ralf sarkastisch. »Sind SpuSi und Rechtsmedizin informiert?«
»Hab gedacht, das übernimmst du.«
»Schickst du mir dann wenigstens die Namen und Adresse der mutmaßlichen Opfer?«
»Müsste alles jeden Moment bei dir ankommen«, hallte es zwischen Tippgeräuschen.
Ralf verabschiedete sich mit einem Dankeschön und fing sofort zu grübeln an. Seine Chefin bei einem vermeintlichen Doppelmord nicht zu informieren, kam einer Todsünde gleich. Andererseits redete Hannah seit Wochen über nichts anderes als dieses Jahrgangstreffen.
Eine Zwickmühle, stellte Ralf gedankenversunken fest. Nach einigem Hin und Her beschloss er, sich zunächst selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen und seine Chefin erst später zu kontaktieren. Idealerweise, wenn in der Sansibar das Dessert vertilgt war und der Abschied nahte.
Ein guter Plan, lobte er sich zufrieden. Bis die Textnachricht aus der Einsatzleitstelle eintraf. Nur ein paar Zeilen, die alles veränderten.
»Das gibt’s doch gar nicht!«, flüsterte Ralf und las gleich ein weiteres Mal. »Warum muss so was immer mir passieren?«
* * *
»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen«, zischte Hannah. Sie hatte es vollbracht, ihren Ex-Verlobten und Sylter Bürgermeister bis in den Eingangsbereich der Sansibar zu drängen, in den sich auch Ole verkrümelt hatte.
Frank Förster versuchte es mit einem Schulterzucken, doch das kam gar nicht gut an. Also musste etwas zu seiner Verteidigung her: »Du hast am Telefon geklungen, als wäre dir dieses Klassentreffen völlig egal. Außerdem stand dein Name nicht mal auf der Teilnehmerliste. Ich hab extra nachgeschaut!«
»Das muss Andrea vermasselt haben«, knurrte Hannah. Sie sah hinüber zum Gästebereich, wo der Tisch, den man für dieses Event reserviert hatte, schon gut gefüllt war. Mit größter Mühe brachte sie ein aufgesetztes Lächeln zustande. »Und was jetzt? Gehst du oder geh ich?«
»Niemand geht!«, beschloss Frank. »Wieso auch?« Obwohl er freundlich klang, schien das an Hannah abzuprallen. »Die anderen haben uns beide längst zusammen gesehen, und den Streit hier kriegt auch jeder mit. Warum können wir uns nicht einfach wie ganz normale Menschen verhalten?«
»Wie verhalten die sich denn?«, fragte Hannah trotzig.
»Na ja … wahrscheinlich können die mit einer Entlobung umgehen und … keine Ahnung.« Frank machte einen Schritt und langte vorsichtig nach Hannahs Händen. »Ich habe kein Problem mit dir! Sollte das umgekehrt der Fall sein, kann ich es nicht ändern.«
»Aber wir reden hier nicht über unsere Trennung! Wenn jemand fragt, waren wir mal locker liiert, was Ewigkeiten her ist.«
»Wie du meinst.« Frank zeigte auf Ole, der mit hängenden Schultern dastand und so tat, als würde er gar nichts hören. »Hast den armen Kerl da als Verstärkung mitgebracht?«
»Wir haben uns rein zufällig vor der Tür getroffen – hab gedacht, bevor er hier wie blöd rumhockt, darf er sich zu uns gesellen und …«
»Klar! Was sonst?«
Hannah deutete zum Tisch, an dem immer lauter gelacht wurde. »Ich tue jetzt mal so, als würde ich mich unheimlich freuen, all die Leute wiederzusehen.«
Frank nickte eifrig. »Schönen Abend wünsche ich Ihnen, Frau Lambert.«
»Du bist immerhin noch am Leben«, fing Ole lachend an, nachdem er sich an Franks Seite geschoben hatte. »Ich hab’s nicht genau mitgekriegt, aber lass mich raten: Pocht sie darauf, dass du dich unverzüglich aus dem Staub machst?«
»Einen Teufel werde ich tun! Wir sind nicht mehr verlobt, also muss ich auch nicht mehr nach ihrer Pfeife tanzen. Das kannst du in Zukunft allein übernehmen.« Weil Ole nicht reagierte, schaute Frank ihn prüfend an. »Sei ehrlich: Hat sie dich hergeschleppt, damit du ihren jüngeren Lover mimst?«
»Wenn ich Ja sage und du es ihr steckst, dann …«
»Hallo!«, fuhr Frank mit unterdrückter Wut dazwischen. »Hast du vergessen, mit wem du sprichst? Als Hannah und ich noch zusammen waren, hatte ich oft das Gefühl, du und ich wären gute Kumpels – oder gar Freunde.«
Dennoch zögerte Ole, was ihm einen skeptischen Blick einbrachte. »Und du erzählst Hannah wirklich nichts?«
»Nein! Sie meinte doch eben, ihr hättet euch zufällig hier getroffen.«
»Zufälle gibt’s!«, kommentierte Ole breit grinsend. »Muss ich dir etwa erklären, wie verkorkst deine Ex-Verlobte ist?«
»Bestimmt nicht!« Frank sah sich verstohlen um und senkte die Stimme. »Hat sie unsere Trennung einigermaßen verkraftet oder ist sie noch unerträglicher geworden?«
»Momentan kniet sie sich bei der Arbeit richtig rein. Weil wir nichts Aktuelles haben, knallt sie mir jeden Tag alte Fälle auf den Schreibtisch und erwartet Wunder am Fließband.«
»Typisch Hannah!«
»Und bei dir?«, fragte Ole. »Bist du drüber weg?«
Frank wollte gerade antworten, als Oles Smartphone in dessen Hosentasche vibrierte. Er zog es heraus und entschuldigte sich mit einer Geste. »Das ist unser Ralf, der trägt heute ganz allein die Verantwortung.«
»Vielleicht gehst du zum Telefonieren lieber vor die Tür, und ich gesell mich mal zu den anderen.«
»Pass auf, dass du Hannah nicht in die Quere kommst. Sonst zerfleischt sie dich am Ende doch noch.«
Frank packte Ole bei den Schultern, zwang ihn zu einer Kehrtwende und schob ihn kurzerhand auf die Terrasse des Restaurants. »Grüße an Ralf!«
Da seine Jacke noch an der Garderobe hing, begann Ole gleich zu schlottern. Entsprechend meldete er sich: »Ich frier mir hier draußen jeden Moment den Arsch ab. Was gibt’s denn Wichtiges?«
In Ralfs Stimme schwang ein Hauch von Weltuntergang mit. »Ist die Chefin auch in der Nähe?«
»Frag lieber nicht! Aber wir können reden, sie hockt drinnen.«
»Sieht so aus, als hätten wir einen neuen Fall … Doppelmord, in Kampen.«
Ole hatte es im Laufe der letzten Jahre schon mit manch einer mörderischen Ente zu tun bekommen, deswegen hakte er nach: »Bist du dir absolut sicher?«
»Allerdings … und es kommt noch dicker!«
»Inwiefern?«
Ralf brauchte nicht lange, um Ole über die besondere Brisanz rund um ein totes Ehepaar aufzuklären.
Entsprechend fiel Oles Reaktion aus. »Das ist nicht dein Ernst! Soll das ein schlechter Witz sein? Sei ehrlich: Hat Hannah dich angerufen und dir gesagt, du sollst mich von hier weglotsen?«
»Ich wünschte, es wäre so.«
»Und was erwartest du jetzt von mir? Soll ich da reingehen, Hannah informieren und am besten auch gleich diese andere Frau?«
Ralf zögerte kurz. »Hast du ’ne bessere Idee?«
»Ich könnte die Beine in die Hand nehmen und laufen, bis ich meinen beschissenen Job komplett vergessen habe. Irgendjemand findet mich schon erfroren zwischen Rantum und Westerland … das ist doch alles zum Verrücktwerden!«
»Sagst du der Chefin trotzdem Bescheid?«, fragte Ralf im Tonfall eines kleinen Jungen.
»Was bleibt mir denn anderes übrig? Wo bist du?«
»Fahre jede Minute auf den Autozug Richtung Insel.«
»Wenigstens was. Dann treffen wir uns vor Ort in Kampen. Und noch was …«
»Ja?«
»Sprich Hannah bloß nicht auf dieses Klassentreffen an. Hörst du? Wenn dir was an deinem Leben liegt, halt einfach die Klappe …«
»Erinnert ihr euch noch an den alten Sperber?«, fragte Andrea Schulte. Was im allgemeinen Gelächter am Tisch beinahe unterging. »Ich glaube, der Kerl hat jedes Mädchen begrabscht, das ihm im Sportunterricht vor die Nase gelaufen ist.«
Diese These sorgte bei den meisten für neues Lachen. Angeheizt durch reichlich Alkohol, verbesserte sich die Stimmung von Minute zu Minute.
Hannah warf einen unauffälligen Blick in die Runde. Von den elf Ehemaligen, die zugesagt hatten, waren zehn gekommen, einschließlich ihr. Sieben Frauen und drei Männer. Letztere saßen zusammengedrängt am einen Tischende und waren in erster Linie mit Kopfschütteln beschäftigt. Kein Wunder, denn das Kreischen der Sirenen zog mittlerweile den Unmut anderer Gäste auf sich.
»Geht es auch etwas leiser?«, nutzte Hannah eine kurze Pause und beugte sich über den Tisch. »Wenn ihr so weitermacht, setzen die uns vor die Tür, und wir können draußen feiern.«
»Jetzt hab dich doch nicht so!«, kam es von der rothaarigen Katja. Die hatte schon vor drei Jahrzehnten jedem männlichen Mitschüler den Kopf verdreht. Wobei eine Zeit lang behauptet worden war, sie hätte wesentlich mehr Interesse an ihrem eigenen Geschlecht.
»Genau!«, stimmte Andrea zu. »Du bist spießig wie eh und je. Wann wirst du endlich mal ein bisschen lockerer, Hannah?«
Die schaute hinüber zu Frank und holte sich von dort das erwartete Grinsen ab. Fast dankbar registrierte sie, dass ihr Handy in ihrer Hosentasche zu summen anfing. Eine Textnachricht, die von Ole stammte: Ich brauche dich vor der Tür. Sofort!
Hannah überlegte, ob sie es riskieren konnte, sich für einen Moment auszuklinken. Dann wurden diese Gedanken überflüssig, denn inzwischen dröhnte ihr vor lauter Frohsinn und Gelächter der Schädel.
»Wo willst du denn hin?«, lallte Katja, als Hannah aufstand.
»Ist dienstlich, dauert nicht lange.« Während sich Hannah entfernte, hörte sie hinter sich Franks Stimme. Ein paar aufgeschnappten Fetzen und Franks Meinung nach zu urteilen, dürfte sich die Gesellschaft für den Rest des Abends von Hannah verabschieden.
»Was ist?«, fragte sie ohne Umschweife auf der Terrasse.
»Wie läuft’s da drinnen bei euch?«
»Ganz okay … nur das ständige Gekreische geht mir langsam auf den Sack.«
»Und Frank?«
Hannahs Miene wurde zu Stein. »Jetzt hör mir mal gut zu! Das heute ist nichts weiter als ’ne lästige Pflichtveranstaltung, trotzdem möchte ich nicht die Hälfte verpassen. Außerdem wette ich, dass die sich gerade in aller Seelenruhe das Maul über mich zerreißen.«
Ole machte einen Schritt nach hinten und wäre beinahe mit zwei jungen Männern zusammengestoßen, die sich an ihm vorbeimogeln und die Sansibar betreten wollten. Einer kannte Ole offenbar, denn er klopfte ihm kurz die Schulter und brachte ihn lachend in Schräglage.
»Jetzt sag schon, was los ist!«, forderte Hannah, als man wieder unter sich war.
»Ralf hat mich angerufen und meinte, in Kampen hätte es ’nen Doppelmord gegeben.«
»Ernsthaft? Ausgerechnet heute?«
Ole nickte. Ihm war anzusehen, dass das nicht alles war und er in puncto Details schreckliche Qualen litt. »Bei den Toten handelt es sich um ein Ehepaar, Beate und Helmut Koopmann.«
Hannahs Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sind das etwa die Eltern von …?«
»… deiner Klassenkameradin Rieke«, vollendete Ole. »Ich hab zwar keine Ahnung, woher er das so schnell wusste, aber Ralf hat es mehrfach überprüft, Irrtum ausgeschlossen.«
»Scheiße!«, fluchte Hannah und ging ein paar Schritte, um das Innere des Restaurants in Augenschein zu nehmen. Durch eines der Fenster konnte sie den gesamten Tisch überblicken, an dem aktuell wieder lautstarkes Gejohle herrschte.
»Ich gehe gern rein und bitte sie vor die Tür«, bot Ole an.
»Immer langsam mit den jungen Pferden! Sag mir erst mal, was passiert ist und was wir bisher wissen!«
»Nicht viel. Der Notruf kam gegen halb neun rein und …«
»Da standen wir auf dem Parkplatz und haben im Auto über sinnloses Zeug diskutiert!«, echauffierte sich Hannah.
»Und hätten unter anderen Umständen auch nichts verhindern können! Oder siehst du das anders?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Weiter!«
»Weiter, weiter … was willst du denn hören? Ein Mann hat Alarm geschlagen, weil seine Nachbarin blutüberströmt durch den Garten getorkelt ist.«
»Beate Koopmann.«
»Vermutlich. Und dann haben die Streifenkollegen in der Küche ’ne zweite Leiche gefunden.«
»Riekes Vater?«
»Die Identität beider Leichen ist natürlich noch nicht endgültig geklärt.«
Hannah entließ stöhnend den Atem, vor ihrem Gesicht bildete sich eine riesige Kondenswolke. »Ausgerechnet Helmut Koopmann?«
»Kennst du den Typen?«
»Den kennt doch jeder hier auf der Insel. Obwohl – vielleicht bist du zu jung dafür.«
»Wofür genau?«
»Koopmann war viele Jahre Staatssekretär im Kieler Wirtschaftsministerium. Er war kurz vor der nächsten Stufe, als ein Skandal für sein plötzliches Karriereende gesorgt hat. Eklige Geschichte!«
»Hör mal …«, versuchte es Ole auf sanfte Weise. »… den Rest kannst du mir gerne später erzählen. Ralf ist bestimmt schon vom Autozug runter und in Kampen angekommen. Ich wette, der schreit längst nach Mutti.«
»Wer soll das sein?«
»Na, wer wohl? Stell dich doch nicht blöder, als du bist!«
Hannah warf erneut einen Blick durchs Fenster. »Gilt dein Angebot noch?«
»Dass ich Rieke raushole?«
»Wenn ich da drin aufkreuze und Panik mache, ernte ich haufenweise Lacher, und das Ganze wird noch schräger. Also …«
Ole trat an Hannahs Seite, beugte sich vor und blickte ebenfalls durch das Fenster. »Welche von denen ist Rieke?«
»Die kleine Dunkelhaarige.«
»Im Vergleich zu den anderen wirkt die nicht besonders glücklich. Wart ihr mal Freundinnen?«
Hannah schaute Ole missmutig an. »Du meinst, ob sich damals eine Spaßbremse zur anderen gesellt hat?«
»Ich hab doch keine Ahnung, wie du früher warst. Aber wenn ich an heute denke, dann …«
»Gehst du jetzt bitte da rein und bringst sie her? Ansonsten erledige ich das selbst.«
»Und was, wenn sie mich fragt, wieso …?«
»Sag ihr einfach, dass ich dringend mit ihr reden muss!«
Kurz darauf beobachtete Hannah, wie Ole die Sansibar durchquerte. Es folgte eine knappe Unterhaltung mit Rieke, die ihn erstaunt ansah. Dann war offenbar eine Bestätigung von Frank nötig, der wohl als Leumund fungierte. Jedenfalls erhob sich Rieke und marschierte brav zum Ausgang.
Vor Hannah angekommen, hatte sie prompt eine Beschwerde parat: »Müssen wir unbedingt hier in der Kälte miteinander reden?«
Wie in Schulzeiten, dachte Hannah, verzichtete jedoch auf einen Kommentar. Stattdessen mühte sie sich um einen sanften Ton: »Vielleicht setzt du dich lieber und …«
»Damit ich festfriere? Was ist denn los … was soll der Blödsinn?«
Hannah deutete auf die hölzerne Balustrade, die einen Teil der Terrasse umgab. Im Frühjahr würde die ab dem ersten Sonnenstrahl vor Gästen überlaufen.
Riekes Miene machte klar, dass sie zunächst jeden Widerstand aufgegeben hatte. Sie folgte Hannahs Fingerzeig, giftete dann aber gleich aufs Neue: »So, ich sitze – wenigstens zur Hälfte. Sagst du mir jetzt endlich, was los ist?«
»Es geht um deine Eltern«, fing Hannah leise an. »Wir wissen noch nichts Genaueres, aber es sieht nicht gut aus.«
»Was soll das heißen, ›es sieht nicht gut aus‹? Was redest du da? Als ich bei ihnen weg und direkt hierher bin, war alles in bester Ordnung.«
»Vorschlag, Frau Koopmann«, mischte sich Ole ein. »Sie begleiten uns nach Kampen, und dort schauen wir gemeinsam nach Ihren Eltern. Vielleicht handelt es sich ja nur um falschen Alarm.«
»Und wenn nicht?« Rieke war anzuhören, dass diese Frage in erster Linie von Realitätsverdrängung gespeist wurde. »Was soll ich …?«
»Dann fahren wir eben allein und melden uns später noch mal bei dir«, unterbrach Hannah. »Du entscheidest!«
»Ich komme mit«, schniefte Rieke. »Kann ich vorher meine Jacke holen?«
»Das müssen wir alle«, erwiderte Ole lächelnd. »Und es ist auch genug Zeit, um sich zu verabschieden …« Diese Offerte brachte ihm einen giftigen Blick von Hannah ein. Den er mit einem Grinsen konterte. »Lassen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, Frau Koopmann.«
Als Ralf vor einer in die Jahre gekommenen Reetdach-Villa in Kampen eintraf, eilte ihm die Sylter Ein-Mann-Kripo namens Martin Clausen entgegen. »Wo hast du denn Hannah und Ole gelassen?«
Ralf stöhnte genervt. »Kann nicht mal einer als Erstes so was wie Hallo oder schön, dass du da bist sagen?«
»Hallo Ralf! Wo sind Hannah und Ole?«
»Du bist ein Arsch! Wer hat dich überhaupt angerufen?«
»Der Schichtleiter aus Westerland. Rüdiger meinte wohl, es wäre besser, wenn ich auch vor Ort bin. Soll ich wieder fahren und dir das Feld überlassen?«
Ralf schüttelte den Kopf. Bevor er etwas antworten konnte, schlug sich Clausen mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Stimmt ja! Deine Chefin und Ole sind heute auf diesem Klassentreffen. Hannah redet doch seit Wochen von nichts anderem.«
»Trotzdem wissen die beiden Bescheid und sind auf dem Weg.«
»Dann war der ganze Rummel also für die Katz. Hatte Hannah wenigstens ihren geplanten großen Auftritt? Mit dem hübschen Ole an ihrer Seite und geschminkten Lachfalten?«
»Woher soll ich das denn wissen?« Ralf zögerte, aber dann brach es aus ihm hervor: »Du ahnst ja nicht, was ich alles tun musste, um die Chefin auf dieses Klassentreffen vorzubereiten.«
»Zum Beispiel?«
»Hältst du die Klappe, wenn ich es dir erzähle?«
»Logisch!«
Ralf hob schwer atmend von Neuem an: »Als die Teilnehmerliste endlich feststand, musste ich jeden einzelnen haarklein durchleuchten, sogar Eltern und Geschwister.«
»Und wieso?«
»Weil meine Chefin wissen wollte, ob jemand vorbestraft ist, wer Schulden beim Finanzamt hat oder …«
»Achtung, sie ist im Anmarsch«, unterbrach Clausen flüsternd. »Was übrigens nicht heißt, dass ich auf den Rest verzichte.«
* * *
Ein paar Minuten zuvor war Rieke Koopmann auf der Rückbank von Hannahs Dienstwagen immer nervöser geworden. »Könnt ihr nicht irgendwie herausbekommen, was mit meinen Eltern ist?«
»Wir sind doch jeden Moment da«, antwortete Hannah. »Schon vergessen, dass wir uns selbst ein Bild machen wollten?«
»Natürlich nicht! Aber was, wenn meine Eltern Hilfe brauchen und …?«