Verhandlungsflow - Florian Weh - E-Book

Verhandlungsflow E-Book

Florian Weh

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Beschreibung

Verhandeln wie von selbst Florian Weh hat schon viele komplexe Verhandlungen geführt. Ob Tarifverträge unter massivem Druck der Öffentlichkeit oder Überflugrechte mit großen staatlichen Delegationen: Je schwieriger die Situation, desto reizvoller ist sie für den nach dem Harvard-Konzept ausgebildeten Top-Verhandler. Immer wieder schaffte er es, Verhandlungspartner aus der Blockadehaltung zu locken und sie zu Partnern einer Problemlösung zu machen. Mit welchen Tools und Tricks er einen Verhandlungsflow erzeugt, verrät er in diesem Buch. Mit dem richtigen Maß aus Konfrontation, Kooperation und Kreativität können Verhandler und Verhandlerinnen erstaunliche Ergebnisse erzielen!

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Florian Weh

VERHANDLUNGSFLOW

Wie Sie anspruchsvolle Verhandlungen mit Leichtigkeit zum Ziel führen

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Verhandeln wie von selbst Florian Weh hat schon viele komplexe Verhandlungen geführt. Ob Tarifverträge unter massivem Druck der Öffentlichkeit oder Überflugrechte mit großen staatlichen Delegationen: Je schwieriger die Situation, desto reizvoller ist sie für den nach dem Harvard-Konzept ausgebildeten Top-Verhandler. Immer wieder schaffte er es, Verhandlungspartner aus der Blockadehaltung zu locken und sie zu Partnern einer Problemlösung zu machen. Mit welchen Tools und Tricks er einen Verhandlungsflow erzeugt, verrät er in diesem Buch. Mit dem richtigen Maß aus Konfrontation, Kooperation und Kreativität können Verhandler und Verhandlerinnen erstaunliche Ergebnisse erzielen!

Vita

Florian Weh ist Manager bei der Deutschen Bahn und dort als Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands MOVE für die Tarifverhandlungen des Konzerns verantwortlich. Zuvor war er Head of Negotiation Management bei der Lufthansa und Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Luftverkehr. Daneben ist er selbstständiger Experte für anspruchsvolle und komplexe Verhandlungen. Florian Weh ist Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. und an der Bucerius Law School in Hamburg für Verhandlungsmanagement. Er ist Rechtsanwalt, ausgebildeter Mediator und wurde an der Harvard University zum Verhandlungsführer ausgebildet.

Für meine Familie

in Dankbarkeit

Inhalt

Was ist Verhandlungsflow?

Warum sind Verhandlungen anspruchsvoll?

Wie managen wir die Komplexität in unseren Verhandlungen am besten?

Wie kommt die Leichtigkeit ins Verhandeln?

Warum sich zwischen Wissenschaft und Praxis entscheiden?

Für wen ist dieses Buch?

Was können wir von Piloten über das Verhandeln lernen?

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

1 Ready for Departure: Mit Verhandlungslust und Professionalität zu besseren Lösungen

1.1 Fundament: Bauen Sie auf die Grundlagen modernen Verhandelns

1. Schätzen Sie die Verhandlungssituation anhand von BATNA, Rückzugspunkt und ZOPA ein

2. Ankern Sie richtig und planen Sie Ihre Konzessionen

3. Beachten Sie beim Verhandeln Inhalts-, Beziehungs- und Prozessebene

4. Kennen Sie die fünf Konfliktmodi?

5. Stellen Sie effektive Fragen

6. Hören Sie aktiv zu

7. Harvard-Ansatz 1: Achten Sie auf die Interessen aller Verhandlungspartner

8. Harvard-Ansatz 2: Entwickeln Sie mehrere Lösungsoptionen

9. Harvard-Ansatz 3: Finden Sie objektive Kriterien für Verteilungskonflikte

10. Vergrößern Sie den Verhandlungskuchen

11. »Framing«: Geben Sie Ihren Argumenten den richtigen Rahmen

12. 3-D-Verhandlungsmodell: Agieren Sie nicht nur am Verhandlungstisch

1.2 Ablauf: Verhandeln Sie immer und heben Sie das Potenzial des Augenblicks

Mythos 1: Das Verhandeln beginnt und endet am Verhandlungstisch

Mythos 2: Eine Verhandlung läuft Schritt für Schritt und nacheinander ab

Mythos 3: Die Verhandlungsvorbereitung findet ohne Ihren Partner statt

Mythos 4: Abseits des Tisches wird analysiert, am Tisch wird agiert

1.3 Haltung: Übernehmen Sie optimistisch Verantwortung für Ihren Verhandlungserfolg

Begreifen Sie jede Verhandlung als großartige Chance

Vertrauen Sie auf die menschliche Fähigkeit zur gemeinsamen Problemlösung

Verstehen Sie Verhandlungen als schöpferischen Akt und nicht nur als Machtspiel

Stehen Sie hart für Ihre Interessen ein und lassen Sie sich nicht ausbeuten

Streben Sie den Verhandlungsflow als Zustand maximaler Lösungsfähigkeit an

2 Auftrieb erzeugen: Die sieben Prinzipien erfolgreichen Verhandelns

2.1 Prinzip der Nutzenoptimierung: Schaffen Sie für sich und Ihre Verhandlungspartner so viel Wert wie möglich

Praxisfehler

Maximieren Sie Ihren Nutzen. Vermeiden Sie ein zu simples Nutzenkonzept

Optimieren Sie den Nutzen Ihres Verhandlungspartners

Nehmen Sie sich in Acht vor Kompromissen

Machen Sie den Nutzen beider Seiten messbar

Setzen Sie sich frühzeitig kluge Ziele für Ihre Verhandlung

2.2 Prinzip der Informiertheit: Begreifen Sie Verhandlungen als Informationsspiel, das Sie gewinnen sollten

Praxisfehler

Schaffen Sie sich ein Informationsnetzwerk

Seien Sie auch abseits der formalen Verhandlungen achtsam

Achten Sie auf Details und Schwarze Schwäne

Verstehen Sie Ihren Verhandlungspartner

Motivieren Sie Ihren Partner, Informationen wahrheitsgemäß zu teilen

Sammeln Sie die Informationen strukturiert

2.3 Prinzip der Führung: Fühlen Sie sich für einen produktiven Verhandlungsprozess verantwortlich

Praxisfehler

Führen Sie auf vier Ebenen: mit Ihrem Partner, Ihren Auftraggebern, Ihr Team und sich selbst

Zeigen Sie Haltung und übernehmen Sie Verantwortung

Stärken Sie Ihre Verhandlungsmacht

Designen Sie einen produktiven Problemlösungsprozess

2.4 Prinzip der Zusammenarbeit: Entfesseln Sie die gemeinsame Lösungsintelligenz

Praxisfehler

Vermeiden Sie Denkfehler, die Ihnen die Zusammenarbeit erschweren

Setzen Sie einen kooperativen Rahmen zum Verhandlungseinstieg

Bauen Sie Schritt für Schritt eine tragfähige Arbeitsbeziehung auf

Werden Sie ein Kuchenvergrößerungsprofi

Knüpfen Sie systematisch und strategisch Ihr Wertschöpfungsnetz

2.5 Prinzip der Zweigleisigkeit: Kombinieren Sie gegensätzliche Fähigkeiten, um das volle Lösungspotenzial auszuschöpfen

Praxisfehler

Seien Sie empathisch und zugleich durchsetzungsstark

Balancieren Sie das Spannungsverhältnis zwischen Wertschöpfung und Wertverteilung

Machen Sie mehrere Paketangebote gleichzeitig

Eignen Sie sich eine allgemeine Strategie an, wie Sie mit zweigleisigen Situationen umgehen

2.6 Prinzip der Rationalität: Fokussieren Sie sich trotz Emotionen und systematischer Denkfehler auf kluge Lösungen

Praxisfehler

Entzerren Sie die klassischen Denkfehler des Verhandelns

Managen Sie den Faktor Zeit beim Verhandeln souverän

Bereiten Sie sich professionell auf Verhandlungsgespräche vor

Regulieren Sie ihre Gefühle, und steigern Sie Ihre Resilienz

2.7 Prinzip der Kreativität: Nutzen Sie agile Methoden, um in jeder Situation die besten Ideen zu generieren

Praxisfehler

Kommen Sie in den Flow

Verwenden Sie ein bewährtes Verfahren, um neue Ideen zu erzeugen

Bedienen Sie sich aus dem agilen Baukasten

3 Special Procedures: Souverän durch Turbulenzen steuern

3.1 Stockende Verhandlungen: Wie Sie sich aus der Warteschleife navigieren

Beugen Sie der Sackgasse vor

Führen Sie ein offenes Wort mit Ihrem Verhandlungspartner

Leiten Sie die Sackgasse geschickt ein

Wagen Sie den Neustart

Bringen Sie Dritte ins Spiel

3.2 Problematische Partner: Wie Sie auch mit schwierigen Partnern erfolgreich vorankommen

Kennen Sie alle denkbaren Manöver schwieriger Partner?

Reagieren Sie nicht direkt auf Attacken und Taktiken

Nutzen Sie vier erprobte Strategien, um mit schwierigen Partnern in den Lösungsmodus zu gelangen

Gewöhnen Sie sich an Verhandler, die wie Donald Trump verhandeln möchten

3.3 Verhandeln im Auftrag: Wenn Sie nicht für sich verhandeln

Vereinbaren Sie mit Ihrem Auftraggeber einen Prozess zunehmender Freiheiten

Begreifen Sie die Gespräche zwischen Auftraggeber und Verhandlungsführer als weiteren Verhandlungsprozess

Passen Sie den Prozess zwischen Auftraggeber und Verhandlungsführer an die jeweilige Situation an

Achten Sie darauf, wie Ihr Partner das Zusammenspiel von Auftraggeber und Verhandlungsführer managt

3.4 Teamverhandlungen: Wie Sie im Team erfolgreich verhandeln

Klären Sie die Rollen innerhalb des Verhandlungsteams

Orientieren Sie das Team an einem strukturierten Arbeitsprozess

Etablieren Sie Kommunikationsregeln für Ihr Team

3.5 Distant Negotiations: Wie Sie besser per Webkonferenz verhandeln

Beachten Sie die Unterschiede zwischen persönlichen Verhandlungen und Webverhandlungen

Stellen Sie sich speziell auf das Medium Webkonferenz ein

Entwickeln Sie produktive Gewohnheiten für Ihre Webverhandlungen

Stellen Sie sich auf erhöhte Anforderungen bei Teamverhandlungen ein

4 Always happy landings: Wie Sie zum Verhandlungsprofi werden

4.1 Fokussieren Sie sich auf eine Sache, die Sie ändern möchten

4.2 Nutzen Sie die Kraft guter Checklisten

4.3 Gehen Sie regelmäßig in den Verhandlungssimulator

4.4 Führen Sie ein Verhandlungstagebuch

4.5 Lassen Sie sich Feedback von Ihren Verhandlungspartnern und Ihrem Team geben

Danksagung

Anmerkungen

Was ist Verhandlungsflow?

1 Ready for Departure: Mit Verhandlungslust und Professionalität zu besseren Lösungen

2 Auftrieb erzeugen: Die sieben Prinzipien erfolgreichen Verhandelns

3 Special Procedures: Souverän durch Turbulenzen steuern

4 Always happy landings: Wie Sie zum Verhandlungsprofi werden

Literatur

Register

Was ist Verhandlungsflow?

Verhandlungsflow ist der Sehnsuchtsort jedes Verhandlers. Wer einmal dort war, möchte immer wieder hin.

Am Ende jeder anspruchsvollen Verhandlung steht das große Finale. Die Dynamik ist hoch. Jetzt ist der Moment gekommen für letzte Lösungsideen und Zugeständnisse. Manche nennen diese Phase den Verhandlungstanz. Sind die Partner im Flow, gehen sie jetzt fast spielerisch miteinander um. Und völlig im Verhandeln auf. Sie finden den Schlüssel für scheinbar unlösbare Probleme. Virtuos und schnell getaktet nähern sie ihre Paketlösungen an. Alle im Verhandlungsteam sind hochkonzentriert. Ein wildes Geben und Nehmen, ein Hin- und Hertauschen kommt in Gang. Bis die Potenziale ausgereizt sind und ein Optimum erreicht ist. Die Spannung fällt langsam ab. Alle Beteiligten erinnern sich später mit Freude an den Nervenkitzel und das intensive Teamerlebnis.

Erscheint Ihnen das unrealistisch? Vielleicht haben Sie diesen Zustand bereits erlebt. Falls nicht, sprechen Sie mit erfahrenen Verhandlungsführern. Ich versprechen Ihnen, jeder hat eine Geschichte zu seinem Verhandlungsflow parat. Mit meinen Teams und unseren Partnern erlebte ich diesen Zustand mehrfach. Einmal fragte mich ein Kollege: Warum tust du dir das immer wieder an mit dem Verhandeln? »Verhandlungsflow!«, war meine spontane Antwort, und der Begriff war geprägt. Unter Verhandlungsflow verstehe ich das Eintauchen in einen Zustand konzentrierter und scheinbar müheloser Problemlösung mit dem Verhandlungspartner.

Wie gelangen wir an diesen magischen Verhandlungsort?

Das psychologische Phänomen Flow wurde erstmals vom Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi beschrieben. Entscheidend für Flow ist, dass Sie eine Beschäftigung weder überfordert noch unterfordert. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist gefordert, aber nicht mehr.

Genau das ist das Problem vieler Verhandlungen. Zu Beginn der Verhandlungen belauern sich beide Seiten. Keine möchte einen Fehler machen. Die Partner bearbeiten nicht ihre Konflikte. Langeweile macht sich breit, die geballte Kompetenz beider Seiten bleibt ungenutzt. Dieser Zustand hält häufig bis weit in das Verhandlungsfinale hinein an. Jetzt muss alles gleichzeitig geschehen. Druck und Stress entstehen. Gute Lösungen sind jetzt außer Griffweite. Augen zu und durch. Hoffend, keinen Fehler zu machen. Vielleicht scheitern die Verhandlungen. Einigen sich die Partner in letzter Sekunde, bleibt viel Potenzial auf dem Tisch liegen. Ist zumindest ein Partner mit dem Ergebnis unzufrieden, schlägt dies in der Regel auf die Beziehung durch. Sind die Partner voneinander abhängig, manifestiert sich nach solchen Momenten gerne ein Dauerkonflikt.

Verhandlungsflow stellt sich nicht von allein ein. Nur wer von der ersten Verhandlungsidee an beharrlich daran arbeitet, das Verhandlungsfinale optimal vorzubereiten, kommt in den Genuss dieses Hochgefühls. Es ist wie bei der Tiefschneeabfahrt am Ende einer langen Skitour. Zunächst müssen wir den Gipfel mit guter Kondition, Technik und Ausrüstung erklimmen. Ist er erreicht, stellt sich bei der anspruchsvollen Abfahrt Flow ein. Die Vorfreude auf den krönenden Abschluss lässt die Entbehrungen bis dahin erträglich erscheinen.

Gibt es eine Garantie auf Verhandlungsflow? Natürlich nicht. Sie können sich allein und mit Ihrem Gegenüber akribisch auf das Verhandlungsfinale vorbereiten und einen produktiven Rahmen schaffen. Ob Verhandlungsflow eintritt, lässt sich nicht verlässlich vorhersagen. Ihr Partner, Ihre Organisation und das Umfeld bringen eine Dynamik ins Spiel, die nicht beherrschbar ist. Wenn kein Flow am Ende eintritt, haben Sie sich zumindest zielorientiert auf das Finale vorbereitet. Verhandlungsflow ist übrigens eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wer darauf hinarbeitet, erhöht seine Chance, Flow zu erleben. Wer hingegen die Sackgasse vor Augen hat, darf sich nicht wundern, wenn er regelmäßig in ihr landet.

Warum sind Verhandlungen anspruchsvoll?

Es liegt entweder an der Situation oder an Ihrem Gegenüber. Schnell geben wir unserem Partner die Schuld und personalisieren das Problem. Nüchtern betrachtet liegt das Problem nach meiner Erfahrung weitaus häufiger in der Situation als in der Person begründet. Geschäftliche und politische Verhandlungen werden zunehmend komplexer. Auf beiden Seiten handelt eine Vielzahl von Beteiligten mit unterschiedlichen Interessen. Die Themen sind vielfältig, viele Einzelfragen erfordern vertieftes Expertenwissen. All dies findet in einer dynamischen Umwelt mit sich ändernden Bedingungen statt. Das überfordert uns schnell, und unserem Gegenüber geht es ebenso. Der moderne Verhandlungsführer ist in erster Linie Komplexitätsmanager. Es kommt auch vor, dass in diesem Spiel einige unserer Pendants à la Donald Trump versuchen, sich mit Druck, Tricks oder Mauern einen unfairen Vorteil zu verschaffen. Dafür gibt es aber Rezepte (siehe Kapitel 3.1.)

Keine Patentrezepte gibt es dafür, wie wir die Komplexität beim Verhandeln in den Griff bekommen. Nehmen Sie sich in Acht vor allen, die Ihnen einfache Lösungen anbieten, die stets funktionieren. Es gibt viele gute Werkzeuge für das Verhandeln. Aber jede Verhandlung ist anders. Die Themen, die Menschen und der Rahmen unterscheiden sich von Verhandlung zu Verhandlung. Ein Einheitskonzept kann es da nicht geben.1 Sie müssen die Strategie und die Werkzeuge verwenden, die zu der jeweiligen Situation passen. Viele Verhandlungsratgeber führen Glaubenskriege. Beispielsweise darüber, ob es grundsätzlich beim Verhandeln ums Zusammenarbeiten und Win-win (Harvard-Konzept) oder um den Sieg und Win-lose (Schranner-Konzept) geht. Zu Unrecht. Die Wahrheit ist, Sie benötigen beide Fähigkeiten. Wenn Sie den Verhandlungsprozess gestalten oder den Verhandlungskuchen vergrößern möchten, müssen Sie zunächst zusammenarbeiten (siehe Kapitel 2.4). Am Ende müssen die Parteien den Kuchen dann aufteilen. Das geht selten ohne Feilschen und ein wenig Sportsgeist.

Wie managen wir die Komplexität in unseren Verhandlungen am besten?

Nicht der eine große Fehler bringt eine komplexe Verhandlung zum Scheitern, sondern die Addition vieler kleiner Fehler.2 Im Umkehrschluss gilt es achtsam zu sein für die vielen Details, die beim Verhandeln eine Rolle spielen. Das ist die Grundidee dieses Buches. Ich führe Sie anhand von sieben vernetzten Prinzipien zu den Kernfertigkeiten des Verhandelns. Bei jedem Prinzip gebe ich Ihnen größere und kleinere Werkzeuge an die Hand. Manche sind neu, andere bekannt. Allen ist gemeinsam, dass ich sie in der Praxis erprobt habe und vom Nutzen überzeugt bin. Sofern das Werkzeug zur jeweiligen Situation passt.

Diese Mikrokompetenzen müssen Sie an einem strategischen Ziel ausrichten. Andernfalls fehlt Ihnen die große Linie, wie einem Anfänger beim Schachspielen: Zwar wissen Sie, wie jede Figur zieht, aber wohin das führen soll, bleibt Ihnen unklar. Wie Sie anhand Ihrer Interessen ein Zielsystem für Ihre Verhandlungen entwickeln, sehen wir uns beim Prinzip der Nutzenoptimierung an (Kapitel 2.1).

Eine spannende Frage ist, ob aktuelle Entwicklungen die Art und Weise, wie wir verhandeln, grundsätzlich verändern. Weil wir uns zunehmend weltweit vernetzen, nehmen Komplexität und Konflikte beim Verhandeln zu. Die Informationsmenge steigt, sprachliche und kulturelle Barrieren kommen hinzu. Gleichzeitig bekommen wir digitale Werkzeuge an die Hand, um Komplexität zu bewältigen. Gut aufgestellte Verhandlungsteams berechnen heute in Echtzeit den Mehrwert, der durch veränderte Paketlösungen entsteht. Meine Beobachtung ist, dass sich die Zunahme und die Bewältigung der Komplexität die Waage halten. Genauso verhält es sich mit globaleren Partnern einerseits und verbesserter Kommunikationstechnik andererseits. Videokonferenzen, Chats und digitales simultanes Übersetzen gleichen die körperliche Entfernung aus. Der Kern des Verhandelns verändert sich durch Globalisierung und Digitalisierung aber nicht. Im Kern bleibt Verhandeln eine menschliche Kernkompetenz: ein gemeinsamer Problemlösungsprozess mit kooperativen und wettbewerblichen Elementen.

Verhandlungsteams in Unternehmen waren übrigens funktionsübergreifend und agil, lange bevor diese Begriffe existierten. Viele Ideen des agilen Projektmanagements passen wunderbar zur Arbeit in Verhandlungsteams (siehe Kapitel 2.7).

Wie kommt die Leichtigkeit ins Verhandeln?

Wer ein positives Verhältnis zu Menschen und Konflikten hat, erleichtert sich das Leben beim Verhandeln. Was den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, ist seine Fähigkeit zur flexiblen und tiefgehenden Kooperation.3 Das macht ihm die künstliche Intelligenz nicht so leicht nach. Diese Fähigkeit versuche ich beim Verhandeln zu entfachen. Ich begreife meinen Verhandlungspartner und mich als Team. Unsere Verantwortung ist es, eine gute Lösung für das gemeinsame Problem zu finden. Erst wenn beide Seiten Ja sagen, steht der Deal.

Ein Konflikt ist zunächst neutral. Konflikte sind Interessenunterschiede. Sie gibt es, weil Menschen sich unterscheiden und sich in abweichenden Situationen befinden. Das ist normal. Durch gegensätzliche Interessen kann es zu Spannungen zwischen den Parteien kommen. Diese Spannungen setzen Energie frei. Diese Energie ist der Motor, um zu besseren Lösungen zu kommen. Konflikte sind die Triebfeder von Veränderung. Und gutes Verhandeln ist eine effektive und leicht verfügbare Methode, um diese Konflikte zu lösen.

Lassen Sie uns in Konflikten stets die Triebfeder zur Verbesserung sehen. Glauben Sie daran, dass Menschen in der Lage sind, hervorragend zusammenzuarbeiten, sobald sie gemeinsam Verantwortung für die Problemlösung übernehmen. Dann bringen wir die Energie auf, gemeinsam alles in Gang zu bringen, um das Verhandlungsfinale vorzubereiten. Verhandlungsflow kann kommen.

Warum sich zwischen Wissenschaft und Praxis entscheiden?

Meine Schule des Verhandelns waren Tarifverhandlungen. Zunächst in der Luftfahrtbranche. Mein erster Arbeitstag war eine Tarifverhandlung mit Piloten. Zugegeben, es stellte sich kein Verhandlungsflow ein. Es folgten unzählige weitere Verhandlungen mit so verschiedenen Charakteren wie Technikern, Check-In-Mitarbeitern, Flugbegleitern und Piloten. In Tarifverhandlungen kämpfen alle Seiten mit harten Bandagen. Streiks bringen Emotionen und Dynamik in die Konflikte. Gleichzeitig waren die Inhalte anspruchsvoll. Von Schichtplan-Regelungen über Zeitzonen hinweg über komplexe Altersversorgungen bis zum Schutz vor Auslagerung war alles geboten. Und das dreifach abgewandelt, für jede der drei Gewerkschaften passend. Ein Trainingscamp für Verhandler.

Der intuitive Verhandlungsstil vieler Beteiligter war nicht mehr in der Lage, die zunehmende Komplexität zu bewältigen. Eskalierende Konflikte endeten gerne in schlechten Lösungen. Es war greifbar, dass Verhandlungsführung und Konfliktlösung einen Professionalisierungsschub benötigen. Zunehmend integrierte ich die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Verhandlungsforschung in meine Arbeit. Zusätzlich hielt ich mich fit durch regelmäßige Verhandlungstrainings an der ESMT Berlin und der Harvard University. Für effektives Verhandeln ist es wichtig, Wissenschaft und Praxis zusammenzubringen. Die empirische Verhandlungsforschung hält spannende Erkenntnisse bereit. Sie klärt uns über systematische Denkfehler auf und ermittelt, welche Strategien erfolgversprechend sind. Ich werde diese Erkenntnisse an zahlreichen Stellen in diesem Buch einfließen lassen. Auf der anderen Seite ist die wissenschaftliche Landkarte des Verhandelns weiß, mit wenigen bunten Flecken. Deshalb ist es wichtig, das wissenschaftliche Fundament mit praktischer Führungserfahrung bei anspruchsvollen Verhandlungen zu ergänzen. Die hier vorgestellten Prinzipien konnte ich als Verhandlungsführer und Berater nicht nur bei Tarifverhandlungen erfolgreich einsetzen. Auch beim strategischen Einkauf, internationalen Joint Ventures oder bei Verhandlungen von Überflugrechten gelang uns damit immer wieder der Durchbruch.

Für wen ist dieses Buch?

Leitbild für dieses Buch ist die geschäftliche Teamverhandlung im komplexen Umfeld. Sie ist heute die Normalität von Managern in mittleren und großen Organisationen. Die hier vorgestellten Prinzipien geben Ihnen aber auch in Ihren privaten oder in politischen Verhandlungen Orientierung. Zahlreiche Tipps helfen Ihnen auch, wenn Sie allein verhandeln. Oder wenn das Thema nicht so komplex ist, etwa bei reinen Preisverhandlungen.

Wenn ich im Folgenden vom Verhandlungsführer spreche, gehe ich von einem Idealbild aus. In diesem Bild ist der Verhandlungsführer zugleich Architekt des Prozesses, Designer der Lösung und Moderator am Tisch. Verhandeln wir im Team, kann es sein, dass wir nur für Teile dieser Aufgaben verantwortlich sind. Dieses Buch richtet sich genauso an Sie. Viele Ratschläge und Strategien sind unmittelbar für Sie anwendbar. Zudem ist es für jedes Teammitglied nützlich, sich in die Perspektive des Verhandlungsführers zu versetzen. Zur besseren Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch meist die männliche Form. Dieses Buch richtet sich natürlich auch an Verhandlungsführerinnen. Zum Glück gibt es davon immer mehr. In meiner Praxis durfte ich viel von Verhandlerinnen lernen. Diese Erkenntnisse sind in dieses Buch eingeflossen. Die Strategien und Werkzeuge dieses Buches sind geschlechtsneutral.

Was können wir von Piloten über das Verhandeln lernen?

Diese Frage mag Sie auf den ersten Blick überraschen. Doch manchmal ist es sinnvoll, Themen ins Verhältnis zu setzen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Mir liegt die Professionalisierung der Verhandlungsführung am Herzen.

Was die Professionalisierung anbelangt, könnte die Diskrepanz zwischen Piloten und Verhandlungsführern nicht größer sein. Piloten werden selektiv ausgewählt, systematisch geschult und trainieren regelmäßig im Simulator. Sie arbeiten in einem hochstrukturierten Umfeld mit festen Routinen und Checklisten. Das gibt ihnen Kapazität, um in Drucksituationen besonnen zu agieren und zu entscheiden. Das würde ich mir bei professionellen Verhandlern ebenfalls wünschen. Deshalb habe ich mir angesehen, was Verhandlungsführer von Piloten lernen können. Mir kam zugute, dass ich auf die Expertise meiner Frau zurückgreifen konnte, die A-380-Pilotin ist. Außerdem verhandelte ich bei Lufthansa viele Jahre mit Vertretern der Vereinigung Cockpit. Manche behaupten, die kleine Berufsgewerkschaft sei die härteste Gewerkschaft der Welt. Diese Erkenntnisse sind in mehreren Info-Boxen über das Buch verteilt dargestellt und in den jeweiligen Verhandlungskontext eingebettet.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Im ersten Teil sehen wir uns die Grundlagen an, die wichtig sind, um Verhandlungsflow zu erzeugen.

Seit den ersten wissenschaftlich fundierten Ratgebern zum Thema Verhandeln hat sich viel getan. Ich habe für Sie als Serviceleistung in Kapitel 1.1 die Essenz des modernen Verhandlungswissens kurz zusammengefasst. Diese Basistipps bilden das Fundament dieses Buchs. Vielleicht bringen Sie noch keine Vorkenntnisse mit. Dann bietet Ihnen diese Zusammenfassung die Gelegenheit, sich in aller Kürze auf den aktuellen Stand zu bringen. Die Vorlektüre anderer Ratgeber ist dadurch entbehrlich. Sofern Sie Vorwissen mitbringen, genügt es, kurz die Überschriften zu überfliegen. Bei Bedarf vertiefen Sie den ein oder anderen Punkt.

In Teil 1.2 beschäftigen wir uns mit dem Ablauf von Verhandlungen. Verhandeln nach Rezept funktioniert nicht. Verhandlungen sind ein iterativer Prozess, bei dem Sie sich in mehreren Schleifen dem Ergebnis nähern. Ich räume mit den Mythen auf, die verhindern, dass Sie das Potenzial des Augenblicks in Ihren Verhandlungen voll ausschöpfen.

Zum Abschluss des ersten Teils gebe ich Ihnen in Kapitel 1.3 Denkanstöße für eine produktive Haltung zum Verhandeln. Ich rate zu einem optimistischen Blick auf die außergewöhnliche Fähigkeit des Menschen, gemeinsam Problem zu lösen. Wie vertiefen die Frage, wie Sie in den Verhandlungsflow kommen.

Im zweiten Teil des Buchs führe ich Sie in die sieben Prinzipien erfolgreichen Verhandelns ein. Ich gebe Ihnen mit den Prinzipien einen Kompass an die Hand, mit dem Sie sicher durch Ihre eigenen Verhandlungen navigieren. Wenn Sie diesen Prinzipien folgen, erhöhen Sie Ihre Chancen, in den Verhandlungsflow zu kommen. Zu Beginn jedes Prinzips stelle ich typische Fehler dar, die ich erlebte. Am Ende jedes Prinzips fasse ich seinen Inhalt in Form einer Checkliste zusammen. Damit können Sie vor einer Verhandlung überprüfen, ob Sie gut aufgestellt sind, oder bei Verhandlungen in der Krise Ideen entwickeln, wie Sie Auftrieb erzeugen.

Die Prinzipien habe ich aus Defiziten abgeleitet, die mir regelmäßig beim Verhandeln begegnen:

Prinzip der Nutzenoptimierung: Wir treten nicht ambitioniert genug für unsere Interessen ein, und interessieren uns zu wenig für den Nutzen unserer Partner (Kapitel 2.1).

Prinzip der Informiertheit: Wir sammeln nicht akribisch und strukturiert genug wichtige Informationen (Kapitel 2.2).

Prinzip der Führung: Wir sind zu passiv bei der Gestaltung des Verhandlungsprozesses, und agieren zu wenig abseits des Verhandlungstisches (Kapitel 2.3).

Prinzip der Zusammenarbeit: Wir nutzen zu wenig das Potenzial, das durch zusammenarbeiten beim Verhandeln entsteht (Kapitel 2.4).

Prinzip der Zweigleisigkeit: Wir halten zu wenig aus, in mehrere Richtungen gleichzeitig zu denken und zu handeln (Kapitel 2.5).

Prinzip der Rationalität: Wir fallen zu viel auf Denkfehler herein und regulieren unsere Emotionen zu wenig (Kapitel 2.6).

Prinzip der Kreativität: Wir sind zu wenig kreativ beim Verhandeln (Kapitel 2.7).

Im dritten Teil sehen wir uns fünf besondere Situationen an, die nicht in jeder, aber in vielen Verhandlungen bedeutsam sind.

Wir legen uns Strategien für Sackgassen in Verhandlungen (Kapitel 3.1) und für schwierige Partner (Kapitel 3.2) zurecht. Im Kapitel 3.2 beschäftigen wir uns auch damit, welchen Einfluss der Verhandlungsstil des US-Präsidenten Donald Trump auf die heutige Verhandlungskultur hat. Ich statte Sie mit Profiwissen aus, um Verhandlungen für Dritte (Kapitel 3.3.) und im Team (Kapitel 3.4) erfolgreich zu meistern. Kapitel 3.5. beschäftigt sich mit den besonderen Gesetzen des elektronischen Verhandelns per Webkonferenz.

Im Abschlusskapitel (Kapitel 4) beantworte ich die Frage, wie Sie das Wissen dieses Buches optimal anwenden, damit Sie zum Verhandlungsprofi werden und dabei so oft wie möglich Flow erleben.

1 Ready for Departure: Mit Verhandlungslust und Professionalität zu besseren Lösungen

Zwei Elemente fehlen bei vielen anspruchsvollen Verhandlungen. Das erste Element ist Lust auf Konflikt und vor allem Lust auf gute Konfliktlösung. Verhandeln ist ein schöpferischer Akt, den es zu zelebrieren gilt. Darauf möchte ich Ihnen Lust machen. Das zweite Element, das ich vermisse, ist Professionalität. Selbst wenn es um zwei- oder dreistellige Millionenbeträge oder um 10 000 Existenzen geht, unterscheiden sich die Verhandlungsstrategien und -techniken kaum von einer einfachen Basarverhandlung oder einem Gebrauchtwagenkauf. Die Zeit ist gekommen, dies grundlegend zu ändern. Die Werkzeuge sind vorhanden, jetzt müssen wir sie in unseren Verhandlungsalltag integrieren.

Bevor wir uns die Prinzipien erfolgreichen Verhandelns ansehen, möchte ich mit Ihnen das Grundsätzliche klären. Drei Aspekte halte ich für wesentlich. Zwar ist dies ein Buch für fortgeschrittene Verhandlungen. Als Serviceleistung vermittle ich Ihnen dennoch das erforderliche Grundwissen komprimiert in Form von zwölf Verhandlungstipps.

Verhandlungen sind eine iterative und komplexe soziale Interaktion. Die meisten Verhandelnden stellen sich allerdings einen einfachen chronologischen Verhandlungsablauf vor. Wir räumen mit vier Mythen zum Ablauf von Verhandlungen auf, um Sie mit einem breiten Blick für Ihre zukünftigen Verhandlungen auszustatten.

Zuletzt beschäftigen wir uns mit der Frage, wie eine produktive Haltung zu Verhandlungen und zur Konfliktlösung aussieht, und lüften das Geheimnis, wie Sie in den Verhandlungsflow gelangen.

1.1 Fundament: Bauen Sie auf die Grundlagen modernen Verhandelns

Nur bei 30 Prozent der deutschen Manager, die Verhandlungen führen, war Verhandeln Teil der Ausbildung. Gerade einmal 38 Prozent der deutschen Unternehmen geben ihren Verhandlungsführern überhaupt irgendeine Hilfestellung bei der Übernahme von Verhandlungsaufgaben.1 Dennoch erkenne ich bei vielen Verhandlungsteams mittlerweile ein gewisses Verhandlungs-Grundwissen. Jeder, der anspruchsvoll verhandelt, sollte über gefestigte und zuverlässige Grundlagen moderner Verhandlungsführung verfügen. Allein schon, um auf Augenhöhe mit seinen Vorgesetzten, Partnern und Teams zu sein und eine gemeinsame »Verhandlungssprache« zu sprechen. Ich ziehe diese Grundlagen bewusst vor die Klammer, damit wir in den folgenden Kapiteln auf einer gemeinsamen Basis aufsetzen. Sofern eine Vertiefung einzelner Aspekte für den praktischen Verhandlungserfolg relevant ist, werde ich die Konzepte in Teil 2 und 3 praxisnah aufgreifen. Sollten Sie bereits Vorkenntnisse haben, können Sie die folgenden zwölf Basics getrost überfliegen.

In der Praxis stelle ich fest, dass nur die Schlagworte der Verhandlungssprache hängen geblieben sind, echtes Verständnis der Konzepte oder gar die Einordnung in einen strategischen Gesamtkontext erlebe ich selten. Deshalb gebe ich zusätzlich Hinweise zu üblichen Fehlern und der strategischen Bedeutung im gesamten Verhandlungskontext.

1. Schätzen Sie die Verhandlungssituation anhand von BATNA, Rückzugspunkt und ZOPA ein

Die folgenden drei Begriffe der Verhandlungsanalyse benötigen Sie in jeder Verhandlung. Sie wurden anhand von Preisverhandlungen entwickelt. Die Konzepte sind aber auf jede Verhandlung übertragbar.

Arbeiten Sie an der besten Alternative zur Ihrer Verhandlungslösung (»BATNA«). Die Abkürzung BATNA steht für »Best Alternative to Negotiated Agreement«. Gemeint ist damit die beste Alternativoption, die zur Verfügung steht, falls sich die Partner nicht einigen können. Wenn ein Kandidat für eine ausgeschriebene Stelle von Ihnen 100 000 Euro Jahresgehalt fordert, Sie aber bereits zuvor 90 000 Euro mit einem gleichwertigen Kandidaten verhandelt haben, dann haben Sie eine starke Verhandlungsposition, da Ihre BATNA besser ist. Die BATNA ist gut für Ihre Klarheit im Denken. Bei Verhandlungen sind Sie sind umso mächtiger, je besser Ihre Alternativen sind. Ihrem Verhandlungspartner geht es genauso. Deshalb lautet die Maxime: Verbessern Sie Ihre eigenen Alternativen und beeinflussen Sie die Alternativen Ihres Partners, sofern möglich.

In der Praxis ist häufig das Problem, das die BATNA beider Seiten nicht klar ist. Entweder weil die Bestimmung anspruchsvoll ist oder weil die entsprechenden Informationen zur Bestimmung nicht vorliegen. Wann hatten Sie bei einer Stellenbesetzung wirklich zwei gleichwertige Kandidaten, die direkt miteinander vergleichbar sind? Wie gehen Sie damit um, wenn Ihr Bewerber behauptet, er habe ein besseres Angebot eines anderen Unternehmens? Wobei Sie sich nicht sicher sind, ob das wirklich stimmt. Nicht immer ist die Suche nach Alternativen einfach. Denken Sie an Verhandlungen mit einem Monopolisten. Wenn sie als Airline an Ihr Drehkreuz gebunden und mit den Flughafengebühren nicht einverstanden sind, können Sie Ihre Flugzeuge und Mitarbeiter nicht ohne Weiteres an einen anderen Flughafen verschieben, mit dem Sie einen besseren alternativen Deal abgeschlossen haben. Die vorliegenden Alternativen sind häufig nicht wirklich gleichwertig. Dann müssen Sie abwägen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass die BATNA zwar eine wichtige Quelle von Verhandlungsmacht ist, allerdings nicht die einzige. Wir werden das Thema im Kapitel 2.3 unter »Stärken Sie Ihre Verhandlungsmacht« vertiefen.

Ein wichtiger Hinweis zur BATNA: Bei der BATNA geht es nicht um Wunschdenken, sondern um eine realistische, faktenbasierte Einschätzung, was Sie tun können, wenn Sie sich nicht am Verhandlungstisch einigen. Dies wird von vielen Verhandlungsführern nicht so gehandhabt. Dann wähnen sie sich in zu großer Sicherheit und versuchen, zu hohe Forderungen am Verhandlungstisch durchzusetzen. Falls die Verhandlungen scheitern, wird die BATNA den überoptimistischen Erwartungen in aller Regel nicht gerecht.

Bestimmen Sie Ihren Rückzugspunkt. Eng verwandt mit der BATNA ist der Rückzugspunkt. Er wird auch »walk-away«, »bottom-line« oder Reservationspunkt genannt. Unterschreitet oder überschreitet ein Lösungsvorschlag diesen gesetzten Wert, dann ist der Verhandlungsführer nicht bereit, sich zu einigen. Wenn Sie ein besseres Angebot für eine vergleichbare Alternative haben, dann bestimmt dieses Angebot Ihren Rückzugspunkt. Bietet Ihnen zum Beispiel ein Headhunter einen Job an, der mit Ihrer aktuellen Stelle vergleichbar ist, dann ist ihr Rückzugspunkt ihr aktuelles Gehalt, darunter wechseln Sie nicht. Allerdings: Die Realität ist komplizierter. Sie werden sich bei einem Jobangebot wahrscheinlich nicht nur auf das Grundgehalt fixieren, sondern zusätzlich andere Themen wie Bonus, Altersversorgung, Dienstwagen, Verantwortung, Chef, Risiko, Titel oder Unternehmenskultur einpreisen. Dann benötigen Sie ein Scoring-System2, um den Rückzugspunkt präzise zu bestimmen. Jedem Thema und jeder Lösungsoption innerhalb eines Themas wird ein Punktwert zugeordnet, um verschiedene Themen miteinander vergleichbar zu machen. Selbst wenn es keine oder unklare Alternativen gibt, ist es sinnvoll, einen Rückzugspunkt zu setzen. Wenn Sie im Auftrag handeln, dann macht Ihnen Ihr Auftraggeber eine Vorgabe zum Rückzugspunkt. Oder Sie möchten sich ein Limit setzen, bei dem Sie die Verhandlungen unterbrechen und nochmals allein, mit Ihrem Team oder Ihrem Auftraggeber über die weitere Strategie nachdenken.

Zu nichts wird in Verhandlungen mehr gelogen als zum eigenen Rückzugspunkt. Konventionelle Verhandlungsführer verwenden sehr viel Energie darauf, die Vorstellung ihrer Verhandlungspartner zum eigenen Rückzugspunkt zu manipulieren. Seien Sie deshalb vorsichtig mit diesen Informationen und überprüfen Sie sie. Ob Sie sich selbst an diesen Manipulationen beteiligen sollten, erörtern wir später. So viel vorab: Ich rate davon ab.

Analysieren Sie, ob es für Ihre Verhandlung einen Lösungsraum gibt (»ZOPA«). Aus den Rückzugspunkten der beiden Verhandlungsführer entsteht die sogenannte ZOPA, die »Zone of Possible Agreement.« Andere Namen hierfür sind der Lösungsraum oder die Verhandlungszone. Im Lösungsraum befinden sich alle Verhandlungsergebnisse, die für beide Seiten akzeptabel sind. Der Lösungsraum spannt sich dann auf, wenn sich die beiden Rückzugspunkte überlappen. Ein einfaches Beispiel veranschaulicht das (siehe Abbildung 1): Wenn Sie bereit sind, einem Kandidaten höchstens 130 000 Euro Jahresgehalt zu bezahlen, und er bereit ist, 100 000 Euro als Minimum zu akzeptieren, dann entsteht eine ZOPA zwischen 100 000 und 130 000 Euro. Sind Sie aber nur bereit, 90 000 Euro zu bezahlen, dann ist kein Lösungsraum vorhanden. Der Fachbegriff für diesen Zustand lautet »NOPA«3 für »No Possible Agreement.«

Abbildung 1: Zone of Possible Agreement («ZOPA«)

Ein Hinweis zum Abschluss: BATNA und ZOPA sind hilfreiche Modelle, um Verhandlungen zu analysieren. Sie eignen sich nur eingeschränkt als echte Verhandlungswerkzeuge. In komplexeren geschäftlichen Verhandlungen habe ich nur vereinzelt Berechnungen zur eigenen BATNA, geschweige denn zur BATNA der anderen Seite gesehen. Häufig fehlt es an Know-how, Wissen und Zeit hierzu. Sofern Sie über gute Informationen und Analytiker verfügen, können BATNA-Berechnungen ein entscheidender Vorteil Ihrer Seite sein. Besonders komplex werden BATNA-Überlegungen, wenn mehr als zwei Parteien miteinander verhandeln, da sich die BATNAs dann dynamisch verändern.

2. Ankern Sie richtig und planen Sie Ihre Konzessionen

Der bekannteste Denkfehler bei Verhandlungen ist der Ankereffekt.4 Er ist für jede Verhandlungen relevant. Seine Grundlagen müssen sitzen. Nach Hunderten von Verhandlungssimulationen mit Studenten und Praktikern ist mir klar, dass man die Wirkungen des Ankerns nicht überschätzen kann. Worum geht es? Das erste Angebot oder die erste Forderung nennen wir Anker. Wer zuerst ankert, beeinflusst die weitere Verhandlung in Richtung seines Ankers. Das ist zwar irrational, aber systematisch nachweisbar. Anker wirken stärker, wenn die ZOPA unklar ist. Besonders gut funktioniert das Ankern mit Zahlen. Aber auch andere Inhalte unterliegen dem Ankereffekt. Dies haben zahlreiche Studien ergeben: Der Ankereffekt ist sehr robust, selbst Experten sind betroffen.5

Stellen Sie sich vor, dass Sie sich auf eine Stelle beworben haben. Sie finden den Job inhaltlich spannend, aber Ihnen liegen noch keine Informationen zum Gehalt vor. Insgeheim malen Sie sich aus, ein Jahresgehalt von 120 000 Euro zu verhandeln. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Sie sich vom ersten Angebot des Arbeitgebers von 70 000 Euro so beindrucken lassen, dass Ihr Gegenvorschlag weit von den vorgestellten 120 000 Euro entfernt liegt. Der Ankereffekt hat zugeschlagen.

Beherrschen Sie die Grundlagen des Ankereffekts. Trotz allen Wissens um den Ankereffekt sollten Sie mit schnellen Angeboten vorsichtig sein. Mit dem ersten Angebot endet die Phase der gemeinsamen Informationsgewinnung. Beenden Sie die Phase zu früh, fehlen möglicherweise wichtige Informationen für intelligente Lösungen. Zusätzlich schaffen Sie eine Atmosphäre der Rivalität. Kooperationsgewinne lassen sich dann nur noch schwerlich heben. Ankern Sie nur, wenn Sie mehr über den Lösungsraum wissen als die andere Seite. Sonst geht es Ihnen wie dem Beatles-Manager Epstein, der sich zwar im Platten-Business gut auskannte. Beim ersten Film der Beatles ankerte er allerdings die Filmstudiomanager »hart« mit einer Forderung nach 7,5 Prozent Honorarbeteiligung an den Erlösen. Bei Plattenverträgen waren 5 Prozent Honorarbeteiligung üblich. Anders als die Filmstudiomanager wusste er nicht, dass bei Filmen 20–25 Prozent Honorar der Standard waren.6

Sitzen auf beiden Seiten Profis mit guten Informationen zum Lösungsraum, fällt der Ankereffekt geringer aus. Dann wirkt Ankern unter Umständen manipulativ und unfair.

Was können Sie tun, wenn Sie weniger über den Lösungsraum wissen als die andere Seite? Eine Möglichkeit ist, »elegant-aggressiv« zu ankern. Wenn Sie zum Beispiel 110 000 Euro Gehalt für möglich halten, Ihnen im Übrigen aber keine genauen Informationen zum möglichen Gehalt vorliegen, könnten Sie ein Nichtangebot unterbreiten: »Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Ich gehe davon aus, dass man mit meinen Qualifikationen bei Ihnen zwischen 130 000 und 150 000 Euro verdienen kann.« Damit stehen die genannten Zahlen im Raum. Der Ankereffekt wirkt unweigerlich. Dennoch täuschen Sie Ihren Partner nicht über alternative Angebote oder Ähnliches.

Haben Sie schlechtere Informationen zum Rückzugspunkt, müssen Sie damit rechnen, zuerst geankert zu werden. Ein erstes Angebot von Ihnen wäre zu riskant. Wenn Sie geankert werden, lauten die drei üblichen Gegenstrategien:

Ignorieren Sie den Anker komplett.

Weisen Sie den Anker scharf zurück und drohen Sie mit Verhandlungsabbruch.

Nehmen Sie sich eine Pause und setzen einen aggressiven Gegenanker.

Eine weitere kluge Möglichkeit ist es, zu Beginn der Verhandlungen eine Spielregel zu etablieren, die verhindert, dass Sie geankert werden: »Lassen Sie uns zuerst intensiv Informationen austauschen. Erst wenn wir uns darauf einigen, dass ein weiterer Informationsaustausch nicht mehr sinnvoll ist, treten wir gemeinsam in die Angebotsphase ein.«

Übrigens können Sie sich selbst ankern. Dies geht einerseits zu Ihrem Nachteil, wenn Sie sich von Ihrem Rückzugspunkt ankern lassen. Gerade wenn Sie im Auftrag verhandeln, gibt der Auftraggeber in der Regel einen Rückzugspunkt vor. Dadurch entsteht die Gefahr, sich als Verhandlungsführer zu stark auf diesen Wert zu fokussieren und sich zu wenig auf das am Verhandlungstisch Mögliche zu konzentrieren. Sie geben sich zu schnell mit einem suboptimalen Ergebnis zufrieden, obwohl die Verhandlung mehr Potenzial gehabt hätte.

Andererseits können Sie sich mit einem ambitionierten Ziel zu Ihrem Nutzen selbst ankern. Es gibt klare wissenschaftliche Belege dafür, dass konkrete und gleichzeitig herausfordernde Verhandlungsziele zu numerisch besseren Verhandlungsergebnissen führen. Dies hat allerdings seinen Preis: Die hochankernden Personen wurden von ihren Verhandlungspartnern als weniger sympathisch eingestuft, die Verhandlungspartner wollen in Zukunft mit ihnen weniger kooperieren.7 Dieses Spannungsverhältnis nennt man »Negotiator’s Dilemma«; wir werden uns in den folgenden Kapiteln mit diesem Spannungsverhältnis aus Durchsetzung und Kooperation näher beschäftigen. Es liegt jeder Verhandlung zugrunde und ist unvermeidlich.

Planen Sie Ihre Zugeständnisse systematisch. Wenn Sie mit einem ersten Angebot oder einer ersten Forderung beginnen, sind Sie meist nicht am Ende. Sie befinden sich mitten in einer Basarverhandlung, Zum kleinen Einmaleins des Verhandelns zählt, die auf den ersten Anker folgenden Konzessionsschritte systematisch zu planen: Betonen Sie dabei Ihre Zugeständnisse deutlich, Sie werden von Ihrem Verhandlungspartner systematisch unterschätzt. In einem klassischen Basar-Setup sollten Ihre Zugeständnisse Schritt für Schritt kleiner werden. Damit signalisieren Sie der anderen Seite: Wir nähern uns meinem Rückzugspunkt. Ob das wirklich stimmt, ist eine andere Frage.

Die allgemeine Empfehlung lautet: Bieten Sie niemals gegen sich selbst. Sobald Sie ein Zugeständnis gemacht haben, warten Sie, bis es die andere Seite erwidert. Warten Sie so lange, bis es die andere Seite nicht mehr aushält. Genügt das nicht, signalisieren Sie der anderen Seite, wie sie erwidern könnte. Notfalls thematisieren Sie ausführlich, dass nun die andere Seite am Zug ist.

Wenn Sie es eilig haben und es vor allem um Preise geht, ist das Ackerman-System8 eine hilfreiche Stütze, um Ihre Zugeständnisse systematisch zu planen: Ausgangspunkt ist Ihr Zielpreis. Diesem nähern Sie sich in drei Schritten: mit einem 65-Prozent-, 85-Prozent- und 95-Prozent-Angebot beziehungsweise einer spiegelbildlichen Forderung (135 Prozent/115 Prozent/105 Prozent). Wenn Sie für einen Gebrauchtwagen nach ordentlicher Marktrecherche 20 000 Euro bezahlen möchten, steigen Sie in der Logik des Ackerman-Systems mit 13 000 Euro ein. »Eigentlich wollte ich nicht mehr als 13 000 Euro ausgeben.« Warten Sie ab, was passiert. Bieten Sie nicht gegen sich selbst. Der nächste Schritt nach dem Gegenangebot Ihres Verhandlungspartners wäre, 17 000 Euro anzubieten. Warten Sie wieder ab, bis Ihr Partner ein Gegenangebot unterbreitet. Schließlich bieten Sie 19 000 Euro als 95-Prozent-Angebot an. »Damit ist meine Schmerzgrenze erreicht.« In der Logik des Systems ist alles in Stellung gebracht, um bei 20 000 Euro zu landen.

Mit dem Ackerman-System ist ein ordentlicher Ankereffekt verbunden. Gleichzeitig sind bereits abnehmende Konzessionsschritte eingebaut. Das System ist als Daumenregel zu verstehen. Jegliche schematische Anwendung verbietet sich für den Profi.

Ein Laientrick ist es, dem 100-Prozent-Angebot eine ungerade Zahl hinzufügen (zum Beispiel 20 133 Euro für den Gebrauchtwagen), um zu signalisieren, dass Sie Ihren letzten Spielraum ausgeschöpft haben und Ihre Hosentaschen geleert sind. Aber Vorsicht: Unter Profis kann das leicht lächerlich wirken.

Jeder Verhandler sollte die Grundlagen des Ankerns und der Konzessionsschritte kennen. Dabei handelt es sich um reine Verteilungstaktiken. Mit fortgeschrittenen Verhandlungsstrategien hat das noch nichts zu tun.

3. Beachten Sie beim Verhandeln Inhalts-, Beziehungs- und Prozessebene

Am Ende meiner Trainings bitte ich die Teilnehmer, eine Sache zu notieren, die sie beim Verhandeln verändern werden. Eine Einsicht führen die Teilnehmer besonders häufig an: Steuern Sie Verhandlungen stets auf den drei Ebenen Inhalt, Beziehung und Prozess.9 Die häufige Nennung verwundert mich nicht. In dieser Struktur liegt viel Weisheit.

Worum es sich beim Inhalt handelt, ist klar. Es geht um den Gegenstand des Verhandelns und den möglichen Deal, auf den man sich einigen möchte. Der Inhalt stellt sich von allein in den Vordergrund. Auf der Inhaltsebene gilt es, den komplexen Sachverhalt zu strukturieren und mittels kluger Lösungen Wert zu schaffen.

Die Kernaussage für die Beziehungsebene lautet: Sie verhandeln immer auch Ihre Beziehung mit Ihrem Verhandlungspartner. Das ist ein weites Feld. Im Verhandlungsjargon verwenden wir den französischen Begriff »Rapport«. »Rapport« bedeutet Beziehung oder Verbindung. Es geht um den Faktor Mensch, um die an den Verhandlungen beteiligten Personen. Deren Emotionen, Grundbedürfnisse und Kommunikation »at the table«10 stehen im Vordergrund. Ebenso die Frage, ob sich die Partner vertrauen. Eine Empfehlung des Harvard-Konzeptes dazu lautet, die Beziehung und die Inhalte zu trennen. Beide Felder sollen die Verhandelnden bearbeiten. Allerdings nicht gleichzeitig, sondern hintereinander. Immer wenn Sie besonders hart auf der Sachebene sein müssen, sollten Sie sich besonders intensiv um die Beziehungsebene kümmern. Erliegen Sie nicht der Versuchung, durch inhaltliches Nachgeben die Beziehung zu verbessern. Ein Tiger wird nicht Vegetarier, nur weil Sie ihm ein Stück Fleisch hinwerfen. Kaufen Sie sich nicht mit Geld Zuneigung. Das führt beim Gegenüber zu falschen Anreizen und Lerneffekten.

Die dritte Ebene einer Verhandlung ist die Prozessebene. Sowohl der gesamte Verhandlungsablauf als auch das einzelne Gespräch haben eine zeitliche Dimension, die zu beachten sich lohnt. Vereinbaren Sie diese Phasen mit Ihrem Partner. Sie stellen sich nicht von selbst ein. Je nach Phase gilt es, bestimmte Dinge zu tun beziehungsweise zu unterlassen. Auch hierüber verhandeln Sie mit Ihren Partnern. Dies nennt man Verhandlungsverträge11, von denen es während einer Verhandlung mehrere geben kann. Gelingt es nicht, den Verhandlungsprozess zu strukturieren, geraten die Partner schnell in den sogenannte Basarstil, den die Experten intuitives Verhandeln nennen. Dieser Stil hat bei komplexen Verhandlungen Nachteile, weil Werte auf dem Tisch liegen bleiben, ist aber nicht immer zu vermeiden.12 Nicht jeder Prozessschritt einer Verhandlung findet in Anwesenheit der Partner statt. Gerade die Phasen ohne den Partner »away from the table«13 sind wesentlich: Welche Strategien und Ziele verfolgen Sie? Welche Informationen können Sie anderweitig sammeln? Arbeiten Sie an Ihrem Plan B?

Ob Sie mit leichten oder schweren Themen einsteigen, hängt von der jeweiligen Situation ab. Grundsätzlich ist es sinnvoll, mit einer einfacheren Fingerübung zu beginnen, um Arbeitsvertrauen aufzubauen. Allerdings sollten Sie nicht zu viel Zeit mit simplen Themen verschwenden, wenn es schwierige Themen gibt, die aus dem Weg zu räumen sind.

Eine weitere klassische Frage zum Prozess lautet: Sollen Sie die Themen besser nacheinander (= sequenziell) oder gleichzeitig (= parallel) verhandeln? Es ist tatsächlich nur möglich, Themen hintereinander zu besprechen. Wichtig ist aber der Hinweis zu Beginn, dass nichts vereinbart ist, bevor alles vereinbart ist. Das ermöglicht Ihnen am Ende zwischen verschiedenen Themen zu tauschen. Sind einzelne Themen für die Partner unterschiedlich wichtig, können sie durch geschicktes Tauschen Mehrwert schaffen. Dies nennt man auch »Trade-offs.« Sie tauschen Inhalte, die für Sie wichtig und Ihren Partner unwichtig sind, gegen Themen, die für Sie unwichtig und Ihren Partner wichtig sind. Stellen Sie sich vor, Sie verhandeln mit einem neuen Mitarbeiter um seinen Arbeitsvertrag. Es geht um Gehalt, Urlaub und Weiterbildung. Einigen Sie sich zuerst auf Gehalt und Urlaub, dann sind womöglich Ihre Spielräume für besondere Weiterbildungswünsche gering. Eigentlich wäre es für Sie von Vorteil, dem Mitarbeiter die Weiterbildung zu bezahlen und dafür weniger Gehalt aufzuwenden. Nicht hilfreich ist, wenn dies der Mitarbeiter so empfindet, als würden Sie wieder etwas vom Tisch ziehen. Deshalb empfehle ich Ihnen, so einzusteigen: »Lassen Sie uns durch die einzelnen Themen gehen und wir schauen jeweils, ob wir einen Lösungskorridor beschreiben können. Am Ende betrachten wir das Gesamtpaket und sehen, ob wir schon die optimale Lösung für beide Seiten gefunden haben. Ich würde vorschlagen, dass nichts vereinbart ist, bevor alles vereinbart ist. Ist das okay für Sie?«

Die Kernaussage dieses Tipps ist, dass Sie während des gesamten Verhandlungsprozesses die drei Ebenen Inhalt, Beziehung und Prozess beobachten, steuern und verhandeln. Trennen Sie im Verhandlungsgespräch deutlich die drei Ebenen. Die andere Seite sollte immer verstehen, auf welcher Ebene Sie sich gerade befinden. Das verhindert Missverständnisse. Immer wenn Sie auf einer Ebene im Gespräch nicht weiterkommen, ist es klug, auf eine andere Ebene zu wechseln. Kommen Sie in der Sache nicht weiter, wechseln Sie auf die Beziehungsebene: »Ich schlage vor, eine Pause zu machen. Danach könnten wir die Inhalte kurz ruhen lassen und darüber sprechen, wie wir unsere Kommunikation besser gestalten. Ich habe den Eindruck, dass es noch zu vielen Missverständnissen kommt.« Funktioniert auch das nicht, retten Sie sich im nächsten Schritt auf die Prozessebene: »Ich glaube, wir drehen uns im Kreis. Wie würden Sie es finden, wenn wir nach der Mittagspause zunächst den Experten XY gemeinsam befragen? Danach könnten wir Ihnen unseren Vorschlag für eine Formulierung zum Thema Z vorstellen. Zum Abschluss für heute könnten wir die nächsten Schritte vereinbaren.«

4. Kennen Sie die fünf Konfliktmodi?

Mit den fünf klassischen Konfliktmodi vertraut zu sein, ist eine wesentliche Grundlage für jeden Verhandlungsführer. Sie geben Ihnen eine Sprache, um Verhandlungen zu analysieren und strategische Entscheidungen zu fällen. Die Gelehrten streiten sich, ob es sich um Strategien, Verhalten, Stile oder Absichten handelt.14 Diese Einteilung ist nicht entscheidend. Die Matrix kann variabel für unterschiedliche Zwecke verwendet werden. Führen Sie sich stets vor Augen, dass es sich lediglich um ein Modell handelt, das im Verhandlungsalltag nützlich ist. Worum geht es?

Auf den ersten Blick steht bei einem Konflikt die Fähigkeit im Mittelpunkt, sich durchzusetzen. Erweitert man diese übliche, aber zu enge Sichtweise um eine weitere Dimension, nämlich um die Bereitschaft zu kooperieren, können Sie unterschiedliches menschliches Verhalten im Konflikt beschreiben.15 Sehen Sie sich folgende Abbildung an:

Abbildung 2: Die fünf Konfliktmodi

Analysieren Sie stets die Durchsetzungs- und die Kooperationsbereitschaft. Das Modell hat zwei Achsen: die Orientierung an eigenen Interessen und die Orientierung an den Interessen des Verhandlungspartners. Jede der Dimensionen kann hoch oder niedrig ausgeprägt sein. Hinzu kommt der Sonderfall Kompromiss. Daraus ergeben sich fünf Konfliktmodi:

Konkurrieren/dominieren: starkes Durchsetzen der eigenen Ziele bei schwacher Kooperation

Entgegenkommen/nachgeben: schwaches Durchsetzen der eigenen Ziele bei hoher Bereitschaft zur Kooperation

Kompromisse eingehen: liegt zwischen Konkurrieren und Entgegenkommen. Jede Seite setzt sich ein wenig durch und gibt ein wenig nach.

Vermeiden/gleichgültig sein: Sie setzen sich weder durch, noch kooperieren Sie.

Zusammenarbeiten/integrieren: Sie setzen Ihre Ziele durch und kooperieren gleichzeitig mit der anderen Seite. Dies ist die Aufwendigste der fünf Disziplinen.

Was können Sie mit diesem Modell konkret tun? Zunächst finden Sie für sich selbst und Ihr Team heraus, ob Sie einen Stil bevorzugen. Das können Sie mit dem »Thomas-Kilman Conflict Mode Instrument«, dem sogenannten TKI, ermitteln. Das TKI ist online verfügbar und ohne weitere Hilfe durchführbar. Wichtig ist, mit dem Ergebnis spielerisch umzugehen. Je nach vorgestellter Situation und Lebensphase verändert sich das Ergebnis. Das Ergebnis des Tests gibt Ihnen eine erste Indikation und einen guten Anlass, über Ihr Konfliktverhalten nachzudenken. Hervorzuheben ist: Es gibt keinen guten oder schlechten Konfliktstil. Jeder Stil hat in bestimmten Situationen seine Berechtigung. Beispielsweise kann Konfliktvermeidung verhindern, dass Sie unnötig Zeit mit Themen geringer Priorität verschwenden. Nachgeben ergibt Sinn, wenn es darum geht, ein erstes positives Signal zu setzen. Oder Verluste durch einen Konflikt zu minimieren und ein schnelles Ende zu finden.16 Das Ziel des professionellen Verhandlungsführers ist, sein Verhaltensrepertoire beim Verhandeln zu erweitern. Das bedeutet, jeden Modus zu beherrschen und passend zur Situation einzusetzen. Im Rahmen dieses Lernprozesses gilt es zwei Herausforderungen zu meistern: Entwickeln Sie zunächst ein Gefühl dafür, in welcher Situation welcher Konfliktstil angemessen ist. Legen Sie sich dann Schritt für Schritt Werkzeuge zu, um den für richtig erkannten Stil praktisch umzusetzen.17

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit des Instruments ist, zu analysieren, welchen Konfliktmodus der Partner bevorzugt. Bestimmte Kombinationen wie Konkurrieren-Konkurrieren bergen mehr Sprengstoff in sich als zum Beispiel Zusammenarbeiten-Zusammenarbeiten. Wenn Konkurrieren auf Zusammenarbeiten stößt, ist besondere Vorsicht vonnöten. Andernfalls läuft der Kooperationsbereite Gefahr, ausgebeutet zu werden.

Eine hervorragende Idee ist es, wenn zum Einstieg in eine Verhandlung alle Seiten gemeinsam ihren TKI ermitteln. Allerdings erfordert dies Mut und Vertrauen. Ist eine gemeinsame Ermittlung nicht möglich, versuchen Sie, möglichst viele Informationen über Ihren Partner zu gewinnen und eine Hypothese aufzustellen, welchen Konfliktmodus er im Zweifel bevorzugt. Überprüfen Sie Ihre Hypothese im Rahmen des Verhandlungsgesprächs.

Schöpfen Sie stets das gesamte Repertoire der Konfliktmodi aus. Sie können mit den fünf Konfliktmodi nicht nur individuelle Präferenzen bestimmen, sondern Ihre Strategie für den gesamten Verhandlungsprozess oder ein einzelnes Verhandlungsgespräch festlegen. Geht es in der anstehenden Verhandlung darum, sich durchzusetzen, oder ist auch ein Kompromiss vorstellbar? Planen Sie komplexere Abfolgen: Zeigen Sie der anderen Seite, dass Sie offen sind für eine Zusammenarbeit. Gelingt dies nicht, können Sie die Konfliktbearbeitung abbrechen und Ihre BATNA verfolgen, um dann nach dem Einlenken des Partners zur Zusammenarbeit zurückzukehren. Bedenken Sie, dass jede große Verhandlung aus tausend kleinen Verhandlungen besteht. Auch wenn die Gesamtstrategie von Kooperation geprägt ist, gibt es trotzdem einzelne Punkte, bei denen Sie sich durchsetzen müssen oder bei denen Sie kompromissbereit sein sollten.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie genau es möglich sein soll, sich durchzusetzen und dennoch zu kooperieren. Das werden wir noch intensiv im Kapitel 2.5 im Rahmen des Prinzips der Zweigleisigkeit behandeln. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen Sie mir glauben: Das ist möglich.

5. Stellen Sie effektive Fragen18

In der Praxis gibt es beim Fragen zwischen den Verhandlern Qualitätsunterschiede. Hier lohnt es sich, an sich zu arbeiten. Ich führe zum Beispiel eine Liste, in die ich mir neue effektive Fragen notiere. Verhandlungsführer, die mehr fragen als andere, sind erfolgreicher darin, Potenziale in Verhandlungen zu nutzen.19

Eine gute Frage ist eine Frage, auf die die andere Seite nicht sofort eine Antwort weiß, sondern erst nachdenken muss. Die kognitive Last liegt dann bei Ihrem Partner. Damit versetzen Sie die andere Seite in den Lösungsmodus und geben ihr gleichzeitig das Gefühl, die Situation zu kontrollieren. Eine Daumenregel ist die 70:30-Regel, die besagt, dass Sie 30 Prozent der Verhandlungszeit reden und 70 Prozent zuhören sollten. Das funktioniert nicht, wenn beide Seiten diesem Ratschlag folgen, aber das kommt selten vor.

Wozu dienen die Fragen? Verhandlungen sind ein Informationsspiel. Natürlich recherchieren Sie auch abseits des Verhandlungstisches nach Informationen. Das Verhandlungsgespräch ist allerdings Ihre Chance, Ihre blinden Flecken bei den Themen der anderen Seite zu entdecken. Hier überprüfen Sie Ihre Hypothesen. Das Gespräch ist die Gelegenheit, die Interessen und Präferenzen der anderen Seite zu verstehen.

Stellen Sie nach dem Einstieg als Erster Fragen und lassen Sie die andere Seite sprechen. Keine Sorge, Sie werden Ihre Botschaften noch los. Viele Gesprächspartner hören ohnehin erst richtig zu, wenn sie ihre Botschaften losgeworden sind.

Was ist beim Fragenstellen zu beachten? Als Erstes sollten Sie zwischen offenen und geschlossenen Fragen unterscheiden. Geschlossene Fragen können Sie mit Ja oder Nein beantworten, offene Fragen nicht. »Was ist Ihnen beim Thema Arbeitsbedingungen wichtig?« ist eine offene Frage. »Sind Sie mit unserem Vertragsentwurf einverstanden?« ist eine geschlossene Frage. Offene Fragen leiten Sie mit den W-Fragen ein: was, wann, wer, warum. Beim Verhandeln empfehlen die Experten, offene Fragen zu bevorzugen. Sie sind die Fragen des integrativen Verhandelns. Sie öffnen den Raum für neue Aspekte und liefern Nebeninformationen. Kommt die andere Seite zu relevanten Punkten ins Reden, bleibt der versierte Verhandler dran und unterstützt diesen Energiefluss. Fragen wie »Können Sie dazu etwas mehr erzählen?« oder »Was steht hinter Ihren Überlegungen?« sind in solchen Situationen nützlich.

Geschlossene Fragen haben in bestimmten Situationen ihre Berechtigung. Möchten Sie die andere Seite zu einer Entscheidung bringen, erhöhen Sie den Druck durch eine geschlossene Frage: »Werden Sie unserem Angebot zustimmen?« führt zu einer Ja-Nein-Situation. Sie können den Korridor der Entscheidung durch eine Oder-Frage einengen: »Möchten Sie bei uns lieber im Januar beginnen oder besser im Februar?« Die Möglichkeit, nicht zu beginnen, nennen Sie überhaupt nicht. Eine solche Druckerhöhung ist nicht risikolos. Ihr Gegenüber wird die Neigung verspüren, sich der zunehmenden Verhörsituation zu entziehen. Wägen Sie Risiko und Nutzen in der konkreten Situation ab. Achten Sie darauf, den richtigen Ton zu treffen.

Was ist bei der Tonwahl zu beachten? Hier wird gerne die 7-38-55-Regel20 zitiert. Im Laborexperiment zeigte sich, dass für die positive Wahrnehmung einer Botschaft beim Empfänger nur zu 7 Prozent der Inhalt, aber zu 38 Prozent der Tonfall und 55 Prozent die Körpersprache verantwortlich sind. Nicht umsonst heißt es: »Der Ton macht die Musik.« Bei Fragen, die für die andere Seite schwierig sein könnten, achten Sie ganz bewusst auf Ihre Stimme. Freundliche Gelassenheit ist ein guter Anker für Ihre Stimme, entspannen Sie sich und lächeln Sie innerlich. Falls es hektisch ist, können Sie bewusst mit einer tieferen Stimmlage einsteigen, etwa wie ein nächtlicher Radiomoderator.21 Bitten Sie regelmäßig Ihre Teamkollegen, Ihnen Feedback zu Ihrer Stimme zu geben. Nutzen Sie jede Gelegenheit, sich Ihre Stimme anzuhören, zum Beispiel bei Videoaufnahmen im Rahmen von Trainings.

Das sogenannte Reflecting hilft Ihnen, Ihren Partner im Gesprächsfluss zu halten. Sie wiederholen dazu etwa ein bis vier zusammenhängende Schlüsselwörter der Aussage Ihres Partners. Am Ende dieser Wiederholung heben Sie die Stimme zur Frage. Schweigen Sie und warten die Antwort Ihres Partners ab. Stellen Sie sich vor, ein Jobbewerber sagt zu Ihnen: »Das vorgeschlagene Paket ist für mich noch nicht rund.« Dann können Sie elegant mit einem »Noch nicht rund?« (Stimme anheben) weitere Hintergründe erfahren und den Bewerber am Sprechen halten.

Zum Basiswissen des Verhandlers gehören einige fortgeschrittenere Fragetypen. Eine förderliche Frage ist die sogenannte »Was-wäre-wenn«-Frage. Zum Beispiel: »Was wäre, wenn wir Ihnen vorschlagen würden, Sie nach zwei Jahren guter Leistung beim MBA zu unterstützen?« Die Vorteile: Der Befragte kann eigene Schlussfolgerungen ziehen. Sie können Versuchsballons starten und dadurch etwas über die Prioritäten Ihres Partners lernen.22

Ein weiterer geeigneter Fragentyp sind die zirkulären Fragen. Dabei versuchen Sie, den Partner um die Ecke denken zu lassen. Er nimmt entweder eine Außenperspektive ein oder kann seine Gedanken unter dem Deckmantel eines Dritten äußern. Zwei Beispiele: »Wie würde es Ihre Frau finden, wenn wir vereinbaren, dass Sie zwei Tage die Woche von zu Hause arbeiten?« Oder: »Was glauben Sie, würde das Kartellamt zu Ihrem Vorschlag sagen?«

Um eine ehrliche und ergiebige Antwort auf Ihre Frage zu bekommen, gilt es, den passenden Moment abzuwarten. Statt die Frage beim offiziellen Verhandeln zu stellen, ist es manchmal eine gute Idee, einen informellen Moment zu nutzen. Zum Beispiel an der Kaffeemaschine oder beim Hinausgehen nach Ende der offiziellen Verhandlungen

Noch ein Tipp eines Praktikers: Ich habe viele großartige Fragen in Verhandlungen gehört, ohne jemals die Antwort der anderen Seite zu hören. Warum? Weil der Fragesteller die Stille nicht aushielt und die Lücke mit einer hypothetischen Antwort füllte. Üben Sie gezielt, nach Ihrer Frage zu schweigen, bis die andere Seite antwortet.

6. Hören Sie aktiv zu

Es nützt nichts, gute Fragen zu stellen, wenn Sie danach nicht zuhören. Und doch passiert es uns häufig: Während die andere Seite noch spricht, überlegen wir bereits, was wir als Nächstes sagen. Was können wir tun, um besser zuzuhören?

Als Erstes hilft eine gute Gesprächsvorbereitung. Überlegen Sie sich vor Gesprächsbeginn ihre Kernbotschaften und -fragen und schreiben Sie diese auf einen Spickzettel. Das entlastet Sie während des Verhandlungsgesprächs.

Wenn Sie im Team verhandeln, vergeben Sie an eines Ihrer Teammitglieder die Rolle des »Designated Listeners.«23 Dessen Aufgabe ist es, präzise zuzuhören und mitzuschreiben. Im Übrigen sollten stets alle Teammitglieder das in den Gesprächen Gehörte und Beobachtete notieren und in der Verhandlungspause untereinander austauschen. Achten Sie auf Besonderheiten bei Stimme und Körpersprache. Sie verraten bisweilen, wenn das Gesagte und das Gedachte auseinanderfallen.

Wie hört man aktiv zu? Wenn Sie etwas Wesentliches nicht verstehen, stellen Sie kurze Verständnisfragen. Am besten so lange, bis Sie es verstanden haben. Haben Sie keine Scheu, naiv zu wirken. Das macht Sie weniger perfekt und damit sympathischer. Ich kenne einen Mediator und Verhandlungsexperten, der seine Rückfragen gerne mit: »Ich weiß, ich bin langsamer als andere, aber ich habe es noch nicht verstanden. Könnten Sie es mir bitte nochmals wie einem Sechsjährigen erklären …« einleitet. Das wirkt Wunder. Der Befragte wird Ihnen sein Thema verständlich und klar erläutern. Bitte führen Sie sich an dieser Stelle vor Augen: Es geht beim Verhandeln nicht darum, den anderen durch spitzfindige Fragen aus dem Konzept zu bringen. Wir sind nicht vor Gericht.

Die klassische Methode des aktiven Zuhörens ist das sogenannte Paraphrasieren. Sobald sich die erste natürliche Gelegenheit ergibt, versuchen Sie, mit eigenen Worten die Hauptaussagen Ihres Gesprächspartners kurz zusammenzufassen. Widerstehen Sie der Versuchung, durch strategisches Weglassen oder Betonung für Sie hilfreicher Aspekte die Zusammenfassung zu manipulieren. Das fliegt auf und belastet die Atmosphäre. Formulierung: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Ihnen drei Punkte wichtig: … Habe ich das richtig wiedergegeben?«

Beim aktiven Zuhören gilt ein Bewertungsverbot. Sie hören immer erst zu und geben eine Bewertung – wenn überhaupt – erst in einem späteren Gesprächsabschnitt ab. Sonst ist es ungewiss, dass die andere Seite sich öffnet und der Gesprächsfluss in Gang kommt.

Klar ist auch: Verstehen heißt nicht, einverstanden sein. Nur weil eine Seite versucht, sich in die andere Seite hineinzuversetzen, ist damit nicht alles geklärt.24 Es ist sinnvoll, dies zu Beginn klarzustellen und als Grundregel zu vereinbaren. Das verhindert Missverständnisse.

Wenn Sie deutliche Gefühle bei Ihrem Partner wahrnehmen, während Sie zuhören, kann es hilfreich sein, diese vorsichtig zu benennen: »Vielleicht irre ich mich. Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr enttäuscht klingen.« Der Fachbegriff dafür ist »emotionales Labeling.« Diese Methode hat viele Vorteile. Sie kann die Situation entspannen. Sie zeigt der anderen Seite, dass Sie ein aufmerksamer Zuhörer und Beobachter sind. Schließlich kann sie der Ausgangspunkt dafür sein, dass sich Ihr Partner dem Gespräch öffnet. Die Methode ist nicht risikolos. Es kann sein, dass Sie mit Ihrer Wahrnehmung falsch liegen oder Ihr Partner seine Gefühle nicht zugeben möchte. Das müssen Sie dann aushalten. In der Regel überwiegen aber die Chancen die Risiken. Achten Sie auf die Details der Methode: Senden Sie eine Ich-Botschaft, es ist Ihre Wahrnehmung. Also nicht: »Warum sind Sie so wütend?«, sondern: »Ich habe den Eindruck, dass Sie wütend sind.« Machen Sie deutlich, dass Sie sich mit Ihrer Wahrnehmung auch irren können. Seien Sie möglichst präzise mit Ihrem emotionalen Label (nicht: »Ich habe den Eindruck, Sie sind emotional«, sondern: »Ich habe den Eindruck, Sie sind wütend.«). Und wie nach jeder anderen guten Frage gilt: schweigen und auf Antwort warten.

7. Harvard-Ansatz 1: Achten Sie auf die Interessen aller Verhandlungspartner

Der wichtigste Ratschlag des Harvard-Konzepts lautet: »Stellen Sie Interessen in den Mittelpunkt, nicht Positionen«25. Positionen besagen, was Sie wollen; Interessen besagen, warum Sie was wollen. Bei einer Gehaltsverhandlung lautet Ihre Position, dass Sie ein Grundgehalt von 150 000 Euro fordern. Ihr Interesse könnte sein, deutlich besser zu verdienen als aktuell. Oder einen Ausgleich für die höhere Arbeitsbelastung zu erhalten. Oder angemessen an der Wertschöpfung beteiligt zu werden, die Sie für das Unternehmen leisten. Oder alle drei Themen gleichzeitig.

Warum sind Interessen wichtig, wenn wir verhandeln? Der große Vorteil eines Interesses ist, dass es auf mehr als eine Weise erfüllt werden kann. Damit erhöht sich der Spielraum für Verhandlungslösungen. Die beiden Positionen »Forderung von 150 000 Euro« und »Angebot des Arbeitgebers von 90 000 Euro« stehen unvereinbar gegenüber. Betrachten wir das hinter der Position stehende Interesse des Arbeitnehmers, kommt Bewegung in die Sache. Nehmen wir an, das Interesse eines Ausgleichs für eine höhere Arbeitsbelastung steht im Vordergrund. Schnell fallen uns mehrere alternative Lösungen ein: ein erhöhter Bonus, Freizeitausgleich, Unterstützung bei der Kinderbetreuung, ein komfortablerer Dienstwagen oder die Aussicht auf ein Sabbatical.

Nicht alle Interessen sind gegenläufig. Daneben existieren gemeinsame und abweichende Interessen. Worin liegt der Unterschied?

Bei gemeinsamen Interessen ziehen die Partner am gleichen Strang. Sie gilt es zu betonen und auszubauen. Sie stabilisieren die Verhandlungen und stärken die Beziehung. Wird eine Stelle neu besetzt, eint Bewerber und Arbeitgeber das gemeinsame Interesse, dem Bewerber zu einem guten Start zu verhelfen.

Gegenläufige Interessen sind wie Tauziehen. Der Nutzen des einen ist der Nachteil des anderen und umgekehrt. Hier hilft es, objektive Kriterien heranzuziehen, an denen sich eine faire Aufteilung orientiert. Damit werden wir uns noch im Tipp 9 »Harvard-Ansatz 3: Finden Sie objektive Kriterien für Verteilungskonflikte« beschäftigen.

Abweichende Interessen sind Interessen, die einer Seite wichtiger sind als der anderen. Verbinden die Partner zwei abweichende Interessen, schaffen sie Wert. Nehmen wir an, dem Arbeitgeber ist eine höhere Wochenarbeitszeit wichtig, dem Arbeitnehmer aber relativ gleichgültig. Auf der anderen Seite hat der Arbeitnehmer einen höheren Urlaubswunsch, der Arbeitgeber kann den Mitarbeiter vielleicht in Nachfragedellen entbehren. Die Parteien können diese beiden Punkte verknüpfen. Solche Tauschgeschäfte sind wichtiger Bestandteil guter Deals. Durch das Beharren auf Positionen sind diese Potenziale nicht zu heben. Ein besseres Verständnis der Interessen weist den Weg zu Lösungen mit Mehrwert.

Zum Verhandeln gehören mindestens zwei. Es geht darum, die Interessen der eigenen und der anderen Seite zu verstehen. Wie kommen Sie an die Interessen heran? Am besten geht dies mit kraftvollen Fragen. Sie können zum einen die geäußerte Position als Anker nutzen. Direkt: »Was steht hinter Ihrer Forderung nach 150 000 Euro Gehalt?« Indirekter: »Was passiert, wenn wir Ihre Forderung erfüllen?« Offener: »Warum ist Ihnen dieser Punkt wichtig?« Die andere Variante ist, sich geäußerte Bedürfnisse greifbar erklären zu lassen: »Könnten Sie bitte konkreter formulieren, was Sie mit Work-Life-Balance meinen?«, »Gibt es einen Aspekt beim Thema Anerkennung, der Ihnen besonders wichtig ist?« Diese Fragen helfen Ihnen nicht nur mit Ihrem Gegenüber. Sie verwenden Sie auch, um sich selbst zu erforschen, und zum besseren Verständnis der Interessen Ihres Auftraggebers.

Verhandelnde fassen Interessen häufig wenig griffig. Drei Punkte sind wesentlich:26

Formulieren Sie lösungsoffen. »Mein Interesse ist es, 34 Tage Urlaub zu haben«, ist kein Interesse. Es muss immer mehr als eine Lösung geben: »Mir ist Zeit mit meiner Familie besonders wichtig,« kann auf verschiedene Art und Weise erfüllt werden.

Benennen Sie Interessen greifbar und konkret. Wenn Sie zu abstrakt formulieren, hilft Ihnen das nicht. »Ich möchte ein angenehmes Arbeitsklima« ist wenig fassbar. Mit der Nachfrage »Bitte formulieren Sie konkret, was ein angenehmes Arbeitsklima für Sie ausmacht« erhalten Sie anschaulichere Antwort. Sind Sie nach mehreren Warum-Fragen bei den Grundbedürfnissen angekommen wie »Mir ist Sicherheit wichtig«, haben Sie zu tief gebohrt. Das von Ihrem Gegenüber unmittelbar zuvor geäußerte Interesse ist meist greifbarer: »Ich würde mir wünschen, nicht jeden Tag Sorge um meinen Arbeitsplatz haben zu müssen.«

Drücken Sie Interessen positiv aus und nicht negativ. Die positive Abfassung gibt Ihnen konkretere Anhaltspunkte, um Lösungen zu finden: »Ich möchte keine Leitungsaufgaben« ist mehrdeutig. Klarer wird es, wenn Sie das Interesse positiv benennen: »Ich bin sehr stark fachlich motiviert und möchte meine Expertise in ein Team einbringen.«

Interessen sind beim Verhandeln nicht nur wichtig. Sie sind zentral:

Sie bilden das Leitmotiv für Ihre Fragen: Was ist in dieser Verhandlung wirklich wichtig? Warum?

Sie helfen Ihnen, Ihre Ziele zu bestimmen: Wie messen wir, ob das Ergebnis unsere Interessen erfüllt?

Sie dienen als Nährboden für Win-win-Lösungen: Wie bringen wir die Interessen beider Seiten unter einen Hut?

Sie sind der Ankerpunkt für Ihre Argumentation: Für uns ist wichtig, dass … (Interesse nennen). Was würden Sie uns raten?

Warum verhandeln wir nicht immer interessenorientiert? Positionen sind klar und einfach zu formulieren und zu merken. Interessen hingegen sind vielschichtig und widersprüchlich. Sie sind schwerer zu formulieren und zu kommunizieren. Wer mit Interessen arbeitet, muss viel Zeit investieren, um die Interessen zu ordnen und zu strukturieren. Er muss Komplexität aushalten. Über die erforderliche Zeit und Ressourcen verfügen wir nicht in jeder Verhandlung. Jeder, der seine Interessen offenbart, läuft außerdem Gefahr, dass die andere Seite diese Information ausnutzt. Wie wir damit umgehen, sehen wir uns beim Prinzip der Informiertheit im Kapitel 2.2 näher an.

8. Harvard-Ansatz 2: Entwickeln Sie mehrere Lösungsoptionen

Nachdem die Interessen ausgetauscht sind, sieht das Harvard-Konzept vor, möglichst viele Lösungsoptionen je Thema zu finden. Durch das vertiefte Verständnis der Interessen inspiriert, werden in einem kreativen Prozess vielfältige Möglichkeiten entwickelt. Besonderes Augenmerk gilt dabei Lösungen, die die Interessen beider Seiten bedienen.