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Verliebt, vermalt und angepinselt - ein humorvoller Roman übers Entrümpeln und Renovieren von Haus und Herz. Verkleckst und zugemalt! Rica ist die Königin der To-do-Listen - das kann sie gerade richtig gut ausnutzen, um sich vom Liebeskummer abzulenken. Sie flieht zu ihren Eltern und Oma aufs Land und unterstützt sie beim Umzug in barrierefreie Wohnungen. Tausche Herzschmerz gegen Disziplin: Voller Eifer entrümpelt Rica ihr Elternhaus, koordiniert Handwerker, sucht Mieter und verkauft die Kaninchen. Dabei läuft ihr immer wieder Malermeister Yo über den Weg. Mal ist er kumpelhaft-einfühlsam, dann wieder raubt er ihr den letzten Nerv. Doch zwischen vollen Schuttcontainern, leeren Wohnungen und zum Verkauf stehenden Tieren hat Rica ganz andere Sorgen. Als sich ihre Schwester Melli plötzlich mehr für den neuen Mieter als für ihren eigenen Mann interessiert, ist Rica froh, ihre neuen Freundinnen und Oma an ihrer Seite zu haben. Und Yo ist vielleicht doch nicht so übel ... Ein Liebesroman - Gefühlschaos zwischen Perfektionistin und lockerem Malermeister Eine Familiengeschichte - Landidylle, Familie, Freunde, grüne Wiesen, Tiere und eine richtig tolle Oma! Ein Handwerker- und Entrümplungsroman - Wo etwas Neues entsteht, muss etwas Altes weichen. Entrümpeln und Renovieren sorgt oft für Chaos und Gefühlsausbrüche. Doch hinterher ist alles schöner. https://www.michaela-kossmann-schreibt.de
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Seitenzahl: 473
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Rica schluckte. Was war mit ihrem Leben los? Ihr Freund hatte sie verlassen, in ihrem Elternhaus würden bald fremde Menschen wohnen, ihre Schwester führte eine unglückliche Ehe, Oma konnte nicht mehr gut laufen und die Ziegen und Kaninchen wurden verkauft. Sie war hergekommen, um ein harmonisches Ostern mit ihrer Familie zu feiern. Und ein bisschen zu entrümpeln. Jetzt sollte sie plötzlich Maler Yo beim Streichen helfen. Verbarg sich hinter diesem lockeren Typen doch noch ein gewissenhafter Handwerker?
Rica starrte Yo an. »Ich denke nicht, dass ich eine große Hilfesein werde. Wenn das so kompliziert ist … Und ich bin ja keine Malerin«, stammelte sie unbeholfen und sah an ihrer weißen Arbeitshose herunter.
»Sagt die Frau, die ständig eine Malerhose trägt.« Yo lachte. »Du musst mir nicht helfen. Aber ich kann und darf Lehrlinge ausbilden. Jetzt komm schon. Willst du mich wirklich mit diesen fiesen Türen alleine lassen? Du könntest heute richtig was lernen. Überleg’s dir. Ich bin unten.« Yo grinste, nahm die Tür und ging.
Ein humorvoller Roman übers Entrümpeln und Renovieren von Haus und Herz
Für meine Omas Regine und Kunigunde
DANKE
… für unzählige Vorlesestunden in der Kindheit
… für meine ersten Romane, meinen Einstieg in die Bücherwelt
… für eure Herzlichkeit und Liebe
In liebevoller Erinnerung
… weil Heimat im Herzen ist
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
EPILOG
FRISCH GESTRICHEN
ÜBER DIE AUTORIN:
Er war voll. Bis obenhin.
Rica Wiese erschrak beim Anblick des Schuttcontainers, der in der breiten Einfahrt ihres Elternhauses stand. Prompt trat sie zu hart auf die Bremse ihres schneeweißen Kleinwagens und würgte den Motor ab. Das war ihr ewig nicht mehr passiert. Mit steifen Gliedern stieg sie aus und streckte sich. Sie hatte drei Stunden Autofahrt ohne Pause hinter sich, von ihrer Wahlheimat Karlsruhe bis hierher, in die Heimat ihrer Kindheit auf dem Land.Jetzt freute sie sich auf die kommenden zwei Wochenund das Osterfest mit ihrer quirligen Schwester Melli, auf Oma, ihre Eltern und sogar auf die Arbeit, die sie gemeinsam bewältigen wollten.
Betroffen und gleichzeitig neugierig ging Rica langsam auf den großen Schuttcontainer zu, der ein Stück neben ihrem Auto stand, die Einfahrt verschandelte und das Schild Willkommen bei Familie Wiese fast vollständig verdeckte.
»Unfassbar. So viel«, murmelte sie und strich sich eine Haarsträhne ihres schwarzen Bobs hinters Ohr. Sie trat näher an den Container, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte hinein. Zwischen Brettern, Staub und weißen Küchenschranktüren, die aussahen wie die alten Schränke vom Dachboden, lugten zwei dunkelbraune Plüschohren hervor.
»Hasi!«, entfuhr es Rica. Die Plüschohren sahen genauso aus wie die Ohren ihres Lieblingskuschelhasen, den sie ihre ganze Kindheit mit sich herumgeschleppt hatte. Beherzt trat sie einen Schritt näher an den Container, der auch von außen unsagbar dreckig war. Wer weiß, wo der schon überall gestanden hatte und was da schon alles drin und dran gewesen war. Doch Rica hatte sich klamottentechnisch bestens auf die kommende Zeit vorbereitet. Ihre nagelneue Arbeitshose würde nicht mehr lange so blütenweiß bleiben. Rica hatte sich extra im Versandhandel für Arbeitsbekleidung eingedeckt. Erstaunlich, wie umfangreich mittlerweile die Damenkollektion war. In weiser Voraussicht hatte sich Rica für ein angeblich unheimlich robustes Modellin ihrer Lieblingsfarbe Weiß entschieden und sie vor der Fahrt schon angezogen. Unterwegs hatte sie allerdings festgestellt, dass die Hose zwar robust sein mochte, aber der Stoff auch ungeheuer dick war, mit Sicherheit nicht ein einziges Prozent Stretchanteil hatte und fürchterlich kratzte. Die Hose war erst gestern geliefert worden und weil Rica viele Stunden heulend im Bett verbracht und an Rico gedacht hatte, hatte sie sie nicht anprobiert. Das rächte sich jetzt.
Mit einem Seufzenüberwand Rica den Ekel vor dem dreckigen Container, lehnte sich sogar von außen dagegen und streckte den Arm aus. Nach einigem Strecken und Angeln bekam sie tatsächlich ein Ohr des braunen Stoffhasen zu fassen, zog Hasi aus dem Container und zupfte die hellen Holzspäne aus seinem Fell.
Dass Hasi völlig zerfleddert aussah, lag nicht nur am Container. Schon seit Ricas Kindheit hatte er diese Narbe am Bauch. Oma hatte ihn geflickt, als sein Fell aufgerissen und die Füllmasse herausgequollen war. Einige Zeit später verlor er auch noch das rechte Bein. Doch Rica wollte sich noch immer keinesfalls von Hasi trennen. Bei einer Aufräumaktion vor ein paar Jahren hatte Rica ihn in einen Karton mit der Aufschrift Rica behalten gesteckt und auf den Dachboden ihres Elternhauses getragen.
»Auf keinen Fall wirst du jemals weggeworfen.« Rica drückte das staubige Stofftier an sich und stieg wieder ins Auto, das nicht direkt neben dem Container stehen bleiben konnte. Sie achtete gewissenhaft auf den Verkehr, setzte zurück, fuhr über die Straße und parkte schnurgerade rückwärts in der gegenüberliegenden Einfahrt. Hier wohnte ihre Schwester Melli. Beim Aussteigen schüttelte Rica den Kopf und lächelte. Die Büsche neben der Einfahrt hatte Mama vor ein paar Jahren aus dem Blumenladen, in dem sie arbeitete, für Melli mitgebracht. Mittlerweile waren sie auf eine üppige Größe angewachsen und es fiel fast gar nicht mehr auf, dass Papa sie vorletztes Jahr mit der Heckenschere in diese oberhässliche, spitze Form geschnitten hatte. Rica seufzte. Oft beneidete sie Melli, weil sie hier in verkehrsarmer, ruhiger Siedlungslage gleich gegenüber von Mama, Papa und Oma wohnte. Und dann wieder warsie heilfroh, dass sie dreihundert Kilometer entfernt lebte und Mama ihr nicht einfach Büsche neben die Einfahrt pflanzen und Papa diese nicht ohne Absprache mit der Heckenschere verunstalten konnte.
Über die Pflastersteine ging Rica zu Mellis Haustür. Den auffälligen gelb-pinken Blumenkübel auf der obersten Treppenstufe hatte sie noch nie gesehen. Zwischen gelben Primeln steckte ein Stab mit Bändern in Regenbogenfarben. Rica schüttelte sich. Sie liebte Melli heiß und innig, aber alles bei ihr war viel zu bunt. Immer schon gewesen. Das getöpferte Schild an der Haustür allerdings war ziemlich schlicht, neben einem Vogelmotiv stand: Hier wohnen Melanie, Sebastian und Juliane.
Rica kam nicht dazu, auf die Klingel mit dem Namen Finke zu drücken. Melli musste sie schon bemerkt haben und riss schwungvoll die Haustür auf, bevor sie Rica jubelnd an sich zog.
Kurz darauf lag Hasi in warmem Wasser mit einem Spritzer Haarshampoo im Waschbecken des Badezimmers und Rica saß in Mellis Küche. Ihr Blick schweifte über die Wände in kräftigem Lila und Türkis. Auf dem Küchentisch befand sich ein Sammelsurium aus Zeitungen, Reklameblättern, Buntstiften und Bastelpappe, außerdem ein Gurkenglas, das mit braunem Wasser und Pinseln gefüllt war. Den dazugehörigen Wasserfarbkasten entdeckte Rica nicht, aber es war möglich, dass er unter den Zeitungen und Reklameblättern lag. Dieses kreative Chaos machte Rica nervös. Sie staunte oft, dass Melli ihre Arbeit als Erzieherin im Kindergarten trotz ihres Hangs zum Chaos, den sie schon immer gehabt hatte, so locker wuppte. Und die siebenjährige Jule erzog sie auch mit links.
Das gurgelnde Geräusch der Waschmaschine war zu hören. Melli kam aus dem kleinen Nebenraum zurück in die Küche und warf sich auf den Stuhl neben Rica.
»Basti hat echt viel gemacht, aber Papa und Mama haben unvorstellbar viel Krempel. Und mit Oma geht’s so bergab. Echt erschreckend.« Melli wippte mit dem Küchenstuhl und schüttelte ihre straßenköterblonde Mähne, in die sie eine falsche lila Haarsträhne eingeclipst hatte.
Die kunterbunten Magnete an der Kühlschranktür verschwammen vor Ricas Augen und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit. »Geht’s mit Oma wirklich so bergab? Ich dachte, sie kann nur nicht mehr gut laufen?« Warum klang sie so piepsig? Geräuschvoll räusperte sich Rica und zu ihrer Erleichterung klang ihre Stimme nun fester. »Am Telefon wirkt Oma immer unternehmungslustig und fröhlich. Warum sagt sie nichts?« Mit einem Klappern stellte Rica den Kaffeepott zurück auf die Untertasse.
Ein sehr tiefer Seufzer entfuhr Melli. »Also, sie ist jetzt nicht direkt krank, aber sie kriegt viele Altersgebrechen. Sie kann nicht gut laufen und oft ist ihr schwindelig. Wenn ich mit Jule zu ihr rübergehe, ist sie lustig und fröhlich wie immer.«
»Na, Gott sei Dank.« Das beklemmende Gefühl verschwand langsam und Rica nahm noch einen großen Schluck aus ihrem Kaffeepott. Der Kaffee schmeckte bei Melli, Mama und Oma immer viel besser als bei ihr in Karlsruhe, obwohl es die gleiche Marke war.
Aber Rica beschäftigte noch etwas anderes. Die Tiere im Stall ihres Elternhauses.
»Habt ihr schon Interessenten für die Ziegen, die Kaninchen und Linus?« Verlegen rieb Rica an dem rotbraunen Schmodderfleck auf ihrem rechten Hosenbein herum.
Mellis kippelnder Stuhl wackelte bedrohlich, aber ihre Schwester fing sich, kurz bevor sie umkippte. »Nein, wir haben doch erst den Dachboden entrümpelt und ausgebaut und Mama, Papa und Oma haben sich Wohnungen in dieser Anlage angeschaut. Wir waren ständig beschäftigt. Ich habe alle Tiere fotografiert, aber wir haben noch keine Anzeige eingestellt. Ich glaube, ich wollte das ein bisschen hinauszögern. Nicht, dass sie plötzlich weg sind.« Mellis Stimme klang ungewohnt ernst.
»Dann lass uns zu ihnen gehen. Jetzt«, sagte Rica bestimmt. Ihr graute nun doch etwas vor den kommenden Tagen.
***
Rica lief viel schneller als Melli über die Straße und seitlich an dem grauen Bruchsteinhaus mit dem Schuttcontainer vorbei. Lächelnd erreichte sie den kleinen Hof und die große Wiese hinterm Haus. Wie viele glückliche Stunden hatte sie hier in ihrer Kindheit mit Melli und den Tieren verbracht. Und Oma Wiwi und Opa Franz. Mama und Papa. Nur mit Cosima war es nicht einfach gewesen.
Voller Vorfreude lief Rica über die Wiese zu den vier Ziegen mit den altdeutschen Frauennamen Alma, Adelgunde, Elise und Elvira. Sie grasten in der Sonne und Rica strich ihnen über das braunschwarze Fell, das bei jeder Ziege eine andere Musterung aufwies. Doch ein entscheidendes Detail fehlte.
»Wo ist das Klettergerüst?«, fragte Rica, als Melli in gemütlichem Tempo eintrudelte.
Melli bohrte mit der Spitze ihres Sneakers im Boden. »Im Container. Es war halt alt und der Winter war feucht. Das Holz war morsch, die Schrauben verrostet und bevor sich die Ziegen verletzen, hat Papa es abgerissen.«
Rica starrte auf Mellis dreckigen Schuh. »Hm. Verletzen sollen sie sich nicht.« Sie erinnerte sich noch genau daran, wie hingebungsvoll Opa Franz die Kletterbalken und Hindernisse für die Ziegen gebaut hatte. Und wie die Ziegen darauf herumgeturnt waren. Papa hatte kein neues Gerüst mehr gebaut. Und Basti auch nicht.
Wehmütig ging Rica weiter zu dem Pony mit Senkrücken, das am anderen Ende der Wiese graste.
»Linus«, flüsterte sie und drückte ihr Gesicht in sein Fell. Bis vor einigen Monaten hatte es auf dieser Wiese noch zwei Ponys gegeben. Doch Anton war genau wie Linus schon fast dreißig Jahre alt gewesen und als Erster gestorben. Es war ganz plötzlich passiert und Rica musste ihr Pony aus der Ferne betrauern. Nun war nur noch Mellis Pony Linus übrig. Wie lange es ihn wohl noch geben würde? Die Ziegen und Kaninchen waren auch nicht mehr die Jüngsten. Natürlich waren es nicht mehr dieselben Tiere wie in ihrer Kindheit. Diese hatte Opa Franz gekauft, kurz bevor er starb.
Sorgfältig kontrollierte Rica die Hufe des Ponys und die Klauen der Ziegen. Alle waren tadellos in Schuss und kein Tier hatte etwas gegen ausgiebige Streicheleinheiten einzuwenden. Hingebungsvoll kraulte sie alle Tiere und bekam nur beiläufig mit, dass Melli irgendwann »Ich gehe in den Stall, kannst ja nachkommen«, sagte und sich verkrümelte.
Als Rica später in den Stall kam, hatte Melli bereits die Pferdeäpfel aus Linus’ Box gesammelt. Die Schubkarre mit frischem Stroh stand schon bereit. WährendMelli das Stroh in der Ponybox verteilte, streute Rica den Ziegenstall frisch ein. Wie früher zusammen mit ihrer Schwester die Stallarbeit zu verrichten, hatte etwas Beruhigendes und Vertrautes. Danach packte Rica die Kaninchen mit geübtem Griff im Genick, setzte sie in den Bollerwagen und fuhr sie zu dem drahtumzäunten Auslauf neben der Ziegenwiese. Sie wusste, dass die meisten Menschen beim Wort Kaninchen an Zwergkaninchen dachten, doch ihre Lieblinge waren deutsche Riesen, die jeweils um die sechs bis sieben Kilo auf die Waage brachten. Wegen ihrer Größe und weil sie deshalb so wahnsinnig viel Platz brauchten, waren sie in jedem Fall besondere und anspruchsvolle Haustiere. Im Auslauf musterte Rica das hüfthohe zweistöckige Holzhäuschen mit mehreren Eingängen, Rampen und Röhren, und sagte zu Melli, als sie dazukam: »Das Kaninchenhaus sieht noch völlig intakt aus.«
»Das wird ja auch reingeholt imWinter. Basti hat nur den Draht vom Auslauf erneuert.«
Rica kniete sich hin und setzte alle Langohren ins Gras. »Hat er gut gemacht.« Sie sah zu, wie die Kaninchen durch den Auslauf hoppelten, sich im Haus versteckten oder am Gras knabberten. »Und es ist endgültig, dass sie verkauft werden? Alle sechs? Könnt ihr nicht welche behalten? Ihr habt doch Platz im Garten und Jule wäre begeistert.«
Mellis Ton wurde ungewöhnlich ernst. »Rica, setz Jule bloß nicht den Floh ins Ohr, dass sie sie behalten kann. Basti und ich haben lange mit ihr gesprochen. Wir zwei haben das auch schon oft genug bequatscht und du kennst Papas und Mamas Meinung.«
Rica nickte stumm, dachte an Mamas leicht panischen Tonfall am Telefon, als sie von der letzten Tierarztrechnung der Kaninchen berichtete. Am nächsten Tag hatte Oma bei Rica angerufen und unwirsch gebrummt: »Wir wollen dem Tierarzt bestimmt kein neues Auto finanzieren. Als Dr. Schröder noch gelebt hat, hat das nur ein paar Mark gekostet.« Plötzlich war Omas Stimme dünn und brüchig geworden.
»Opa Franz wollte euch mit den Tieren eine Freude machen und jetzt sind sie so teuer. Ich kann sie nicht mehr versorgen und jetzt ziehe ich mit deinen Eltern ins barrierefreie Wohnen. Es ist unvorstellbar, nicht mehr in diesem Haus zu wohnen.«
»Oma, das ist …« Rica klackerte auf hohen Schuhen in ihrer Küche auf und ab und rang hilflos nach Worten, als Oma schniefte. Sie versuchte krampfhaft, die Geräusche aus ihrem Wohnzimmerzu ignorieren. Die übermütigen Stimmen ihrer Nachbarin, Arbeitskolleginnen und ihrer Freundin, Gläserklirren und Gelächter waren wesentlich lauter als Oma, die nun leise fragte: »Kannst du nicht wieder herziehen?«
»Oma, ich …«
»Wir haben jetzt lange genug vorgeglüht, lass uns endlich gehen«, tönte es aus dem Wohnzimmer und im nächsten Moment sah Rica eine Kollegin Richtung Bad über ihren Flur sprinten. Mit Karacho warf Rica die Küchentür zu und setzte sich in ihrem neuen schneeweißen Kleid auf den Fußboden. »Oma, ich habe hier eine Arbeit und Freunde. UndMelli ist da und Jule. Und die Tiere sind ja schon alt.«
Noch während sie sprach, wusste Rica, dass das die falschen Worte waren. Aber was sollte man in einer solchen Situation denn Richtiges sagen? Konnte man überhaupt passende Worte finden?
Am Ende gingen Ricas Freunde schon mal vor, nur Anni verbrachte den restlichen Abend auf dem Fußboden neben Rica. Es war ein beschissenes Gefühl, das Stadtfest zu verpassen, aber gleichzeitig auf dem Küchenboden sitzend in der Heimat auch nichts ausrichten zu können. Oma war immer, immer, immer für sie da gewesen. Was für eine verdammt blöde Situation.
Ein kühler Schauer durchfuhr Rica, als sie an diesen Abend in Karlsruhe zurückdachte.
Sie musterte die Kaninchen im Auslauf. Das schwarze und das weiße waren ihre Lieblinge. Die sechs Kaninchen hatten nie Namen bekommen. Sie waren einfach das Schwarze, das Weiße, das Braune, das Gefleckte, das Graue und das Cremefarbene.
***
Geräuschvoll schlugen zwei Autotüren zu. Melli sah zu Rica. »Sie sind wieder da.«
»Dann los.« Rica riss sich vom Anblick der Tiere und der Erinnerung an den Abend in Karlsruhe los. In einigem Abstand folgte sie Melli und wischte sich möglichst unauffällig die Tränen aus den Augenwinkeln.
Sekunden später wurde sie von ihren Eltern und Oma herzlich in die Arme geschlossen. Oma war wackelig auf den Beinen und zu Ricas Erstaunen holte ihr Vater einen Rollator aus dem Kofferraum. Erst jetzt bemerkte Rica das breite Holzbrett, das auf den Stufen vor der Haustür lag und wie eine eilig improvisierte Rampe wirkte. Es war seltsam, wie langsam Oma die Rampe hinauftapste, während sie den Rollator vor sich herschob. Hinter ihr entstand ein richtiger Stau, denn Melli, Papa, Mama und Rica folgten ihr in ihre Wohnung im Erdgeschoss. Tief atmete Rica den Geruch der Wohnung ein. Es war der Gleiche, den diese Wohnung schon in ihrer Kindheit gehabt hatte. Für Rica roch es hier immer nach Schinkenbroten und frischgekochter Marmelade. Melli hatte mal behauptet, bei Oma rieche es nach Schwarzweißfotos mit weißgezacktem Rahmen und aufgeschüttelten Sofakissen. Rica hattesie ausgelacht, weil Schwarzweißfotos mit weißgezacktem Rahmen und aufgeschüttelte Sofakissen ihrer Meinung nach keinen Geruch hatten. Tatsächlich sahen alle Sofakissen aus wie frisch aufgeschüttelt, standen in Reih und Glied auf dem grünen Sofa und trugen einen tiefen Knick in der Mitte.
Mit fünf Leuten wurde es ein bisschen eng in dem kleinen Wohnzimmer. Papa war in die Kochnische verschwunden und klapperte mit Tassen und Gläsern.
Oma ließ sich sachte in ihren Lieblingssessel fallen und Rica setzte sich aufs Sofa. »Ihr habt die Mietverträge in der Wohnanlage unterschrieben? Es ist endgültig, dass ihr dort einzieht, und nicht mehr nur eine fixe Idee?«
Oma sah Rica liebevoll an. »Rica, es ist schon richtig. Ich komme die Treppen nicht mehr hoch. Und diese Rampe vorm Haus ist viel zu wackelig. Ich habe hier so lange mit Opa Franz und euch allen gewohnt. Wenn ich daran denke, dass ich noch vor ein paar Monaten alle Tiere versorgt habe. Aber das kann ich nun wirklich nicht mehr.« Oma seufzte tief.
Rica beugte sich zu ihr und drückte ihre Hand. »Ach, Oma.«
»Mensch, Oma«, kam es im selben Moment mitfühlend von Melli.
»Hedwig, du bist sehr tapfer«, sagte Mama in aufmunterndem Ton und Rica nickte zustimmend.
Langsam lehnte sich Oma im Sessel zurück. »Lieb, dass du das sagst, Marie. Ich bin so erleichtert, weil ich eben erfahren habe, dass Hilde auch dort wohnt. Mit ihr bin ich schon zur Schule gegangen. Sie wohnt gerne dort. Aber jetzt muss ich mich erstmal ein Stündchen ausruhen. Frank, ich denke, wir brauchen hier keinen Tee. Geht ruhig rauf.« Lächelnd schloss Oma die Augen.
»Meinst du wirklich?« Rica schluckte. Sie war doch gerade erst angekommen. Auch Papa war mit perplexem Blick aus der Kochnische getreten.
Oma lächelte mit geschlossenen Augen. »Ich hatte einen anstrengenden Vormittag und muss jetzt erstmal ein Stündchen schlafen. Kannst gerne später noch mal reinkommen, Rica.«
»Okay, Oma. Ich könnte später Jule und Melli mitbringen.« Liebevoll drückte Rica Omas Arm und grinste.
Auch Oma lächelte, ohne die Augen zu öffnen.
***
Mama ging die steile Treppe mit den hohen kurzen Stufen so unglaublich langsam hinauf. Vor ihrer Wohnungstür im ersten Stock angekommen, rieb sie sich stöhnend die Knie. Papa schloss die Wohnungstür auf. Der Zuhause-Duft in dieser Wohnung war ein völlig anderer als bei Oma. Bei Mama und Papa roch es blumig, nach Zitrone und Weichspüler, immer schon. Ob es demnächst in ihrer neuen Wohnung genauso riechen würde? Und wie würde es hier riechen, wenn jemand Fremdes die Wohnung mieten und darin wohnen würde? Würde Rica das überhaupt jemals erfahren?
Wieder verschwand Papa in der Küche und klapperte mit Geschirr. Rica schob Melli vor sich her ins elterliche Wohnzimmer und plumpste aufs Sofa.
»Das mit den Knien ist schlimmer geworden?«, fragte sie vorsichtig, als Mama endlich auch hereinkam.
Die setzte sich bedächtig und schüttelte unwirsch ihre tadellos sitzende Dauerwellenfrisur. »Ich will nur nicht ständig diese Treppensteigen. Dann tun meine Knie höllisch weh. Und Papa kann auch nicht mehr gut die ganzen Einkäufe hier hochschleppen. Aber in jedem Fall möchte ich noch reisen und im Blumenladen arbeiten. Wenn der Boden eben ist, habe ich keine Probleme. In unserer neuen Wohnung werden wir immer Fahrstuhl fahren.«
»Es ist unwirklich«, begann Rica stockend. »Ich dachte, ihr bleibt für immer hier wohnen.«
»Ja, das habe ich auch immer gedacht.« Papa erschien mit einem Tablett und Mamas guten Teetassen. Mit ernster Miene reichte er sie herum. »Zuerst dachte ich, Marie mache Scherze, als sie umziehen wollte.
»Ha!«, riefMelli. »Was denkst du, wie blöd Basti und ich geschaut haben, als ihr uns erzählt habt, dass ihr und Oma barrierefreie Wohnungen in dieser Anlage beziehen wollt.«
Papa schmunzelte. »Ja, ich habe eure Gesichtsausdrücke live gesehen und fand sie zum Schießen.«
Rica rückte ihre Tasse auf der Untertasse zurecht. »Ich habe lange gedacht, dass ihr Witze macht. Oder dass es nur eine unausgereifte Idee ist. Dass ihr im letzten Moment einen Rückzieher macht. Dass ihr nie wirklich diese Mietverträge unterschreibt.« Bis sie vorhin den Container vorm Haus gesehen hatte, waren Rica die elterlichen Pläne nicht sehr real vorgekommen.
»Wir haben unterschrieben«, sagte Mama mit fester Stimme. »Und die Entrümpelung geht auch gut voran. Es wurde höchste Zeit, diesen ganzen Krempel wegzuschmeißen.«
»Ja, vieles konnte wirklich mal weg«, bestätigte Rica und sah in Mamas zufriedenes Gesicht.
Papa war wieder in die Küche gegangen und kam mit der Teekanne wieder.
»Du bist blass, Rica. Und dünn«, sagte Mama plötzlich. »Gehst du in Karlsruhe genug an die frische Luft und frühstückst du jeden Morgen?«
»Ja, Mama.« Genervt verdrehte Rica die Augen.
»Mama, jetzt lass sie doch mal«, sagte Melli lauter als nötig. »Als sie Weihnachten hier war, war Oma noch wesentlich fitter und es stand kein Container vorm Haus. Ne, Papa, für mich keinen Tee.« Sie schüttelte entschieden den Kopf, als Papa ihr die Teekanne reichen wollte, kramte in ihrer Hosentasche und schob sich einen Kaugummi in den Mund.
»Danke«, sagte Rica. Das galt Papa, von dem sie die dampfende Kanne entgegennahm. Und gleichzeitig auch Melli, die im richtigen Moment zum Glück immer noch wusste, wie sie sich gerade fühlte. Früher hatten sie sich ohne Worte verstanden. Doch die weite Entfernung machte schleichend ihre Vertrautheit zunichte.
»Wie wohnt ihr denn bald?« Es interessierte Rica wirklich. Sie goss sich Tee ein und reichte die Kanne an Papa weiter.
»Es ist ein sehr gepflegtes Gebäude.« Mama griff nach einem Hochglanzprospekt, der die ganze Zeit neben ihr gelegen hatte, und gab ihn Rica. »Oma bekommt eine Anderthalbzimmerwohnung und unsere Wohnung ist in derselben Etage. Es gibt einen Fahrstuhl. Und einen Garten. Das Ärztehaus ist gleich um die Ecke. Es ist eine gute Lösung, dort hinzuziehen.«
»Und wie muss ich mir das dort vorstellen?« Rica hatte ihre Teetasse in der Hand und schnupperte kurz, bevor sie trank. Bestimmt hatte Mama die Teeblätter wie immer mit irgendwelchen Blumenblüten ergänzt. »Für Oma ist es ein Heim und für euch eine normale Wohnung?« Der Tee schmeckte super und wärmte so schön von innen.
Mama hielt Rica den Prospekt immer noch hin, also stellte Rica ihre Tasse ab und ergriff ihn. Glänzende Fotos von alten Menschenin Rollstühlen und etwas jüngeren, fahrradfahrenden Senioren fielen ihr ins Auge. Dann ein Gruppenfoto von einem fröhlich aussehenden Pflegeteam und ein parkähnlicher Garten. Die Texte las sie nicht. Mama erzählte enthusiastisch: »Man kann dort ganz normal wohnen, ohne eine Zusatzleistung in Anspruch zu nehmen. So wie Papa und ich es wollen. Aber man kann Pflege- und Betreuungsangebote auf Anfrage dazunehmen. Wir wohnen in der gleichen Etage wie Oma und sie kann klingeln, wenn sie die Pflegebereitschaft braucht. Wenn sie nicht kochen will und wir nicht da sind, kann sie im Gemeinschaftsraum mitessen. Mit dem Rollator kommt sie überall hin und für meine Knie ist es ohne Treppen angenehmer. Wenn Papa und ich bald in Rente sind und öfter verreisen, ist das ganz praktisch.«
»Ja, das ist es wirklich«, musste Rica zugeben. Ein ähnlicher Komplex war ihr in Karlsruhe auch schon aufgefallen. Vermutlich war Mamas Idee doch gar nicht schlecht, auch wenn der Umzug, die Entrümplung und Vermietung des Elternhauses zuerst mit viel Arbeit verbunden wären. Sie sah zu Papa, der zustimmend nickte.
»Papa und ich müssen diese Angebote hoffentlich noch nicht so bald nutzen.« Mama tippte auf das Foto mit den im Stuhlkreis sitzenden, klatschenden und vermutlich singenden Senioren, das Rica gerade betrachtete. »Ich will vorher noch was von der Welt sehen.« Abrupt sprang Mama auf und lief aus dem Zimmer. Ihren Knien schien es wieder besser zu gehen. Sie kam mit einem Stapel Prospekten wieder und hielt Rica einen davon aufgeschlagen vor die Nase.
»Es werden wunderbare Städtereisen in Deutschland angeboten. Obwohl wir auch mal nach Paris fahren könnten. Und am Rhein und an der Mosel soll es wunderschön sein.« Schon hatte Rica den nächsten Prospekt vor der Nase. Sie legte den von der Wohnanlage beiseite.
»Oder vielleicht könnten wir sogar eine kleine Kreuzfahrt …« Mama plapperte weiter und Rica hörte nicht mehr richtig zu. Unglaublich. Warum wollte Mama plötzlich reisen? Sie war zu Hause mit Papa, Oma und den Tieren immer so zufrieden gewesen. Und ihre Arbeit im Blumenladen liebte sie über alles. Rica trank einen Schluck Tee und sah zu Papa. Der schien das als Stichwort zu sehen und räusperte sich.
»Rica, schön, dass du da bist und beim Verkauf der Tiere und der Entrümpelung hilfst. Wir müssen deine Aufgaben noch durchsprechen.«
»Kein Problem, ihr habt ja schon so viel geschafft. Aber müssen wir die Tiere wirklich alle verkaufen?« Hilfesuchend sah Rica zu Melli neben ihr, die schon lange nichts mehr gesagt hatte. Melli kniff die Lippen zusammen und schüttelte sachte den Kopf.
»Nein.« Auch Papa schüttelte den Kopf. »Wir müssen sie nicht alle verkaufen. Du könntest das schwarze und das weiße Kaninchen mit nach Karlsruhe nehmen.«
Rica seufzte. »Papa, du weißt, meine Wohnung ist miniklein und sie hätten keinen Auslauf. Ich bin tagsüber immer arbeiten und …«
Papas Handflächen klatschten auf den Tisch. »So, du kannst sie leider nicht mitnehmen?«
»Ja, Papa, das habe ich dir doch schon mehrmals erklärt.«
»Das hast du.« Papas Lippen waren nur noch ein dünner Strich. »Du hast mir damals auch erklärt, dass du diesen Taugenichts liebst und bist zu ihm nach Karlsruhe gezogen. Dann hast du mir ein paar Monate später erklärt, dass du ihn doch nicht mehr liebst und dich von ihm getrennt hast. Ich habe gedacht, du kommst zurück. Aber du nimmst dir eine eigene Wohnung und bleibst in Karlsruhe.« Papas Stimme war deutlich lauter geworden.
»Papa. Sie ist erwachsen«, sagte Melli beschwichtigend, aber Papa beachtete sie nicht. Er starrte Rica mit zusammengekniffenen Lippen an.
»Karlsruhe ist grün, lebendig und voller Möglichkeiten. Ich habe dort Freunde und eine gute Arbeitsstelle. Ich habe dort ein Leben«, verteidigte sich Rica. Sie hatte es noch nie bereut, nach der Trennung in Karlsruhe geblieben zu sein, sie fühlte sich dort pudelwohl. Ihr damaliger Freund wohnte zwar immer noch ganz in ihrer Nähe, aber Rica hatte ihn ewig nicht gesehen. Vermutlich verbrachte er seine Freizeit immer noch größtenteils mit Computerspielen und in Fastfood-Restaurants. »Ich denke oft an euch. Und die Tiere.«
»Das ist ja schön, dass du an die Tiere denkst.« Papa wurde wieder laut.
»Frank, es gibt keinen Grund, so zu schreien.« Mama fasste Papa sanft am Arm.
Melli rutschte näher zu Rica. »Mensch, Papa. Rica wohnt jetzt halt in Karlsruhe.«
Papa sah Rica verkniffen an. »Du, mein liebes Frollein«, sagte er nun leiser, »hast ja überhaupt keine Ahnung mehr, wie viel Arbeit diese Tiere täglich machen. Füttern. Rauslassen. Misten. Wieder reinholen. Die Kosten für Futter. Heu. Stroh. Tierarzt. Hufschmied. Instandhaltung der Weide. Es hilft uns leider kein bisschen, dass du aus der Ferne an uns und die Tiere denkst.«
Rica spürte trotz des eben getrunkenen Tees eine unglaubliche Trockenheit im Mund. Und bekam spontan ein schlechtes Gewissen, weil sie die Eltern mit so viel Arbeit allein ließ.
Melli legte ihren Arm um sie. »Rica hat ein Leben in Karlsruhe. Sie kommt nicht wieder.«
Papa schnaubte und öffnete den Mund, doch Mama ergriff seine Hand und drückte sie.
»Frank, du beruhigst dich jetzt. Wenn du dich aufregst, ist das nicht gut für deinen Blutdruck.«
Seufzend lehnte sich Papa mit verschränkten Armen auf dem Sofa zurück und machte ein beleidigtes Gesicht.
Mamas Worte waren sachlich. »Natürlich lieben wir die Tiere, aber wir wollen nun endlich mal das Leben genießen. Die Tiere machen viel Arbeit und sind teuer. Der Weidezaun muss erneuert werden, wir können ihn nicht immer nur flicken. Die Ziegen sind schon zweimal abgehauen und haben nur Blödsinn gemacht. Bei Hubers haben sie die Bettwäsche von der Leine gerissen und im Gewächshaus die jungen Gemüsesetzlinge gefressen. Weiß der Teufel, wie sie die Tür aufbekommen haben. Dann haben sie auf der Rieseweger Straße beinahe einen Autounfall verursacht. Die Kaninchen buddeln sich auch gerne unter dem Draht durch. Wir müssen die Tiere verkaufen. Wenn wir zeitnah niemanden finden, müssen wir vielleicht beim Schlachter …«
»Mama!«, rief Rica entsetzt.
»Nur, wenn sie überhaupt niemand will«, murmelte Papa. »Die meisten Leute suchen Zwergkaninchen. Unsere deutschen Riesen sind ihnen zu groß und brauchen zu viel Platz. Wir können sie nicht behalten. Die Ziegen auch nicht. Du wohnst weit weg. Mama und ich wollen noch ein paar schöne Jahre zusammen haben. Und Melli und Basti wollen sie auch nicht.«
»Du weißt, dass ich nur Teilzeit im Kindergarten arbeite und wir noch das Haus abbezahlen? Vielleicht kannst du ja doch zwei Kaninchen mit nach Karlsruhe nehmen?« Melli machte eine rosa Kaugummiblase und ließ sie platzen.
In Ricas Kopf schrie alles Nein. Ihre Miniwohnung war wirklich der falsche Ort für die Kaninchen. Sie gehörten aufs Land, auf eine Wiese, in eine Familie. Und tatsächlich konnten Tierarzt und Futter ganz schön teuer werden.
Mit fester Stimme sagte Rica: »Wir finden gute Käufer. Für alle Tiere. Wir müssen sie nicht schlachten.« Sie sah zu Papa, der sachte nickte.
»Wir laden die Anzeigen gleich zusammen hoch. Bestimmt bekommen wir sie gut verkauft«, bekräftigte Melli und stand auf. »Ich gehe rüber. Jule kommt gleich aus der Schule.«
Rica erhob sich ebenfalls. »Papa, lass uns die Arbeiten heute Abend besprechen. Jetzt gehe ich mit rüber zu Melli, ich muss erst mal mein Patenkind begrüßen. Wenn Jule heute Abend im Bett ist, komme ich wieder.«
Mama stöhnte. »Ich habe Maulwurfkuchen gemacht. Wir haben uns noch gar nicht unterhalten, Rica. Warum bist du immer gleich wieder weg, wenn du mal hier bist? Und deinen Tee hast du auch nicht ausgetrunken.«
»Mama, ich habe eine Schwester und ein Patenkind.«
»Du hast auch Eltern«, bemerkte Papa spitz und fügte sanfter hinzu: »Ich wollte dir doch noch den Dachboden zeigen und den Zeitplan durchsprechen. Mama, du und ich könnten zu Maler Poulsen in den Showroom fahren und Raufasertapeten für den Dachboden aussuchen.«
Rica seufzte und spähte aus dem Fenster. Die Kinderstimmen hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Tatsächlich liefen ein paar Schulkinder die Straße entlang. Jule war nicht dabei.
»Papa, Raufasertapeten sehen doch alle gleich aus.« Sie folgte Melli, die schon auf dem Flur war. »Bis später.«
Mamas protestierende Stimme ignorierte sie und ging einfach. Sie hatte die leise – oder sogar ziemlich laute – Vorahnung, dass ihr Mama und Papa heute noch Vorwürfe machen würden.
***
»Das mit dem Schlachter meinen sie bestimmt nicht ernst«, sagte Melli und sah Rica auf dem Weg durchs Treppenhaus schräg von der Seite an. »Sie vermissen dich und wollen, dass du wieder herziehst. Das weißt du.«
Rica schnaubte leise. »Ja, das weiß ich. Aber wenn ich hier bin, hacken sie immer nur auf mir herum und ich kann ihnen nichts recht machen.« Sie konzentrierte sich auf die Treppenstufen. Hoch und kurz, wie sie waren, waren sie wirklich nicht zu vergleichen mit normalen Treppenstufen. Papa schimpfte oft auf diesen alten Kasten, aber Rica war sicher, dass er sein altes Bruchsteinhaus mochte. Einerseits. Und andererseits nun bestimmt gerne mal woanders hinzog.
Melli sagte: »Das empfindest du völlig falsch. Papa lobt dich immer in den höchsten Tönen, weil du so gewissenhaft bist, und Mama mag deinen Ordnungssinn. Was meinst du, wie sie immer an mir herummeckern, wenn du nicht da bist. Vor allem stört es Mama, dass ich mir immer eine farbige Strähne in die Haare clipse.« Schwungvoll öffnete sie die Haustür und lief hinaus.
»Hm«, machte Rica und folgte ihr.
Mit Freude sah sie zwei Schulmädchen kichernd die Straße hinaufschlendern. Sofort beschleunigte Rica ihre Schritte und überholte ihre Schwester.
»Rica! Ricaaaaaa!« Noch auf der Straße flog Jule in Ricas Arme. »Rica, es ist toll, dass du diesmal so lange bleibst.«
Rica drückte Jule an sich. Seit Weihnachten war sie ungeheuer gewachsen. Auch Jules Haare waren ein ganzes Stück länger geworden. Mit dem straßenköterblonden Pferdeschwanz sah sie aus wie Melli damals als Grundschulkind.
»Oma Marie und Opa Frank werfen alle Sachen weg«, berichtete Jule in wichtigem Tonfall. »Ich habe mit Papa und Opa und dem Elektriker den Dachboden ausgebaut, bis es abends ganz dunkel war. Ich bin eine richtige Handwerkerin, ich habe mir sogar mit dem Hammer auf den Finger gehauen.« Stolz hielt sie Rica das bunte Pflaster am linken Zeigefinger vor die Nase.
Rica erschrak kurz, aber wäre der Finger ernsthaft verletzt, hätte Melli das schon berichtet.
»Und jetzt ist der Finger ganz blau? Tut er weh?« Obwohl Jule lachte, berührte Rica den Finger lieber nicht.
Jule schüttelte mit entrüsteter Miene den Kopf. »Man sieht es fast gar nicht. Es ist nur ein bisschen Haut ab. Opa hatte mal einen ganz blauen Fingernagel, als er sich auf den Daumen gehauen hat.«
»Na, das hat dem Opa aber auch ganz schön wehgetan. Das willst du doch nicht, oder?«
***
»Bastis Auto ist schon da«, murmelte Melli.
Rica hopste knapp hinter ihr Hand in Hand mit Jule über die Pflastersteine.
»Du darfst nicht auf die Striche treten, Rica«, mahnte Jule.
»Meine Füße sind viel größer als deine«, protestierte Rica und hüpfte weiter auf Mellis Haus zu, das ganz insgeheim ihr Traumhaus war. Schon immer. Als Kind hatte Rica beim Bau zugesehen und wusste sofort, dass sie später darin wohnen wollte. Noch heute fand sie es absolut perfekt mit seinen dunkelroten Klinkern, dem Sattelwalmdach und den weißen Sprossenfenstern. Melli und Basti hatten das Haus kurz nach ihrer Hochzeit gekauft, denn zufällig ließen sich die Nachbarn gerade scheiden und verkauften es. Seitdem wohnte Melli in Ricas Traumhaus und oft hatte Rica ein seltsames Ziehen in der Bauchgegend, wenn sie Mellis Chaos in sämtlichen Räumen sah.
Als Melli die Tür aufschloss, hopsten Rica und Jule weiter bis in den Flur.
»Da bist du ja endlich. Wie lange dauert das Essen noch?«, rief eine Rica wohlbekannte Männerstimme. Melli verdrehte mürrisch die Augen und ging in die Küche. Immer noch Hand in Hand mit Jule folgte Rica ihr.
Basti stand mit einer Colaflasche vorm offenen Kühlschrank und Rica zuckte zusammen, als Melli losfauchte: »Musst du immer aus der Flasche trinken? Stell dir vor: Wir haben auch Gläser. Und Klopapierrollen wachsen immer noch nicht am Halter nach. Wieso bist du überhaupt schon da?«
»Die Gläser sind alle in der Spülmaschine. Wir hatten kein Material mehr und mussten Feierabend machen«, sagte Basti trocken und verdrehte die Augen.
»Papa, Rica ist schon da«, berichtete Jule.
Sofort entspannten sich Bastis Gesichtszüge und er streckte die Hand nach Rica aus. »Rica! Alte Großstädterin!«
Beschwingt umarmte Rica Basti, der noch seine blauen Installateurklamotten trug. Seine Hose war ihrer sehr ähnlich, bis auf die Farbe. »Hey, Schwager. Hast ja schon den ganzen Container vollgemacht.«
Basti boxte leicht in ihre Seite. »Keine Angst, ich habe noch genug Arbeit für dich übriggelassen.«
Rica lachte. Sie mochte Basti von dem Moment an, als Melli ihn damals mitgebracht hatte. Dass sein Beruf als Gas-Wasserinstallateur oft als Gas-Wasser-Scheiße verunglimpft wurde, fand Rica respektlos und rüpelhaft. Dank Leuten wie Basti hatte die Menschheit funktionierende Toiletten und schicke Badezimmer. Basti sah das Ganze mit Humor und verrichtete seine Arbeit mit Stolz. Überhaupt war er witzig und gutherzig. Er hatte vielleicht nicht das beste Aussehen und wirkte oft brummig, aber er war extrem praktisch veranlagt und konnte fast alles reparieren. Und zwar so, dass es danach auch funktionierte. Wenn er etwas nicht konnte, dann kannte er jemanden, der es konnte.
Melli seufzte nur, schaute in die zwei Töpfe auf dem Herd und drehte an den Schaltern. »Ihr könnt schon malden Tisch im Wohnzimmer decken.«
Hoffentlich liegt da nicht so viel Krempel wie auf dem Küchentisch, dachte Rica und bekam sogleich von Jule zwei Trinkgläser in die Hand gedrückt.
»Papa, man trinkt wirklich nicht aus der Flasche. Das sagt Uroma Wiwi mir auch immer«, tadelte sie und reichte auch ihm zwei Gläser.
Basti seufzte. »Warum wird in dieser Familie immer alles beobachtet, kommentiert und weitergetratscht? Und warum lag dieses kaputte Stoffvieh im Badezimmer im Wasser? Hat Jule das doch wieder aus dem Container geholt?«
»Hasi!«, rief Rica entsetzt und rannte ins Bad. Doch im Waschbecken war kein Wasser mehr und von Hasi keine Spur.
»Was hast du mit Hasi gemacht?« Sie hechtete zurück in die Küche. Basti zog kommentarlos die Tür unter der Spüle auf und deutete hinein, woraufhin Rica kurz aufschrie, Hasi aus dem Mülleimer fischte und an sich drückte. Melli rührte im Topf und runzelte die Stirn.
»Das war im Müll, das darf man nicht rausnehmen, das ist ganz unhü-enisch«, belehrte Jule Rica. »Sagt Oma Marie immer.«
Rica musste spontan grinsen, bevor sie zum zweiten Mal an diesem Tag ein Hasenbad im Waschbecken einließ.
***
Rica bereute es nicht, bei Melli geblieben zu sein. Drüben bei Mama und Papa hätte sie vermutlich einen langweiligen und steifen Nachmittag verbracht. Hier war es viel witziger. Gegen Abend lief sie noch mal schnell zu Oma rüber. Mit Jule. Die unbequeme Arbeitshose hatte sie vorerst ausgezogen. Mellis Wollkleid im Zebralook war wesentlich bequemer und eigentlich ein bisschen zu schick, aber Melli hatte fast nur kunterbunte Klamotten und Rica trug grundsätzlich nur schwarz und weiß. Basti hatte gelacht und gesagt, sie sehe aus wie ein unglückliches Zebra, woraufhin sich Rica ein wenig verkleidet fühlte. Jule hatte sich spontan aus Solidarität mitverkleidet und trug das Feenkleid aus grünem Tüll, das Mama ihr zum Karneval genäht hatte. Bestimmt sahen sie komisch zusammen aus und Oma würde sich über sie kaputtlachen.
Gerade als Rica die Haustür aufschließen wollte, hielt ein Auto neben dem Container. Erwarteten ihre Eltern heute Abend noch Besuch? Die dunkelblonde Frau am Steuer kannte Rica nicht.Die Beifahrertür öffnete sich und ein blonder Maler stieg aus. Noch in Arbeitsklamotten. Bestimmt einer von Bastis Bekannten, der die falsche Hausnummer hatte.
Rica ging mit Jule an ihrer Hand auf ihn zu. »N’Abend. Wollen Sie zu Basti Finke? Der wohnt gegenüber.«
Der Maler stand nun vor ihr. »Nein, zu Frank Wiese.«
Rica lächelte. »Das ist mein Vater, da sind Sie hier richtig.«
Yorick Poulsen stand auf seinem Pulli. Yorick mit Y und Poulsen mit OU. Das war also Maler Poulsen. Kam er wegen der Raufasertapete? Abends noch? War Raufaser eine so komplizierte Angelegenheit?
Er grinste freundlich und hielt Rica eine Karte entgegen. »Ich bin Yorick Poulsen. Ihre Eltern waren vorhin in meinem Showroom.«
»Sie wollten Raufaser aussuchen«, murmelte Rica und griff nach der Karte. »Papas Führerschein?« Erstaunt sah sie auf.
»Ja.« Er lächelte immer noch. »Er lag auf dem Fußboden. Bestimmt ist er aus seiner Brieftasche gefallen, als er meine Visitenkarte eingesteckt hat. Die Adresse steht ja drauf und es lag fast auf dem Weg.«
»Oh, das ist aber sehr nett. Danke.« Rica strahlte ihn an. Er schien in ihrem Alter zu sein und wirkte sympathisch. So’n Kumpeltyp wie Basti.
»Hören Sie …« Schlagartig wurde er sehr ernst. »Wir haben es ein bisschen eilig.« Er wies auf das Auto mit der Frau. »Und ich möchte Sie nicht länger aufhalten.« Er sah zwischen Jule und ihr hin und her. »Können Sie den Ihrem Vater wiedergeben? Ich bin dann weg.«
»Ja, sicher. Danke noch mal.«
Schon war er ins Auto gestiegen und sie brausten davon.
***
»Rica bringt mich ins Bett, Rica bringt mich ins Bett«, jauchzte Jule und hüpfte durch das Wohnzimmer.
»Du putzt dir drei Minuten lang die Zähne und ziehst vorher schon mal den Schlafanzug an«, sagte Melli streng, hielt Jule fest und drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. »Gute Nacht, mein Schatz.«
»Nacht, Mama.« Jule drückte ihr ebenfalls einen Schmatz auf die Wange, lief zu Basti, der auch einen Gutenachtkuss bekam und rannte dann die Treppe hoch.
Rica ging deutlich langsamer hinterher und sah auf dem Badewannenrand sitzend zu, wie Jule ihre Zähne putzte.
Ihre Gedanken wanderten zu dem Maler. Es war wirklich nett von ihm gewesen, den Führerschein vorbeizubringen. Papa hatte den Verlust gar nicht bemerkt und war erstaunt, als Rica ihn brachte.
»Fertig!«, rief Jule.
Rica sah auf die Drei-Minuten-Zahnputz-Sanduhr, und tatsächlich war der gesamte Sand in den unteren Teil gerieselt. Schon drehte sich Jule auf dem Absatz um und rannte in ihr Zimmer. Wie schaffte es Melli bloß, trotz des Chaos, das sie überall hinterließ, Jule zu erziehen? Soweit Rica das beurteilen konnte, hatte Melli Jule gut im Griff. Und das obwohl sie ab und an zusammen mit ihrer Tochter in Pfützen sprang.
Beneidenswert, dachte Rica, als sie Jules Zimmer betrat und Jule ausgelassen auf ihrem Bett hüpfte.
»Rica, du musst mir eine Geschichte ohne Ziegen und Hasen und Vögel und Ponys erzählen. Ich kenne meine Bücher schon.«
Rica seufzte und versuchte, streng zu sein. »Jule, man hüpft nicht im Bett herum.« Wie schaffte es Melli nur, eine ganze Kindergartengruppe zu bändigen?
Jule hopste weiter und Rica fühlte sich erschöpft. Schweigend inspizierte sie Jules Bücherregal. Zweifellos warenalle Bücherwunderschön gestaltet und die Geschichten liebevoll erzählt. Aber alle Geschichten handelten von Abenteuern mit Tieren.
»Wo ist dein Märchenbuch?«, fiel Rica ein.
Jule hörte auf zu hopsen und setzte sich auf die Bettkante. »Weiß nicht. Bei Oma Marie? Oder Uroma Wiwi? Oder im Baumhaus?« Jule zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schräg. »Kennst du keine ganz, ganz andere Geschichte?«
»Hm.« Rica setzte sich zu Jule auf die Bettkante und hoffte inständig, dass sie nicht wieder anfangen würde herumzutoben. Sie musste ihr schleunigst ein Märchen erzählen. Aber welches? Hänsel und Gretel mochte Rica nicht. Vielleicht Rotkäppchen? Doch wie begann Rotkäppchen noch mal? Rica konnte sich beim besten Willen nicht an den Anfang erinnern. Beim Froschkönig konnte sie sich nur an den Teil mit dem Frosch, der aus dem Brunnen stieg, erinnern und ansonsten weder an den Anfang noch an das Ende.
»Jule, was hältst du von Schneewittchen?«
»Nein!« Jule schüttelte den Kopf. Rica betrachtete ihren entschlossenen Gesichtsausdruck und kramte in ihrem Gedächtnis nach Kinderfilmen.
»Jule, kennst du schon die Geschichte von dem kleinen Clownfisch Nemo mit der zu kleinen Seitenflosse, der die Welt unter dem Meer kennenlernen will?«
***
»Da bist du ja endlich, Rica.« Papa stand im Treppenhaus und wippte mit den karierten Filzpantoffeln. Rica trug wieder ihre Arbeitshose. Sie wuchtete ihren Rollkoffer die steilen Stufen hoch und quetschte sich an ihm vorbei in die Wohnung. Als sie die Tür zu ihrem ehemaligen Zimmer öffnete, in dem es noch genauso aussah wie an dem Tag, an dem sie ausgezogen war, und den Rollkoffer nur schnell hineinschob, stand Papa schon hinter ihr. Ein schneller Blick auf die Uhr sagte Rica, dass Papa vermutlich schon auf heißen Kohlen saß, denn die Tagesschau würde in neun Minuten beginnen und danach der Donnerstagskrimi. Beides war für Papa ein absolutes Must-see. Also kramte Rica so schnell sie konnte den Collegeblock samt Kuli aus dem Koffer und folgte Papa. Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
Auf dem Dachboden hielt Rica inne. Hier hatte sich wirklich viel verändert. Der zugige Raum, den Mama und früher auch Oma zum Wäschetrocknen genutzt hatten, war gedämmt und verkleidet worden.
»Ja, da staunst du, Rica.« Papa schmunzelte. »Der Maurer kommt morgen und grundiert. Schade, dass du heute drüben warst. Mama hat bei Herrn Poulsen nach Tapete für die neue Wohnung geschaut und konnte sich nicht entscheiden. Du musst noch mal mit ihr hinfahren. Du kannst das besser als ich.«
Rica seufzte. »Ja, mache ich irgendwann.«
»Gut.« Papa schien erleichtert und hielt verschiedene Raufasermuster an die Wand. »Das mit der mittelgroben Struktur? Was meinst du, Rica?«
Rica sah von Muster zu Muster. Es gab verschiedene Raufaserstrukturen. Wer hätte das gedacht? »Ja, mittel ist bestimmt eine gute Idee.«
Papa überlegte. »Wir nehmen diese. Dass es so viel Auswahl gibt, ist anstrengend.«
»Ja.« Rica machte ein paar Schritte durch den Raum und blieb schließlich vor der Küchenecke stehen. »Habt ihr die selber gefliest?« Staunend strich sie über die großen weißen Wand- und Bodenfliesen.
Papa nickte. »Die Fliesen hat Basti ausgesucht und mitgebracht. Schau mal, wie sauber er sie um den Wasseranschluss und die Steckdosen zugeschnitten hat.«
Das konnte Rica nur bestätigen.
Papa sah auf seine Uhr. »Hast du notiert, dass der Maurer morgen kommt?«
»Ähm … Ja.« Rica öffnete die schmale Tür neben der frisch gefliesten Ecke und ging in das kleine Bad. Sie legte den Block auf dem Regal neben dem Waschbecken ab und machte ihre Notizen. Dieses Bad war erst vor ein paar Jahren eingebaut worden, als Mama die fixe Idee hatte, hier oben einen Partyraum einzurichten. Mehr als das Bad war damals nicht passiert. Es war nagelneu, fast nie benutzt, und nun war es gut, dass es da war. Denn in Zukunft wollten die Eltern den Dachboden an Studenten der Fachhochschule vermieten.
In rasantem Tempo lief Papa weiter durchs und ums Haus bis in den Stall. Rica machte eifrig Notizen. Ihr schwirrte schon der Kopf von all den Dingen, die sie in den nächsten Tagen zu tun und zu beachten hatte.
Wieder in der Wohnungwar Papa ziemlich brummig, denn von der Tagesschau sah er nur noch das Wetter. Er zeichnete auf seinem Notizblock eine Tabelle. Schon seit Rica denken konnte, gab Papa alles, um den Mördernoch vor dem Kommissaren-Team zu kennen. Früher war ihm das oft gelungen, doch die schnellen Wendungen der modernen Krimis und dass aus dem Nichts vorher nie erwähnte Details preisgegeben wurden, machten es Papa seit einiger Zeit unmöglich, den Täter zu entlarven. Hoffentlich wäre er später nicht allzu enttäuscht. Als Rica in die Küche ging und sich ein Glas Wasser holte, weil sie den Krimi stocklangweilig fand, kam Mama hinterher. Sie legte ihr Strickzeug auf dem Tisch ab, setzte sich und wies auf den Stuhl gegenüber.
»Setz dich. Wir haben uns noch gar nicht richtig unterhalten.«
Sie strickt bestimmt wieder was für Jule, dachte Rica. Vielleicht wäre Papas Krimi doch nicht so schlimm?
Emsig klapperte Mama mit den Stricknadeln. »Habt ihr viel Arbeit in der Praxis?«
»Ja, wir nehmen keine neuen Patienten mehr an.«
»Gehst du noch zum Linedance? Gibt es dort auch nette Männer?«
Rica trank ihr Wasser. »Manchmal. Meist sind sie schon verheiratet.«
»Oh, der Janni aus deiner Klasse, der hat am letzten Samstag auch geheiratet. Sie hatten ihren ganzen Blumenschmuck in unserem Laden bestellt. Ich habe den Brautstrauß gemacht, aus zweifarbigen Rosen. Und die ganze Tischdeko und die Blumen für die Kirche habe ich zusammen mit der Angela gesteckt. Das war eine Heidenarbeit, aber die Blumen waren so schön.«
»Eure Blumen sind immer wunderschön. Und so frisch«, lobte Rica bemüht munter und hoffte, damit vom Heiratsthema abzulenken.
Keine Chance. Geübt wechselte Mama das Wollknäuel, um nach Rosa mit Grün weiterzustricken. »Die kirchliche Trauung war so schön. Und das Brautkleid erst!«
Schwungvoll goss Rica sich neues Wasser ein. Papas Krimi konnte gar nicht so schlecht sein. Doch insgeheim wünschte sich Rica rüber zu Melli. Oder wenigstens runter zu Oma. Aber die ging neuerdings früh schlafen. Rica konnte sich noch gut an eine Zeit erinnern, als Mama und Papa noch anders waren. Ihren allerersten Freund - o mein Gott, dieser pickelige Typ mit den abstehenden Ohren, den Rica damals so schrecklich süß gefunden hatte - hatten sie herzlich aufgenommen und Papa hatte Melli und Rica mal ohne zu schimpfen nachts um zwei vom See abgeholt. Den Polizisten hatte er glaubhaft versichert, dass er seine minderjährigen Töchter in Zukunft nicht mehr mit älteren Jungs losziehen lassen würde. Zu Hause hatte Mama ihre deutlich sichtbare Betrunkenheit ignoriert und als Melli und sie die ganze Nacht gekotzt hatten und es ihnen am nächsten Morgen so dreckig ging, nur gesagt, dass man da halt durchmüsse. Damals waren Mama und Papa irgendwie noch nicht so spießig gewesen.
Inzwischen erzählte Mama nicht mehr von Jannis Hochzeit, sondern den neusten Klatsch aus der Nachbarschaft, für den sie sich früher nicht die Bohne interessiert hätte. Rica musste sie nach einer Weile einfach unterbrechen.
»Wir könnten rübergehen zu Papa. Der muss doch seinen Mörder fangen.«
»Ach, schade, aber wenn du willst. Ich vergesse immer, wie gern ihr zwei zusammen Krimis schaut.«
Tatsächlich ging der Krimi so uninteressant weiter wie befürchtet und Papa beschwerte sich, weil die plötzliche Überführung des Mörders seiner Meinung nach keinen Sinn ergab. Als das Heute Journal begann und die Eltern gebannt zum Fernseher starrten, war Rica heilfroh, noch verabredet zu sein.
***
Leise betrat Rica den Stall. Die Ziegen hatten sich bereits hingelegt und schreckten hoch, und die Kaninchen mümmelten an dem Grashaufen, in dem vereinzelt gelbe Löwenzahnblüten aufleuchteten. Linus döste im Stehen und hatte dazu einen Hinterhuf leicht angestellt. Rica schlich an ihm vorbei und die Leiter zum Heuboden hinauf. Als sie oben ankam, wurde sie schon erwartet.
»Da bist du ja endlich«, tadelte Melli und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Bierflasche. »Hat Papa dir so lange alles erklärt?«
»Nein, wir haben seinen Krimi geschaut und Mama hat mir von den Blumen zu Jannis Hochzeit erzählt.«
Melli stöhnte. »Drei Tage war sie völlig durch den Wind, weil sie so viele Blumengestecke machen durfte. Sie hat sehr bedauert, dass sie damals zu meiner Hochzeit noch keine zweifarbigen Rosen im Sortiment hatten.« Melli nahm einen weiteren Schluck. So steil wie sie die Flasche ansetzte, war anzunehmen, dass sie schon fast leer war. Hatte Melli schon so lange gewartet?
»Ich fand deinen bunten Wiesenstrauß sehr schön.« Rica öffnete ihr Bier. Es war eiskalt und sie nippte nur kurz daran.
Mellis Flasche war wirklich schon leer. Irgendwo aus dem Stroh neben sich zauberte sie eine zweite und öffnete sie sofort. »Ich wünschte ja manchmal, ich hätte gar nicht geheiratet.«
»Wie jetzt?« Beinahe hätte sich Rica an ihrem Bier verschluckt. »Ihr wart doch immer so verliebt. Ich habe mich vorhin schon gewundert, wie du Basti angeflampt hast. Nur, weil er aus der Flasche getrunken hat. Und einen Mann, der eigenständig Klopapier nachfüllt, habe ich auch noch nicht erlebt.« Rica starrte die Bruchsteine in verschiedenen Grautönen an der gegenüberliegenden Wand an. Sie hatte bislang nur mit einem Mann zusammengewohnt, und das auch nur sehr kurz. Das war wirklich nicht genug Erfahrung, um vergleichende Behauptungen aufzustellen.
Melli lachte kurz auf und dann schnaubte sie. »Ich kann es nicht haben, wenn er aus der Flasche trinkt und kein Glas nimmt. Und immer ist das Klopapier bei mir alle. Basti nervt.« Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Bierflasche.
»Selber Flaschentrinkerin«, konterte Rica und lachte.
»Das ist doch etwas völlig anderes. Aus dieser Flasche trinke nur ich. Basti stellt seine angenuckelte Colaflasche zurück in den Kühlschrank.«
»Melli, das sind doch nur Kleinigkeiten.«
Melli stieß Rica sanft in die Rippen. »Solche Worte aus dem Mund meiner Alles-muss-immer-perfekt-sein-Schwester.« Sie kicherte.
Rica rutschte im Stroh herum. »Das meine ich nicht. Ihr habt ein so harmonisches Familienleben. Bei euch ist es immer perfekt. Ich habe das Gefühl, ich kriege in Karlsruhe ziemlich viel nicht mit.«
Schlagartig schaute Melli sehr ernst. »Du kriegst tatsächlich ziemlich viel nicht mit, seit du in Karlsruhe bist.« Sie klang so traurig. »Ja, wenn Basti aus der Flasche trinkt, ist das nur eine Kleinigkeit. Aber dann kommt das Klopapier dazu und so häufen sich die Kleinigkeiten weiter und nerven mich. Es ist manchmal so langweilig mit ihm, weil alles immer gleich ist. Irgendwie erschreckend.«
»Hm.« Rica dachte an Bastis trockenen Humor und seine Hilfsbereitschaft. Melli und Basti waren so ein Traumpaar gewesen. »Vielleicht hört die Verliebtheit bei allen irgendwann auf?«, sinnierte Rica. »Was dich jetzt an ihm nervt, hat dich das früher auch genervt?«
»Nein. Früher fand ich es süß. Oder cool.« Melli kicherte zum Glück wieder.
»Vielleicht geht’s ihm auch so? Rede doch einfach mal mit ihm. Und schau im Internet nach, wie man seine Beziehung lebendig halten kann. Oder … vielleicht …« Grübelnd sah Rica ins Leere. Sie hatte leicht reden. Sie hatte es ja selbst nicht geschafft, ihre Beziehung lebendig zu halten. Ihre Beziehungen starben immer einen sehr frühen Tod. Wehmütig dachte sie daran, dass sie an Rico auch alles süß oder sexy gefunden hatte. Hätte er sie irgendwann auch genervt? Vielleicht war seine neue Freundin ja bald genervt von ihm. Hoffentlich. In Gedanken sah Rica Ricos sanfte braune Augen direkt vor sich, in denen sie so gerne versunken war.
»Rica, du hast nun lange genug von deinem Freund abgelenkt. Warum hast du Mama und Papa noch nichts von ihm erzählt und warum kommt er über Ostern doch nicht? Ich kriege manchmal auch ziemlich viel von dir in Karlsruhe nicht mit.«
Das mit dem Gedankenlesen zwischen Melli und ihr funktionierte also doch noch ab und an. Fahrig knibbelte Rica das Etikett von ihrer Bierflasche. Unten im Stall raschelte irgendein Tier im Stroh. »Als wir uns vor ein paar Monaten kennenlernten, fand ich es lustig, weil er Rico heißt.«
Melli lachte. »Rica und Rico. Passt.«
Rica rutschte wieder ein bisschen im Stroh herum, bis sie bequemer saß und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Es war, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. Und dann sind wir ein paar Wochen später zusammen nach Dänemark gefahren. Es war toll.« Rica blinzelte und schluckte. Jetzt bloß nicht losheulen. Konzentriert trank sie mehrere Schlucke Bier und spürte Mellis bohrenden Blick. Sie drehte ihre Bierflasche in der Hand und sprach leise weiter. »Er war mir nicht perfekt genug, ich habe an ihm rumgemeckert und ihn damit vergrault. Aber gestern habe ich versucht, ihn zurückzugewinnen.«
Melli beugte sich interessiert zu ihr. »Toll! Und?«
»Pft.« Rica winkte ab und stapelte die abgeknibbelten Schnipsel ihres Bierflaschenetiketts ordentlich neben ihrem Oberschenkel. »Schon jahrelang geht Rico mittwochs zu Luigi, weil es dort jeden Mittwoch selbstgemachte Ravioli gibt. Wir sind oft zusammen dort gewesen. Also bin ich gestern Abend auch hin. Weil ich mit ihm reden wollte.«
»Und? War er da?«
»Ja.«
»Was ist schiefgelaufen?«
»Er war nicht allein.«
»Er hat eine neue Freundin?«
»Schlimmer.« Rica schluckte bei der Erinnerung an den gestrigen Abend. »Seine Neue ist nicht sehr hübsch. Eher unauffällig. Klein und pummelig. Sie lacht viel. Scheint ’ne richtige Frohnatur zu sein.«
»Aber wenn sie nicht so gut aussieht …«, begann Melli.
»Warte. Ihre Tochter ist vielleicht im Kindergartenalter und auch eine richtige Frohnatur. Ihr Sohn ist ein paar Jahre älter. Die vier haben sich viel zu gut verstanden. Es war zum Kotzen. Ich wäre gerne gegangen, aber dann hätte er mich gesehen. Ich saß oben auf der Empore hinter einer Grünpflanze und habe sie beobachtet. Alle Bedienungen haben mich mitleidig angeschaut. Sie kannten mich, ich war ja wochenlang jeden Mittwoch mit ihm da. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Wie kann er plötzlich eine ganze Familie haben?« Nach einer heftigen Handbewegung zuckte Rica bei dem lauten Klirren erschrocken zusammen. Hatte sie da gerade wirklich ihre Bierflasche an die gegenüberliegende Wand geschmissen?
Melli riss die Arme hoch und rief: »Lass es raus!«
»Mist.« Rica starrte auf die dunklen Flecken an der Wand und die Scherben auf dem Boden. Unten im Stall schnaubte Linus und die Ziegen meckerten. »Ich fege das morgen auf. Glaub mir, ich bin jetzt so richtig in Entrümpelungslaune.«
Melli nickte und drückte Rica an sich. »Dein Märchenprinz ist zu einer anderen Prinzessin geritten. Du findest einen neuen.« Dann rappelte sie sich hoch. »Lass uns ins Bett gehen. Ich muss morgen arbeiten und du hast auch genug zu tun. Die ganzen Handwerker, die hier in nächster Zeit aufschlagen werden …«
Auch Rica krabbelte aus dem Stroh. »Jetzt hör bloß auf. Meine Freundin Anni hat auch gesagt, dass mich die ganzen knackigen Handwerker bestimmt von Rico ablenken werden.«
Während sie die Heubodenleiter hinunterstieg, lachte Melli. »Die meisten Handwerker sind uralt und kurz vor der Rente. Handwerk lernt doch keiner mehr. Wenn Papa und Basti nicht so gute Connections zu so vielen Handwerksbetrieben hätten, müssten wir auch viel länger auf einen Handwerker warten, so wie ganz normale Kunden.«
***
Leise betrat Rica die elterliche Wohnung. Nirgends brannte Licht und Mama und Papa waren nicht mehr zu sehen. Auf dem Tisch in der Küche standen bereits drei Frühstücksbrettchen und drei Tassen mit Untertassen.
Rica putzte ihre Zähne und schlich in ihr Zimmer. Sie musste dringend eine neue Arbeitshose bestellen. Ihr Modell war viel zu steif und fest, auch wenn es als extrem robust angepriesen wurde. Es gab leichtere Modelle im Onlineshop, von denen sie zwei bestellen würde. Sie brauchte eine zum Wechseln. Und könnte sie auch beider Stallarbeit tragen. Sie hatte gar keine Hose für dreckige Arbeiten dabei, weil ihr beim Packen in Karlsruhe aufgefallen war, dass sie so etwas gar nicht mehr hatte. Hatte sie in Karlsruhe so lange keine alte Hose gebraucht?
Im Onlineshop gab es zahlreiche leichte Hosenmodelle mit Stretchanteil und in Farben, die Melli auf jeden Fall gefallen würden. Türkis und Lila zum Beispiel. Doch Rica entschied sich für eine weiße Hose, wie sie die Malerinnen trugen. Dann landete das gleiche Modell in Schwarz auch noch in ihrem Warenkorb. Das waren ihre Farben. Fast ihr gesamter Kleiderschrank enthielt nur schwarze und weiße Kleidungsstücke. Ihr schwarzgetönter Bob gehörte mit ins Stylingkonzept. MitWeiß oder Schwarz oder Schwarz-weiß konnte man nie etwas falsch machen. Man konnte es immer x-beliebig miteinander kombinieren und war zu jedem Anlass passend angezogen.
Die Hosen würden in zwei Tagen geliefert und Rica fühlte sich nun bestens gerüstet.