1
Kann jemand leugnen, daß Wälder
eine Seele haben? Und Flüsse? Flüsse vor allem! Frag einen
Dubliner, ob der Liffey ein mechanischer Wasserlauf sei, oder einen
Corker, ob er den Lee habe singen hören, oder einen Waterforder,
was der Suir auf seinem Wege murmle, oder die Leute im Südwesten,
ob der Shannon bloß ein gutes Fischwasser sei, das auch
Elektrizität erzeugt. Sie wissen es besser und werden vermutlich
auf solch törichte Fragen überhaupt keine Antwort geben. Der Fluß,
der die Schiffe in die Stadt hinaufführt, wo Kitty und Barney Mac
Cleary sich fanden, ist einer der mächtigsten und sein Lebensweg
einer der seltsamsten. Mit einem Satz springt er aus einem Berghang
tief im Innern des Landes hervor, um kurz darauf mit sich selbst in
Streit darüber zu geraten, wohin er soll. Deshalb teilt er sich in
drei Bäche, die sich in drei verschiedenen Betten zwischen den
Bergen hindurchschlängeln. Auf ihrem meilenlangen Wege nimmt jeder
von ihnen eine Menge kleinerer Zuflüsse auf, bis an dem Punkt, von
dem aus man das Meer wie einen perlmutternen Streifen schimmern
sieht, zwei von ihnen übereinkommen, das letzte Stück zusammen zu
laufen. So brausen sie denn zum mächtigen Flusse vereint durch das
Tal, das von alters her Jammertal heißt, vorbei an größeren und
kleineren Städten mit Kirchen und Wirtshäusern, um endlich mit
unwiderstehlicher Gewalt an der großen Stadt vorüberzuströmen, in
der die beiden jungen Leute wohnten, worauf ein paar Meilen weiter
unterhalb, bei einem Fischerdorf, das schlechtweg Überfahrn heißt,
das Verwunderliche geschieht, daß sie auf ihren Schwesterbach
stoßen, den dritten der drei Bergbäche. Der ist inzwischen auch zum
gereiften Fluß erwachsen, voll von Schlamm und Lachsen, und nun
wälzen sie alle sich in übermütiger Dreieinigkeit ins Meer hinaus,
das zu Zeiten bei Landwind den Fluß zurückzudrängen versucht, dabei
aber im Höchstfall erreicht, daß das Wasser auf dem Hafenplatz in
der Stadt ein paar Fuß hoch steht. Doch geschieht das nur in den
seltenen Wintern, wo die Berge allzu freigebig mit Regen sind.
Draußen an der Mündung aber ist der Fluß so breit, daß man nur bei
ganz klarer Luft zur Not das gegenüberliegende Ufer sieht. Doch hat
das nicht viel zu sagen, da jene Seite zu einem andern Bezirk
gehört, mit dem man außer ein paar Sportwettkämpfen kaum etwas
Gemeinsames hat.
Niemand verläßt die Stadt, dem
nicht das Bild des Flusses im Gedächtnis bliebe mit den Schiffen,
die dort ihre Ladung löschen, und den bedächtig trottenden, sich im
Wasser spiegelnden Rindern auf ihrem letzten Spaziergang vor dem
Antritt der Reise über den Kanal in die englischen Schlachthäuser.
Das letzte, was man in dieser Welt von ihnen sieht, sind dann ihre
mächtigen roten, appetitlich zugerichteten Leiber, wie sie in dem
oder jenem Metzgerladen von Kensington oder Soho hängen. Hier in
der Stadt sagen sie Irland ihr letztes Lebewohl, während sie unter
dem wegweisenden Zuruf der Treiber und dem Kläffen der Hunde in
Herden den Kai entlang getrieben werden, vorüber an Bootswerften
und Strohstapeln, an Hunderten von zusammengekarrten Fässern mit
Dubliner Porter und am Glockenturm. An manchen Tagen ist es fast
unmöglich, sich einen Weg durch die Rinder- und Schafherden zu
bahnen, durch die Tausende von rot, grün oder blau gezeichneten
Schafen, deren Eifer, wild auseinanderzulaufen, ebenso groß ist wie
ihr Trieb, in der Masse unterzutauchen. Bemerkenswert ist die
Gelassenheit und Geduld, mit der die Irländer den Tieren Platz
machen oder einen Omnibus behutsam durch diese bewegte See von
steigenden und fallenden zottigen Fellwogen steuern. Dies geschieht
nicht aus einem Gefühl von Resignation oder in der Erkenntnis des
Unabänderlichen, sondern weil man unbeholfenen Mitgeschöpfen aus
dem Weg gehen muß, wie man Kindern ausweicht. Gleich dem Fluß
bleiben diese Viehtriebe jedem im Gedächtnis, der die Stadt einmal
besucht hat.
Will man aber das beste Bild von
der engen Verbundenheit zwischen Stadt und Strom bekommen, so muß
man flußaufwärts dorthin gehen, wo Peadar Phelan bis an sein Ende
lebte und drei Menschenalter lang seiner Arbeit nachging. Wenn man
dort am Südgiebel unter dem Strohdach steht, kann man das glänzende
Band meilenweit gen Osten verfolgen, wie es hinter den Klippen
rings um den großen Steinbruch verschwindet, der aus unbekannten
Gründen «die Teufelsschmiede» heißt. Wo der Fluß dann wieder zum
Vorschein kommt, hat er an Macht und Größe gewonnen und trägt
Schiffe auf seinem Rücken. Und kurz darauf strömt er in die Stadt
hinein, die Stadt, deren Wachsen er miterlebt hat seit der Zeit,
als hier dänische Schiffe vor Anker gingen und Wikinger in aller
Hast die erste behelfsmäßige Festung anlegten. Da droben von Peadar
Phelans Hof sieht man so recht, wie liebevoll sich die Stadt in den
Arm des Flusses geschmiegt hat, der hier eine Biegung macht, um
dann wieder sehr gerade bis zum Fischerdorf Überfahrn
weiterzulaufen. Ist er daran vorüber, so merkt man an den
schäumenden Strudeln, daß er nun von Norden her den anderen Fluß
aufgenommen hat. So weiten sich endlich in nebliger Ferne all diese
Wasser zu einem breiten Fjord aus und vereinigen sich mit dem
Meer.
2
Kitty stammte nicht aus diesem
Bezirk. Sie war aus dem Westen herübergekommen, wo die alten Leute
nur irisch sprechen und das Englische verachten. Wie viele echte
Irländerinnen hatte sie schwarzes Haar und blaue Augen. Sie war
schlank von Gestalt, ihre Hände waren klein und ihre Brüste zart,
doch klar abgesetzt, ihr Mund hatte jenen Zug erwachender Reife,
bei dessen Anblick junge Männer die Luft durch die Nase ziehen, wie
junge Hengste es tun. Ihre Bewegungen waren von der linkischen
Anmut eines jungen Tiers – der Himmel mag wissen, was für eines
Tiers. Ihre Rede war nur anscheinend wie die andrer junger Mädchen
ihres Alters, im Grunde war sie ganz anders: sie hatte Goldglanz an
sich und Feuer in sich, eine schwelende Glut.
Barney Mac Cleary aber stammte
nicht nur von hier, sondern hatte auch sein ganzes Leben in dieser
Umgebung verbracht, mit Ausnahme eines kurzen Zeitraumes während
der Schwarzbraunen-Zeit Schwarzbraune ( Black and Tans): eine von
Lord French in Irland aus ehemaligen englischen Kriegsoffizieren
gebildete, bei den Irländern verhaßte Polizeitruppe. Anm. d. Ü.. Da
war er mit anderen jungen Leuten auf der Walze gewesen. «Auf der
Walze sein» hieß bündig gesagt: nicht daheim schlafen, entweder
weil das gefährlich gewesen wäre, oder weil es romantischer schien,
anderswo zu übernachten. In den Adern von Menschen, die nicht durch
Musikkorps, Fahnen und Fackelzüge vor die Tür gelockt werden,
fließt sicher kein keltisches Blut. Wer keine Freude an
doppelsohligen Stiefeln, an derben Ledergürteln, an Türen hat, die
nur auf das Stichwort von Männern mit zusammengebissenen Zähnen und
rollenden Augen aufgetan werden, wer nicht Lebenslagen, die es für
ihn ratsam machen, sich durch finstere Seitengassen zu schleichen,
höher schätzt als die Möglichkeit, vor aller Augen höchst prosaisch
über den Marktplatz zu spazieren, der ist kein richtiger
Irländer.
Nun, was das anbelangt, ging
Barneys Paß schon in Ordnung. Aber nachdem er die zumindest nötige
Anzahl Bomben geworfen und ein paar Edinburger Jungen kaltgemacht
hatte, war seine gesunde Vernunft nach einigem Widerstreben
gefühlsmäßig dahin gelangt, die bunten Schimmel seiner Phantasie
vom Streitwagen abzuspannen und sie für bürgerliche Zwecke in
Gebrauch zu nehmen. Nach reiflicher Überlegung hatte er es so weit
gebracht, daß er Mal auf Mal mit Nachdruck zu wiederholen
vermochte, was er Kitty bei einer der ersten Gelegenheiten gesagt
hatte, wo sie richtig miteinander sprachen: «Wenn wir de Valera
jetzt nicht mehr folgen können, liegt das nicht daran, daß wir ihn
weniger, sondern daran, daß wir unser Vaterland mehr lieben.» Kitty
war damals mit dem hundertfünfzigprozentigen irisch-irischen
blutdürstigen Amazonen-Korps in Verbindung getreten, das unter dem
Namen Cumann na mBan bekannt ist. Sie schüttelte den Kopf und
erwiderte auf gälisch: «Soll ich dir sagen, warum du in der
Mehrzahl sprichst? Weil das bequemer ist! Zählst du dich da
überhaupt mit? Es ist vergleichsweise leicht, zu sagen: Wir
Menschen sind geborene Lügner. Viel schwerer ist es, zu sagen: Ich
bin ein verdammtes Lügenmaul, das jeden Tag sein halbes Hundert
nackte oder mehr oder weniger drapierte Lügen von sich gibt.
Wahrhaftig, Mary Mac Swiney hatte recht, als sie hier in der
Versammlung erklärte, wir könnten schon seit Jahren eine richtige
Republik haben, wenn wir nicht so an unseren heimischen
Fleischtöpfen hingen … das heißt, ihr hängt dran … du hängst dran!»
Das übersetzte sie dann noch, um ihn zu verhöhnen, ins Englische
und empfahl sich.
Er hatte ihr antworten wollen:
«Ich sage: wir, weil unser viele sind.» Aber er war nicht
schlagfertig und von Natur schweigsam. Er war der geborene Zauderer
und wirkte in der Gesellschaft junger Leute leicht als Außenseiter,
weil er wußte, daß er das, was die andern sagten, zehnmal besser
hätte sagen können, wenn man ihm nur Zeit dazu gelassen hätte. Er
kannte seine Langsamkeit, wußte aber auch den Grund dafür: er
schickte keinen Satz in die Welt, bevor der richtig laufen konnte.
Solche Leute bringen es nicht zu gesellschaftlichen Erfolgen, denn
die Gesellschaft verlangt flinkere Burschen, frischere Burschen,
mundfertigere Burschen. Ob sie klug sind, ist weniger wichtig, denn
niemand macht sich die Mühe, das nachträglich festzustellen.
Solche kleinen Plänkeleien, wie
hier Kitty und Barney, führen junge Leute in einem Lande, wo hinter
dem betäubenden Lärm des Tages und dem einförmigen Sang der Arbeit
unablässig das nervenerregende Summen eines großen ungelösten
Problems hörbar bleibt. Im übrigen waren ihre Zusammenkünfte rein
kameradschaftlich, und zuzeiten «gingen sie miteinander». Sie
hatten sich zum erstenmal im Jahr zuvor kurz nach Neujahr
getroffen, als Barney von seinen Streifereien für eine Weile nach
Hause gekommen war. Um einiges zu besorgen, hatte er mit dem alten
Patty zusammen die Stadt aufgesucht, und während er sich mit einem
Kameraden unterhielt, sah sich Pat Daniel Holdens
Manufakturwarenauslage an. Für ihn waren die Schaufenster, vor
allem die der großen Warenhäuser, eine Art Kinoersatz. Ganz
begeistert rief er Barney heran und sagte: «Schau, sind diese
Wachsdamen nicht fabelhaft gemacht!» Namentlich die eine war
einfach ein Meisterwerk: schwarzes Haar, eine Haut, die fast zu
natürlich war, und Augen, die zwei schwarzen, schattigen Höhlen
glichen … bis sie plötzlich aufgingen und Pat vergißmeinnichtblau
ansahen. Hätte Unsere Liebe Frau draußen vor dem Dom Pat
unversehens gefragt, wie sein wertes Befinden sei, dann wäre seine
Bestürzung auch nicht größer gewesen. Nun lachte die Dame sie beide
an – zuerst Pat und dann, etwas zurückhaltender, Barney. Es war
aber Kitty, und sie machte sich öfters das kleine Vergnügen, sich
ins Schaufenster zu schmuggeln und mäuschenstill zu stehen, bis sie
jemand verblüffen konnte.
Zum zweitenmal hatte Barney sie
am 31. Januar bei der Netzweihe draußen im Fischerdorf Überfahrn
gesehen. Mit seinem Kameraden Roddie Carroll zusammen fischte er
gelegentlich da draußen an der Flußmündung, und er hatte seine
geplante Abreise verschoben, um der Netzweihe beizuwohnen. Der
Bootshafen von Überfahrn besteht aus zwei zementierten, durch eine
kurze Mole getrennten Becken. Bei Ebbe liegen die Boote oft auf dem
Trockenen, bei hohem Wasserstand aber strömt die Flut mit Gewalt
hinein und füllt die Kammern bis zum Überlaufen. Wer also aufs
Wasser will, muß darauf acht geben, zur rechten Zeit hinaus- und
hereinzukommen, weil es sonst leicht zu spät ist und er dann sein
Boot draußen vor dem Bollwerk vertäuen muß, wo es keineswegs sicher
liegt.
Die Häuser des Fischerdorfes
erfüllen einen Kessel zu Füßen eines steilen Granitbuckels von ein
paar hundert Fuß Höhe, und ganz oben auf dem Buckel liegt die
Kirche. Nachdem sie dort die Messe gehört hatten, gingen die Leute,
unter ihnen auch Barney, den Zickzackweg zum Hafen hinunter, und
während der Bischof inmitten einer Priesterschar draußen am
Molenkopf die bevorstehende Fangzeit einsegnete, knieten die
Fischer entblößten Hauptes in ihren Booten, die in langer Reihe am
Kai nebeneinander lagen. Nach Abbetung des Rosenkranzes hob Barney
die Augen auf, und das erste, was er erblickte, war ein
schwarzhaariges Mädchen mit Augen wie zwei dunkle Höhlen. Er gab
Roddie einen Schubs und flüsterte: «Wer ist denn das Mädel da in
der roten Kluft?»
«Was für'n Mädel?» fragte Roddie
und sah auf.
«Die Schwarze da, die grade
aufsteht!» sagte Barney ungeduldig.
«Ach die? Das ist Kitty.»
«Was für 'ne Kitty?»
«Kitty von Coleraine
selbstverständlich. Cumann na mBan in Weißglut. Nach ihrem Rezept
kocht man Irish Stew aus Dynamit und dem Blut von
Schwarzbraunen.»
«Kennst du sie?»
«Nur mit der Ruhe! Ich stell dich
ihr vor. Übrigens kannst du sie jeden Mittwoch abend bei Jimmy
Malone treffen, dem kleinen Photographen.»
«Ist das sicher?»
«So sicher, wie der Esel graue
Haare hat.»
Sie waren aufgestanden und aus
dem Boot gesprungen. Nachdem jeder ein paar Bekannte begrüßt hatte,
trafen sie wieder an der Schenke eines der drei Wirtshäuser des
Ortes zusammen, die an diesem besonderen Tage jedem billigen
Anspruch Genüge tun konnten.
Barney fing wieder vom Gleichen
an: «Wie ist sie denn sonst … abgesehen von der Politik?»
«Der Bruder ist Jesuit und eine
Schwester in einem belgischen Kloster, und sie selber ist eins von
den Mädeln, bei denen es ohne Pfarrerssegen nix gibt. Aber sowas
weiß man ja nie ganz sicher, ehe man mal angeklopft hat.»
«Ach, halt den Mund!» sagte
Barney fast zornig, und dann gingen sie wieder zum Hafen hinunter,
um vor Abend noch das Netz unter Dach zu bringen.
Sie trafen Kitty und ein anderes
Mädchen vor dem Altar mit dem übermannshohen Kruzifix westlich von
den Geräteschuppen, und Barney bat Roddie unverweilt, ihn
vorzustellen.
Sie hatte einen festen Blick und
einen herzhaften Händedruck und sagte mit offenem Lächeln: «Wer war
denn der alte Mann, mit dem Sie – es ist ein paar Wochen her –
draußen vor unserem Schaufenster standen?»
Barney gab ihr Bescheid, und sie
erklärte mit Nachdruck: «Er hat ein verteufelt gutes
Geschau!»
«Himmel, da sollten Sie erst
meinen Großvater sehen!» entgegnete Barney. «Er wird nächstens
hundertundfünf Jahre und fährt noch immer mit Nelly allein in die
Stadt.»
«Nelly ist wohl ein Esel?» sagte
Kitty.
«Richtig geraten!» antwortete
Barney. «Er wird im Sommer neunundzwanzig und steckt voller
Narrenstreiche! Sie sollten kommen und sich unsere ganze Menagerie
anschauen.»
«Gern. Aber dann müssen Sie auch
kommen und unsere Menagerie anschauen. Aber die Begeisterung für
Ladenbesuche wird bei Ihnen auch nicht größer sein als bei andern
Mannsleuten.»
«Im allgemeinen nicht … besonders
nicht für große Geschäfte. Da hat man so ein Gefühl, als ob einem
der Körper zusammenschrumpft und die Arme und Beine ins Unendliche
wachsen, bis man nicht mehr weiß, wo man sie lassen soll.»
«Aber die Auswahl ist größer als
in den kleinen», bemerkte sie.
«Was kann das nützen, wenn man
nicht mehr als den zehnten Teil sieht! Das ist grade wie bei den
ganz großen Bibliotheken. Die machen mir keinen Eindruck – das
heißt, in gewisser Weise schon. Ich krieg da nämlich ein Gefühl,
als ob sich mir die ganze Sammlung auf die Brust legte und mich
platt drückte, oder als ob sie zu einer Riesensäule wüchse, und ich
sitze oben, so hoch, daß ich die Erde und die Menschen unter mir
nicht mehr sehen kann.»
«Mein Gott, Sie sind doch nicht
am Ende Dichter!» fuhr es ihr heraus. Das klang so erschrocken und
komisch, daß beide lachen mußten.
«Im Augenblick bin ich mehr
Fischer.»
«Ein guter?» fragte sie.
«Aufrichtig gesagt: nein! Sowas
ist angeboren, sonst ist's ein Hundeleben. Ich schlängle mich so
durch … das ist alles.»
Etwas unvermittelt machte sie ihn
darauf aufmerksam, daß an dem aus seiner Tasche guckenden Zipfel
des Taschentuches ein Wäschereizeichen eingenäht war. Gleich darauf
fiel es den Mädchen ein, daß sie zum Tee heim mußten. Auf der
andern Seite des Stromes hatte es geregnet, und ein Regenbogen
spannte sein farbiges Band über den Himmel. Als die jungen Männer
auf eins der Wirtshäuser zuschritten, um noch rasch vor der Abfahrt
ihres Omnibusses in die Stadt ein Glas Porter zu trinken, war die
Sonne schon untergegangen und der Himmel im Westen ein
Flammenmeer.
3
Am nächsten Tag ging Barney
wieder auf die Walze, und das keine Stunde zu früh. Denn um die
Mittagzeit erschienen vier Mann von den Hilfstruppen, dem
englischen Gentlemankorps, oben bei ihm, um ihm einen schönen Gruß
auszurichten und ihn zu einer kleinen gesellschaftlichen
Unterhaltung ins Hauptquartier mitzunehmen. Sie glaubten natürlich
nicht, daß er fort war, da man ihn tags zuvor noch so spät in
Überfahrn gesehen hatte. Also durchsuchten sie den Hof aufs
genaueste, schnitten die Matratzen auf und wühlten darin nach
Revolvern und Munition. Im übrigen waren sie höflich, spaßten mit
dem alten Mann und versprachen wiederzukommen, ein Versprechen, das
sie eine Woche lang jeden Tag gewissenhaft einhielten. Barney
erfuhr das natürlich durch die I.R.A., die irische
Revolutionsarmee, und sah infolge dieser ganzen Geschichten Kitty
erst im Juni wieder. Sie hatte auf Umwegen erfahren, wo er sich
aufhielt, und ihm einen kameradschaftlichen Gruß geschickt. Das
machte ihm Mut, und er bat sie, doch auf dem Hof vorzusprechen, da
er jetzt endlich auf Besuch heimkommen würde. Sie erschien auch
gleich an einem der nächsten Abende nach Geschäftsschluß und fand
sich gut in Peadar Phelans oder, richtiger gesagt, Maggies Stuben
zurecht; denn Stuben sind schließlich mehr Sache der Frauen und
mehr ein Bild ihrer Arbeit als der des Mannes.
Es war sauber in ihrer Stube –
sauber bis in den letzten Winkel. Der steinerne Fußboden, der Kamin
mit dem Kesselschwinger, die Blumentöpfe unter der Decke, das
Spinnrad – alle waren Zeugen dafür, die gedämpft und ein wenig kühl
von täglicher Ordnung und Pünktlichkeit sprachen. Obwohl nie müßig,
war Maggie doch nie besonders geschäftig. Sie gehörte zu den
Leuten, die viel vor sich bringen, weil sie jedes Ding zur rechten
Zeit tun, und nie schlampig arbeiten, weil sie nie etwas auf später
verschieben. Ihre Schürze war weiß, wenn die grobe Arbeit in der
Frühe hinter ihr lag, und ihr Haar war weiß, auch ihr Gesicht war
weiß, obwohl sich niemand erinnern konnte, daß sie je irgendwie
krank gewesen wäre.
Auf Kitty wirkte es wunderbar
beruhigend, Maggies magere und feste Hände zu beobachten, wie sie
die Stricknadeln führten, ohne jede Hast und mit der Regelmäßigkeit
einer guten Maschine. Bisweilen unterbrach sie die Arbeit für einen
Augenblick, um sich mit einer Stricknadel am Kopf zu kratzen oder
mit dem Handrücken unter der Nase durchzufahren – Bewegungen ohne
besonderen Zweck oder vielmehr mit dem unbewußten Zweck, zu zeigen,
daß sie keine Maschine war. Ihr Wesen war Freundlichkeit, aber eine
verhaltene Freundlichkeit, die sie niemals zu übertriebenen
Gefühlsäußerungen verleitete. Etwas Humor hatte sie auch. Als Vater
Parker sie eines Tages bekümmert fragte, ob sie den Eindruck hätte,
daß die arme Familie da droben, fünfhundert Schritt weiter die
Straße hinauf, jetzt darauf bedacht wäre, den Fasttag einzuhalten,
antwortete sie freundlich und ohne jeden Spott: «Am Freitag zu
fasten, kann für die Leute keine Kunst sein, aber an einem Feiertag
mal ein Stückchen Speck zu ergattern, das wäre für sie eine Kunst,
um nicht zu sagen ein Mirakel!»
Kitty hatte Maggie allein daheim
getroffen, und die alte Frau hatte sie mit einem kurzen Abriß ihrer
Erfahrungen auf dem Gebiete der Hühnerzucht unterhalten, und Kitty,
die auch etwas von der Sache verstand, war mit Maggie durchaus
darin einig, daß man den Hühnern die Eier direkt unterm Steiß
wegschnappen muß, wenn sie die Bezeichnung «erstklassig» verdienen
sollen. Auch sprachen sie von den Enttäuschungen, die man dabei in
andrer Hinsicht erleben kann, denn nur wenige sind sich klar
darüber, was für eine große Rolle Dinge wie Gesundheit, gute Laune,
Futter und ähnliches bei den Tieren spielen. Da gab es Leute in
Kittys Heimat, die fütterten die Hühner mit Fischen … rohen
Fischen! Maggie bekreuzigte sich entsetzt und bemerkte, daß man
wirklich sonderbare Sachen erleben könnte, und das veranlaßte
Kitty, eine Geschichte von einem Jungen aus ihrer Gegend zu
erzählen, der einen Bauernhof angezündet hatte, um tags darauf in
der Glut Kartoffeln braten zu können.
«Das kommt von der Pfadfinderei,
da kriegen sie alle den Koller!» sagte Maggie und fegte mit einer
einzigen Handbewegung Baden-Powell und sein Werk zur Tür hinaus,
fort aus jeder ehrbaren und anständigen Gesellschaft.
Inzwischen war Peadar Phelan
hereingekommen. Der alte Mann war noch in seinen unglaublich hohen
Jahren so schmuck, daß man sich wohl vorstellen konnte, welche
Qualen er vor achtzig Jahren allen irischen Mädchen bereitet haben
mochte, die das Pech gehabt hatten, ihm in den Weg zu laufen. Mit
viel Humor erzählte er, wie man ihn behandelt hatte, als er das
erstemal nach London kam. Als er nämlich dort einen
Droschkenkutscher nach einem bekannten Gasthof in der Nähe des
Eustonbahnhofs fragte, versprach ihm der Rosselenker, ihn sicher
hinzubringen, und Peadar stieg ein. Als Peadar drei Viertelstunden
gefahren und dabei von Minute zu Minute zappliger geworden war,
hielten sie endlich vor einem hübschen kleinen Gasthof, und Peadar
bezahlte. Drinnen fragte ihn der Portier, wo er herkäme, und als er
hörte, daß Peadar vom Eustonbahnhof kam – was er übrigens seiner
Sprache nach ohnehin nicht bezweifelt hatte – führte er ihn ans
Fenster, zeigte auf ein häßliches Gebäude gerade gegenüber und
fragte: «Siehst du das Haus da?» Und da Peadar an den Augen nicht
das geringste fehlte, erklärte der Portier kopfschüttelnd: «Das ist
der Eustonbahnhof … Ihr werdet auch nie gescheiter!» Der Alte
lachte selbst laut über diese Geschichte und war den Engländern
nicht im geringsten gram, eher klang etwas wie Bewunderung in
seiner Stimme mit. Durch Kittys Beifall ermuntert, erzählte er noch
einige von seinen seltsamen Erlebnissen in der großen Stadt, so die
Sache mit dem Mann, den er gefragt hatte, ob er ihm nicht sagen
könnte, wo die Westminster-Abtei sei, und der ihm mit geheuchelter
Gekränktheit erwidert hatte: «Sie dürfen ruhig meine Taschen
durchsuchen, Herr Nachbar!» Kitty wußte wohl, daß dieser Scherz
viel älter war als die Westminster-Abtei, aber sie lachte doch,
denn es war ihr wirklich ein Vergnügen, wie sich Peadar selbst
freute.
Als endlich Barney von einem
Besuch in der Nachbarschaft heimkam, entdeckte Kitty, daß sie ihn
fast gar nicht vermißt hatte. Kaum daß sie ihn kannte, gefiel ihr
der alte Mann schon so gut, daß sie ebenso gern bei ihm in der
Stube geblieben wäre, statt mit Barney, der sie darum bat, zum
Wasserholen aufs Feld hinauszugehen. Die Quelle lag ein paar
Minuten vom Hause entfernt, nach dem Grundsatz: «Wenn Gott das
Wasser dort hat entspringen lassen, ist es nicht unsere Sache,
daran was zu ändern», weswegen denn auch die Leute in Irland ganz
zwecklos jährlich Hunderte von Meilen hin- und herlaufen. Barney
verhielt sich schweigsam, bis er die Kessel und einen Eimer gefüllt
hatte. Dann bat er das Mädchen, das kleinste Gefäß zu nehmen, und
fügte leise hinzu: «Wissen Sie schon, daß sie gestern gehenkt
worden sind?»
«Das war ja zu erwarten»,
entgegnete sie halblaut.
«Sie starben wie Irländer!» fuhr
Barney fort. «Sie versprachen, drüben, wo sie jetzt sind, für
Irland zu beten.»
Er setzte die Gefäße nieder und
wühlte in seinen Taschen: «Ich hab hier die Proklamation, die sie
uns als letzte Botschaft schickten: … Kämpft weiter! … Laßt nicht
nach im Kampf für Ruhm, Ehre und Freiheit unseres teuern alten
Irlands!» Er las ihr die ganze Botschaft vor. Die hingerichteten
Aufrührer waren Maher und Foley, die am Tag zuvor früh um sieben
Uhr ihr Leben hatten lassen müssen.
«Das ist sonderbar», sagte Kitty
nach einer Pause, «ich hatte nach dem, was ich über Sie hörte, den
Eindruck, Sie wären für die republikanische Arbeit nicht recht
geeignet, aber wenn ich Sie so anseh, scheinen Sie mir doch aus dem
richtigen Stoff zu sein. Lassen Sie uns jetzt, wo es drauf ankommt,
nicht sitzen! In kurzer Zeit ist die Sache vorbei. Wir werden die
Henker bald über den Kanal heimgeschickt haben.»
Er entgegnete kurz: «Ich pflege
niemand sitzenzulassen, aber … aber … aber es ist eine höllische
Schweinerei!»
«Was ist eine höllische
Schweinerei?» fragte Kitty überrascht.
«Dies Mörderhandwerk! Stellen Sie
sich doch bloß einmal vor: zu liegen und zu warten, Minute um
Minute, Stunde um Stunde, an der Stelle, wo wir wissen, daß sie
früher oder später vorbeikommen müssen. Wir haben Befehl, zu
schießen, sobald sie in der Falle stecken. Endlich kommen sie; und
wie sehen sie aus, diese bluttriefenden Banditen? Ich werde Ihnen
sagen, wie sie zum Beispiel bei mir aussehen: da um die Ecke vom
Armenhaus, wo wir im Hinterhalt liegen – Hinterhalt, immerfort
Hinterhalt! – kommen die ersten Reihen und singen: ‹ Daisy, Daisy
…›» Er hielt einen Augenblick inne, bevor er fortfuhr: «‹ I am half
crazy all for the love of you …› Sie kennen das ja … Aber es sind
die reinsten Jungen, Spielkinder, die sich ihre Blechtöpfe am
Riemen vor die Brust gehängt haben, weil man sie bei der Hitze
nicht auf dem Kopf haben kann … warm war's an dem Tag wie in einem
Hosensack … und nun kommen sie immer näher … ich glaube, dieser
Gesang wird mich dreißig Jahre verfolgen. So … und jetzt sind sie
da. Jetzt sollen wir schießen. Und ich, ich soll das Zeichen geben.
Aber ich kann nicht. Schließlich fängt es aus dem Armenhaus zu
knattern an, wo der Haupttrupp unserer Leute liegt. Die Jungen
fahren zusammen, ein paar machen ihre Schießeisen fertig und
ballern los. Sie sehen sich instinktiv nach einer Deckung um,
obgleich sie ebenso instinktiv wissen, daß es keine gibt. Nein,
ausgeschlossen! Rechts und links vom Weg sind hohe Mauern, und im
Schutz der Bäume hinter diesen Mauern sitzen wir verhältnismäßig
sicher und feuern. Ein paar von den Jungen schreien auf, die
meisten aber singen … Sie wissen … Daisy, Daisy … Das ist's aber,
was nicht in meinen Schädel hinein will, daß ich vielleicht für
solche Taten von späteren Zeiten als Held gefeiert werde.»
Kitty lächelte finster: «Wer sagt
denn, daß spätere Zeiten Sie als Helden feiern werden?»
Verletzt und unsicher sah er sie
an: «Ich versteh nicht …»
Er hatte goldene Härchen auf den
Händen. In der purpurroten Junidämmerung glichen ihre Augen mehr
denn je zwei dunkeln samtenen Höhlen. Sie musterte seine Hände, und
er forschte in ihrem Gesicht.