Verschwinden - Zoé-Filiz Glaw - E-Book

Verschwinden E-Book

Zoé-Filiz Glaw

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Beschreibung

Sein Verlangen überkommt ihn nachts. Mitten im Schlaf. Mit offenen Augen liege ich neben ihm und lausche seinem Atem, bis ich mir jedes Muster, jede Synkope eingeprägt habe, gemeißelt in den Stein meines Seins, meiner Erinnerung - sein Atem: meine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. In der Dunkelheit des Schlafzimmers ist es die ganze Welt.

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Für meine Freundinnen,

vor allem die, die ich unterwegs verloren

habe.

Niemandsland. Kann nicht vor, nicht zurück. Die Wände rücken näher. Die Stille drängt, stürmt auf mich ein. Verharre in Schweigen, in Dunkelheit, sehe die Finger nicht vor meinen Augen.

Wind zieht. Düstere Helligkeit nur durch die rechteckigen Fenster. Das halte ich niemals aus. Hier allein. Schwanke zwischen Wachen und Schlafen, kann mich nicht hingeben, kann mich nie hingeben, Angst sitzt mir im Nacken und krallt sich an meiner Kopfhaut fest.

Schnee. Die Wölfin. Fröstelnde Gänsehaut, Haare stellen sich auf. Kopflos. Und klarer als lange Zeit-

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Kapitel dreizehn

Kapitel vierzehn

Kapitel fünfzehn

Kapitel sechzehn

Kapitel siebzehn

Kapitel achtzehn

Kapitel neunzehn

Kapitel zwanzig

Kapitel einundzwanzig

Kapitel zweiundzwanzig

Kapitel dreiundzwanzig

Kapitel vierundzwanzig

Kapitel fünfundzwanzig

Kapitel sechsundzwanzig

Kapitel siebenundzwanzig

Kapitel achtundzwanzig

Kapitel neunundzwanzig

Friedhof

eins

Er fällt auf, weil er allein ist. Niemand kommt allein hierher. Wer in diese Bar kommt, will gesehen werden.

Er sitzt am Tresen. Sein Hemd ist zerknittert, das Jackett hängt achtlos über seinen Knien. Trotzdem wirkt er nicht fehl am Platz, eher als würde er genau hier hingehören. Seine Hand schenkt das Glas in einem leichten Kreis und die dunkle Flüssigkeit darin hebt und senkt sich in einer gleichmäßigen Welle am durchsichtigen Rand. Jedes Mal, wenn ich hinsehe, starrt er hinein und ich bin mir nicht sicher, ob er nicht langsam darin ertrinkt.

Der Mann neben mir legt ab und zu seine Hand auf meinen Oberschenkel ab. Wieder und wieder ziehe ich sanft mein Bein unter ihr weg und werfe ihm ein bestimmtes Lächeln zu.

Es gibt Grenzen, haben mir die anderen Mädchen erklärt, die von der Agentur sehr eng festgelegt waren. Kein Körperkontakt. Keinen Sex.

Er ist massig und reicht nach abgestandenem Schweiß, nach Zigarettenrauch und Aftershave. Hinter meiner lächelnden Fassade hätte ich gern das Gesicht verzogen, um irgendwie auf seinen aufdringlichen Geruch reagieren zu können. Aber ich bin mittlerweile gebt. Außerdem geht es hier um den nächsten Semesterbeitrag, ich muss mich also zusammenreißen.

Abende wie heute sind mir am liebsten. Ich muss nichts weiter machen als zuhören. Oder so tun. Ich muss nichts von mr preisgeben. Ich bin eine andere, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Was zählt: Lächeln und ihm ab und an in die Augen blicken, nicken oder nachfragen. Den perfekten Augenaufschlag zum richtigen Zeitpunkt. Ich spiele keine Rolle. Während er spricht und immer wieder mein Glas füllt, obwohl es noch voll ist, schweifen meine Gedanken ab.

Mein Blick streift durch den Raum, folgt den wabernden Schwaden der Zigaretten. In den rohen Wänden der Bar sind dunkle Nischen verborgen, die durch Vorhänge von dem großen Raum getrennt sind. In eine solche Nische hatte mich der Mann lenken wollen, aber ich steuerte elegant einen der Tische an, die an einer Wand standen, gut sichtbar für Kellner und Nachbartische und trotzdem abgeschieden genug für intime Gespräche.

Schon während unseres Essens im La Lune wurde mir klar, dass ich erstens einen dicken Fisch an der Angel hatte und es zweitens schwierig werden würde, ihn wieder loszuwerden. Denn er will mehr. Ich sehe es in seinen Augen, die mit ihren Blicken fast nie die meinen treffen, vielmehr wandern sie über meinen Hals, meinen Busen, meine Hüften und ich bin mir sicher, dass er meinen hintern berührte, als er mir die Tür aufhielt. Mit Absicht. Ich lächelte. Das ist der Job.

Die Zeit fließt zäh dahin, habe das Gefühl für sie verloren. Ich sehne mich nach meinem Bett, danach, diese für seinen massigen Körper viel zu hohe Stimme endlich loszuwerden. Während er von seiner Frau und seinen Kindern spricht, die ihn langweilen und seiner Arbeit, bei der er Geld verdient, ohne wirklich etwas zu tun – ihn also auch langweilt – während der Alkohol in meiner Kehle perlt, steigt meine Verachtung ihm gegenüber. Frage mich, warum ich mich selbst so erniedrige.

Ich betrachte den Mann am Tresen. Es ist dunkel, die geklinkerte Decke wird in immer gleichen Abständen von auf dem Boden angebrachten Spots beleuchtet. Der Raum ist kreisrund, eine Arena. Die Tische stehen auf drei ansteigenden Ebenen. In ihrer Mitte: die Bar. Sie verläuft um einen Quader aus Glasfliesen, der bis zur Decke reicht.

Wichtig aussehende Männer in Anzügen und mit Zigaretten in den Händen bahnen sich ihre Wege durch die Tische, Frauen in hohen Schuhen und kurzen Röcken begleiten sie. Frauen wie ich, kann mir nicht vorstellen, dass eine dieser Frauen eine ernsthafte Beziehung zu einem dieser Männer hat. Die Männer führen einen Schaukampf, zeigen ihre neusten Eroberungen, gekauft oder nicht ist ganz egal. Eine Zurschaustellung, die einigen dieser Frauen das Studium finanziert oder den Unterhalt für die Kinder. Aber alles ist Vermutung, nichts Wahrheit.

Er fällt mir auf, er ist nicht so glatt wie die anderen du er ist allein zwischen all diesen Gruppen von Männern und eleganten Frauen, die sich nur präsentieren. Seine Unterarme stützen seinen Oberkörper auf dem Tresen ab, selbst im indirekten Licht erkenne ich seine muskulösen Schultern. Er scheint den Barmann zu kennen. Wenn sein Drink leer ist, steht ein paar Sekunden später ein neues Glas vor ihm.

Aus dem Augenwinkel nehme ich eine fleischige Hand wahr, er hat bemerkt, dass meine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihm liegt. Er ist gerade dabei, seine Finger auf der nackten Haut in meinem Nacken zu platzieren. Nervosität kribbelt in meinem Bauch. Mit einer geschmeidigen Bewegung wende ich mich ihm zu und die Hand verfehlt ihr Ziel und hängt einen Moment lang merkwürdig in der Luft. Er besinnt sich und zieht eine neue Zigarette halb aus der Packung, reicht sie mir und gibt mir Feuer.

Ich setze meine Maske wieder auf und lächele ihm zu, sehe ihm direkt in die Augen. Er runzelt die Stirn. Verdammt, schießt es mir durch den Kopf, ich darf ihn nicht verlieren.

Ich habe Glück. Er lässt sich leicht ablenken. Ich setze mich ein wenig aufrechter hin, meine Brüste strecken sich ihm entgegen und mein Knie berührt absichtlich seines kurz. Ich habe ihn wieder. Wider Willen. Will am liebsten aufstehen und gehen.

Er spricht wieder von seiner Arbeit, die ich nicht richtig verstehe, ich glaube, es geht um irgendwelche Deals, die er für große Banken aushandelt. Es ist mir auch egal, mein Interesse ist geheuchelt. Ich bleibe bei ihm für ein paar Minuten, bis ich mir sicher bin, dass er wieder ganz in sich und seinen Monolog versinkt.

Meine Augen suchen, suchen und finden, eigentlich weiß ich genau, wo ich suchen muss in den Rauchschwaden, aber je später es wird, umso schwerer ist es, etwas zu erkennen. Ich weiß, ich werde ihn finden, in genau der gleichen Haltung wir vor ein paar Minuten. Wenn ich ihn finde, stellen sich die Haare auf meinen Armen auf.

Ich entschuldige mich, stehe auf und schlängele mich durch die Tische zur Toilette. Die ersten Schritte sind wackelig auf den ungewohnten hohen Schuhen. Aber da ist genug Alkohol und ich trete fester mit der Ferse auf, bohre Löcher in den unebenen Boden.

Ich muss an ihm vorbei. Ich spüre etwas, das mich nicht loslässt, etwas, dass immer wieder meinen Blick aufsaugt, Dunkelheit, Nuancen von Traurigkeit, von Abgründigkeit. Tiefer. Ich habe das trunkene Verlangen, ihn auf mich aufmerksam machen zu müssen. Fühle mich leicht und schwer zugleich.

Als ich den Tresen erreiche, verlangsame ich meinen Schritt. Die glänzende Flüssigkeit in seinem Glas bannt seinen Blick. Ungezählte Gläser Champagner und meine hohen Schuhe, mein schwarzes extravagantes Kleid machen mir Mut – ich lege meine Fingerspitzen auf den Tresen und ziehe sie über das glatte Holz auf ihn zu, während ich gehe. Ich bin in einem Film, bewege mich lasziv, unwiderstehlich. Als meine Finger in seinen Blickwinkel geraten, bin ich so nah, dass ich ihn mit der anderen Hand berühren könnte, wenn ich sie ausstrecken würde. Sein Geruch steigt mir in die Nase und ich weiß jetzt schon, dass ich mich an ihn erinnern werde, immer.

Er blickt auf und seine Augen bohren sind in meine, einen Atemzug lang, dann bin ich vorbei. Der Film ist aus. Ich hätte mich nie getraut, stehen zu bleiben, hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte, mein Mut verflog mit seinem Blick. Weiß nicht, wie man das macht, bin auch zum Arbeiten hier und nicht zum Vergnügen. Ich gehe vorbei und halte die Luft an, bis ich auf der Damentoilette bin.

Sie ist leer, in irgendeiner Kabine tropft Wasser in die Schüssel. Der süßliche Duft verschiedener Parfums hängt in der Luft. Ich lehne mich auf das Marmorwaschbecken und ziehe absichtlich die abgestandene Luft tief in meine Lunge. Ich versuche, dem Schwindel Herr zu werden, bin schon ziemlich betrunken, das ist zu viel, ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig, ich muss den Alten loswerden, ohne mein Geld zu verlieren. Und ich muss nüchtern werden.

Ich kann mein Gesicht im Spiegel nicht festhalten, das Licht ist so grausam, mir meinen Pegel deutlich zu zeigen. So würde ich meinen Job nicht zu Ende bringen. Die Tür wird aufgestoßen, habe die Augen geschlossen, um wieder eine wenig klarer zu werden, kaltes Wasser strömt über meinen Puls.

Und dann spüre ich seine Hand. Seine fleischigen Finger schrauben sich um mein Handgelenk. Während ich noch meine Augen öffne, drängt er mich gegen die Wand, sein fetter Körper auf meinen Knochen, sein saurer Atem auf dem Weg zu meinem Mund. Mir wird schlecht, seine Bewegungen sind zu schnell, aber ich kann nicht weg, sein Griff ist fest wie ein Schraubstock. Der Garant für meinen Semesterbeitrag hält meine Hand neben meinem Kopf an die Wand gedrückt, während er sich gegen mich drückt, seine nassen Lippen auf meinem Hals, sein Atem in meinem Ohr.

Beim Versuch, ihm auszuweichen, drehe ich meinen Kopf und sehe, wie seine Hand nicht mehr rot ist, sondern weiß vor Anstrengung. Sie ist kalt. Er schwitzt. Sein Keuchen klingt wie ein Röcheln. Auch er hat eine beachtliche Menge vom Champagner getrunken. Er stöhnt und ich spüre, wie sein hartes Glied gegen meinen Oberschenkel drückt. Seine andere Hand sucht den Weg unter meinen Rock und meine Arme und Beine verselbstständigen sich, versuchen zu treten, zu stoßen, aus seinem Griff zu entkommen. Wanke gefährlich, aber sein Griff ist zu fest.

„Komm schon, du kleines Flittchen“, stößt er zwischen den Zähnen hindurch. „Das ist es doch, wofür ich einen Haufen Geld bezahlt habe. Das wollt ihr doch. Ihr wollt doch nur mal von einem richtigen Mann rangenommen wer..“ – seine Hände lösen sich so plötzlich von mir, dass ich den Halt verliere und nach vor stolpere.

Der Typ vom Tresen überragt ihn um einen Kopf. Der Fette dreht sich behäbig um und spuckt dann auf den Boden vor mir. Er hebt den Kopf und blickt den anderen wutentbrannt an, sein Kopf flammend rot, er sieht aus, als würde er gleich platzen. Ich stelle mir vor, wie Teile seines Gehirns an den glänzenden Wänden kleben bleiben.

„Was soll das? Was läuft hier? Ich hab genau gesehen, wie ihr euch angesehen habt. Bist du der Bodyguard, oder was? Das stand so nicht im Vertrag!“ Sein Blick wandert zwischen ihm und mir hin und her. Speichel spritzt aus seinem Mund. „Das war nicht die Abmachung. Ich hab das Doppelte für dich bezahlt, du kleine Hure!“ Er macht einen Schritt auf mich zu und mein Herz setzt einen Schlag aus, ich will zurückweichen, aber ich stoße wieder gegen die Wand.

Er wird am Kragen zurückgehalten. Obwohl er viel schlanker ist als mein Klient, scheint er die größere Kraft zu haben. Seine Hände sind groß und in seinem Gesicht ist keinerlei Anstrengung zu erkennen, während er ihn festhält.

Schnaufend befreit der sich. Er sieht mich noch einmal wütend an. „Keinen Cent siehst du von mir. Das bist du nicht wert.“ Er zieht die Nase hoch, reißt sich los und stürmt aus der Toilette. Sein kahler Kopf verschwindet in den Rauchschwaden des Lokals.

Ich sacke zusammen. Mein Herz rast, meine Hände zittern. Mein Kleid und meine Schuhe, der Lippenstift und das restliche Make-up kommen mir lächerlich vor, eine Verkleidung, nichts davon bin ich selbst. Muss ich mich immer verkleiden, um mich wie jemand zu fühlen?

Ich versuche, zu begreifen, was gerade passiert ist. Bisher hatte ich solche Geschichten nur von den anderen Mädchen in der Agentur gehört. Man glaubt nie, dass einem so etwas passiert, bis es passiert, sagen sie.

„Komm.“ Seine Stimme füllt den kleinen Raum. „Du musst hier raus.“ Sie ist angenehm dunkel, beruhigend. Sie passt zu seinen Augen, zu dem Abgrund, den er so offensichtlich mit sich herumträgt. Er hält mir die Tür auf und berührt mich nicht, als ich an ihm vorbeigehe.

Ich bin dankbar und erleichtert. Meine Hände und mein Herz zittern noch immer von dem Adrenalin, das der Vorfall in mir ausgelöst hat.

Den Blick auf den Ausgang geheftet, laufe ich zügig an der Bar vorbei, will nur nach draußen an die Luft. Jeder Schritt ein Kraftakt. Er geht hinter mir, ich spüre es mehr, als dass ich es höre. Sie haben die Musik aufgedreht. Die lauter gewordenen Stimmen prasseln auf mich ein, wie ein heftiger Regen, Tränen steigen in meiner Kehle auf, weil ich weiß und nicht weiß, was passiert wäre, wenn er nicht eingeschritten wäre.

An der Treppe berührt seine Hand meine auf dem Geländer. Ich zucke zusammen, ertrage seine Anwesenheit nicht und gleichzeitig nimmt sie den ganzen Raum um mich ein, und mein Herz schlägt immer noch wild gegen meinen Brustkorb.

Denke an die Angst, an meine Hilflosigkeit und an meine Naivität, die mich dazu gebracht hat, einen Job zu machen, bei dem man so viel geben muss, mehr als ich bereit bin, nur um einfach zu verschwinden. Ich bin nicht wie die anderen, ich kann hinter einem Lächeln keine Aufmerksamkeit heucheln.

Draußen legt er mir sein Jackett über die nackten Schultern. Der seidige Stoff auf der Innenseite ist kühl, aber nicht lang und mit der Wärme finde ich langsam wieder in meinen Körper zurück.

Ich bleibe nicht stehen, wende mich ohne Worte in die Richtung, in die ich muss. Er läuft neben mir, hält mühelos Schritt, die Hände in den Hosentaschen. Der Retter begleitet das Mädchen nach Hause, aber seine Gegenwart ist ein Paradoxon. Ich will sie und schaffe es nicht, seinen Schutz anzunehmen, nachdem, was gerade passiert ist. Wäre er eine Frau…

Er sagt nichts, fragt nichts, ist mein Schatten in der Nacht. Ich komme mir furchtbar albern vor. Ohne die schummrige Dunkelheit der Bar wirkt mein Kleid unpassend. Die klare Nachtluft vertreibt den Champagner und die Umrisse werden schärfer.

„Bist du…?“

Ich bleibe stehen. „Was?“ Ich weiß, was er fragen will. Aber ich möchte es hören, will, dass er die Worte in den Mund nimmt. Ich möchte es hören, um zu begreifen, wie ich in den Augen anderer ankam, wenn ich arbeitete, um zu begreifen, dass die Einwände, die ich vor ein paar Wochen stumm dem Angebot einer Kommilitonin für diesen Job entgegengehalten hatte, keine Ausreden waren.

Er antwortet nicht, blickt auf seine Schuhe. Wir stehen uns gegenüber. Das Licht der nächsten Straßenlaterne wirft Schatten über sein Gesicht. Er spiegelt mich. Seine Wangenknochen stehen hoch, seine Haare fallen ihm lockig ins Gesicht. Ich nehme das Jackett von meinen Schultern und halte es ihm hin.

„Entschuldige, das war …“ – „Wenn du glaubst, ich wäre eine Prostituierte, täuscht du dich.“ Mein Herz rast vor Wut. „Nicht, dass das etwas wäre, wofür man sich schämen müsste. Ich bin keine. Wäre ich eine, hätte mich eine solche Situation wahrscheinlich nicht so aus der Fassung gebracht.“ Die Worte sprudeln aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken kann. Ich gehe in die Verteidigung, in der ausgestreckten Hand immer noch seine Jacke, aber er nimmt sie nicht. Er sieht mich einfach an. Ich werde ungeduldig, lasse das lästige Stück Stoff fallen, ziehe mir meine Schuhe von den Füßen, damit ich im Notfall schneller bin als er. Das war der Grund für seine Großzügigkeit, für sein Eingreifen. Hat er wirklich geglaubt, ich würde ihm jetzt noch einen Gefallen tun, ihm etwas schulden? Ich werde diesen Job hinschmeißen. Woanders kann ich sicher auch gutes Geld verdienen, ohne mich dafür verkaufen zu müssen.

Ich höre ihn immer noch hinter mir, kann nicht glauben, dass ich von einer miesen Situation in die nächste gerasselt bin, an einem Abend.

Die Straßen liegen still, verlassen. Da sind nur wir. Er folgt mir, ich verfalle in einen leichten Lauf. Er hält mit, ohne aufzuholen.

Vor dem Studentenwohnheim bleibe ich stehen, drehe mich um. Und da steht er, seine Miene undurchdringlich. Das Jackett in der Hand, er kommt noch ein, zwei Schritte auf mich zu.

„Wenn du eine Prostituierte wärst, hätte es dich auch aus der Fassung gebracht. Jeden hätte eine solche Situation aus der Fassung gebracht. Der Typ hat eine Grenze überschritten, ganz egal, in welcher Beziehung du zu ihm stehst. Entschuldige. Geht es dir gut?“

Er überrascht mich. Dass er einlenkt, imponiert mir, es macht ihn nahbar. Aber was soll ich mit seinen Worten anfangen? Was will er von mir? Warum ist er immer noch hier?

„Warum bist du immer noch hier?“

„Ich wollte sicher gehen, dass du gut nach Hause kommst.“

„Gut. Ich bin jetzt da. Danke.“

„In Ordnung. Dann…“

„Ja?“

„…werde ich jetzt verschwinden.“ Ein schiefes Grinsen huscht über sein Gesicht. „Es sei denn…“

„Was?“ Ich bin misstrauisch, ich bin fertig mit diesem Abend, mit dieser Nacht.

„Geht es dir wirklich gut?“

„Hab ich doch schon gesagt.“

„Gut. Dann mach’s gut.“

zwei

Tanzen ist Befreiung, ist Loslassen, ist Rausch. Es ist Sein. Habe es vergessen, war wochenlang, monatelang, weggetreten, schlaflos, ruhelos, immer wieder Hände an meinen Handgelenken, ein Körper gegen meinen gepresst.

Habe vergessen, wie leicht es sich anfühlt, wie kalt der Wein in meinem Glas, wie warm die Körper um mich herum, wie tief der Bass und das Auf und Ab der Musik.

Tanzendes Licht, von einer Sekunde zur anderen ist alles anders, immer wieder, die Körper für eine Sekunde eingefroren in ihrer Bewegung, blinzeln, neue Bewegung, Schweiß ist das Deo, dass sie alle aufgetragen haben, Berührungen ohne Verpflichtungen. Hab die Mädchen von der Uni irgendwann verloren, aber mit mir allein ist es besser, freier, muss niemandem gefallen, niemand sieht mir zu.

Er kommt auf mich zu, Überraschung im Blick, antwortet meinem, macht ein Zeichen, ihm zu folgen, fragende Augen. Ich folge ihm, bin neugierig, was ihn in so einen Schuppen verschlägt, ist er der Typ für diese Musik? Um uns herum gefühlt nur Studenten.

„Willst du noch einen?“ Lese die Frage von seinen Lippen ab, nicke. Bin siegestrunken und seltsam erfreut ob seiner Anwesenheit. Hab den Abend nicht vergessen. Mit dem Rausch der Musik und dem Wein in meinen Adern wiederholt er sich vor meinem inneren Auge und lässt diesen Mann fast heroisch erscheinen. Er hat mich gerettet.

„Verfolgst du mich?“, lache ich, aber er schaut mich nur an, weil er nichts versteht. Und nicht Lippen liest. Nicke mit dem Kopf Richtung Tür, er folgt mir.

Wir setzen uns auf die Bordsteinkante, er hält mir seine Kippenschachtel hin und ich nehme mir.

„Was machst du in so einem…naja, Club?“

„Freunde von mir wollten unbedingt her. Aber die sind schon hinüber.“

„Und jetzt bist du allein?“ Ich fühle mich mutig, endlich wieder mutig.

„Sieht so aus.“ Schiefes Lächeln. „Was machst du hier? Du wirkst nicht so…“ Er beendet seinen Satz nicht.

„Wie wirke ich nicht?“

Er sieht mich an, sieht in meine Augen.

„Ich dachte einfach nur, es ist noch nicht so lange her, als wir uns das letzte Mal begegnet sind. Und ich habe einfach überlegt, ob es nicht ein bisschen früh zum Ausgehen für dich ist.“

Ist er besorgt oder ist es etwas anderes? Er klingt besorgt, aber das bedeutet nichts. Die Gedanken fahren wirr durch meinen Kopf. Wache ab und zu immer noch nachts auf, von den Träumen. Vielleicht hat er recht. Aber er kennt mich nicht. Er soll seine Meinung für sich behalten.

„Ist es nicht.“ Über ein halbes Jahr.

„Sorry, ich wollte nicht übergriffig klingen. Ich habe mir nur Sorgen gemacht.“

„Du hast dir Sorgen gemacht? Du kennst mich doch gar nicht.“

„Ich weiß. Du mich aber auch nicht.“

Stimmt. Nun denn. Vielleicht sorgt er sich ja wirklich.

„Ich habe immer mal wieder an dich gedacht. Du hast unglaublich abgebrüht gewirkt. Das konnte ich dir fast nicht abnehmen.“