Verstellte Wegzeichen - Walter Buchenau - E-Book

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Walter Buchenau

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Beschreibung

Die spannende Frage, was ein Komapatient in todgleichem Schlaf erlebt, wie sich ein Mensch im "Locked-in-Syndrom" fühlt und welche Konsequenzen für ihn und auch für seine Umgebung die neue Erfahrung nach sich zieht, durchlebt die Romanfigur in schmerzlicher Deutlichkeit.

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Walter Buchenau

Verstellte Wegzeichen

Am Morgen des dunklen Lichts

© 2021 Walter Buchenau

Herausgeber: Walter Buchenau

Autor: Walter Buchenau Lektorat,

Korrektorat: Heidi Heeger

Weitere Mitwirkende: Christel Roemen, Anne und Michael Buchenau, Julia Litke

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

978-3-347-21834-5 (Paperback)

 

978-3-347-21835-2 (Hardcover)

 

978-3-347-21836-9 (E-book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1.

Was ist das? - Wo bin ich? - Wer bin ich? Bin ich überhaupt - oder nicht? - Warum frage ich das? - Wieso weiß ich es nicht? Fragen türmten sich auf, Antworten aber verschwanden im Nebel. Verwirrt ließ er den Eindruck auf sich wirken. - Das ist so - neu. Und alles ist so anders als … .- als was? Oder wo?

Er war äußerst verwirrt. Vor seinen Augen sah er alles in Weiß, überall nur weiß. Aber es war da, wirklich gegenwärtig, stellte er fest! Seine Augen wanderten ein wenig zur Seite, doch der Impuls den Kopf ebenfalls zu drehen, ließ sich nicht ausführen. Das Weiße in seinem Blickfeld knickte seitlich ab, da war eine Kante, unter der es etwas dunkler weiter ging, aber schon wieder blasser wurde. Dann kamen zwei weitere Linien und anschließend wurde es sehr hell: blau oder grau, etwas dazwischen. Es blendete und seine Augen schwenkten zurück. Er schaute erneut geradeaus auf das Weiß wie eben und senkte den Blick ein wenig. Auch dort erschien am Rande des Weißen eine solche Kante, danach kam ein anderes Weiß mit Strukturen darin und wenn er den Blick ein Stückchen zur Seite rückte, zeigte sich etwas tiefer ein brauner, schmaler Winkel neben einer glänzenden Fläche. Noch etwas weiter seitlich schimmerte es grün. Eine Wiese ist grün, fiel ihm ein, ein Busch oder ein Baum ist grün. Aber nicht flach wie dort. 'Ein Bild vielleicht', dachte er! Das schien sehr real zu sein und hatte nichts zu tun mit diesen anderen Bildern, die in ihm noch so lebendig waren. Eben war er noch durch sie hindurch gewandert oder besser gewatet und sich gezwängt. Manchmal war er auch geflogen, natürlich konnte er dort fliegen. Nur zum Schluss musste er in den Sumpf zurück, dem er erst eben entkommen war. Seine Augen tasteten noch einmal das Weiße ab, das sie zuerst ausgemacht hatten. Eine Idee kam geschwebt, aber es war mühsam, sie einzufangen. Es dauerte eine Weile, bis er sie denken konnte: 'Ein Zimmer! Ich bin in einem Zimmer. - Aber wo? Und Warum? Und weshalb kann ich den Kopf nicht drehen?' Es ängstigte ihn. Er schloss die Augen, zog sich für den Moment zurück aus dieser weißen Kälte, spürte sich in eine andere Realität zurück, obwohl das Zimmer und selbst das strukturlose Weiß vor seinem Blick noch sehr gegenwärtig und greifbar waren. Was aber war wirklich?

Die Bilder innen erschienen ihm viel vertrauter. Nicht dass es immer angenehm gewesen wäre. Er erinnerte sich jetzt, wie er ganz zu Anfang auf einem Berggrat einer schemenhaften Gestalt folgte. Keine Ahnung, wer das sein mochte und weshalb es ihn dorthin verschlagen hatte. Alles um ihn herum wirkte düster und der Himmel war sternenlos verhangen. In der Ferne am Ende des lang gezogenen Bergrückens glühte der Horizont orangerot.

Als sie näherkamen, öffnete sich vor ihnen eine baumlose, tiefe Senke. Unten brodelte ein Lava-See und spuckte orange Fontänen in die Höhe. Die Luft war drückend und die Glut tünchte den Himmel in die verschiedensten Rotschattierungen. Die Wolken schwebten niedrig wie der Deckel auf einem Topf, aus dem es kein Entrinnen gab. Die Gestalt vor ihm hatte sich verflüchtigt. Er stand nun alleine da, abseits des Glutsees und steckte plötzlich in einer zähen, braunen Pampe, die überall am Körper haftete und ihn festhielt. Was war das? Er wollte nur heraus, das Einzige, was ihm klar war. Aber wie? Er hatte keine Vorstellung und keine Richtung. Alles war undurchdringlich und beängstigend. Zeit existierte hier nicht, ebenso wenig wie Erinnerungen oder eine Zukunft. Ein Zustand ohne jede Orientierung. Er konnte weder sagen, wer er war, noch was er war, nur dass er war. Und hatte keine Idee, wozu das alles. Einzig seine nicht enden wollenden Bewegungen in diesem Laufrad aus Schlamm waren jetzt Realität.

Unmöglich abzuschätzen wie lange er in dem Sumpf gefangen war. Irgendwann hatte er sich dann doch herausgearbeitet. Die Gegend veränderte sich danach dramatisch. Eine sanfte Hügellandschaft breitete sich vor ihm aus mit Wiesen, Bauminseln und sonderbaren Gebäuden, von denen er nicht wusste, wozu sie dienten. Gestalten tauchten auf, die ihm vertraut vorkamen, ohne dass er konkret jemanden erkannt hätte. Sie gingen stumm an ihm vorbei. Und dann gab es da einen Vogel - oder einen Schmetterling - etwas, das ihn umschwebte und ihm wohlgesonnen zu sein schien. Wie eine große Hummel oder eine Libelle, aber geformt aus - Licht! Durch sie hindurch konnte er die Hügel dahinter sehen. Dieses Licht tröstete ihn. Es sprach mit ihm, aber ohne Worte: er solle nicht traurig sein, das Schwerste habe er schon geschafft. Nur weiter so! Es war ein freundliches Wesen. Eine Elfe aus einem Märchen? Aber sie hatte nichts Unbestimmtes, Verschwommenes an sich, sondern war trotz ihrer Durchsichtigkeit ganz handfest und gegenwärtig.

In dieser neuen Umgebung konnte er sich wirklich wohl fühlen. Sie war hell und warm, und er wanderte ziel- und absichtslos auf kleinen Trampelpfaden umher. Die freundliche Zuwendung dieses allgegenwärtigen Kolibris oder was es auch immer war, tat gut und ermunterte ihn zu weiteren Erkundungen. Einmal entdeckte er ein Tal zwischen den Hügeln, einen Wiesengrund, schmal und baumbestanden. Die Äste der Eichen und Trauerweiden hingen bis auf die Grasnarbe hinab und strahlten Geborgenheit aus. Er spürte die Feuchtigkeit der Halme unter den nackten Füßen und es war ihm, als ob er tanzen müsste, einfach sich drehen, die Arme ausbreiten und herumwirbeln. Er wollte die ganze Landschaft umarmen. Dabei saugte er den Geruch von Frische und Grün in sich ein. Er kreiselte so lange, bis es ihn schwindelte und er sich ins Gras fallen ließ. Das was sein Tal, es gehörte ihm, sein Eigentum, er spürte es, hier konnte er glücklich sein!

Wie lange er dortgeblieben oder später weiter durch die Landschaft gestreift war, die ihm immer neue, überraschende Ausblicke bot, wusste er nicht. Stets war er begleitet von dem sanften Helfer. Aber immer auch auf der Suche nach jemandem oder einem bestimmten Ort, obwohl er keinerlei genauere Vorstellung davon hatte. Dabei wurde er nicht ungeduldig. Nein, wirklich nicht, die Umstände hier bedrückten nicht. In dem braunen Sumpf war das anders gewesen. Er wusste hier instinktiv, dass er eine Bestimmung hatte. Dann erblickte er plötzlich einen Berg, einen einzigen. Groß und unübersehbar, wie ein gewaltiges Ausrufezeichen erhob er sich vor ihm in der Ebene. Auf ihn musste er hinaufsteigen, das war ganz eindeutig. Auch sein lichter Helfer ermutigte ihn dazu. Also ging er es an. Seltsam nur, dass es sich gar nicht wie Bergsteigen anfühlte, sondern eher wie fliegen. Er musste nur wollen, schon funktionierte es. Wenn er sich nicht konzentrierte, fiel er wieder zurück. Lange ging es so bergauf, bis sich irgendwann plötzlich nichts mehr vor ihm befand - buchstäblich nichts, weder oben noch unten oder seitlich, rechts und links – nichts. Null. Nur Schwärze. Ein abgrundtiefes Nichts! Doch das erschreckte gar nicht. Eigentlich haben wir Augenmenschen doch in aller Regel Furcht vor der Dunkelheit und dem, was dort auf uns lauern könnte. Doch zu seinem größten Erstaunen fühlte sich dieses Nichts unglaublich wohl an! Es war Lust, es zu sehen, es lockte ihn dort hinein zu gehen, sich ganz in das Schwarz zu stürzen um aufzugehen in der absoluten Dunkelheit. Es gelang ihm nicht. Sein Begleiter bedeutete ihm - wobei er nicht hätte sagen können, womit oder wodurch, - er wusste einfach, dass er noch warten müsse. Er wäre noch nicht so weit, signalisierte er. Und schon befand er sich wieder unten in seinem Tal.

Wieder verging viel Zeit, die sich trotzdem nicht wie Zeit anfühlte. Er verbrachte sie mit weiteren Erkundungen dieses wunderschönen Parks oder Garten Edens, mit überraschenden Begegnungen, die sich aber nun der Erinnerung entzogen, bis ein Verlangen in ihm aufstieg und er spürte, dass er diesen Bergweg erneut gehen solle. Wieder kam der Aufstieg, die Schwärze, die gleichen Gefühle, die unbändige Freude oben angekommen zu sein, so dass er sich von diesem Ort nie mehr trennen wollte. Es fühlte sich an wie ein einziges, überwältigendes Atemholen. Aber wieder durfte er nicht bleiben. Sein Begleiter drängte ihn unmissverständlich wieder zu gehen, diesmal nicht nur zurück in die hügelige Landschaft oder 'sein' Tal, diesmal sogar zurück zu dem Sumpf, wo der gläserne Kolibri lautlos verschwand. Erneut steckte er in dem zähen Morast wie anfangs. Im Gegensatz zum ersten Mal war sein Ich-Bewusstsein dabei völlig klar und fragte erfolglos nach dem Sinn und Zweck dieses Zustandes.

Trotzdem kämpfte er sich voran, kannte unbewusst seine Richtung. Nach einer geraumen Zeitspanne erreichte er eine Erhebung wie eine Barriere, die quer zu seiner Laufrichtung das Weiterkommen versperrte. Er zögerte, schaute sich unschlüssig um und entdeckte seitlich, den Eingang zu einer Höhle. Sie forderte unzweideutig zur Erkundung auf. Also kroch er hinein. Hinter der Öffnung verengte sich der Hohlraum zuerst, schon wollte er wieder umkehren. Doch dann weitete er sich wieder und ein schwacher Lichtschein voraus lockte ihn zu folgen. Die Luft war schwül und drückend, vorsichtig tastete er sich voran. Die Wände rückten allmählich näher, je weiter er vordrang, die Decke wurde niedriger, bedrückender. Doch der Lichtschein voraus war ein Versprechen. Er meinte sogar einen frischen Luftzug zu verspüren, fühlte, dass er jetzt nicht anhalten dürfe, ohne dass es ihm jemand sagte. Am Ende des Stollens brauchte er schließlich alle Kraft, um sich durch eine schmale Öffnung nach draußen zu zwängen und war im Freien.

Mit einem Mal nahm er jetzt seinen Körper wahr. Er fühlte seinen Kopf, seine Finger und Zehen, die kribbelten und pulsierten; er bemerkte, wie Luft in seinen Brustkorb strömte und der Bauch sich rhythmisch dehnte. Es signalisierte dem Bewusstsein ganz eindeutig, dass sein Leib existiert. So hatte er sich die ganze Zeit über – oder Nicht-Zeit in dieser anderen Dimension - nicht wahrgenommen. Ihn fröstelte auf einmal. Dann registrierte er das Weiß.

2.

„Hallo, Herr Ebert, da bin ich mal wieder um nach Ihnen zu schauen.“ Die Worte drangen befremdlich an sein Ohr. Es dauerte einen Augenblick, bis er registrierte, dass sie wohl ihm galten. Er öffnete die Augen und drehte den Blick langsam in Richtung der Stimme, während die Schritte näherkamen. „Herr Ebert!“, rief es aufgeregt von links, „Sie haben ja die Augen offen! Ach wie schön, dass Sie endlich aufgewacht sind, dass sie endlich wieder bei uns sind!“ In seinem Blickfeld erschien ein freundliches Gesicht, umrankt von braunen Haaren und mit einer großen, ebenfalls brauen Brille, das sich leicht über ihn beugte. „Das war auch langsam Zeit! Sie haben uns ganz schön warten lassen, wissen Sie das? Aber jetzt wird alles gut! Sie werden sehen! Das muss ich gleich den andern erzählen!“ Das Gesicht nickte ihm zu und lachte, dann verschwand es und er hörte eine Tür klappen.

'Aufgewacht?' ging ihm durch den Kopf, 'Warten lassen?' Hatte er geschlafen? Hatte er geträumt? Diese Welt, durch die er sich gerade eben noch gekämpft hatte, sie war doch sehr real gewesen, oder? Er fühlte noch das kühle Gras in seinem Tal unter den Füßen, spürte die Gegenwart seines Begleiters, dieses durchsichtigen Wesens, das ihn getröstet und mit seiner Fürsorge eingehüllt hatte. Er registrierte aber auch, wie der Name in seinen Ohren nachhallte. „Ebert“. Das hörte sich vertraut an. War er damit gemeint? Er wiederholte ihn in Gedanken einige Male. Es klang für in stimmig. „Frank,“ schoss ihm plötzlich durch den Kopf. Auch das passte dazu. „Frank Ebert.“ Er sprach die Worte im Geist mehrmals nach und sie wurden geläufiger, vertrauter. Es passte. Das war sein Name! Doch der Rest von ihm, sein Leben, was war mit dem? Jeder Mensch hat doch eine Geschichte, wo war die?

Eine nicht ganz greifbare, ungute Emotion stieg in ihm auf wie aus einem entfernten Winkel, wenn man sich erinnern will und gerade nicht darauf kommt, obwohl es doch auf der Zunge liegt. Schon drängten die nächsten Fragen. „Aber wer bin ich? Warum weiß ich das nicht?“ Da stand etwas neben ihm. Es kam ihm vor, als sollte er in einen abgelegten Anzug schlüpfen, eine Art Ganzkörperstrumpf, der aber nicht richtig passen wollte. Es war mühsam. Auch das Denken strengte an. Er bemerkte, wie die Luft rhythmisch durch die Nase ein- und ausströmte. Das beruhigte ihn und er war erstaunt, dass er so etwas wahrnahm, dieses Etwas, das er so einfach gratis bekam. Der Atem schenkte ihm Kraft, und er empfand Dankbarkeit und Freude. Atmen! Was für ein wunderbarer Vorgang! Das ist viel mehr als nur Luft holen. Das ist: sich verbinden mit ….wem? Menschen atmen! Tiere auch. Ich bin ein Mensch, der jetzt hier in diesem Zimmer atmet. - Wo war ich vorher? Menschen haben eine Vergangenheit, eine Mutter…..' Er suchte in seinem Kopf nach einem Bild, einem Namen, etwas Konkretem, aber da war nur die weiße Wand. Es wollte einfach nichts auftauchen. Erschöpft überließ er sich wieder der Erinnerung an seine Anderswelt. die sofort gegenwärtig war.

Schwester Heike, Joe, der afrikanische Krankenpfleger und eine Schwesternschülerin kamen ins Zimmer gestürzt, aber Frank hatte die Augen geschlossen. Er schlief, dachten sie. Zumindest sah es so aus, aber er vernahm deutlich die weibliche Stimme von vorhin, welche die andern jetzt hinausdrängte, um seinen Schlaf nicht zu stören. Sie tat ihm gut.

Am nächsten Morgen erschien der Stationsarzt bei Frank, um die Nachricht von seinem Aufwachen zu überprüfen. Er registrierte routinemäßig, dass der Patient tatsächlich die Augen öffnete und schloss, woraus man aber noch nicht ableiten könnte, ob er bei Bewusstsein wäre oder verstünde, was um ihn herum vor sich ginge. Zur näheren Überprüfung ordnete er ein EEG an, das so bald wie möglich erstellt werden sollte. Er war neu auf der Koma-Station und empfand wenig Empathie mit denen, die dort lagen. Für ihn waren es lediglich Fälle, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst und streng wissenschaftlich abzuhandeln waren. Jeden anderen Ansatz hielt er für Humbug. In seinen Augen rieb sich Schwester Heike zum Beispiel viel zu sehr für diese Menschen auf. Ihm könnte das nicht passieren. Er fand es auch höchst überflüssig und albern mit einem Komapatienten zu reden, der ja sowieso nichts davon mitbekam.

Die üblichen Krankenhausprozeduren, die Frank so noch gar nicht mitbekommen hatte, ließ er ruhig über sich ergehen. Das Waschen, Drehen, Einreiben, die passiven Bewegungen der Gliedmaßen, die er spüren konnte, erstaunten ihn. Er wunderte sich nur, dass jeder Impuls zu einer anderen Bewegung als der Augen von seinem Körper unbeantwortet blieb.

Am Nachmittag holte ihn Joe zum EEG und eventuellen weiteren Untersuchungen ab. Joe hieß eigentlich Abdulaye Owuatuegwa und kam aus Nigeria, aber diesen Namen konnte sich keiner merken und so hatte sich 'Joe' für ihn eingebürgert. Er nahm das lachend hin. Das war sowieso eine seiner ganz großen Stärken: sein Lachen! Zu Anfang, als er ins Krankenhaus kam, begegneten ihm eine Reihe von Leuten mit Zurückhaltung bis Ablehnung. Nicht so sehr die Ärzte, als einige der anderen Pfleger, die ihm sein fehlerhaftes Deutsch ankreideten. Auch einige der älteren Patienten standen sich mit ihren Vorurteilen gegenüber einem Farbigen gewaltig selbst im Wege. Es gab einmal einen richtigen Aufstand, als ein schwieriger Patient sich mit Händen und Füßen weigerte von ihm angefasst zu werden. Joe schluckte das. Er hatte in seinem Leben schon viel Schlimmeres erlebt. Doch seine hilfsbereite Art und seine Freundlichkeit glätteten bald die Wogen. Er lernte immer besser Deutsch, und wenn er mit Patienten etwas länger zu tun hatte, war er bei ihnen rasch ausgesprochen beliebt. Er verstand es selbst den Traurigsten unter ihnen aufzumuntern. Ein Stationsarzt auf der Inneren staunte nicht schlecht, als er einmal aus einem Zimmer mit drei Schwerkranken plötzlich lauten Gesang hörte. Er schaute herein und sah Joe, der den Vorsänger gab und die drei Patienten, die in ihren Betten unter seiner Anleitung inbrünstig den Refrain mitsangen. Unglaublich! Man hatte ihn dann auf die Wachkomastation versetzt, weil andere da nicht so gerne arbeiteten. Joe nahm es gelassen hin, sozusagen als neue Herausforderung.

Nun erschien er in Franks Krankenzimmer, um ihn im Bett zum EEG zu fahren. Frank hatte die Augen geöffnet. „Hast du Augen endlich auf!“, lobte er. „Das ist gut. Jetzt geht es zur Untersuchung. Gucken, wie es aussieht unter den Haaren!“ Dabei bleckte er seine weißen Zähne, dass die Ohren vom Mund Besuch bekamen. Frank schloss die Lider und öffnete sie wieder. Joe löste die Feststeller und schickte sich an, das Bett aus dem Zimmer zu rangieren. „Einmal Rallye nach Dakar!“, lachte er. „Ist gut, was?“ Frank senkte kurz die Lider. „Und dann du wirst gesund!“ Auch das „Du“ zu jedem Patienten hatten ihm die Kollegen zuerst angekreidet, aber die Kranken fühlten sich damit wohl, spürten Wärme und Nähe, was für die Heilung oft mehr wert war, als alle Infusionen und Medikamente. Frank schloss kurz – wie zur Erwiderung – die Lider und Joe stoppte plötzlich das Gefährt. „Hey, war das Antwort?“ Frank schloss wieder kurz die Augen. „Mann!!“, rief Joe, „du verstehst mich?!“ Frank schaute ihn an und klappte die Augenlider zu und auf. „Mach noch mal Augen zu!“ Frank schloss sie. „Und jetzt auf!“ Frank öffnete sie. „Halleluja, Amen! Ich kann mit dir reden! Willst du „Ja“ sagen, einmal die Augen zu.“ Frank tat es. „Und „Nein“ zweimal!“ Frank zwinkerte zweimal. Joe lachte sein dröhnendes Lachen und war so begeistert, dass er Franks Gesicht in seine riesigen, dunklen Hände nahm und ihm einen Kuss auf die Stirn drückte.

3.

Schwester Heike war mindesten genauso begeistert wie Joe, als sie die Nachricht hörte. Sie arbeitete schon seit Jahren auf der Station und war die gute Seele dort. Nie krank, immer geduldig und freundlich – so versah sie ihren Job. Was und wie etwas dort ablief, bestimmte sie, abgesehen natürlich von den ärztlichen Maßnahmen. Es war ihre Station. Sie hatte eine unaufdringliche Art, Nähe und Anteilnahme zu zeigen, besonders bei den komatösen Patienten. Als erstes nach ihrem Dienstantritt heute stellte sich vor. Frank wusste ja nicht, wer ihn monatelang betreut hatte „Ich bin Schwester Heike und wir freuen uns alle über den Heimkehrer!“ Dann begann sie ihm vorsichtig und über Tage verteilt von seiner Krankengeschichte zu erzählen, von der Einlieferung, dem Stammhirninfarkt und seiner langen Zeit im Koma. Auch von den Besuchen berichtete sie, die seine Frau regelmäßig abstattete und den Kindern, Eltern, Freunden, die gelegentlich vorbeischauten. Frank hörte aufmerksam zu. Die Suche nach passenden Bildern in seinem Kopf strengte ihn noch an. Heike dosierte ihre Informationen, um ihn nicht zu überfordern. Er bestätigte, was er gehört hatte, jeweils mit den Augenlidern. Wie Holzstückchen im Wasser trieben Fragmente von Erinnerungen langsam an die Oberfläche.

Einmal, Schwester Heike stand gerade an seinem Bett, da schien es in seinem Kopf laut seinen Namen zu rufen. „Fraaank!!!!“ Es hallte in seinen Ohren nach und er hörte in sich hinein. Plötzlich sah er die Theke einer Rezeption vor sich, roch ein Parfum, ziemlich herb – und dann erinnerte er sich: Er war gerade eine Treppe hinunter gegangen – aber wo war das? - Er stand unten, das Telefon läutete, die Dame am Empfang - genau, sie hatte diesen Duft an sich - sie nahm ab und bedeutete ihm mit einer lautlosen Mundbewegung, wer der Anrufer sei. Er war sofort nach oben gestürmt, um das Gespräch entgegen zu nehmen, etwas Wichtiges. Korea! - Warum Korea?' Er wundert sich, hatte aber keine Zeit, dem nachzugehen, die Bilder überstürzten sich: Oben angekommen war Steve – schon wieder ein Name! - Steve war links aus der Tür gekommen, dann fühlte er noch, dass irgendetwas mit ihm passierte, - im Kopf - er hörte dieses langgezogene: „Fraaank!!“, das sich von ihm entfernte, wie, wenn jemand in einem großen Saal von weit hinten etwas ruft und der Ton von den Wänden zurück hallt - und dann nichts mehr.

Stück für Stück über Tage stieg sein früheres Lebens in ihm auf. Er besaß eine Firma - 'Ebert & Preuß' - so hieß sie. Das war richtig. Steve war sein Partner, Freund und Weggefährte. Sie kannten sich schon ewig, aber woher? Sie stellten technische Apparate her. Ventile. Steve hatte ein Patent. Das vermarkteten sie in der Firma. - Der Gedanke an die Firma kam ihm wie ein Präsent vor, das er gerade eben bekommen hatte. Zum Teil vermochte er das, was aus dem inneren Abgrund nach oben, kam nicht zuzuordnen, wie zum Beispiel Korea. Was bedeutete das? Gelegentlich schloss er die Augen und wünschte sich in seine andere Existenz zurück, doch das ging im Moment nicht mehr. Die Gegenwart hatte ihn gepackt und Fragen wie: Wer war er wirklich? Wie hatte er davor gelebt und mit wem? Oder war er allein? Seine Frau heißt Veronica, hatte die Schwester gesagt. Doch ein Gesicht wollte sich dazu nicht einstellen, nur eine warme Welle, die ihn durchflutete. Und Florian und Caspar, neue Namen und die gleiche Gemütsbewegung. Dann fiel es ihm ein: seine Söhne – seine Familie! Die Vorstellung ergriff vehement Besitz von ihm und erzeugte Freude. Es war schön an sie zu denken! Andere Visionen schwirrten wie ferngesteuerte Drohnen durch seinen Kopf - ein Büro, das Wohnzimmer mit einer Veranda dahinter, der Hauseingang und der Vorgarten, zwei Jungen tobten die Treppe hinauf. Mit einem Mal hatten sie schon die Gesichter von jungen Männern. Nur das Gesicht seiner Frau wollte sich nicht einstellen, so sehr er sich auch darum bemühte.

Heikes ersten Impuls seine Familie umgehend von der erfreulichen Entwicklung zu unterrichten, hatte Frank vehement unterbunden, als sie ihn darauf ansprach. Sie verstand nicht warum - er verstand sich selbst nicht. Aber er wollte es nicht, zumindest jetzt noch nicht. Er war sich nicht einmal im Klaren, ob er überhaupt in diese Welt zurückwollte. Sie ängstigte ihn. Alte Menschen haben oft Angst, wenn sie das, was um sie herum vor sich geht, nicht mehr einordnen können, und sie werden bockig. So ging es ihm. Es war ihm ein Stück Leben abhanden gekommen und die Welt hatte sich weitergedreht. Nun sollte er auf den fahrenden Zug wieder aufspringen, von dem er nicht einmal wusste, wohin er fuhr. Er fühlte sich gefangen zwischen zwei Realitäten. Diese andere Welt war so vertraut und vor allem: es gab dort keine Ablehnung, keine Aggression oder gar Hass. Auch wenn ihm dort manches schwer gefallen war, stets war ihm bewusst, dass alles nur zu seinem Besten geschah. Was würde ihn jetzt hier in dieser Realität erwarten? Gut - es gab seine Familie, seine Söhne. Er fühlte sich wohl bei dem Gedanken. Trotzdem sperrte er sich, das Hier und Jetzt bedingungslos wieder herein zu lassen. Es war noch immer fremd. Doch auch die andere Realität hatte sich bereits ein Stück weit entfernt. Heike unterließ es, ihn wegen der Benachrichtigung seiner Familie zu bedrängen, sie fürchtete einen Rückfall. Umso schlimmer wäre das dann für seine Angehörigen.

4.

Er besaß also mit Steve zusammen eine Firma. Nichts Weltbewegendes, aber etwas Eigenes! Und es war stetig aufwärts gegangen, seit sie eigentlich aus einer Bierlaune heraus sich selbstständig gemacht hatten. Frank kannte Steve schon eine Weile von diversen Partys und Uni-Veranstaltungen her. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. und seit zwei Jahren wohnten sie im gleichen Studentenheim. An einem Abend, gegen Ende der Studienzeit, saßen sie wieder einmal gemeinsam im „Kuckucksnest“, ihrer Stamm-Studentenkneipe und Steve war richtig verärgert. Er studierte Maschinenbau, war bald fertiger Diplomingenieur wie der Abschluss damals noch hieß und regte sich über die Arroganz und Ignoranz einiger Firmen auf. Und Frank hatte mal wieder Kummer mit seiner damaligen Freundin, einem sehr hübschen und bei dem Frauenmangel in Aachen sehr umworbenen Mädchen, das aber äußerst anspruchsvoll und kapriziös war. Die Tatsache, dass Maschinenbau in aller Regel von Männer studiert wird, während die Studentinnen nur etwa ein knappes Drittel der Kommilitonen an der Uni ausmachen, nutzte das Mädchen genüsslich aus. Jetzt wollte sie unbedingt nach Mallorca in Urlaub fliegen, was selbstverständlich er finanzieren sollte. Das Studium schien sie sowieso nicht allzu sehr zu interessieren, während Frank ziemlich genervt in den letzten Zügen seines Abschlusses lag. Deshalb war der Krach mit ihr schon programmiert. Bei Steve ging es um einige Firmen, die er angeschrieben und denen er sein neuartiges Ventil angeboten hatte. Diese eigene Entwicklung war gleichzeitig seine Diplomarbeit. Sie eignete sich für alle Anwendungen besonders gut, wo große Mengen Flüssigkeit bewegt werden mussten. Das Ventil war genial einfach, wartungsfreundlicher und verschleißfester als alle gängigen auf dem Markt, wie er Frank erklärte. Trotzdem wollte es keiner haben. Dabei hatte er schon eine gehörige Summe in die Patentanmeldung gesteckt. „Solche Idioten!“, beschied Frank. Darin war er sich mit Steve einig und sie bestellten die nächste Runde. In Steve gärte es immer noch und er setzte sein Glas heftig auf dem Tresen ab. „Dabei ist das auch noch billiger herzustellen als der andere Schrott, weil es weniger bewegliche Teile gibt!“, erklärte er und schüttelte ungläubig den Kopf. „Idioten! Sag ich doch!“, wiederholte Frank und nahm die bestellte Runde in Empfang. „Kannst du es nicht selber verkaufen?“ „Wie denn?“ Steve wackelte mit dem Kopf und hielt hilflos seine offenen Hände in die Luft. „Ich verstehe ja vielleicht was von Technik, eventuell auch noch von Produktionsabläufen, aber von der Vermarktung und dem ganzen anderen Kram habe ich keinen Schimmer. Und wer weiß, was das kostet!“ Beide schauten eine Weile ins Glas. „Also“, stellte Frank fest, „den anderen Kram könnte ich!“ Frank studierte BWL und Business Administration. Die Vorstellung einmal einen Betrieb zu leiten, zu organisieren, neue Strategien zu erproben und dergleichen hatte ihn schon immer gereizt. „Man müsste nur einen finden, der das Ding herstellt, dann verticken wir das gemeinsam!“ Beide schwiegen wieder, tranken anschließend die Gläser leer und machten sich etwas unsicher auf den Beinen auf den Weg in ihre Studentenbuden. Zwei Tage später begegneten sie sich zufällig in der Teeküche. Frank war noch verärgerter als im Kuckucksnest. Seine Freundin hatte angekündigt, dass sie kurzerhand mit einem anderen ihre Urlaubspläne verwirklichen wolle, wenn er nicht mitkäme. Woraufhin er ihr erklärte, dass sie ruhig fliegen und dann am besten auch gleich auf Malle bleiben solle. Da gäbe es bestimmt noch mehr Deppen, die sie ausnützen könnte! Das war's dann mit der Beziehung. Nachdem Frank seinen Dampf abgelassen hatte, begann Steve langsam mit einem: „Hör mal, ich habe ein bisschen nachgedacht wegen dem, was wir im Kuckucksnest geredet haben. So dumm ist das gar nicht!“ Er wartete auf Franks Reaktion, aber der war in Gedanken noch bei seiner Exfreundin. „Was meinst du?“ „Die Firma! Wenn wir wirklich eine Firma gründen würden. Ich habe mich ein bisschen umgehört. Für „Start-ups“ gibt’s sogar ganz ordentliche Förderungen.“ Frank wurde hellhörig. „Und eine bestimmte Summe könnte ich auch beisteuern,“ meinte Steve. Die Idee breitete sich langsam in Franks Fantasie aus. „Lass uns mal in Ruhe darüber sprechen,“ schlug er Steve vor.

Das war der Anfang der Firma 'Ebert & Preuß.' Sie mieteten gemeinsam eine größere Wohnung, weil Steve sowieso aus dem Studentenheim ausziehen musste und starteten ihre Aktivitäten Es fand sich auch ein Hersteller, der die Apparatur produzieren konnte und Frank kniete sich voller Elan in die Vermarktung. Manchmal war es eng und es mussten Aushilfsjobs herhalten, wenn das Geld mal wieder nicht langte, aber sie ließen nicht locker. Nach einer Durststrecke von etwa einem Jahr kam über einen Exkommilitonen von Bayer die erste wirklich gute Anfrage. Das war ihre Chance und sie nutzten sie! Während Steve zu Beginn ihrer Firma noch an der Uni experimentieren konnte, weil er an seiner Doktorarbeit schrieb, wurde die Arbeit jetzt mehr und er ließ die Promotion fallen. Notgedrungen machte er seine eigene Entwicklungsabteilung in einer Halle in der Nachbarschaft auf. Der erste Ventil-Typ reichte für die Nachfrage auch nicht mehr aus. Bald werkelte er mit interessierten Studenten von der RWTH an neuen Entwicklungen. Dann brauchte Frank Hilfe bei der Vermarktung und nach zwei Jahren zogen sie um in einen kleinen Gebäudekomplex im Industriegebiet einer Nachbarstadt.

Zu der Zeit lernte er Veronica näher kennen und lieben und kein Jahr später waren sie verheiratet! Sie stellte das genaue Gegenteil seiner ehemaligen Freundin dar. Zwar war sie ihm schon während der Uni-Zeit aufgefallen, aber es hatte eben gedauert, bis es richtig funkte. Veronica war nicht unansehnlich, obwohl keine der landläufigen Schönheiten, aber sie hatte ein ganz besonderes Flair. Sie war locker und offen, ohne übermäßig zu fordern. Jemand, den man einfach gerne um sich hatte. Damals arbeitete sie bei einem Medienkonzern mit sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten und wenig Freizeit. Umso mehr genossen sie es, wenn sie beide einmal Zeit für sich fanden.

Die Firma machte sich. Die Abwicklung der Aufträge war mit ein paar Aushilfen bald nicht mehr zu schaffen. Neue Mitarbeiter kamen hinzu, nur Frank tat sich schwer, die Arbeit zu delegieren. Neben der Qualität der Produkte, die Steve penibel überwachte, waren die korrekte und pünktliche Abwicklung der Aufträge ihnen besonders wichtig. Die Neuzugänge im Betrieb hatten es deswegen ziemlich schwer, bis sie diese Prinzipien angenommen und Frank durch ihre Leistung überzeugt hatten. Danach genossen sie aber mehr Freiheiten und bessere Bezahlung als irgendwo sonst.

Franks Kinder wurden geboren, erst Florian, dann zwei Jahre später Caspar. Veronica hörte auf zu arbeiten. Frank und Steve arbeiteten dafür immer noch täglich an die 12 Stunden wie zu Firmenbeginn. Nur die Sonntage hielten sie eisern frei zur Erholung und für die Familie.

Die Ventile von 'Ebert & Preuß' wurden mittlerweile in vielen deutschen Chemiewerken eingesetzt. Mit einer neuen Generation von Produkten legten sie sich erstmals auch eine eigene Fertigung zu. Sie streckten ihre Fühler auch ins Ausland aus, zum Beispiel zu Werften in Frankreich oder in Asien, wo die größten existierten. Von gelegentlichen kleinen Schwankungen einmal abgesehen, ging es stetig aufwärts.

Veronica bekniete Frank, doch etwas kürzer zu treten, denn die Kinder würden größer und sähen ihren Vater kaum. Er beteuerte immer, dass er dazu bereit wäre. Aber dann kam wieder etwas Unverhofftes dazwischen und warf den Vorsatz über den Haufen. Nicht dass Frank seine Kinder nicht liebte. Wann immer möglich machte er Ausflüge mit ihnen, veranstaltete zu den Geburtstagen Schnitzeljagden im Park, ein Wettrudern auf dem Rursee in der Eifel oder Ausflüge in eine Kletterhalle und so weiter, aber das war doch zu selten. Florian, der ältere, war der ernstere der beiden. Frank erkannte sich voll und ganz in ihm wieder. Und Caspar, sein Zweiter glich nicht nur im Aussehen seiner Mutter, sondern auch seinem Wesen nach: er war der Sunnyboy der Familie. Als sein eigentliches 'Baby' aber empfand Frank eben die Firma. Sich daraus zurück zu ziehen, wenn auch nur ein bisschen, fiel ihm ausgesprochen schwer. Das belastete seine Ehe und es kam gelegentlich darüber zum Streit, etwas, was sie beide früher nie gekannt hatten.

Als Florian zu studieren anfing und nach Münster zog, wurde es Veronica zu Haus zu langweilig. Und Caspar, der jüngere, brauchte auch keine Gouvernante mehr, wie er seiner Mutter erklärte. Also heuerte sie halbtags in der Firma als Mädchen für alles an. Sie sprang bei Krankmeldungen ein, machte als Aushilfe den Job manchmal besser als die Festangestellten, ordnete Vorgänge neu und gab Steve und Frank gelegentlich Ratschläge wegen des äußeren Erscheinungsbildes der Firma. Frank war davon nicht so begeistert, doch Steve empfand sie als 'den guten Geist im Betrieb'.

Nach Franks plötzlichem Totalausfall, ging es in der Firma drunter und drüber. Es rächte sich, dass er die Fäden zu straff in seinen Händen gehalten hatte. Nun fehlte es den Verbliebenen teils am geschäftlichen Überblick, teils an konkreter Anleitung und Koordinierung. Steve war überfordert. Auch fehlte ihm die fachliche und emotionale Unterstützung von Veronica. Sie hatte sich in den ersten Wochen nach dem Ereignis verständlicherweise aus der Firma zurückgezogen und jeden Tag am Krankenbett ihres Mannes verbracht. Die Entfremdung, die sich mit den Jahren bei ihnen eingeschlichen hatte, spielte dabei keine Rolle. Doch je länger Franks Koma dauerte und je weniger Aussicht auf baldige Besserung auszumachen war, umso mehr fehlte ihr ein Ausgleich zu dem belastenden Einerlei. Steve hatte zwar schon vor Wochen nachgefragt, ob sie nicht wiederkommen wolle, er brauche sie, doch erst langsam wurde ihr klar, wie wichtig auch für sie die Arbeit in der Firma war.

Der erste Tag ihrer Rückkehr zeigte ihr sogleich wie durcheinander alle und alles noch waren. Und sie zögerte nicht lange und packte entschieden an. Ihre verschiedenen Tätigkeiten vorher, der Einblick in die Planung und Firmenführung kamen ihr dabei sehr zupass. Die neue Stellung, die Steve ihr stillschweigend zugeschanzt hatte, - mehr oder minder die Position von Frank - verlangte aber bei weitem mehr von ihr als die Aushilfsarbeit vorher. Es ging nicht nur um den Gesamtüberblick der üblichen Abläufe im Betrieb, sondern - wichtiger noch - eine vorausschauende Planung. Veronica krempelt bildlich gesprochen die Ärmel hoch. Rascher als gehofft merkte sie sich die Namen der Lieferanten und Geschäftspartner, deren Besonderheiten und Vorlieben und ebenso deren Schwächen. Das war sehr von Vorteil schon bei den ersten Verhandlungen, die sie noch zusammen mit Steve führte. In erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelte sie auch ein Gespür für Strategien und erkannte aktuelle Trends. Nur das Rechnungswesen, die Buchführung und der ganze notwendige Kleinkram, um den sich Frank gekümmert hatte, gingen ihr gegen den Strich. Aber sie hatte eine geschickte Hand bei der Auswahl von neuen Kollegen. Sie fand eine Frau, die eine besondere Vorliebe für die ungeliebten Zahlen zu haben schien, folgte ihrem Bauchgefühl und nach kurzer Einarbeitung konnte sie der Neuen freie Hand lassen. Sie war den ungeliebten Bereich los! Trotzdem blieb Ihre Zeit mehr als ausgefüllt und die Besuche bei Frank traten etwas in den Hintergrund. Die Firma beherrschte mehr und mehr ihr Denken. Bei neuen Ideen für die Vermarktung und Außendarstellung der Firma kam ihr die Medienerfahrung von früher sehr zu Hilfe.

Steve schaute anfangs des Öfteren in ihrem Büro vorbei und erkundigte sich, ob er helfen könne. Doch das wurde immer seltener. Bald war Veronica routiniert genug für alle Alltagsaufgaben und ging daran mit Hilfe einer Werbeagentur das ganze Erscheinungsbild der Firma auf den Kopf zu stellen nach Plänen, die sie früher schon im Kopf gehabt hatte. Zum neuen Image gehörte ein neuer Internetauftritt, Präsenz in den sozialen Netzwerken und ein neues Logo, das die Firmenphilosophie betonten sollte: Drei stilisierte Hände, die sich jeweils am Handgelenk anfassten. Sie sahen aus wie eine Art Zahnrad und sollten für größtmögliche Qualität der Produkte, Wohlgefühl und Wertschätzung bei und für die Mitarbeiter sowie besondere Kundennähe stehen. Wenn es irgendwo auf der Welt Problemen mit dem Produkt gäbe, garantierte „E&P“ schnellstmögliche Behebung jederzeit und überall. Das galt selbst für Korea, eine Geschäftsverbindung, die Frank schon vor ihrer Zeit angeknüpft hatte. Zum Schluss ihrer Offensive wurden in einem Rundbrief die alten und potentielle neue Kunden über alle Veränderungen informiert und Steves jüngste Entwicklungen vorgestellt. Schon nach zwei Monaten brachte ihr Vorstoß der Firma einen ersten Schub. Steve war sehr erstaunt und erfreut.

5.

Nach Veronicas täglichen Besuchen bei Frank in den ersten Wochen hatte sich allmählich ein wöchentlicher Rhythmus eingestellt, immer samstags. Alle vier Wochen kamen Franks Eltern, Herbert und Tatjana dazu und gelegentlich auch die Söhne aus Münster und Wuppertal, wo Caspar, der jüngere, mittlerweile ebenfalls studierte. Franks Eltern hatten vor ein paar Jahren nach der Pensionierung von Herbert ihr Häuschen in Köln verkauft und waren aufs Land gezogen. Herbert stammt aus dem Hessischen, aus dem Städtchen Butzbach zwischen Frankfurt und Gießen. Er war auf Drängen des Vaters damals Finanzbeamter geworden wie dieser, obwohl er viel lieber einen technischen Beruf ergriffen hätte. Aber ein Studium hätte zu viel Geld gekostet. Das Gehalt eines kleinen Beamten war für das Alltägliche gerade ausreichend. Und Punkt. Dafür aber sicher, das hatte Priorität. Und das sollte bei seinem Sohn auch so sein. So war es eben damals. Herbert war dann ins Rheinland gewechselt, um der Enge zu Hause zu entkommen. Er hatte im Finanzamt ganz gut Karriere gemacht, so dass er ein Haus bauen konnte, in dem Frank und seine Schwester aufwuchsen. Der Verkaufserlös ihrer Immobilie nach dem Ausscheiden aus dem Amt setzte ihn nun in die Lage einen alten Traum wahrzumachen.

Bei einer Kaffeefahrt in den Spessart, die sie aus unerfindlichen Gründen einmal mitgemacht hatten, hielt der Bus zur Pinkelpause in Gelnhausen an, einem alten Fachwerkstädtchen östlich von Hanau. Es sprach sie sogleich an mit seinen malerischen und adrett hergerichteten Häusern, den kleinen Gässchen und der alten Stadtbefestigung. Als sie an der Auslage eines Immobilienmaklers vorbeiliefen, beguckte sich Herbert die Angebote, nur so aus Spaß, wie er sagte. Er entdeckte ein Angebot, das interessant klang: ein Resthof, etwas außerhalb eines Dorfes in der Nähe. Er war nicht allzu groß, aber nach den Angaben auf dem Papier ordentlich in Schuss, hatte noch ein paar Nebengebäude und der Preis erschien bei dem Platzangebot sehr interessant. Herbert notierte sich die Telefonnummer. Seine Frau Tatjana schüttelte den Kopf. „Wozu?“ Herbert zuckte mit den Schultern. Dann stiegen sie wieder in den Bus. Zu Hause ging ihm der Hof nicht mehr aus dem Kopf. Heimlich, damit Tatjana nichts mitbekam, denn sie liebte keine Neuerungen oder Unvorhergesehenes, nahm er Kontakt mit dem Makler auf. Und so wurde es nach einigem Hin und Her, nach ausgiebigen Besichtigungen, Begutachtung durch einen Bekannten, Finanzierungsgesprächen etc. etc. schließlich sein Hof! Zwar benötigte er viel Überredungskunst bei Tatjana, denn sie liebte ihren kleinen, abgezirkelten Garten in Köln und wollte nicht aufs Land abgeschoben werden, wie sie meinte. Außerdem fand sie das Haus zu teuer und dafür nicht repräsentativ genug. Wenn es etwas mehr hergemacht hätte als so, wie es im Augenblick dastand, dann wäre sie wahrscheinlich viel schneller einverstanden gewesen! Doch als der Verkäufer schließlich noch einen Nachlass gewährte und Herbert ihr ausmalte, wie das Ganze zukünftig einmal aussehen könnte, gab sie nach und Herbert schlug zu. In der Großstadt war er nie so richtig heimisch gewesen. Der Lärm und Trubel waren nichts für ihn und in ihrem kleinen Haus hatte Tatjana alles so fest in Griff, so geregelt und eingeteilt, ihm Pflichten auferlegt und seine Fantasie gezügelt, dass er manchmal zu ersticken glaubte. Bald darauf, nachdem er aus dem Berufsleben ausgeschieden war, zogen sie in den Spessart - nun schon vor ein paar Jahren. Und er blühte auf! Ab und zu kamen sie zu Besuch zurück ins Rheinland und sahen die alten Bekannten wieder, doch tauschen wollten sie jetzt beide nicht mehr. Im Moment galten ihre Besuche am Niederrhein vor allem Frank.

Es war wieder einmal ein solcher Besuchssamstag im Spätsommer, einige Zeit noch bevor Frank zum ersten Mal die Augen aufschlug. Seit fünf Monaten lag er im Koma. Allmählich schwand jede Hoffnung auf Besserung. Schwester Heike begrüßte die Gruppe vor dem Krankenzimmer. Diesmal waren außer Herbert und Tatjana auch Franks Söhne Florian und Caspar dabei. Bald müssten sie wieder zum neuen Semester zurück an ihre Studienorte. Frank lag wie immer mit geschlossenen Augen reglos in seinem Bett, als sie eintraten. Draußen schien noch warm die Sonne, wenn auch der Herbst sich langsam ankündigte. Caspar bemühte sich wie stets gute Stimmung zu verbreiten, obwohl allen ganz anders zu Mute war. „Hallo, Papa! Da sind wir mal wieder und wollen gucken, was du so machst.“ Seine betonte Munterkeit klang hilflos angesichts des offensichtlich unveränderten Zustandes des Kranken. Tatjana setzte sich sogleich an sein Bett und ergriff seine Hand. Florian brachte keinen Ton heraus und verzog sich zur Fensterbank. Herbert blieb mit Veronica am Fußende des Bettes stehen und schwieg, während Tatjana leise auf ihren Sohn einredete. Trotz des Redens lag eine Stille schwer im Raum. In sie hinein sagte Caspar: „Mach doch einfach mal die Augen auf, du alter Faulpelz!“ Es war zwar als Scherz gemeint, aber man merkte seiner Stimme an, wie nahe ihm der Anblick ging. Veronica holte ab und zu tief Luft und stand weiter stocksteif da, Herbert spürte, wie es in ihr arbeitete, sie wollte es den anderen gegenüber nur nicht zeigen. „Willst du dich nicht einmal hierhersetzen? Das wäre doch eigentlich dein Platz.“ Tatjana konnte den verhaltenen Vorwurf nicht verbergen. Sie war mit ihrer Schwiegertochter nie so richtig warm geworden. Diese war ihr zu unkonventionell, teils zu lasch in der Erziehung oder zu extravagant in ihrem Geschmack, jedenfalls nicht so, wie sie sich die Frau an der Seite ihres Sohnes gebacken hätte, wenn das möglich wäre. Ihre Spitzen Veronica gegenüber hatten also Tradition und lagen wohl in ihrer eigenen Herkunft begründet. Tatjana stammte aus einer alten Familie und erwähnte gerne bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit das „von“ in ihrem Mädchennamen. Als sie Herbert zu Hause angeschleppte, waren ihre Eltern denn auch absolut nicht begeistert von einer unstandesgemäßen Heirat. Doch was sollten sie dagegen machen? Der Vater tat sowieso, was seine Tochter wollte und die Mutter seufzte letztlich nur: „Wo die Liebe hinfällt“. Mit seiner offenen und kontaktfreudigen Art stimmte Herbert die Schwiegermutter zwar im Laufe der Zeit etwas sanfter, nur zugegeben hätte sie das nie! Tatjana war in vielem das Abbild ihrer Mutter und wenn sie fand, dass sich etwas nicht schickte, wie jetzt Veronicas Distanz zu Frank, dann ließ sie sich auch von der Gegenwart eines Schwerkranken nicht bremsen. Herbert kannte das und verdrehte nur die Augen. Zum Glück kam Schwester Heike herein und bot ihnen Kaffee an, den man sich draußen auf dem Flur zubereiten könne. Florian ergriff dankbar die Gelegenheit um den Raum zu verlassen und für alle den Kellner zu spielen. Caspar beobachtete aufmerksam seine Mutter, die weiter wie eingefroren am Fußende des Bettes stand. Sie und ihr Jüngster standen sich immer schon besonders nahe.

Als Florian mit einem Tablett voller Kaffeetassen herein balancierte, standen oder saßen alle noch genauso wie vorher. Er verteilte den Kaffee und verzog sich wieder zu seiner Fensterbank. Caspar gesellte sich ihm zu. Eine Weile rührten sie schweigend in den Tassen. Veronica nippte nur an dem Getränk und selbst Tatjana blieben die Worte aus. Nach einer Weile stellte sie unschlüssig ihre Tasse ab. Für Herbert war es das Zeichen zum Aufbruch. Er wolle am Abend nicht zu spät zurück sein in Gelnhausen, sagte er, das heißt in Eidengesäss, so hieß ihr kleiner Wohnort. Was ein Gesäß wäre, wüsste er ja, pflegte Herbert im Bekanntenkreis zu spotten. Aber Eiden? Ob das in dieser Region der Name für die beiden Dinger wären, die den Männern zwischen den Beinen baumeln? Womit er sich regelmäßig einen strafenden Blick von Tatjana einhandelte.

Sie brachen also auf. Die Familie ging die gewohnten Gänge entlang, an den vielen Abteilungen vorbei, zu denen die Flure dazwischen abbogen. Sie fuhren mit dem Aufzug hinunter, passierten die Cafeteria und standen endlich draußen vor dem Haupteingang. Herbert war froh der Krankenhausluft entkommen zu sein und atmete tief durch. Neben dem Portal drängten sich unter einem kleinen Dach die Raucher aus der Klinik. Jedem das seine, dachte er. Denen war offenbar die Luft drinnen noch nicht dick genug. Auf dem Weg zum Parkplatz schlug er einen kleinen Spaziergang vor, er brauche seinen Auslauf und hätte heute zu wenig davon gehabt. Die nicht mitkommen wollten, könnten schon heimfahren. Er nähme später eine Taxe. Nur Veronica wollte auch laufen.

Die Sonne lugte gerade noch über die Baumwipfel. Es ging ein laues Lüftchen und auf den Straßen war nicht viel los. Sicher saßen die Leute alle auf ihren Terrassen und Balkonen, um die letzten Sonnenstrahlen noch zu genießen. Morgen sollte es regnen, sagte der Wetterbericht. Sie liefen schweigend ein Stück die Straße hinunter, bogen dann links ab in ein freies Gelände hinter dem Krankenhaus, folgten schweigend dem Weg, der dann in eine Zaunlücke einmündete und standen plötzlich auf dem Hauptfriedhof. Dort, im hintersten Winkel der Anlage befand sich anscheinend der Ausländer-Friedhof. Viele Gräber mit türkisch klingenden Namen reihten sich aneinander, daneben eine ganze Reihe von fast identischen, schwarz in Stein eingefassten Grabstätten, die alle am Kopfende ein kleines schwarzes Häuschen besaßen. Davor stand auf der einen Seite ein Blumengefäß, auf der anderen eine Schale, wohl für Räucherwerk. Bei näherem Hinsehen erkannten sie die vietnamesischen Namen auf den blanken Steinen. Als ob sie sich hier in der Fremde alle zusammengedrängt hätten, um auf dem letzten Weg wenigstens ein bisschen der fernen Heimat mit ins Jenseits hinüber zu retten. Tatjana und Herbert bogen auf den Hauptweg ein, schwenkten nach rechts und passierten die Trauerhalle. Sie folgten dem geteerten Weg in Richtung Brücke, die den neueren Teil mit dem alten jenseits der Bahnlinie verband. Immer noch sprach keiner ein Wort. Die Fragen nach der Zukunft, die Ungewissheit, ob Frank jemals wieder zu sich kommen würde, und ob er in diesem Falle auch geistig ganz der Alte wäre oder ob sein Licht eines Tages einfach still auslöschen würde - noch brannte es ja, wenn auch dürftig genug, - das alles hing unausgesprochen in der Luft. Dazu die Ungewissheit, was dann aus seiner Familie würde. Herbert empfand große Sympathie für seine Schwiegertochter. Sie stand seiner Wesensart eigentlich viel näher als seine Frau, und er machte sich ehrlich Sorgen um sie. Inzwischen waren sie drüben im alten Teil angekommen, passierten die betagten Familiengräber, in denen schon ganze Generationen ihre letzte Ruhe gefunden hatten und liefen an den Kriegsgräbern vorbei. Herbert räuspert sich ein bisschen um den Frosch loszuwerden, der ihm im Hals saß. „Ich habe dich beobachtet,“ begann er, „schon letztes Mal.“ Veronica schwieg. „So geht das nicht weiter. Du machst dich kaputt!“ Veronica blickte kurz zu ihm hinüber, sagte aber nichts. „Wenn du auch noch ausfällst, zerbricht die ganz Familie. Ich weiß doch, wer bei Euch die Seele vom Geschäft war, das warst immer du. Frank ist ein Arbeitstier,“ er unterbracht sich kurz. „Er war es.“ Er hörte einen Moment dem Klang seiner Worte nach. „Ich weiß, das klingt jetzt hart, er ist immerhin mein Sohn, aber nun ist er nicht mehr da. Und die Kinder hast du mehr oder minder alleine großgezogen. Es sind prächtige Jungen.“ Veronica wiegte etwas den Kopf. Herbert blieb abrupt stehen und schaut ihr gerade ins Gesicht. „Wir wissen nicht, was kommt. Ich habe im Internet viel nachgelesen. Die Prognosen sind sehr unterschiedlich, aber keinesfalls ermutigend. Du musst ein neues Leben beginnen. Du musst das Krankenhaus abschreiben, zumindest innerlich. Ob Frank jemals wieder aufwacht, ist mittlerweile höchst unwahrscheinlich. Ich habe mit einigen Medizinern gesprochen. Alle sagen im Grunde das Gleiche, obwohl sie sich natürlich nicht festlegen wollen.“ „Er ist doch mein Mann,“ entgegnete Veronica hilflos. „Und das wird er auch immer bleiben, zumindest in der Erinnerung. Die kann dir niemand nehmen. Doch du lebst jetzt, besser gesagt, du solltest jetzt leben, Freude haben, vielleicht sogar wieder jemanden kennenlernen. Die Kinder sind aus dem Haus. Sie werden nicht mehr zurückkommen, höchstens zu Besuch. Sie haben ihr eigenes Leben. Und was hast du?“ Veronica wollte etwas erwidern, es fielen ihre aber nur die üblichen Phrasen ein, die man gemeinhin in einer solchen Situation von einer Ehefrau erwartet. Es beschrieb nicht, wie sie sich wirklich fühlte. „Es ist so leer,“ sagte sie fast tonlos. „Eben!“, entgegnete Herbert. „Genau das drückt es aus! Die Leere. Du solltest sie wieder mit Leben füllen, dann geht es auch den Kindern gut.“ „Was erwartest du von mir?“ Sie hatten den Spaziergang wieder aufgenommen. „Nicht so viel zu arbeiten! Ich weiß wie sehr du dich seitdem hineingestürzt hast, um dich abzulenken. Das war auch in Ordnung. Du hast mir vorletztes Mal berichtet, was du alles angeleiert und verändert hast und wie froh euer Kompagnon darüber ist. Nun solltest du kürzer treten und,“ Herbert schluckte, „du musst mit Frank abschließen.“ Veronica wäre fast gestolpert, so abrupt blieb sie stehen. „Das sagst du als Vater?“ „Ja!“, entgegnete Herbert fest. „Ich sehe, was ich sehe und das sind Tatsachen, wenn sie mir auch verdammt nochmal sehr zusetzen. Und ich sage es dir auch als Großvater und als Schwiegervater, ich möchte, dass der Teil der Familie, der noch da ist, erhalten bleibt, verstehst du?“ Herbert hatte mit großem Nachdruck gesprochen und seine Schwiegertochter merkte ihm an, wie viel ihm daran gelegen war. Sie wusste, dass Tatjana und er zum anderen Teil der Familie, ihrer Tochter und deren Familie, keinerlei Kontakt mehr hatten. Die Tochter war einem älteren Mann verfallen, geradezu hörig und der hatte alle Verbindungen gekappt. Herbert hielt ihn für ein Monster und grämte sich deswegen sehr.

Sie gingen wortlos wieder an der Trauerhalle und den vietnamesischen Gräbern vorbei, passierten den Zaun und kamen aufs freie Feld. Die Sonne war inzwischen hinten den Bäumen verschwunden. Im Westen zogen erste Wolken herauf, als sie am Parkplatz ankamen. Das Laufen hatte gutgetan. Und auch das Reden. Vom Wind war nichts mehr zu spüren. Eine eigenartige Ruhe lag über dem Krankenhausportal. Alle Besucher hatten längst das Weite gesucht. „Überlege es dir,“ sagte Herbert, bevor sie in eine der wartenden Taxen stiegen. „Was immer du machst, auf mich kannst du zählen!“

6.

Florian, der ältere von Franks Söhnen, studierte seit vier Jahren in Münster Physik, ein Fach, das genau zu seinem Charakter passte! Er musste immer allem auf den Grund gehen. Unerklärtes war ihm zutiefst suspekt. Nun allerdings im Masterstudium wurde er zunehmend gerade mit solchen Tatsachen konfrontiert: Dinge, die da waren, aber unerklärlich und sich auch jedem Versuch einer logischen Durchdringung zu widersetzen schienen. Ein einfaches Beispiel dafür war die Schwerkraft. Jeder kennt sie, jeder benutzt sie oder weiß um ihre Wirkung. Denn keinem würde es wohl einfallen im zehnten Stock eines Hochhauses aus dem Fenster ins Freie zu spazieren, weil die Schwerkraft ja unerklärbar und daher nicht existent wäre! Aber über ihren Ursprung weiß man eben nichts. Das wurmte Florian. Noch dazu widersetzt sich diese Kraft zäh dem Versuch in einen Zusammenhang gebracht zu werden mit anderen Energieformen. Bewegungsenergie und Magnete zum Beispiel erzeugen Elektrizität, Strom und Magnete bewegen wiederum den E-Motor und der baut ein Magnetfeld auf, eines geht ins andere über. Nur die Schwerkraft bildet eine Extrawurst. Diskussionen über solche Themen machten die Physik für ihn unglaublich spannend.

Besonders mit einem sehr jungen Professor an seiner Fakultät hatte er schon nächtelang geredet. Er hieß Eric, war kaum sechs bis sieben Jahre älter als er, ein hervorragender Wissenschaftler, der aber keinerlei Wert auf seine professorale Würde legte. Seinen Studenten begegnete er als sei er einer von ihnen, der nur zufällig etwas mehr als sie wisse. Er duzte alle und alle ihn. Er konnte sich das leisten bei seinen Fähigkeiten. Florian traf ihn gelegentlich in der 'Destille' oder im 'blauen Haus' und meistens wurde das ein interessanter Abend.

Das Schicksal seines Vaters beschäftigte Florian schon sehr. Früher waren sie nicht so gut miteinander ausgekommen. Besonders in der Pubertät gab es öfter Knies zwischen ihnen. Auf der einen Seite Florian, der alles wissen wollte und nicht mal eben Fünfe gerade sein lassen konnte und auf der anderen sein Vater, der im Beruf sehr eingespannt war und aus Zeitmangel oder wegen anderer Probleme den eigensinnigen Gedankengängen seines Sohnes nicht folgen wollte. Florian glich eher seiner Großmutter. Diese hatte ihre strengen Prinzipien und musste alles geregelt und in Schubladen eingeordnet haben, - er ebenfalls. Die Vererbung macht ja öfters solche Sprünge. Als er älter wurde, legte sich der Zwist mit seinem Vater in dem Maße, in dem er erkannte, was sein Vater alles leistete und managte. Er bewunderte ihn für seine Flexibilität, die ihm abging. Mit Beginn des Studiums und der räumlichen Trennung von zu Hause wurde ihr Verhältnis auf einer freundschaftlichen Ebene sogar noch enger. Umso mehr machte ihm die Situation zu schaffen, dass der Vater zwar körperliche noch vorhanden, trotzdem nicht mehr greifbar war. Dieses Unerklärbare ließ ihm keine Ruhe.

Nach einem anstrengenden Tag mit mehreren Vorlesungen wollte Florian in der Destille ein bisschen abhängen und sah schon beim Eintreten, dass Eric dort mit einigen Kommilitonen herumsaß, wie immer im offenen Hemd und in seiner betagten Cordhose. Ob er mit seiner Frisur Albert Einstein nacheifern wollte, war unklar. Er widersprach, aber die dunkle, wirre Mähne war schon imposant. Florian setzte sich zu ihnen und bestellte ein Hefeweizen.

Die Gespräche am Tisch drehten sich um Alltäglichkeiten und das Studium. Er trank stumm sein Bier und ließ sich ein zweites kommen. Die anderen verabschiedeten sich dann nach und nach und zum Schluss saß er mit seinem Professor allein am Tisch. Florian leerte das Glas und gab dem Kellner erneut ein Zeichen.

„Kummer, Flo?“, sprach ihn Eric an. Florian schreckte ein bisschen aus seinen Gedanken auf. „Ja,“ antwortete er und machte eine Pause, in der er überlegte, ob er mit dem Professor über seine Familie sprechen sollte. „Mein Vater,“ sagte er schließlich. Eric nickte ihm aufmunternd zu. Nachdem Florian ihn kurz über die Fakten aufgeklärt hatte, landeten sie schnell beim eigentlichen Problem, über das er grübelte, der Unfassbarkeit dieses Zustandes, in dem sein Vater seit Monaten gefangen war. „Wo ist er?“, fragte Florian. „Anderswo,“ sagte Eric lapidar. „Und wie sieht dieses Anderswo aus? Wie kann man dorthin gelangen, wenn man keinen Schlaganfall hat? Und vor allen, wie und warum kommen die einen wieder zurück und die anderen nicht?“ Eric nickte wieder einige Mal, ehe er etwas erwiderte. Er musste ein bisschen ausholen.

„Du weißt doch, in welchen Regionen wir in der Physik mittlerweile denken.“ Er schaute gerade in Florians fragende Augen. „Wir erkennen zum Beispiel, wie die festen Teilchen des Atoms sich aufzulösen scheinen, wenn wir genauer hinschauen. Es ist zwar bekannt, dass sie da sind, nicht aber wo genau. Oder wie schnell sie sich bewegen, welche Masse sie haben, zumindest nicht alles zum gleichen Zeitpunkt.“ „Heisenberg,“ sagte Florian, „Unschärferelation.“ Eric fuhr fort. „Oder denk doch mal an die schwarze Materie oder die schwarze Energie, die im Weltall existiert. Was ist das? Wir haben das zwar schon mathematisch bewiesen – aber begriffen? Wohl kaum. Und was ist in einem schwarzen Loch? Was sitzt da drinnen? Die sogenannte 'Singularität', zu der alles werden soll, was dort hineinstürzt. Und w a s ist das? “ Eric blickte kurz zur Decke. „Er?“ Er nahm einen Zug aus seinem Glas. Florian war nicht zufrieden. „Ist das nicht zu billig, alles was wir nicht erforscht haben, dem weisen, alten Mann mit Bart in die Tasche zu schieben?“ Eric grinste. „Ob du das nun möchtest oder nicht: ER,“ und er machte eine Daumenbewegung nach oben, „wird dir aus seinen Wolken noch öfters zuzwinkern!! Physik und Metaphysik geben sich an vorderster Spitze der Forschung längst die Hand. Und noch so einiges andere mehr. Gewöhn' dich daran, wenn du in unserem Metier weiterkommen willst.“