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Der Nr. 1 Spiegel-Bestseller von Mhairi McFarlane! Ein Liebesroman, der hunderttausende Leserinnen begeistert - romantisch, witzig und unterhaltsam. Wiedersehen macht nicht immer Freude. Schon gar nicht Anna, die nach 16 Jahren beim Klassentreffen mit genau jenem Typen konfrontiert wird, der ihr damals den Schulalltag zur Hölle machte. Damals, als sie noch die ängstliche, pummelige und so gern gehänselte Aureliana war. Wie wenig sie heute als schöne und begehrenswerte Frau mit dem Mädchen von einst gemein hat, wird klar, als James sie nicht erkennt. Er ist fasziniert von der schönen Unbekannten. Anna kann es kaum glauben und wittert ihre Chance: Endlich kann sie ihm alles heimzahlen. Beide ahnen nicht, wie sehr sie das Leben des anderen noch verändern werden. Nicht heute. Aber vielleicht morgen. »Vielleicht mag ich dich morgen«: eine spritzig-warmherziger und romantischer Liebesroman! "Eine warmherzige Mischung aus Romantik und Verwirrspiel, perfekt für ein gemütliches Wochenende." Petra - Buchspezial "Eine schöne Liebesgeschichte, absolut keine Schnulze." Neue Presse "Cooler Frauenroman" Exclusive "Spritzige Aschenputtel-Geschichte zum Weglesen." Emotion
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Seitenzahl: 566
Veröffentlichungsjahr: 2015
Mhairi McFarlane
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Anna weiß nicht, wie schön sie ist. Als Schülerin beeindruckte sie vor allem mit ihrem Leibesumfang und den selbstgenähten Klamotten in Übergröße – beides sicherte ihr die Rolle als beliebtes Mobbing-Opfer. Deswegen wird Anna auf keinen Fall bei dem Klassentreffen aufkreuzen. Anna weiß noch nicht, dass ihre Freundin sie überreden wird hinzugehen, damit sie sich endlich ihrer größten Angst stellt.
James weiß, dass seine Frau ihn betrügt. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll und ist leichte Beute, als sein Kumpel ihn zum verhassten Klassentreffen schleppen will. James wird dort Anna treffen und sie nicht erkennen. Er wird nicht wissen, dass die schöne Unbekannte diejenige ist, die er zu Schulzeiten immer wieder bloßgestellt hat.
Beide wissen nicht, dass sie das Leben des anderen verändern werden. Nicht heute. Aber vielleicht morgen.
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
Danksagung
Für Helen.
Eine Schulfreundin, die eher eine Schwester für mich ist.
Ladys und Gentlemen, Mr. Elton John!«
Gavin Jukes, eine riesige Brille auf der Nase und im Entenkostüm, wurde bei seinem Auftritt mit ohrenbetäubendem Jubel empfangen. So schwungvoll, wie es die kanariengelben Plastikfüße zuließen, watschelte er über die Bühne, setzte sich ans Keyboard – was mit dem ausgestopften Hinterteil gar nicht so einfach war – und begann auf die stummen Tasten einzuhämmern und zum Playback von »Are You Ready For Love« mitzuträllern.
Aureliana rückte an der Seite der Bühne die Schärpe ihres original siebziger Jahre pfirsichfarbenen Polyester-Umstandskleids mit Plisseefalten zurecht und fuhr sich mit der Hand über die steifgesprayte Hochfrisur.
Zitternd atmete sie tief durch und sog den Turnhallengeruch nach Gummisohlen, Impulse-Deo und den kräftigen Hormonausdünstungen pubertierender Jugendlicher ein.
Das Motto der Abschlussfeier war einfach und hatte voll eingeschlagen: Komm als Popstar – je blöder das Outfit, umso besser – und gib einen alten Hit zum Besten.
Und zum Glück fand die Menge Gavin toll.
Denn wenn man den ganzen bescheuerten Graffiti über Gavin Jukes Glauben schenkte, dann war er ein »Erzschwuler«, und es gehörte eine ganze Menge Mut dazu, einen extravaganten homosexuellen Sänger zu imitieren. Dafür erntete er nun stürmischen Beifall.
Vielleicht würde Aureliana Alessi, die Außenseiterin, die in der Mittagspause statt eines Supermarktsandwiches eine streng riechende Lasagne aus der Tupperdose löffelte, endlich auch einmal die Lacher auf ihrer Seite haben. Und nicht die Witzfigur sein.
Womöglich war die Schule nichts als Theater gewesen: Jeder hatte seine Rolle gespielt, und nun, am Ende des Stücks, verbeugten sich Schurken und Helden gemeinsam vor dem Publikum.
Selbst Aurelianas engagierteste Peinigerinnen, Lindsey und Cara, heute in Miniröcken und Plateaustiefeln als Agnetha und Anni-Frid von ABBA verkleidet, ließen sie ausnahmsweise in Ruhe.
Deren Mitverschwörerinnen kippten in Colaflaschen umgefüllten Minkoff-Wodka in sich hinein und warfen Aureliana aus stark geschminkten Augen Blicke zu, hielten aber Abstand. Aureliana hätte selbst nichts gegen einen Schluck einzuwenden gehabt.
Vielleicht lief diese Mock-Rock-Party deshalb so gut, weil die beliebten älteren Schüler für die jüngeren bereits so etwas wie Rockstars waren. Mit Ausnahme von James Fraser. Der war für jeden hier ein Star. Aureliana warf ihm einen verstohlenen Blick zu und sagte sich noch einmal, dass alles gutgehen würde. Schließlich würde sie mit James Fraser auf der Bühne stehen.
James Fraser. Allein bei dem melodischen Klang seines Namens zog sich ihr Magen zusammen.
Vor einer Woche hatte sie den Sportunterricht geschwänzt und in der Bibliothek einen Sweet-Valley-High-Teenieroman gelesen, als er auf sie zugekommen war.
»Hi, Aureliana. Hast du jetzt nicht eigentlich Sport?«
Unfassbar!
James Fraser, der Gott von Rise Park, sprach zum ersten Mal mit ihr. Mit ihr.
Er kannte ihren richtigen Namen. Nicht nur »Italienische Galeone« oder »Pavagrotty«.
Und er hatte ihren Stundenplan im Kopf?
Er schenkte ihr ein träges Lächeln. Aureliana hatte ihn noch nie aus dieser Nähe gesehen.
Es war so, als würde man seinem Lieblingsstar begegnen. Endlos hatte man sich wie besessen mit jedem Detail über ihn beschäftigt, und plötzlich tauchte dieser Mensch in Fleisch und Blut vor einem auf. Und was für ein Mensch. Diese unglaubliche weiße Haut schimmerte von innen heraus, als schiene eine schwache Flamme durch das Wachs einer Kirchenkerze. Dazu das wie eine Öllache glänzende schwarze Haar und die violettblauen Augen.
Sie hatte tatsächlich einmal versucht, ihn mit Filzstiften in ihren Forever-Friends-Taschenkalender zu zeichnen. Es hatte nicht funktioniert – herausgekommen war eine Art Shakin’ Stevens. Also hatte sie lieber wieder die üblichen Herzchen und Blümchen gemalt und daneben AA & JF ∞ gekritzelt.
»Kann ich gut verstehen. Sport ist echt ätzend.«
Aureliana schnaubte ungläubig und nickte dann heftig. Der durchtrainierte James verabscheute insgeheim auch den Sportunterricht?! Das war der Beweis. Sie waren füreinander bestimmt.
»Ich habe mir etwas für die Mock-Rock-Party überlegt. Freddie Mercury und die Opernsängerin zu imitieren wäre bestimmt witzig, oder? Ein Duett, du und ich. Hättest du Lust?«
Aureliana nickte. Er hatte »du und ich« gesagt. Ihre Träume waren wahr geworden. Wenn er in diesem Moment verkündet hätte: »Ich überlege gerade, ob ich aus diesem Fenster springen soll. So hoch sieht es gar nicht aus. Du und ich, was meinst du?«, wäre sie ihm ohne zu zögern gefolgt.
Erst einige Tage danach kamen ihr Zweifel, ob es wirklich so klug war, wenn Rise Parks fetteste, am deutlichsten südländisch aussehende und am meisten gemobbte Schülerin neben dem Sexgott der Schule auf der Bühne stand. Würden die fiesen Zicken dann nicht erst recht über sie herfallen und sie fertigmachen? Andererseits würde sie diese Tussis nach diesem Tag nie wiedersehen. Und außerdem würden sie James Fraser den Auftritt doch sicher nicht kaputt machen wollen.
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass James zuvor mit ihr proben würde, aber er schlug nichts dergleichen vor, und sie wollte nicht aufdringlich wirken. Er wusste sicher, was er tat – das war bei ihm immer so.
Vielleicht hätten sie sich zumindest über ihre Kostüme unterhalten sollen. Aureliana war davon ausgegangen, dass volle Übertreibung angesagt war. Also hatte sie ihr Haar zurückgekämmt und versucht, es wie eine Sopranistin zu einem Dutt hochzustecken. Ihr Gesicht war dick mit Make-up zugekleistert. James hatte sich jedoch, soweit sie das sehen konnte, mit einem Menjoubärtchen begnügt. Aber was hatte sie denn erwartet? Etwa, dass er sich in ein tief ausgeschnittenes Trikot zwängen und sich ein Brusthaartoupet aufkleben würde?
Gavin verbeugte sich vor dem Publikum. O Gott. Jetzt ging’s los. James schlenderte zu ihr herüber. Sie hatte sich noch nie so bedeutsam oder wichtig gefühlt wie in diesem Augenblick.
Mr. Towers, der Lehrer, der bei der Mock-Rock-Party den DJ gab, startete das Band. Trockeneis verbreitete sich mit einem leisen Zischen, und die ersten Takte von »Barcelona« erklangen.
Als sie die Bühne betraten, wurden sie von ohrenbetäubendem Jubel und Applaus begrüßt. Aureliana starrte auf die vielen hingerissenen Gesichter. Einen unglaublichen Moment lang konnte sie nachempfinden, wie es war, James Fraser zu sein. Wenn man allein durch seine Gegenwart solche Begeisterungsstürme auslösen konnte.
Sie wandte sich James zu, um ein nervöses, solidarisches Lächeln mit ihm auszutauschen, bevor ihr Gesangspart begann, doch James grinste sie nur merkwürdig an und verdrückte sich an den Rand der Bühne.
Eine grüne dreieckige Praline traf sie zuerst. Sie streifte ihre Wange und landete in hohem Bogen auf dem Bühnenboden. Aureliana spürte einen leichten Schmerz in der Magengegend, als das nächste Geschoss sie traf – wie ein Gummiband, das man gegen ihren Körper schnalzen ließ. Als eine lilafarbene Praline – die Sorte mit der Haselnuss – auf ihren Kopf zuschoss, duckte sie sich rasch. Prompt knallte ein rundes Toffee gegen ihr Kinn.
Und dann folgte ein Pralinenhagel, bunte glänzende Granatsplitter gingen wie ein Blizzard auf sie hernieder. Mr. Towers stellte die Musik ab und brüllte, um Ordnung in den Saal zu bringen, aber es war vergebens.
Aureliana warf einen verzweifelten Blick zu James hinüber. Er krümmte sich vor Lachen. Sein Freund Laurence schlang einen Arm um den Kopf seines Kumpels und reckte den anderen triumphierend in die Luft.
Lindsay und Cara konnten sich kaum halten und klammerten sich aneinander fest, während ihnen Lachtränen über die geschminkten Gesichter liefen.
Es dauerte einen Moment, bis Aureliana begriff, was hier gespielt wurde.
Von Anfang an war das der Plan gewesen. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, Dutzende großer Quality-Street-Dosen voller Süßigkeiten zu kaufen und sie im Publikum zu verteilen. Auf ein Zeichen hin hatte das Bombardement begonnen, und alle amüsierten sich prächtig über das zum Brüllen komische Finale dieser Show.
Langsam dämmerte Aureliana, dass ihre Schwärmerei für James nicht so unbemerkt geblieben war, wie sie gedacht hatte. Diese Erkenntnis war noch demütigender als der Süßigkeitentornado.
Sie sah, wie Gavin, immer noch mit Entenschnabelhut, protestierend eingreifen wollte.
James Fraser klatschte in die Hände und stieß mit einem Blick auf sie ein einziges, dreisilbiges Wort hervor. Klar und deutlich. Elefant.
Aureliana hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Tränen in Krisensituationen zu unterdrücken. Diese Genugtuung gönnte sie ihren Peinigern nicht. Außerdem wusste sie aus Erfahrung, dass Mobber umso rascher das Interesse an ihr verloren, je weniger Reaktion sie zeigte. Sie sah keinen Grund, ausgerechnet jetzt mit diesem Grundsatz zu brechen und vor dieser großen, feindseligen Menge loszuheulen.
Unglücklicherweise traf sie in diesem Moment würdevoller Gelassenheit ein Kokosnusseclair am linken Auge, und prompt schossen die Tränen aus beiden Augen.
Anna trat aus der frostigen Herbstluft in das überfüllte, dampfig-warme Restaurant. Das laute Stimmengewirr und die hämmernde Musik waren eindeutige Anzeichen, dass das Wochenende begonnen hatte.
»Ein Tisch für zwei!«, brüllte Anna gegen die Lärmkulisse an. Sie war nervös, und in ihre Vorfreude mischten sich leise Zweifel. Was miese Dates anging, konnte sie auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen.
Inzwischen war sie darin so geübt, dass sie stets gut besuchte und nicht zu offensichtlich romantische Treffpunkte aussuchte, damit ja keine zu hohen Erwartungen aufkamen. Und der neue Trend zu Gerichten für zwei, die nacheinander serviert und geteilt wurden, war ein wahrer Segen. Es gab nichts Schlimmeres, als wenn sich ein Date bei einem Dreigängemenü als Pleite herausstellte. Dann war man in diesem grauenhaften Austausch von Ach ja, tatsächlich? und Woher kommst du ursprünglich? bis zum Für mich nur einen Espresso, bitte gefangen.
Natürlich konnte man sich nur auf einen Drink verabreden und das Dinner gleich ganz weglassen. Anna zog es jedoch vor, etwas zu essen, wenn sie Alkohol trank, seit sie einmal an der Endhaltestelle der Central Line aufgewacht war. Mit einem Plastikeiskübel in Form einer Ananas und einem Mobiltelefon in der Hand, auf dem sich elf SMS mit zunehmend zusammenhanglosem und pornographischem Inhalt befanden.
Die einschüchternd junge und coole Bedienung schrieb Annas Namen auf und führte sie in das dunkle Untergeschoss.
Anna quetschte sich zwischen die laut plappernden Anzugträger, die direkt aus dem Büro kamen und sich in drei Reihen vor dem Tresen drängten. Sie fragte sich, ob das vielleicht ihr großer Abend werden würde.
In ihrer Phantasie stellte sie sich darunter das denkwürdige Ereignis vor, das der Trauzeuge ihres Bräutigams bei seiner Rede im alten Pfarrhaus erwähnen würde. Im Glanz der durch die vielen kleinen Fensterscheiben hereinfallenden Sonnenstrahlen würde er sagen:
Falls ihr es noch nicht wissen solltet: Neil hat Anna bei einem Internetdate kennengelernt. Wie man mir erzählt hat, war er fasziniert von ihrem spritzigen Humor und von der Tatsache, dass sie ihm ohne Aufforderung einen Drink in die Hand drückte.(Pause für höfliches Gelächter.)
Schließlich gelang es ihr, mit lauter Stimme und einigen Winksignalen, Drinks für sich und ihr Date zu bestellen und sich damit in eine Ecke zurückzuziehen.
Mal ganz ehrlich, ein Internetdate ist im Grunde genommen nur ein Treffen, um flachgelegt zu werden, rief sie sich selbst zur Ordnung. Ist das nicht schon Stress genug? Musst du dir auch noch eine Hochzeit ausmalen? Anna war eigentlich ganz und gar nicht darauf versessen, in naher Zukunft zu heiraten; ihr ging es nur darum, einen Menschen zu finden, der ihr wirklich etwas bedeutete. Mittlerweile war sie zweiunddreißig, und dieser Kerl ließ sich verdammt viel Zeit. So viel, dass sie bereits befürchtete, er habe sich auf dem Weg zu ihr verlaufen und versehentlich eine andere geheiratet.
Sie ließ ihren Blick auf der Suche nach einer Reminiszenz an das Gesicht von den Fotos über die Menge schweifen. Das Licht war schummrig, und außerdem war Anna daran gewöhnt, dass die Bilder im Internet oft nur geringe Ähnlichkeit mit der realen Person hatten. In ihrem eigenen Onlineprofil hatte sie ein paar schmeichelhafte Schnappschüsse mit einigen realistischen Fotos kombiniert. Schließlich wollte sie sich das grässliche Erlebnis ersparen, mit anzusehen, wie ihrem Date vor Enttäuschung die Kinnlade herunterfiel. Männer neigten da offenbar zu einer pragmatischeren Herangehensweise: Sie glaubten, alles mit ihrer Ausstrahlung wettmachen zu können, sobald sie ihr Date vor sich hatten.
»Hallo, bist du Anna?«
Als sie sich um neunzig Grad drehte, sah sie in dem düsteren Licht einen harmlos wirkenden Mann mit schütterem braunem Haar vor sich, der sie erfreut anlächelte. Er trug eine Trekkingjacke von Berghaus. Eine Bergsteigermontur, wenn man nicht am Bergsteigen war. Hmm.
Auf den ersten Blick wusste Anna nicht so recht, was sie von Neils Klamottengeschmack halten sollte. Ich freue mich, dass sie seine Kleidung für den heutigen Tag ausgesucht hat. Sonst hätte er sein Eheversprechen bestimmt in Goretex abgelegt …
Dennoch wirkte er aufgeschlossen und vertrauenswürdig, und beim Lächeln blitzte eine Zahnlücke auf. Kein Problem für sie; Anna war überhaupt nicht auf hübsche Jungs fixiert. Im Gegenteil – sie waren ihr eher suspekt.
»Ich bin Neil.« Er gab ihr die Hand und küsste sie flüchtig auf die Wange.
Anna reichte ihm das zweite Glas Negroni.
»Was ist das?«, wollte Neil wissen.
»Gin und Campari. Ein sehr beliebtes Getränk dort, wo ich herkomme.«
»Tut mir leid, ich trinke eigentlich nur Bier.«
»Oh.« Anna zog das Glas zurück und kam sich dumm vor.
Herrje, hättest du das nicht einfach aus Höflichkeit trinken können?, dachte sie. Aber vielleicht werden wir später einmal darüber lachen.
Offensichtlich war Anna entsetzt, als sie feststellte, dass Neil keine Cocktails mochte. Und er hinterließ einen großartigen ersten Eindruck, als er losrannte, um sich ein Bier zu besorgen. Du hast ihr gleich gezeigt, wo’s langgeht, stimmt’s, Neil? (Pause für weiteres höfliches Gelächter.)
Anna kippte ihren Negroni hinunter und nahm sich sofort den zweiten vor. Ein Madonna-Song aus den Achtzigern dröhnte ihr in den Ohren, und ihr wurde mehr denn je bewusst, dass sie den sinnbildlichen Single in London verkörperte. Das Gefühl war ihr allzu vertraut – in einem Raum, dessen Überfüllungsgrad sicher gegen die Brandschutzordnung verstieß, fühlte sie sich unendlich einsam. So als fände das Leben überall statt, nur nicht hier. Und das, obwohl sie sich augenscheinlich mitten im Geschehen befand.
Nein! Denk positiv! Anna wiederholte das Mantra, das sie sich unzählige Male vorgesagt hatte: Wie viele glückliche Paare erzählten bei Dinnerpartys, dass sie sich bei ihrer ersten Begegnung nicht ineinander verliebt hatten? Oder dass sie sich nicht einmal sympathisch gewesen waren?
Sie wollte nicht zu den Frauen gehören, die eine Checkliste führten und bei jedem Interessenten ein Haar in der Suppe fanden. So als würde man den Platz für einen neuen Kühlschrank ausmessen und sich dann beklagen, dass man beim Gefrierfach Kompromisse machen musste.
Außerdem hatte sie bereits nach wenigen Internetdates begriffen, dass es den heiß ersehnten Der-und-kein-anderer-Blitzschlag einfach nicht gab. Wie Mum schon gesagt hatte: Man musste zwei Stöcke aneinanderreiben, damit ein Funke entstand.
»Tut mir leid, aber ein paar von diesen Drinks, und ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Das Zeug knockt mich aus«, erklärte Neil, als er mit einem Birra Moretti zurückkam. Anna wünschte sich mit jeder Faser ihres Körpers, dass er ein netter Kerl war und sie ein wenig Spaß miteinander haben würden.
»Ja, wahrscheinlich wünsche ich mir morgen, ich wäre deinem Beispiel gefolgt«, brüllte Anna gegen die laute Musik an. Neil lächelte und gab Anna das Gefühl, dass sie allein durch Willenskraft etwas aus diesem Treffen machen konnte.
Neil schrieb für ein Wirtschafts- und Technikmagazin. Nach ihrem bisherigen Informationsaustausch zu schließen schien er zu der anständigen, sympathischen und verlässlichen Sorte von Männern zu gehören, denen man eine Frau, Kinder und ein Häuschen zutraute.
Sie hatten sich nur ein paar E-Mails geschrieben. Seit der schmerzlichen Enttäuschung mit dem schottischen Autor Tom hielt Anna nichts mehr von ausgedehntem elektronischem Geturtel. Monatelang hatte er sie mit seinem Witz und Charme und literarischen Anspielungen in den Bann gezogen, bis sie völlig auf das Ping fixiert gewesen war, das eine neue E-Mail von ihm angekündigt hatte. Und sie hatte sich bereits ein wenig in Tom verliebt. Als sie schließlich ein Treffen vereinbaren wollten, hatte er ihr gestanden, dass er a) sich derzeit in der geschlossenen Abteilung der psychiatrischen Klinik Rampton Secure Hospital aufhielt und b) »so etwas wie eine Ehefrau« hatte. Danach hatte Anna ihre E-Mail-Adresse geändert.
Als der Alkohol seine Wirkung tat, lachte sie über Neils Geschichten über den Spendengalazirkus und die betrügerischen Gurus, die den Leuten Millionengewinne versprachen.
Als sie schließlich am Tisch saßen und sich zu viele Fleischbällchen, Tintenfischringe und Pizza bestellten, um den Alkohol auszugleichen, sagte sich Anna, dass Neil vielleicht genau der bodenständige Kandidat war, dem sie eine Chance geben sollte.
»Anna klingt gar nicht so eindeutig italienisch«, meinte Neil, während sie ihre frittierten Calamari in ein Töpfchen mit Knoblauchmayonnaise tunkten.
»Das ist die Abkürzung für Aureliana. Ich habe meinen Namen nach der Schulzeit geändert. Er ist … zu blumig, finde ich.« Sie hielt rasch ihre Hand unter die Gabel, als der Tintenfisch einen letzten Versuch machte, ins Meer zurückzukehren. »Ich bin nicht gerade der blumige Typ.«
»Nein, das sehe ich«, erwiderte Neil. Ein wenig vermessen, wie sie fand.
Unwillkürlich fuhr sie sich mit der freien Hand über das Haar, das sie wie immer zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt hatte. Vielleicht hätte sie sich mehr Mühe geben sollen. Und mehr Make-up verwenden sollen, anstatt in der U-Bahn rasch ein wenig hellroten Lipgloss aufzutragen. Aber sie war schon immer dafür gewesen, die Karten gleich auf den Tisch zu legen. Es hatte keinen Sinn, sich als Püppchen auszugeben; das würde später nur für Enttäuschung sorgen.
»Die Bällchen aus Schweinefleisch mit Fenchel sind hier übrigens sehr zu empfehlen«, sagte Anna. »Ich habe alles durchprobiert, daher weiß ich das.«
»Bist du schon oft hier gewesen?«, fragte Neil mit verständnisvoller Miene, und Anna wand sich innerlich.
»Einige Male. Mit Freunden und auch mit Dates.«
»Das ist schon in Ordnung. Wir sind beide über dreißig. Mir musst du nicht das errötende kleine Mädchen vorspielen«, erwiderte er, und Anna stieß es sauer auf, dass er auf ihrer Verlegenheit herumritt. Aber vielleicht war es auch nur ein etwas ungeschickter Versuch gewesen, ihr die Befangenheit zu nehmen.
Während eines lauten Songs von Prince, in dem er mit hoher Stimme herauskreischte, dass er unbedingt mal wieder eine Frau flachlegen müsse, geriet ihr Gespräch ins Stocken.
»Ich bin eigentlich poly«, erklärte Neil schließlich.
Er ist eigentlich Polly?! »Wie bitte?« Anna beugte sich vor, um ihn in dem Lärm zu verstehen, und streckte die Gabel in die Luft.
»So wie in polygam. Mehrere Partner, die alle voneinander wissen«, fügte er hinzu.
»Ach so, ich verstehe!«
»Hast du damit ein Problem?«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Anna möglicherweise ein wenig zu forsch und stocherte in den Resten auf ihrem Teller. Da bin ich mir nicht so sicher, dachte sie.
»Ich bin der Meinung, dass wir nicht für die Monogamie geschaffen sind, auch wenn mir klar ist, dass viele Leute sich das wünschen. Für den richtigen Menschen wäre ich sogar bereit, es zu versuchen«, sagte er lächelnd.
»Aha.« Wie nett von dir.
»Und vielleicht sollte ich noch sagen, dass ich auf Sadomaso stehe, allerdings nur softcore. Alles hetero, aber kein Blümchensex.«
Anna verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln und überlegte, ob sie jetzt sagen sollte: »Tut mir leid, aber ich spreche nicht perversisch.«
Was sollte sie mit diesen Informationen anfangen? Bei Blind Dates kamen persönliche Dinge manchmal recht schnell zur Sprache, so viel war sicher.
»Ich meine, ich bin nicht wirklich in der Szene unterwegs«, fuhr Neil fort. »Ich habe es mal mit Figging probiert. Aber wir müssen uns ja nicht gleich in das Reich des rasierten Gorillas begeben, hahaha.«
Er sprach von Rasur und Tieren im Schlafzimmer. Und von Feigen, falls dieses »Figging« damit etwas zu tun haben sollte. Anna konnte nichts mehr enttäuschen. Enttäuschung hatte sie an der letzten Autobahnabfahrt abgehakt. Mittlerweile sauste sie der absoluten Fassungslosigkeit entgegen und freute sich auf die nächste Ausfahrt für eine willkommene Pause.
»Und du?«, erkundigte sich Neil.
»Was?«
»Worauf stehst du?«
Anna öffnete den Mund zu einer Erwiderung und zögerte. Normalerweise hätte sie ihm jetzt mitgeteilt, dass ihn das überhaupt nichts angehe. Aber sie hatten schließlich ein Date, also gehörte das wahrscheinlich dazu. »Äh … ähm. Auf normalen Sex.«
Auf normalen Sex. O Gott. Sie war unterdurchschnittlich vorbereitet und überdurchschnittlich abgefüllt. Das erinnerte sie an den Sommer, in dem sie sich für einen Aushilfsjob im Kino beworben hatte. Als man bei den Spaßfragen im Auswahlverfahren hatte wissen wollen, wie sie ihre Persönlichkeit beschreiben würde, wenn sie sich mit einem Sandwichbelag vergleichen sollte, hatte in ihrem Gehirn völlige Leere geherrscht. »Käse«, hatte sie schließlich hervorgebracht. »Nur Käse?« »Nur Käse.« »Und warum?« »Weil das ganz normal ist.« Normaler Käse und normaler Sex. Eigentlich sollte sie die Finger vom Internet lassen.
Neil musterte sie über den Rand seines Wasserglases hinweg.
»Oh, verstehe. Aus deinem Profil habe ich, aus welchen Gründen auch immer, geschlossen, dass du dich zwar heteronormativ präsentierst, möglicherweise aber auch genderqueer seist.«
Anna wollte nicht zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, was die Schlüsselbegriffe in diesem Satz bedeuteten.
»Tut mir leid, wenn ich gleich so mit der Tür ins Haus falle«, fuhr Neil fort. »Ich halte viel von Ehrlichkeit. Meiner Meinung nach scheitern die meisten Beziehungen an Lügen und Scheinheiligkeit. Und daran, dass man sich anders gibt, als man in Wahrheit ist. Da ist es doch viel besser, gleich die Karten auf den Tisch zu legen, anstatt beim vierten Date mit allem herauszurücken, oder?« Neil hob seine Hände und grinste verständnisheischend. »Stehst du auf Natursekt?«
Also, liebe Gäste, lasst uns unsere Gläser erheben und auf das glückliche Paar Neil und Anna anstoßen. Und die errötende Braut sollte ihr Glas in einem Zug austrinken. Auf dass die Blase später voll genug ist.(Applaus.)
Okay, ich habe Detektiv Google auf diesen Quatsch mit dem rasierten Gorilla angesetzt.« Michelle starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Display ihres iPhones. In der anderen Hand hielt sie eine Marlboro Light, aus der sich Rauch nach oben kräuselte.
Ohne die Aussicht, sich am Ende des Abends zu ihren Freunden flüchten zu können, hätte Anna die vielen miesen Dates sicher nicht überlebt. Glücklicherweise hatten sie durch ihren Beruf wenig Zeit, um abends auszugehen, waren aber immer für einen Absacker verfügbar.
Michelle servierte in Islington nahe der Upper Street im The Pantry »traditionelle britische Küche mit Pfiff«. Das Restaurant war denkmalgeschützt und mit antiken Kronleuchtern, eingetopften Palmen und buttercremefarbener Holzvertäfelung ausgestattet. Ein Ort, wo man sich an BBC-Filme erinnert fühlte, in denen Männer namens Freddy in Kriegszeiten Affären hatten und Sätze wie »Es war eine abscheuliche Angelegenheit, nicht wahr?« gesagt wurden.
Daniel, Michelles langjähriger Mitarbeiter, war einer dieser fast berühmten Oberkellner, die im Magazin Time Out als »Original« bezeichnet wurden. Das konnte natürlich auch ein Euphemismus für »lästiger Blödmann« sein, aber Daniel besaß echten Charme, und seine Exzentrik war nicht gespielt.
Zum Teil sah man das bereits an seinem Äußeren: dichter sandfarbener Haarschopf, buschiger Bart und dicke Brillengläser, hinter denen seine Augen wie die einer Comicfigur wirkten. Er sah aus wie eine Kreuzung des Trickfilmlöwen aus Looney Tunes und eines Fachhochschuldozenten. Wie der Kröterich von Krötenhall trug er altmodische Tweedanzüge, und seine Ausdrucksweise war so geziert und angestaubt wie bei einer jungen Version von Alan Bennett.
Die drei machten es sich oft auf den Sofas im Wartebereich mit einem Drink gemütlich, wenn Michelle das Restaurant geschlossen hatte und die Kerzenstummel auf den Tischen niederbrannten. Michelle trug weiße Chefkochkleidung und ihre Küchencrocs. Ihr kurzer, glänzender Bob, den sie hinter die Ohren gestrichen trug, hatte das gleiche Rot wie ein Tandoorihähnchen in einem indischen Restaurant. Ihre haselnussfarbenen Augen waren riesig, die Lippen kräftig geschwungen, und die kurvenreiche Figur war von einem gewaltigen Vorbau beherrscht. Ein Supermodel aus einer anderen Ära. Sie war in einem Zeitalter gestrandet, in dem man sie zwar als Schönheit, aber auch als »Plus Size« bezeichnen würde.
»Vielleicht ist es gar nichts Perverses«, meinte Daniel, während er auf der anderen Seite des Raums den Boden fegte. »Vielleicht sind alle außer uns mit dem rasierten Gorilla vertraut. Und mit dem Ententanz und dem … Hasenpfeffer.«
»Hasenpfeffer stand heute auf der Karte, und wenn ich daran denke, wie viel Blut dabei fließt, kann das unmöglich ein Euphemismus für sexuelle Praktiken sein, glaub mir.« Michelle starrte immer noch auf ihr iPhone.
Daniel stellte seinen Besen zur Seite und kam zu ihnen herüber.
»Mich hat heute jemand gefragt, warum ich kein Haarnetz aufhätte«, sagte er beiläufig, während er sich von dem niedrigen Tisch aus den vielen Flaschen eine heraussuchte und sich einen Portwein einschenkte.
»Was? Wer? Hast du geantwortet: ›Glauben Sie etwa, Sie seien hier in einer Fleischfabrik‹?«, fragte Michelle.
»Aber sie haben nur dein Haar, nicht deinen Bart gemeint, oder?«, wollte Anna wissen.
»Doch, den Bart haben sie auch unhygienisch gefunden.«
»Ein Bartnetz? Na klar, nichts ist beruhigender als ein Kellner, der einem das Essen mit einer Chirurgenmaske serviert«, schnaubte Michelle. »Warte mal. Wer hat das gesagt? War das Tisch fünf mit dem Veganer, dem Weizenallergiker und dem Typen, der verlangte, dass ich in einem Stilton-Walnuss-Salat den Käse durch Salatblätter ersetze?«
»Genau.«
»Wie habe ich das nur erraten? Ein Haufen von Genussmuffeln.«
»Den Käse ersetzen?«, fragte Anna. Sie hätte ihr Gehirn noch ein wenig anstrengen können, aber mittlerweile war sie ziemlich betrunken.
»Das kommt alles aus Amerika. Die Leute benehmen sich, als würden sie an einem Imbissstand ein Sandwich bestellen, aber ohne Mayonnaise, dafür mit einer zusätzlichen Portion Gürkchen«, erklärte Michelle.
»Ich fürchte, solche Korinthenkacker gibt es heutzutage überall. Dagegen kann man nichts machen«, meinte Daniel.
In seinem lispelnden Yorkshire-Akzent klang das Wort Korinthenkacker so, dass man es problemlos in jeder Diskussionsrunde auf Radio 4 hätte verwenden können. Das war Daniels Geheimwaffe, wenn es darum ging, Probleme zu entschärfen, dachte Anna. Egal wie er sich ausdrückte, es klang immer freundlich.
Michelle wischte mit dem Zeigefinger über das Display ihres Telefons.
»Jetzt hab ich’s! Der rasierte Gorilla … o mein Gott.« Sie las weiter. »Unsere Großväter würden sich im Grab umdrehen.«
»Hat er nicht gesagt, dass er nicht darauf steht?«, fragte Daniel.
»Komm schon, Dan. Es ist eine klassische Technik, so etwas zuerst einmal als Scherz zu verkaufen.« Michelle schüttelte den Kopf. »Mach dich auf etwas gefasst. Es ist etwas Grausiges mit Wichse.« Sie hielt Anna ihr Telefon hin. Anna kniff beim Lesen die Augen zusammen und verzog das Gesicht.
»Soll ich noch Figging nachschauen?«, erkundigte sich Michelle.
»Nein! Ich habe kein Interesse an Figging! Ich will einen netten Mann kennenlernen, der ganz normalen Sex haben möchte, und zwar nur mit mir. Ist das denn total aus der Mode gekommen?«
»Was noch nie in Mode war, kann auch nicht unmodern werden«, meinte Daniel und rückte sein Revers zurecht, als Anna ihn spielerisch gegen die Schulter boxte.
Ich meine, was ist aus der Romantik und dem Geheimnisvollen geworden?«, fuhr Anna fort und hielt ihr Glas hoch, um es nachfüllen zu lassen. »Mr. Darcy sagte: ›Bitte erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie verehre und liebe.‹ Und nicht: ›Bitte erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, dass ich auf Abspritzen in alle Richtungen stehe.‹«
»Das ist nicht das richtige Zeitalter für ein Mädchen wie Anna«, stellte Michelle fest. »Förmliche Höflichkeit und Liebeswerben kann man vergessen. Aber wenn du in Jane Austens Zeit leben würdest, hättest du Zähne wie Honey Pops und müsstest sieben Kinder ohne Schmerzmittel auf die Welt bringen. Das ist gehupft wie gesprungen. Was hat dir an Neils Profil gefallen, bevor du dich mit ihm getroffen hast?«
»Hm. Er wirkte normal und ganz nett.« Anna zuckte die Schultern.
Michelle schnippte ihre Kippe in die Kaffeetasse, die als Aschenbecher diente. Sie gab das Rauchen immer wieder auf, hielt es dann aber doch nicht durch.
Anna und Michelle hatten sich mit Anfang zwanzig bei den Weight Watchers kennengelernt. Anna hatte mit Bravour bestanden, Michelle war durchgefallen. Eines Tages bellte die energische Gruppenleiterin: »Ein starker Geist braucht einen gesunden Körper!« Michelle erwiderte laut in ihrem singenden Südwesttonfall: »Das hätte Jet von den Gladiators zu Stephen Hawking sagen können.« Als alle schockiert schwiegen, fügte sie hinzu: »Ach, scheiß drauf, ich hol mir jetzt eine große Portion Hähnchennuggets.« In dieser Woche hatte Anna ihren Termin zum Wiegen sausenlassen und eine gute Freundin gewonnen.
»Normal und ganz nett? Du verlangst nicht viel, oder? Ich habe hier schon Personal eingestellt, das höheren Ansprüchen genügen musste.«
»Ich weiß nicht. Ich habe gerade den Abend mit einem Mann verbracht, der in seiner Freizeit gern andere Leute anpinkelt und von mir wissen wollte, worauf ich im Bett stehe. So gesehen wäre ich mit normal und ganz nett durchaus zufrieden. Versuch du es mal mit Internetdating, dann wirst du deine Erwartungen auch schnell runterschrauben.«
Michelle hatte entsprechende Kontakte, wenn sie Lust auf eine Nummer hatte. Ein verheirateter Mann hatte ihr das Herz gebrochen, und seitdem verkündete sie, dass sie keine weitere Enttäuschung brauchen konnte.
»Aber das ist doch genau das, was ich meine, Schätzchen. Das war ein ›normaler‹ Typ, also warum versuchst du es nicht einmal mit einem richtig aufregenden Mann?«
»Selbst wenn ein solcher Mann sich auf ein Date mit mir einlassen würde, möchte ich mir sein entgeistertes Gesicht ersparen, wenn er dann mir gegenübersteht.«
Es herrschte kurzes Schweigen, während Frank Sinatra aus der mit Klebeband zusammengehaltenen Stereoanlage unter der Kasse sein »Strangers in the Night« schmetterte.
»Wollen wir es ihr sagen?« Michelle warf Daniel einen Blick zu. »Scheiß drauf, ich erkläre es ihr jetzt. Anna, Bescheidenheit ist eine liebenswerte Eigenschaft. Aber sie artet manchmal in eine Selbstunterschätzung aus, mit der man sich nur Schaden zufügt. Du bist eine tolle Frau. Warum sollte jemand enttäuscht von dir sein?«
Anna ließ sich seufzend aufs Sofa sinken.
»Tja, offensichtlich bin ich das nicht. Sonst wäre ich nicht seit Ewigkeiten Single.«
Annas britische Großmutter Maude hatte nichts davon gehalten, wenn man sich mit romantischen Vorstellungen zu sehr von der Realität entfernte. Ihr entsetzlicher Spruch zu dieser Torheit hatte gelautet: »Kam einer zu Fuß, wollte sie ihn nicht haben, und die zu Pferd hielten nicht an.«
Der elfjährigen Anna war es bei diesen Worten kalt den Rücken hinuntergelaufen. »Was bedeutet das?«
»Manche Frauen halten sich für zu gut für die Männer, die ihnen den Hof machen, aber wenn sie denjenigen, die ihnen gefallen, nicht genügen, bleiben sie ein Leben lang allein.«
Maude war eine unverbesserliche Pessimistin gewesen, aber manchmal – oder sogar oft – hatte auch ein Miesmacher recht.
»Wann hast du denn angefangen, dir einzureden, dass du in irgendeiner Weise nicht gut genug seist?«, wollte Michelle wissen.
»Das war wohl in meiner Schulzeit.«
Pause. Michelle und Daniel kannten die Geschichten natürlich, einschließlich der Mock-Rock-Party. Und sie wussten auch über das anschließende Desaster Bescheid. Ein gespanntes Schweigen folgte, sofern man um ein Uhr morgens unter Einfluss von reichlich Alkohol von Anspannung sprechen konnte.
Michelle wechselte taktvoll das Thema.
»Ich bin nicht sicher, ob es dir guttut, mit uns beiden herumzuhängen. Wir sind keine große Hilfe. Ich bin Dauersingle, und Dan ist … in festen Händen.«
Wieder entstand eine kurze Pause, nachdem Michelle zögernd und ein wenig skeptisch »in festen Händen« gesagt hatte.
Daniel ging seit etwa einem Jahr mit der einigermaßen lahmen Penny. Sie war Sängerin in einer Folkband mit dem Namen The Unsaid Things und litt am Chronischen Erschöpfungssyndrom. Michelle stand dieser Diagnose skeptisch gegenüber und behauptete, dass Pennys eigentliches Leiden Selbstmitleid hieße. Daniel hatte Penny im Pantry kennengelernt, wo sie eine Weile als Kellnerin gearbeitet hatte und dann wegen Unfähigkeit hinausgeflogen war. Michelle hielt es deshalb für ihr Recht, eine Meinung dazu zu haben. Und zwar eine wenig schmeichelhafte.
»Ihr seid mir eine Hilfe. Ihr steht mir gerade jetzt zur Seite«, erwiderte Anna.
»Ach, übrigens …« Michelle deutete mit einer Handbewegung auf eine Schüssel auf dem Tisch. »Hier sind hausgemachte Schottische Eier von Arnolds Buffet. Greift zu.«
Trotz ihrer scharfen Zunge war Michelle ausgesprochen gutmütig und großzügig und hatte an diesem Tag für die Verköstigung bei der Beerdigungsfeier für einen früheren Kunden gesorgt.
»Ich starre sie schon seit einer Stunde voll Verlangen an, aber ich fühle mich schuldig, wenn ich die Eier eines Toten esse«, gestand Daniel.
»Sie sind vom Leichenschmaus übrig geblieben, Daniel«, erwiderte Michelle. »Niemand geht zu seiner eigenen Trauerfeier. Also gehören sie auch nicht Arnold.«
»Ja, stimmt«, sagte Daniel. »Das rechtfertigt natürlich alles.« Er schnappte sich ein Ei und biss hinein wie in einen Apfel.
»Arnolds Bruder hat sie vorbeigebracht. Er hat mir erzählt, was Arnolds letzte Worte waren. Na ja, genau genommen seine vorletzten Worte. Seine allerletzten Worte lauteten: ›Nicht diese trübe Limonade, Ros‹, aber das war nicht so tiefgründig. Seid ihr bereit? Da muss man schon schlucken.«
Anna sah sie mit glasigen Augen an und nickte.
Michelle klopfte die Asche von ihrer Zigarette. »Er hat gesagt, er wünschte, er hätte nicht so viel Zeit darauf verschwendet, Angst zu haben.«
»Wovor?«, fragte Anna.
Michelle zuckte die Schultern. »Das hat er nicht verraten. Ich schätze, er meinte allgemeine Lebensängste. Wir haben doch Angst vor allen möglichen Dingen, die uns nicht umbringen, oder? Dinge, vor denen wir uns unser Leben lang gedrückt haben. Wenn es dann dem Ende zugeht, begreifen wir, dass wir uns eigentlich nur vor einem hätten fürchten sollen: vor einem Leben in Angststarre.«
»Die Angst vor der Angst.« Daniel wischte sich Brotkrümel aus seinem Bart.
Anna dachte einen Moment darüber nach. Wovor fürchtete sie sich? Davor, allein zu sein? Eigentlich nicht. Schließlich war sie fast ihr ganzes Erwachsenenleben Single, also war das der Normalzustand für sie. Wahrscheinlich hatte sie Angst davor, dass sie sich niemals verlieben würde. Moment – nein, Angst war das nicht. Eher Enttäuschung oder Traurigkeit. Wovor fürchtete sie sich also? Ha, als ob sie die Antwort darauf nicht wüsste.
Sie hatte Angst davor, irgendwann wieder dieses Mädchen zu sein.
Anna dachte an die E-Mail, die sie vor einer Woche erhalten hatte. Schon beim ersten Blick darauf war ihr trotz der kühlen Witterung am ganzen Körper der Schweiß ausgebrochen.
»Einige Ängste sind aber berechtigt«, wandte sie ein. »So wie meine Höhenangst.«
»Oder meine Angst vor Nacktkatzen«, fügte Daniel hinzu.
»Was ist daran rational?«, wollte Michelle wissen.
»Katzen verstecken alle ihre Geheimnisse im Fell. Einer, die in dieser Hinsicht nichts zu verlieren hat, sollte man nicht trauen.«
»Oder meine Angst davor, am kommenden Donnerstag zum Klassentreffen zu gehen«, sagte Anna.
»Was?«, rief Michelle. »Das zählt nicht. Da musst du hingehen!«
»Warum sollte ich?«
»Um es allen zu zeigen und ihnen zu sagen: ›Schaut mich an. Mich habt ihr nicht kleingekriegt.‹ Auf diese Weise könntest du den Dämon für immer vertreiben. Wäre das nicht wunderbar?«
»Es ist mir mittlerweile egal, was sie von mir halten«, entgegnete Anna heftig.
»Und das kannst du beweisen, indem du hingehst.«
»Quatsch. Dann denken erst recht alle, es wäre mir wichtig.«
»Stimmt nicht. Und schau, falls er dort sein sollte …«
»Wird er nicht«, unterbrach Anna sie. Bei dem Gedanken daran verschlug es ihr kurz den Atem. »Er wird auf keinen Fall kommen. Das wäre eindeutig unter seiner Würde.«
»Noch ein Grund, warum du dich nicht davor drücken solltest. Willst du so enden wie Arnold? Dich fragen, wie dein Leben verlaufen wäre, wenn du nicht so viel Zeit darauf verschwendet hättest, dich zu fürchten? Diese Schulparty, die Playbackshow, wo sie so gemein zu dir waren. Du hast sie alle seit diesem Tag nicht wiedergesehen, richtig?«
»Ja.«
»Also ist die Sache noch nicht ausgestanden. Du hast dich nicht richtig damit auseinandergesetzt, deshalb belastet dich das immer noch.«
»Du meine Güte!« Daniel richtete sich auf und sah zu dem Panoramafenster des Restaurants hinüber.
Anna und Michelle drehten sich um und sahen einen Mann um die dreißig, der sich vor Lachen bog. Seine Hose und seine Unterhose hingen auf halbmast, und er schaute über seine Schulter zu einigen Leuten hinter sich.
»Ein Exhibitionist!«, rief Anna.
»Das ist des Königs Zepter samt Kronjuwelen«, bestätigte Daniel.
Als sie genauer hinschauten, entdeckten sie in einiger Entfernung ein Grüppchen. Wie Glühwürmchen blitzten Lichter von Smartphones auf.
»Ich nehme an, er zeigt seinen Freunden sein nacktes Hinterteil, und wir kriegen die fiese Begleiterscheinung ab«, meinte Michelle.
Der Mann verlor das Gleichgewicht, stolperte vorwärts und prallte mit einem sanften, aber deutlich vernehmbaren Rums gegen das Fenster.
»Hey, Moment mal!« Michelle sprang rasch auf, lief zum Fenster und klopfte kräftig gegen die Scheibe. »Diese Fenster haben fünftausend Pfund gekostet, Kumpel! Fünftausend!«
Wie in einer Slapstickkomödie starrte der Betrunkene mit seinem aus der Hose hängenden besten Freund durch das Fenster, bis er begriff, dass sich auf der anderen Seite eine Frau befand. Er stieß einen Schrei aus, rannte los und versuchte im Laufen, seine Jeans hochzuziehen.
Anna und Daniel, schon ziemlich beschwipst, konnten sich vor Lachen kaum mehr halten.
Michelle ließ sich wieder auf das Sofa fallen und zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Sag diesen Idioten, was du von ihnen hältst, Anna. Ernsthaft. Zeig ihnen, dass du keine Angst mehr vor ihnen hast und dass sie dich nicht kleingekriegt haben. Warum nicht? Wenn du ihnen aus dem Weg gehst, verschwendest du nur Zeit damit, dich zu fürchten. Vor nichts. Die Angst darf nicht siegen.«
»Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.« Annas Gelächter erstarb. »Ehrlich, ich bin sicher, dass ich das nicht kann.«
»Und genau deshalb musst du es tun.«
In der barmherzigen Stille des leeren Büros drang James der durchdringende, urinartige Geruch von verschüttetem Bier in die Nase.
Der Gestank stieg von den Überresten des ausgelassenen Bier-Pong-Spiels vom Vorabend auf. Die Putzfrau hatte sich geweigert, den Dreck der unbekümmerten, kreativen Hipster zu beseitigen, und damit stillschweigend klargemacht, was in ihr Aufgabengebiet fiel. Von amerikanischen Collegestudenten erfundene Trinkspiele gehörten eindeutig nicht dazu.
James ärgerte sich über ihre Dienst-nach-Vorschrift-Einstellung, doch dann überfiel ihn sofort ein Schuldgefühl. Der Office Manager Harris stritt sich bei jeder Begegnung mit der Putzfrau herum. James war das unbegreiflich. Schließlich war sie im Alter seiner Mutter, trug ausgebeulte Leggings und verdiente ihren Lebensunterhalt damit, Schreibtische abzustauben. Also sollte man ganz bescheiden ein Dankeschön murmeln und an Weihnachten ein Schokoladenrentier und zwanzig Pfund für sie liegen lassen. Alles andere zeugte von einem miesen Charakter. Allerdings war Harris, wenn man es genau betrachtete, eben genau das – ein mieser Typ.
In den letzten sechs Monaten bei Parlez hatte James sich sehnsüchtig gewünscht, dass endlich jemand hereinkommen und seine Kollegen anschreien würde. Natürlich nicht er selbst. Jemand anderes.
Als er hier angefangen hatte – in einer Agentur, die auf digitalen Kanälen maßgeschneiderte, dynamische Strategien zur erfolgreichen Entwicklung von Marken anbot –, glaubte er, eine Art Walhalla mitten im coolen East Central London gefunden zu haben. Jeder Berufsberater hätte seiner Klientel von Sechzehnjährigen gegenüber abgestritten, dass es so einen Arbeitsplatz überhaupt gab.
Musik plärrte, es wurde laut gequatscht, nach der neuesten Mode gekleidete Leute gingen ein und aus, Kollegen hatten ganz spontan das Bedürfnis nach einem hochprozentigen Cocktail und rannten zu einem Laden in der Nähe.
Irgendwie wurde die Arbeit dennoch erledigt – trotz der vielen YouTube-Clips von skateboardenden Katzen mit Fliege um den Hals, der Subbuteo-Spiele und der Gespräche über die neueste amerikanische Fantasy-Krimiserie, die sich alle illegal herunterluden.
Und dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, hatte sich dieses belebende Chaos für James plötzlich in eine Art süßer Qual verwandelt. Die Unterhaltungen waren albern, die Musik lenkte ab und der ständige Strom modebewusster Besucher sorgte für ärgerliche Unterbrechungen. Und schließlich hatte er sich mit der unabänderlichen Tatsache abfinden müssen, dass alkoholische Getränke zum Mittagessen am Nachmittag Kopfschmerzen hervorriefen. Manchmal fiel es James schwer, nicht aufzuspringen und zu schreien: »Habt ihr keinen Job oder kein Zuhause? Denn das hier ist ein Büro!«
Er fühlte sich wie ein Jugendlicher, den seine Eltern allein zu Hause gelassen hatten, um ihm eine Lektion zu erteilen, und der sich inzwischen von ganzem Herzen wünschte, dass sie aus dem Urlaub zurückkehrten, die Chaoten rauswarfen und das Abendessen kochten.
James hatte gedacht, er hätte seine Gefühle gut verborgen, aber in letzter Zeit hatte Harris – der Mann, der die Party so richtig in Schwung brachte – zu sticheln begonnen. Anscheinend besaß er, wie die meisten Mobbing-Profis, feine Antennen für Abtrünnige. Als Ramona, die schottische Punkerin mit den pinkfarbenen Haaren und dem Nabelpiercing, die das ganze Jahr über bauchfreie Tops trug, Harris’ Schultern so fest gepackt hatte, dass er laut aufschrie, hatte James unwillkürlich das Gesicht verzogen. Und Harris hatte ihn dabei ertappt.
»Hör auf damit, lass das! Sonst mag uns James nicht mehr!«, johlte er. »Du hasst uns, richtig? Gib es zu. Du. Hasst. Uns.«
James hatte nichts gegen Schwule, aber seit er mit Harris zusammenarbeitete, mutmaßte er, dass das Klischee der zickigen Tunte nicht ganz unbegründet entstanden war.
Und die üblichen Ärgernisse im Büroalltag waren ohnehin da, egal ob man in einem Keller in Shoreditch mit einem Tischfußball arbeitete oder nicht. Die Kühlschranktür war übersät mit von Magneten gehaltenen Notizzetteln, auf denen stand: »Könnt ihr bitte …« Auf den Plastikmilchflaschen waren mit Filzstift die Namen ihrer Besitzer vermerkt. Und einige Leute wurden richtig pampig, wenn jemand »ihre« Kaffeetassen benützte. Am liebsten hätte James eine Nachricht hinzugefügt: »Wenn du eine spezielle Tasse hast, dann frag dich mal, wie alt du bist. Kinderarbeit ist nämlich verboten.«
James war fest entschlossen, den kostbaren Moment der Stille zu genießen, bevor alle anderen ins Büro stürmten. Doch als sein Laptop das Hintergrundbild hochgefahren hatte, war es mit der Ruhe schon vorbei.
Ihm war bewusst, dass es ein Armutszeugnis war, einen Laptop zur Arbeit zu bringen, auf dem der Bildschirmhintergrund aus einer Slideshow seiner schönen Frau bestand. Er hatte daher die eine oder andere Aufnahme ihrer Katze dazwischengeschoben, aber wem wollte er damit etwas vormachen? Er gab eben ganz gern ein wenig damit an, na und?
Und wenn diese Frau einen dann verließ, verwandelte sich die Fotogalerie in einen Reigen aus Überheblichkeit, Hohn und Schmerz. James hätte etwas anderes installieren können, aber er hatte niemandem von der Trennung erzählt und wollte keinen Verdacht erregen.
Immer wenn er sich kurz zu einem Kollegen umgedreht hatte, war in der Zwischenzeit ein weiterer perfekter Schnappschuss von Eva auf dem Bildschirm zu sehen. Weiße Sonnenbrille und Pferdeschwanz mit Kinderhaarspangen in Glastonbury vor einem Wohnmobil. Platinblonde Locken und ein Hauch von zinnoberrotem Lippenstift, weiße Zähne, die sich bei einem Geburtstagsessen bei J Sheekey in einen Hummerschwanz gruben.
Verwuschelte Haare nach dem Aufstehen, bei Sonnenaufgang auf einem Fensterbrett im Park Hyatt Tokyo, in einer Sweatjacke und -hose, wie in einer Szene aus Lost in Translation. Die klassische Eva – der Inbegriff der Eitelkeit, bewusst persifliert.
Und natürlich das Frisch-verlobt-Foto mit James. Ein mörderisch heißer Tag, Picknickzutaten von Fortnum am Serpentine, und versteckt im Korb ein Zuckerring von Love Hearts mit der Aufschrift Sei die Meine, verpackt in einer kleinen blauen Geschenkschachtel von Tiffany. (Den Ring suchte sie sich später selbst aus.)
Eva mit geflochtenem Haarkranz im Heidilook, sie schmiegten sich für das Bild aneinander, erhitzt vom Champagner und ihrer Begeisterung. James starrte auf sein grinsendes Gesicht neben ihrem. Wie dumm, naiv und hoffnungslos romantisch er doch gewesen war!
Plötzlich schien es ihm die Brust und Kehle zuzuschnüren, genau wie damals, als sie ihn um ein Gespräch gebeten und ihm eröffnet hatte, dass sie nicht mehr zufrieden sei, dass sie mehr Raum für sich brauche und dass sie beide vielleicht alles ein wenig überstürzt hätten.
Er seufzte und vergewisserte sich, dass er alle seine Apple-Tablets in verschiedenen Größen bei sich hatte. Einem Straßenräuber hätten sie wohl dreieinhalbtausend Riesen eingebracht.
Sein Mobiltelefon klingelte: Laurence.
»Jimmy! Was geht ab?«
Hmmm. Das klang nicht gut. Jimmy war das fröhliche Alter Ego, das Loz nur heraufbeschwor, wenn er etwas von James wollte.
»Dieses Klassentreffen heute.«
»Ja?«
»Gehst du hin?«
»Warum sollte ich?«
»Weil dein bester Freund dich darum bittet und dir verspricht, den ganzen Abend für das Bier aufzukommen. Wir könnten auch gegen neun Uhr wieder verschwinden.«
»Nein, tut mir leid. Schon der Gedanke daran löst Seelenqualen in mir aus.«
»Das ist wohl ein bisschen übertrieben.«
»Begreifst du nicht, dass unsere Altersgenossen dort mit ihren Kindern angeben wollen? Es wird sich alles um pädagogisch wertvolles Spielzeug drehen. Brrr.«
»Du erinnerst dich wohl gar nicht mehr an unsere alte Schule. Viel wahrscheinlicher ist ein Gespräch à la ›Tyson Biggie ist auf Bewährung draußen‹. «
»Warum willst du hingehen?«, fragte James.
»Aus reiner Neugier.«
»Du bist also neugierig, ob jemand kommt, den du nackt sehen möchtest.«
»Interessiert es dich nicht, ob Lindsay Bright immer noch so heiß ist?«, wollte Laurence wissen.
»Ächz, nein. Ich wette, sie sieht jetzt aus wie eine Spießerin aus der Vorstadt.«
»Aber eines der versauten Mädels wie Louise Mensch. Komm schon, was willst du denn sonst an einem Donnerstagabend machen, jetzt, wo du allein bist? Takeshi’s Castle in der Unterhose glotzen?«
James zuckte schuldbewusst zusammen. Sein Abfalleimer quoll über von dem Verpackungsmaterial der Fertigmahlzeiten für Singles.
»Wie soll denn mein Fernseher in meine Unterhose passen?«, parierte er, aber das hörte sich so ausgelutscht an, wie er sich fühlte.
»Haha.«
James hörte, dass jemand in der Leitung anklopfte. Eva.
»Loz, ich bekomme gerade einen Anruf. Ich rufe dich in einer Minute zurück und erkläre dir noch einmal, warum es bei meinem Nein bleibt.«
Er beendete das Gespräch und nahm das nächste entgegen.
»Hi. Wie geht es dir?«, meldete sie sich.
James ahmte sarkastisch ihren fröhlichen Tonfall nach. »Was glaubst du denn?«
Ein Seufzen.
»Ich habe Ohrentropfen für Luther besorgt und würde sie dir gern bringen. Und dir zeigen, wie du sie ihm geben musst.«
»Tropft man sie ihm etwa in die Ohren?« James hielt gnadenlosen Sarkasmus eigentlich nicht für die beste Taktik, aber die Worte waren ihm entschlüpft, bevor sie den Sicherheitscheck passiert hatten.
»Kann ich heute Abend vorbeikommen?«
»Heute Abend geht’s nicht. Hab schon was vor.«
»Was denn?«
»Tut mir leid, aber das geht dich nichts an.«
»Dein Tonfall lässt darauf schließen, dass du dich womöglich unnötigerweise querstellst, James.«
»Ich gehe zu einem Klassentreffen.«
»Zu einem Klassentreffen?«, wiederholte Eva ungläubig. »Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas dein Ding ist.«
»Ich stecke eben voller Überraschung. Wir werden die Sache mit Luther wohl auf einen anderen Abend verschieben müssen.«
Nachdem das Gespräch beendet war, genoss James einen Moment lang die schale Befriedigung, eine kleine Schlacht in diesem Krieg geschlagen zu haben. Doch etwa drei Sekunden später begriff er, dass er nun tatsächlich zu diesem Klassentreffen würde gehen müssen.
Er hätte zwar lügen können, aber das taugte nicht. James brauchte irgendeinen kleinen Beleg, einen wie zufällig auftauchenden Hinweis in den sozialen Netzwerken – eine Nachfrage, ein Foto, ein »War schön, dich mal wiederzusehen« in einem aktuellen Facebookeintrag –, um Eva wissen zu lassen, dass sie ihn nicht so gut kannte, wie sie glaubte.
»Morgen!« Ramona nahm ihre Ohrwärmer in Form von Schafsgesichtern ab. »Oje, warum habe ich nur an einem Mittwoch so viel getrunken? Ich glaube, ich muss sterben.«
»Ha«, erwiderte James. Das bedeutete, dass er darüber eigentlich nichts hören wollte.
Natürlich musste er sich in der folgenden Viertelstunde alles haarklein erzählen lassen. Und dann wiederholte Ramona ihre Geschichte bei jedem weiteren Kollegen, der dazukam. Von Wein, der in Halbliterbechern aus Plastik ausgeschenkt wurde, war man schnell sternhagelvoll. Wer hätte das gedacht?
Anna tippte »Gavin Jukes« bei Facebook ein und hoffte, dass sein Name selten genug war, um ihn rasch zu finden. Eigentlich wusste sie nicht so recht, warum sie nach ihm suchte. Sie wollte nur sicher sein, dass sie wenigstens einer Person gefahrlos gegenübertreten könnte – falls er überhaupt auftauchen sollte.
Sein Profil erschien als zweiter Eintrag. Sie erkannte ihn an seiner langen Nase und am Kinn und klickte die Seite an. Ein Familienfoto. Frau, drei Kinder. Stand offenbar doch nicht auf seine eigenen Geschlechtsgenossen. Wohnort: Perth, Australien.
Gut für dich, Gavin. Was Rise Park anbelangte, konnte man gar nicht weit genug wegziehen – man musste nur dran denken, dass man auf der anderen Seite des Erdballs der Schule wieder näher kam.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte.
»Ein Paket für Sie!«, trällerte Jeff von der Rezeption fröhlich.
Anna legte auf und lief in großen Sprüngen die Treppe hinunter. Jeff hatte die Sendung auf die Theke gelegt; eine breite, flache Schachtel, schwarz mit glänzendem Prägeaufdruck und einer großen Satinschleife. Sie verkündete dezent, aber unmissverständlich: Ich habe mehr Geld ausgegeben, als ich sollte.
»Etwas Hübsches?«, fragte Jeff und murmelte sofort: »Nicht dass mich das was angeht.« Der Gedanke, dass es sich um aufreizende Spitzendessous mit Strapsen handeln könnte, stand ihm ins Gesicht geschrieben und ließ ihn erröten.
Obwohl es alles andere war als das, fühlte Anna ebenfalls, wie ihre Wangen heiß wurden. Wenn sie jetzt protestierte, würde sich sein Verdacht nur noch erhärten. Es war so, wie wenn man eine bereits übel riechende Toilette benutzte. Man konnte die nächste Person nicht warnen, aus Angst, dass sie den Hinweis als geschicktes Täuschungsmanöver auslegen würde.
»Ein Kleid«, sagte sie hastig. »Für eine … Veranstaltung.«
»Ah«, erwiderte Jeff und wich ihrem Blick aus. »Wie nett.« In seiner Phantasie sah er sie offensichtlich bereits in einem Eyes-Wide-Shut-Szenario, wie sie es mit einer spitznasigen Gesichtsmaske zu Windowlicker von Aphex Twin trieb.
Sie trug das Paket wie eine Pizzaschachtel flach auf den Handflächen nach oben in ihr Büro. Das Institut für Geschichte am University College London war in einer Häuserzeile aus georgianischen Gebäuden mit hohen Decken und großen Schiebefenstern untergebracht.
Es war ein märchenhafter Arbeitsplatz. Wenn Anna in sentimentaler Stimmung war, glaubte sie fast an eine spirituelle Belohnung für ihre Schulzeit – ein Traum nach dem Alptraum. In dem Gebäude roch es angenehm altmodisch nach Teppichen, und die großen runden Hängeleuchten verbreiteten ein warmes gelbes Licht. Sie fühlte sich hier geborgen wie in einer wohligen Erinnerung.
Anna schob mit dem Rücken die Bürotür auf, erleichtert, dass sie auf dem Weg niemandem begegnet war. Ein »Oh, lass mal sehen, wie es dir steht« wäre ihr peinlich gewesen.
Anna mochte zwar ihr Schulmädchengewicht verloren haben und nun eine perfekte Standardgröße tragen, aber das bedeutete nicht, dass sich ihr Denken und Handeln der neuen Optik angepasst hätten. Sie hatte immer noch eine ausgeprägte Abneigung gegen Bekleidungsgeschäfte. Das Aufkommen des Onlineshoppings war für sie eine Offenbarung gewesen. Viel, viel lieber probierte sie ein Kleidungsstück in ihrem Büro an.
Ihr war klargeworden, dass sie für das Klassentreffen ein Kleid brauchte – nein, nicht irgendein Kleid, sondern etwas so Umwerfendes, das allen sofort zu verstehen gab: Ihr könnt mich mal. Also war sie auf die Website eines teuren Designers gegangen und hatte den Gegenwert eines netten Wochenendausflugs investiert.
Sie hob den Deckel ab und wühlte sich durch einige Lagen knisternden Papiers. Und da lag es, das unerschwingliche Stück. Nicht viel Stoff für … nein, daran wollte sie jetzt keinen Gedanken verschwenden.
Anna legte das Kleid vorsichtig über einen Stuhl und sperrte die Tür ab. Dann zog sie rasch ihr formloses Hängerkleid von Zara aus und tauschte es gegen das Abendkleid. Vorsichtig, als wäre der Stoff aus Spinnfäden, zupfte sie es mit Zeigefingern und Daumen zurecht. Als sie den beruhigend breiten Reißverschluss zuzog, musste sie den Bauch fast gar nicht einziehen.
Hmmm. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Nicht ganz die Verwandlung, die sie sich erhofft hatte. Ein schwarzes Kleid war eben ein schwarzes Kleid. Anna bewegte die Arme auf und ab und beobachtete, wie die transparenten Chiffonärmel in der Luft flatterten. Die Melodie zum »Ententanz« kam ihr dabei in den Sinn.
Auf der Website hatte das schwarze Prada-Kleid an dem Mannequin mit dem ausdruckslosen weißen Isaac-Asimov-Robotergesicht an Rita Hayworth zur Happy Hour im Waldorf Astoria erinnert. Jetzt, wo sie es anhatte, fragte sich Anna, ob es nicht in Wahrheit ein wenig billig wirkte. Passend zur Sängerin auf einem Kreuzfahrtschiff, die zu »Unbreak My Heart« ansetzte, während die Gäste Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln verspeisten.
Als sie ihr Spiegelbild anstarrte, dachte sie unwillkürlich an jenen anderen Tag und das andere Kleid. Und an jenes andere Mädchen.
Schließlich griff sie zum Telefon.
»Michelle. Ich gehe nicht zu dem Klassentreffen. Es ist total blödsinnig, und in dem Kleid sehe ich aus wie Professor Snape.«
»Doch, du gehst. Danach wirst du dich unglaublich erleichtert fühlen. Wie nach einer Darmspülung. Barry! Du sollst den Tintenfisch zu Essen verarbeiten und nicht als Fingerpuppe verwenden! Tut mir leid, das war nicht an dich gerichtet.«
»Ich kann nicht, Michelle. Wenn sie mich nun alle auslachen?«
»Das werden sie nicht. Und selbst wenn – wünscht sich ein Teil von dir nicht, diesen Moment noch einmal zu erleben? Und ihnen dieses Mal zu sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren?«
Anna wollte nicht beichten, was sie befürchtete. Was, wenn sie weinend zusammenbrach und sich eingestehen musste, dass sie immer noch Aureliana war? Aureliana, jetzt mit mehr Abschlüssen in der Tasche und weniger Pfunden auf den Rippen?
»Findest du, dass das Kleid, das du nicht siehst, mir steht?«
»Geht es um das von Prada, von dem du mir den Link geschickt hast? Barry! Nimm das von der Wurst herunter! Bildest du dir etwa ein, du arbeitest bei Aardman Animations? Es ist unmöglich, darin nicht gut auszusehen. So gut, dass niemand mehr woanders hinschauen wird.«
»Klopf, klopf! Ist es erlaubt, die Fledermaushöhle zu betreten?«, trällerte Patrick vor der Tür.
»Michelle, ich muss auflegen.«
»Das stimmt. Du musst auflegen und hingehen.«
Anna lachte mit einem tiefen Stöhnen.
»Herein!«, rief sie. Höhle war ein passender Ausdruck für Annas grauenhaft unordentliches Büro im zweiten Stock.
Als Dozentin und Expertin für die byzantinische Periode stand ihr in gewisser Weise das Klischee des spleenigen Professors zu. Und das nahm sie in Anspruch, wenn es um die Ordnung in ihrem Reich ging. Bücher stapelten sich auf Aktenordnern, die auf anderen Büchern gestapelt waren. Die Unordnung war eigentlich eine Beleidigung für den hübschen Raum, und Anna fühlte sich ein wenig schuldig deswegen.
Patrick hielt Vorlesungen über den Wollhandel in der Tudorzeit und hauste am anderen Ende des Flurs. Sie hatten zur gleichen Zeit beim UCL angefangen, teilten die Leidenschaft für ihre Arbeit und ebenso die Fähigkeit, darüber zu lachen und sich über ganz andere Dinge zu unterhalten. Das war in der akademischen Welt nicht zu unterschätzen. Viele Kollegen waren so bierernst. Wenn man sein Leben auf einem überdurchschnittlichen Intelligenzniveau lebte, führte das im Alltagsleben manchmal zu Funktionsstörungen. Oder wie Patrick es formulierte: Diese Leute hatten ein Gehirn von der Größe eines Planeten, konnten aber kein Ei kochen.
Patrick brachte Anna am Morgen oft eine Tasse Tee vorbei, räumte einen Stapel von Aktenordnern, Annas Mantel und diverse andere Gegenstände von dem hellblauen Bürosessel, setzte sich und nippte an seinem Getränk. Anna saß üblicherweise am Schreibtisch, überflog ihre E-Mails und plauderte mit ihm.
Er reichte Anna ihre Tasse.
»Du meine Güte, ein neues Kleid?«, fragte er und betrachtete Anna, die den Tee auf dem Tisch abstellte.
»Äh, ja.« Sie drehte sich um, stützte die Hände in die Hüften und blieb breitbeinig stehen, wie ein Klempner, der den Preis für die Reparatur eines besonders wartungsintensiven Kombiboilers nennen wollte.
»Ist es für die Theodora-Ausstellung? Ich dachte, sie hätte noch nicht begonnen«, fügte Patrick hinzu.
»Nein, schön wär’s. Klassentreffen heute Abend. Ich bin noch nicht sicher, ob ich hingehen soll. Meine Schulzeit war grauenhaft.«
Patrick musterte sie forschend. »Oh. Verstehe. Warum willst du dann hin?«
»Meine Freundin hält es für eine großartige Herausforderung. Verrückt, oder? Ich glaube nicht, dass ich das schaffe. Es ist ein blöder Plan. Oh, wenn du schon dort stehst, würdest du bitte Boris gießen?« Anna deutete mit einer Kopfbewegung auf eine große, mitgenommen wirkende Monstera und eine schmuddlige Milchflasche mit Wasser auf dem Fensterbrett. »Das Prada-Kleid verträgt bestimmt keine Wasserflecken.«
Er kippte bereitwillig eine kleine Menge der trüben Flüssigkeit auf Boris’ Erde.
Patrick trug sein kastanienbraunes Haar sorgfältig geschnitten und wirkte zerbrechlich und unterernährt – eher wie ein Lebewesen, das gerade aus dem Ei geschlüpft war, als wie ein von einer Frau geborener Mensch.
Er trug üblicherweise Feinstrickpullover mit V-Ausschnitt und darüber ein senffarbenes Cordjackett mit Lederflicken an den Ellbogen. Patrick behauptete, das sei so klischeehaft, dass es mittlerweile schon wieder originell wirke.
Er richtete seinen Blick nach oben auf ein Porträt an der Wand.
»Stell dir doch mal die Frage, was deine Heldin Kaiserin Theodora getan hätte?«
»Sie hätte sie alle umbringen lassen?«
»Dann lieber die zweitbeste Methode: Zeig’s ihnen«, erwiderte Patrick.
Anna stand in East London im Treppenhaus eines urtümlich-schäbigen Pubs vor einem an die Wand geklebten Zettel. In der Schriftart Comic Sans waren ohne weitere Umschweife zwei Optionen angegeben:
Verdammt, sie wünschte, sie wäre eine Bekannte von Beth. Der Name klang nach einer jungen Frau. Wahrscheinlich hatte sie vor, sich die Welt anzuschauen. Aus Beths Partyzone drang eine miserable Karaokeversion des Songs »Patience« von Take That.
Der Wodka-Orange-Cocktail, mit dem sie sich Mut angetrunken hatte, verursachte ein saures Brennen in Annas Magen. Sie stapfte die knarrende, abgewetzte Treppe hinauf und ging den muffigen Gang entlang zu der ausgewiesenen Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und wie vor einer Fahrt in der Geisterbahn war ihr ganzer Körper angespannt in Erwartung von Überraschungen. Ihre Haut unter dem Mailänder Chiffon war mit kaltem Schweiß bedeckt.
Anna atmete noch einmal tief durch und rief sich Michelles Worte ins Gedächtnis: Das war ein Beweis ihrer Stärke. Sie öffnete die Tür und betrat den Raum. Er war fast leer. Einige Leute, die sie nicht erkannte, schauten kurz zu ihr herüber und setzten dann ihre Unterhaltung fort. In den unzähligen Malen, in denen sie diese Szene in Gedanken durchgespielt hatte, hatte sich ihr eine ganze Galerie bekannter Gesichter zugewandt, begleitet von dem Geräusch einer über eine Schallplatte kratzenden Nadel. Und nun nichts. Gar nichts.
Die Schlimmsten waren noch gar nicht da, falls sie überhaupt kommen würden. War sie erleichtert oder enttäuscht? Eigenartigerweise beides.
Über der Bar verkündete ein schlaffes Transparent, dass hier ein Klassentreffen stattfand: 16 JAHRE, SEIT WIR 16 WAREN!!!!! Meine Güte, mehrere Ausrufezeichen. Das war, als würde jemand mit ADHS Rumbakugeln vor deiner Nase herumschwenken.
Anna holte sich ein Glas lauwarmen Weißwein der Marke Stowells of Chelsea und verzog sich damit in eine Mauerblümchenecke an der linken Seite des Raums. Sie nahm an, dass alle nur noch einen Drink brauchten, um sich freier zu bewegen. Sicher würde dann jemand auf sie zukommen. Sie würde ein Glas trinken und sich anschließend vom Acker machen. Bitte schön, sie hatte ihren Kopf in das Maul des Löwen gelegt. Und das ganz allein, dafür hatte sie einige Extrapunkte verdient. Ihr war nicht ganz klar, warum ihr das so wichtig war. Wie ein Actionheld, der knurrt: »Diese Sache muss ich allein erledigen.«
Sie war enttäuscht und ernüchtert, aber war es nicht vorhersehbar gewesen? Hatte sie etwa erwartet, dass alle Schlange stehen würden, um sich bei ihr zu entschuldigen?
An der Wand gegenüber hing eine Collage aus Bildern auf großem farbigem Bastelpapier. Darüber stand in kindlicher Handschrift: Abschlussjahrgang 97. Anna wusste, dass sie darauf nicht zu sehen war. Niemand hätte sie je aufgefordert, sich mit ihm oder ihr vor eine Einwegkamera zu quetschen – wobei »quetschen« hier das entscheidende Wort war.