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Vier Schwestern, die sich Jahre nicht gesehen haben, treffen sich zum gemeinsamen Sommerurlaub in einem Küstenort der Cinque Terre. Sie hoffen auf unbeschwerte Tage und Dolce Vita – bis eine der vier ohne Nachricht verschwindet. In den nervösen Stunden der Suche und des Wartens treten zwischen den anderen Spannungen zutage, die weit zurückreichen in die Zeit ihrer Kindheit und Jugend. Hätten die Schwestern den jahrelangen Streit ihrer Eltern beschwichtigen, vielleicht sogar deren Trennung verhindern können? Und sind ihre eigenen Ehen und Beziehungen wirklich so vorbildhaft, wie sie es sich gegenseitig glauben machen wollen? Mit einem Mal scheint für alle alles auf dem Prüfstand zu stehen: Ehemänner und Geliebte, Wertvorstellungen und Lebensmodelle, Zukunftshoffnungen und die Vergangenheit der gesamten Familie.
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Seitenzahl: 319
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Joanna King
Roman
Aus dem Englischen vonJuliane Zaubitzer
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
Die Übersetzung wurde gefördert vonCREATIVE NEW ZEALAND & THE PUBLISHERS ASSOCIATIONNEW ZEALAND.
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Absence bei Penguin Random House New Zealand Ltd.Copyright © Joanna King, 2016
© 2018 by mare, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann / Anastasia Hermann, mareverlagAbbildung Alex Katz, »Black Hat 4«, 2012 (Detail) © VG Bild-Kunst, Bonn 2017.
Satz mareverlag, HamburgDatenkonvertierung E-Book bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-340-8ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-268-5
www.mare.de
Für meine geliebte Schwester Sandra
Vier Schwestern
Über das Buch
Es war früh am Abend. Ich verließ das kleine Ferienhaus und schlenderte durch den Ort. Die massive Holztür der Villa, deren Obergeschoss meine drei älteren Schwestern gemietet hatten, stand offen. Als ich in ihr Apartment trat, kam Ngaio vom Balkon herein. Ich hatte die flüchtige Vision, wie die steil abfallenden Hügel und das schillernde Meer von ihrer Netzhaut verdrängt und durch das schattige Zimmer und mich ersetzt wurden.
»Wo ist Rose?«, fragte sie, kaum dass sie mich begrüßt hatte.
»Sie sollte eigentlich hier sein.«
»Genau so hatte ich es mir vorgestellt«, sagte Ngaio und nahm mir die gekühlte Flasche regionalen Wein und die Antipasti ab, die ich auf dem Weg hierher beim Alimentari geholt hatte.
Wir wollten zusammen essen, Rose und ich, Ngaio und ihr Mann Haig und unsere älteste Schwester Jess. Seit wir uns vor einer Woche in dem winzigen italienischen Dorf Corniglia getroffen hatten, verbrachte ich nur Zeit mit den anderen, wenn auch Rose dabei war. Ganz bewusst. Ungefähr so, wie ich beim Tanzen auf die Signale meines Körpers achte, um Verletzungen zu vermeiden.
»Auf?«, fragte Ngaio, während sie mir ein Glas Wein reichte und ihres erhob.
»Auf jetzt«, sagte ich.
»Auch gut. Auf hier und jetzt«, sagte sie und wandte sich an Haig, der unter den zum Meer hin geöffneten Fenstern auf dem Sofa lag und las.
Sie zwängte sich neben seine Hüfte, wobei ihr pinkfarbener Sarong ihre Beine entblößte, und reichte ihm ein Glas.
»Erzähl«, befahl sie und tippte mit dem Finger gegen den Buchrücken.
Ihr Ton änderte nichts an seinem zufriedenen Gesichtsausdruck.
»Es ist praktisch unverständlich«, sagte er.
»Warum liest du es dann?«
Er trank einen Schluck Wein. »Es handelt von dir.«
Er platzierte sein Glas auf dem Boden und seine Hand auf ihrem nackten Knie.
»Von mir?«
»Wie alles«, meinte Haig lächelnd und las weiter.
»Unfug«, sagte sie und wölbte den Oberkörper, um sich an ihn zu schmiegen. Unter dem dünnen Stoff ihres Tops zeichneten sich ihre Brüste ab, die Masse ihres goldbraunen Haares fiel nach hinten. So verharrte sie eine halbe Minute und musterte ihn, dann schlug sie das andere Bein über seine Hand, rollte zur Seite und kam mit einem leisen Seufzer auf die Füße.
»Sag Bescheid, wenn du mich durchschaut hast«, sagte sie und trottete in die Küche, um mit Jess zu plaudern, die darauf bestanden hatte, das Abendessen allein zuzubereiten.
Ich überließ Haig sich selbst, der das Buch drehte und wendete, wahrscheinlich fasziniert von den alten weiblichen Fruchtbarkeitssymbolen darin, und schlenderte auf den Balkon mit Südblick. Die steile Küste war in satte Farben getaucht: bernsteinfarbene Erde, das goldene Laub der Weinterrassen, das harte Grün des Feigenbaumblattes, Oliven und Oleander und buschiger wilder Thymian, die Vegetation erfüllt von der Energie, die sie den ganzen Tag in sich aufgesogen hatte. Die Wellen an dem Strandstück darunter machten sich kaum die Mühe, mit den Schultern zu zucken, bevor sie in Gelassenheit verebbten. Am Horizont wirkte das weiße Segel einer Jacht wie ein kleiner Fehler im Licht, das auf der Meeresoberfläche zitterte.
Es war Rose, die uns hierhergebracht hatte. Sie kannte Corniglia von den vielen Italienreisen mit ihrem Mann Sam. Seine Architektenkarriere hatte die beiden schon oft von Boston nach Europa geführt. Zurzeit wohnten sie in Florenz, wo Jess sie bereits eine Woche in ihrer prachtvollen Renaissancewohnung im Stadtzentrum besucht hatte. Eine Kulisse, die Jess als höchst angemessen für sich empfand, ganz abgesehen von Sams Gesellschaft, die sie genoss. Noch war er nicht da, doch mit seiner Ankunft an der Küste wurde täglich gerechnet. Vielleicht, um Sam zu einem Kurzurlaub zu drängen, hatte Rose darauf bestanden, dass wir das »touristenverseuchte« Florenz mieden und uns stattdessen im bescheidensten der fünf Dörfer von Cinque Terre trafen, auf einem Bergvorsprung, hoch über dem Meer.
Nach Tagesausflügen in die anderen Cinque-Terre-Orte Monterosso und Vernazza und nach Pisa hatten wir für die zweite Woche vage weitere Abstecher geplant: vielleicht die Küste hoch nach Genua oder, in die andere Richtung und viel näher, in die Marinestadt La Spezia. Doch je mehr Zeit ich in der grün-blau durchtränkten Luft verbrachte, in dem steinernen Nest von einem Dorf, desto weniger Lust hatte ich auf den Stress von Menschenmengen und Straßenlärm. Und doch wäre ich fast gar nicht hergekommen.
»Du musst!«, hatte Rose gesagt.
Ich begriff, dass die kritische Masse erreicht war, als sich herauskristallisierte, dass sich alle meine großen Schwestern in Italien treffen würden. Meine Weigerung mitzukommen, obwohl ich nur den kurzen Weg von London zurücklegen musste, hätte als Affront betrachtet werden können. Die Vorstellung von uns vieren an einem Ort, zudem für zwei volle Wochen, widerstrebte mir jedoch, war zu nah an dem, was vor fast achtzehn Jahren zerstört worden war. Der Knall hatte sich lange angekündigt und war auf der Skala menschlicher Zerstörung nicht weiter bemerkenswert. Aber das Wissen über die Art allgemeiner Erfahrungen hat so wenig mit dem zu tun, was man bei eigenen Erfahrungen empfindet, wie die Theorie, dass die Erde eine Scheibe ist, mit dem tatsächlichen, sich ausdehnenden Universum.
Nicht lange nach meinem vierzehnten Geburtstag, unsere Eltern hatten einander jahrelang zerfleischt, warf Dad das Handtuch.
Er verließ uns.
Mum hatte kurz zuvor ein Glas Rotwein nach ihm geworfen. Der dramatische Fleck an der Wand wirkte wie eine willentliche Manifestation ihres blutbesudelten Traums von Liebe. Deshalb nahm ich an, dass sie ihn absichtlich verfehlt hatte. Von den zahlreichen Gefühlsausbrüchen war dies nicht einmal der extremste, doch er hatte eine ganz besondere Qualität: das Rot, die unterbrochene Mahlzeit, die fast physische Gewalt.
Seit damals, oder sogar noch länger, da Jess und Ngaio schon in ihre WGs gezogen waren, hatten wir vier Schwestern keine längere Zeit mehr miteinander verbracht. Höchstens mal einen Tag bei gelegentlichen Familienfeiern. Natürlich trafen wir uns jetzt in Italien, eine halbe Welt entfernt von Neuseeland, wo wir aufgewachsen waren, und es lagen viele Jahre und Erfahrungen dazwischen, doch die Aussicht auf das Zusammensein ließ alte Erinnerungen hochkommen: das Bild zweier Menschen – unserer Eltern –, jeder für sich in so einer gefühlsverdichteten Atmosphäre gefangen, dass sie einander als Individuen zu sehen schienen, die ich kaum wiedererkannte.
Wir Schwestern würden uns ohne die Hauptpersonen treffen, die zu Hause in Neuseeland ihr Post-Scheidungsleben lebten. Doch zu Hause ist nicht nur ein Ort und eine Zeit, es ist ein Zustand.
»Wenn du nicht kommst, fahre ich auch nicht«, hatte Rose gesagt, »und ich muss fahren. Also.«
Ich buchte eine separate Unterkunft.
Und dann die Euphorie vor einer Woche, als ich Jess und Ngaio hier wiedersah, wie die Liebe zwischen uns Kindern, bevor wir eine Vergangenheit hatten.
Jess trat durch die Doppeltüren auf den Balkon.
»Dieser Ort ist so unglaublich schön«, sagte sie und machte mit ihrem starken weißen Arm eine ausladende Geste, als würde sie etwas greifen und an sich pressen. »Ich komme bestimmt wieder.«
»Mit Mark?«, fragte ich. Ihr Mann. Er war mit dem neunjährigen Sohn zu Hause geblieben, froh, das Kind mal für sich zu haben, so hatte ich gehört, ohne mit Jess’ intensiver Bemutterung konkurrieren zu müssen.
Jess warf mir einen Seitenblick zu. »Die Aussicht von deinem Balkon ist nicht ganz so spektakulär, oder? Vielleicht liegt es am Licht, weil du nach Norden schaust, die Wirkung ist eine andere.«
»Am frühen Morgen ist es atemberaubend. Neulich sah das Meer aus wie flüssiges Gold.«
»Oh, hier auch. Unvergleichlich. Du kommst bestimmt wieder her, so nah, wie du wohnst.«
»Hoffentlich. Ich verreise nicht so oft, außer auf Tournee.«
»Keine Ahnung, wie du es aushältst, dich fürs Tanzen so zu reglementieren. Ich könnte es nicht ertragen, so fremdbestimmt zu sein.«
»Das nennt man nicht Fremdbestimmung, sondern Disziplin.«
»Aber du hast nie wirklich frei, du musst trotzdem immer trainieren.«
»Das tut mir gut.«
»Mir hat jedenfalls noch nie jemand gesagt, wann ich springen soll oder wie lange, so viel ist sicher«, sagte sie. »Du weißt auch nicht, wo Rose ist, oder? Mir gegenüber hat sie nicht erwähnt, dass sie noch mal wegwollte.«
»Sie ist sicher nicht weit.«
Als Jess wieder reinging, drang von unten, wo die Bahnlinie an der Küste entlangführte, ein schrilles Pfeifen herauf. Einer der Regionalzüge glitt aus dem Tunnel durch den benachbarten Bergvorsprung, der in dem Städtchen Manarola endete. In der ungewöhnlichen Stille konnte ich hören, wie sich die Zugtüren öffneten. Gestalten traten auf den Bahnsteig hinaus. In der Dämmerung wäre es unmöglich gewesen, Rose auszumachen, aber es gab sowieso keinen Grund, warum sie unter den Neuankömmlingen sein sollte.
»Gerade ist ein Zug angekommen«, rief ich nach drinnen.
Haig ließ das Buch sinken. »Ist das von Interesse? Beobachtest du neuerdings Züge?«
»Ha, ha. Eher Schwestern«, antwortete ich und ging wieder hinein. »Da ja niemand weiß, wo Rose ist.«
»Hat sie gesagt, wo sie hinwill?«
»Mir nicht.«
»Dann hat sie es niemandem gesagt«, stellte er fest.
»Es sei denn, Sam ist endlich auf dem Weg, und sie holt ihn ab.«
»Das hätte sie uns doch erzählt. Außerdem kann der seinen Hintern auch allein bewegen. Soll sie etwa seine Koffer tragen?«
»Nein, nur seinen Ruhm. Der ist schwer genug.«
Den Kopf gegen den Arm gelehnt, um auf dem Sofa lesen zu können, lächelte er, was sein undefiniertes Kinn und die markante Nase betonte. Was sein Aussehen rettet, sind die auffällig grünen Augen und sein Körperbau – der eines Tänzers, in seinem Fall verschwendet. Er hob einen Fuß, um sich mit der rauen Ferse am anderen Schienbein zu kratzen, blätterte die Seite um und ließ das Bein mit einem Plumps aufs Sofa zurückfallen, als wollte er sich selbst beweisen, wie entspannt er war. Ngaio kam aus der Küche.
»Habt ihr über Rose gesprochen?«, fragte sie.
»Gerade ist ein Zug angekommen«, sagte ich. »Obwohl sie nichts davon erwähnt hat, dass sie irgendwohin will.«
Ich ging wieder auf den Balkon. Eine kleine Gruppe war schon halb die erste Steigung der kurvigen Straße zum Ort hinauf, langsamen Schrittes, ihre Bewegungen träge in der Luft, die erfüllt war von Feigen und Trauben und wildem Thymian und Pinien – den dunklen Pinien, die der Landschaft ihre Klarheit gaben. Warum sich beeilen, wenn einen solch unkomplizierte Freuden empfangen?
Ihr Anblick erfüllte mich mit Unmut. Ich wünschte mir Adrian an meiner Seite. Ich wünschte, dass er die Aromen atmete, den fruchtbaren Frieden aufsaugte, mit mir die antike Bruchsteinmauerkonstruktion der Weinterrassen an den Hängen bewunderte, weil ich ihn mit mir trug, er war der Gefährte meines Bewusstseins.
Die Waggontüren schlossen sich. Ruckelnd verschwand der Zug unter dem Bergvorsprung von Corniglia, duckte sich ins erdige Halbdunkel, dann wieder hinaus zum hell glitzernden Meer, die Felsküste entlang, hinein in die Dunkelheit, hinaus zum Meer durch die Tunnel, die die Dörfer der Cinque Terre verbanden. In jeder Stadt, die wir besucht hatten, derselbe Gedanke: Was wäre ihm aufgefallen, was mir, mit ihm?
Der Bahnsteig war leer. Rose war nicht unter den Ankömmlingen.
Wenn sie nicht hier war, musste ich es auch nicht sein.
Ich durchquerte das Wohnzimmer, warf ein »Bin gleich wieder da« über die Schulter und eilte nach unten. Als ich auf die Straße trat, ertönte von oben eine aufgebrachte Stimme.
»Wo willst du hin?«
Es war Ngaio. Eingerahmt vom Küchenfenster zwei Stockwerke über mir, ihr Haar ein Schleier, die Hände in die Luft geworfen, sah sie aus wie eine dieser Gestalten auf mittelalterlichen Gemälden, bestürzt vom Blick auf die Verdammten, den sie erhascht hatten. Hätte meine Schwester mich fester ans Rad gebunden, um meine Gliedmaßen brechen zu hören, mich unter schadenfrohem Gelächter in den kochenden Kessel geworfen, wenn sie gewusst hätte, was ich vorhatte? Vielleicht hätte sie meine Gefühle für Adrian für wichtiger gehalten – wie Rosa anfänglich auch – als die Frage der Moral. Ich hatte nicht die Absicht, mein Leben vor ihnen auszubreiten, um herauszufinden, ob sie oder Jess genug Verständnis für mich hatten. Und ich verstand, warum Menschen, die so lebten wie sie, mich verurteilten. Es war »falsch«, eine Beziehung mit einem Mann einzugehen, der Frau und Kind hatte. Es war falsch, weil es die Werte infrage stellte, die ihnen Sicherheit gaben. Ich bezweifelte, dass sie offen für eine Diskussion darüber waren, inwieweit es sich bei ihrer Moral um Eigeninteresse handelte. Doch es war eine Diskussion, die ich sowieso nicht gewinnen konnte, weil ich Adrian für mich wollte, so wie sie ihre Männer für sich hatten. Das war für mich der viel schmerzlichere Konflikt: dass ich mein Verhalten selbst nicht akzeptieren konnte – außer als einzige Möglichkeit, mit dem Menschen zusammen zu sein, den ich liebte.
»Gleich wieder da«, rief ich nach oben.
»Okay. Wenn du Rose suchst …«, hörte ich sie.
Ich eilte an dem Gartenrestaurant unter den Olivenbäumen vorbei, an der jetzt leeren Bank, wo sich tagtäglich sonnengegerbte alte Damen mit sehnigen Armen in geblümten Kleidern versammelten, um die Touristen zu sezieren – Rose, die verstand, worüber sie redeten, meinte, es ginge eindeutig nicht um die Weinernte –, zurück in die einzige schmale, gepflasterte Straße des Dorfes, in Richtung eines bestimmten Cafés, kurz vor dem Platz.
Der Computer am Ende des Raumes war wie erhofft frei. Als ich gegen Mittag meine Mails gecheckt hatte, war nichts von Adrian dabei gewesen. Ich hatte die Möglichkeiten, in Kontakt zu bleiben, während ich in Corniglia war, bewusst eingeschränkt, weil ich dachte, dass durch die Ablenkung der zwei Wochen mit meinen Schwestern eine Erkenntnis aus den unteren Schichten meines Bewusstseins aufsteigen würde, eine Einsicht, eine Perspektive, eine korrekte Einschätzung, die ich der verliebten Verwirrung entgegensetzen konnte. Wir konnten uns Nachrichten schreiben, und ich hatte versprochen, »gelegentlich« meine Mails zu checken, sollte es dort ein Internet-Café geben. Es war das Erste, wonach ich mich bei meiner Ankunft erkundigte. Und natürlich hatten wir uns täglich geschrieben. Nachts wachte ich mit einer Formulierung für den Duft der sonnenverwöhnten Hänge auf, beschrieb für ihn die Kinder aus dem Ort, die durch die Gasse hinter der Kirche tobten, oder die alten Männer in ihren weißen Unterhemden, die am späten Nachmittag neben der öffentlichen Anschlagtafel schwatzten. Ich versuchte, ihm einen Eindruck von dem Ort zu vermitteln, um ihn zu locken. Doch gestern hatte ich trocken und etwas bissig von unserem Ausflug am Mittwoch nach Pisa berichtet und das Fresko des Teufels im Camposanto beschrieben, sein riesiges grünes Gesicht, seine Hörner, seine schlauen Augen: die Augen eines Seelenlesers, »wissend wie ein Liebhaber«. Es war ein alberner Seitenhieb auf Adrian, weil ich so schwer ertrug, dass er London heute mit seiner Lebensgefährtin und der zehnjährigen Tochter Ruth verließ. Sie wollten zwei Wochen in Brighton bei seiner Schwester und deren Sohn Urlaub machen.
Es war eine Mail von ihm da.
In die Betreffzeile hatte er »du« geschrieben.
Es klang wie ein Vorwurf. Du, wie du bist, bist so … Tja, was?
Fordernd? So viel war sicher. Bezeichnend, irgendwie.
Adrian hatte meinen Anflug von Sarkasmus charmant umgedreht, indem er meinte, unser »Wissen umeinander« sei ein teuflisches Vergnügen. Er sei auf Google Earth durch Cinque Terre gestreift, schrieb er und gab mir für die nächsten paar Tage einen Wetterbericht für die Region, »nur Sonne«, und fügte hinzu, er sei froh, dass ich mit meinen Schwestern einigermaßen klarkam. Ich sollte nicht vergessen, dass es nur vorübergehend war. »Wie alles.« Kein Wort darüber, wie oft er in den nächsten Wochen Gelegenheit haben würde, sich zu melden.
Da war er also, der mentale Urlaub, den ich mir gewünscht hatte. Vielen Dank auch.
Achtzehn Monate waren vergangen, seit Adrian sich mir vorgestellt hatte. Ich war auf dem Plakat einer Sportkampagne für Kinder, die von der Stadtverwaltung unterstützt wurde, für die er arbeitete. Er fand heraus, wer ich war, und kam zu einer Vorstellung.
»Ich wollte Ihr Gesicht sehen«, sagte er. »In echt.«
»Nun, das haben Sie ja jetzt«, sagte ich. So etwas war mir schon früher passiert, wie den meisten in der Truppe.
Seine Schüchternheit, sein ruhiger Blick, mit dem er mein Gesicht studierte, einige Minuten seiner laienhaften, aber scharfsinnigen Bemerkungen über die Vorstellung, dann verabschiedete er sich unauffällig.
Er rief im Theater an und entschuldigte sich dafür, kaum dass ich den Anruf entgegengenommen hatte.
Kaffee.
Er sei einer spontanen Eingebung gefolgt, als er mich ansprach, sagte er, eigentlich hatte er nur vorgehabt, mich auf der Bühne anzusehen, doch dann der Tanz, die Lebendigkeit, er hatte nicht erwartet, dass es ihn so mitreißen würde. Er war bei zwei Vorstellungen gewesen, und dann wollte er Hallo sagen. Oder sogar Danke. »Muss man einen gewissen inneren Frieden finden, um sich so zu bewegen?«
Er hatte so eine Art, sich zurückzulehnen, wenn er eine Frage stellte, seinen Kopf in Erwartung der Antwort leicht zu heben.
»Muss man, ja. Es klingt wie ein Widerspruch, aber die Disziplin, die das Tanzen erfordert, wirkt befreiend. Der Rest des Lebens lässt sich nicht so leicht trainieren.«
Er lachte.
Noch mal Kaffee. Er hatte beiläufig seine Tochter und seine Lebensgefährtin erwähnt, als Gegebenheiten, nicht als Geständnis.
Wein, Telefonate, Mails.
Am Ende des fünften Treffens gingen wir zu seiner U-Bahn-Station. Sein Mund. Sein sehniger, fester Körper an meinem. Hungrig. »Bitte«, sagte er. »Nein«, sagte ich.
Ich feilschte, aber nur mit mir selbst, ob ich ihm eine Chance geben sollte.
Am Ende des sechsten Treffens gingen wir zu meiner U-Bahn-Station. Sein Mund. Seine Hände. Verlangen. »Zu dir«, sagte er. »Nein!«, sagte ich.
Immer noch ängstlich. Doch wer hat je zu echter Liebe Nein gesagt? Wer?
Das siebte Treffen, unerwartet, zwei Monate nachdem er sich mir vorgestellt hatte. Er kam ins Theater – atemberaubend schön in meinen Augen, als er vor mir stand. Feilschte auch er mit sich selbst, um seine Zukunft, unsere? Ich wollte nicht mit ihm handeln. Stattdessen hoffte ich.
Wir liefen nebeneinanderher, das achte Treffen. Er sagte: »Ich denke nur an dich.« Ich sagte: »Ja.« Inzwischen gab es in meinem Kopf keinen Gedanken mehr, der nicht auch mit ihm zu tun hatte.
Und dann ging er.
Verlegen stand er vor meiner Tür, bevor ich sie schloss, hob im Weggehen die Hand zu einer Geste des Abschieds, unpassend für einen untreuen Mann, der seine Geliebte verließ, unpassend, weil es ein unschuldiges Winken war, ein bisschen kindlich, ein Nicht-wahrhaben-Wollen, dass wir in das Leben des jeweils anderen getreten waren. Auch wenn ich sie selten aussprach, war ich für ihn die Aufforderung zu einer Entscheidung, zu einem Bruch. Wie aufmerksam ich seiner Antwort lauschte. Er hatte »so etwas« noch nie gemacht, hatte er gesagt. Also konnte ich davon ausgehen, dass noch nie jemand die Tür wieder aufgerissen und ihm vor lauter Schmerz über sein Weggehen nachgerufen hatte, und auch ich tat es nicht. Er konnte auch nichts von der Hölle der Ungewissheit ahnen, die sich in dem Augenblick auftat, in dem er fort war, vom Sturz in mein gefährlich unsicheres Selbst, das er nie so lieben würde wie die souveräne Tänzerin. Und jedes Mal die Frage, ob er wiederkommen würde. Würde er? Was lockte ihn zurück, was lockte mich? Das Verlangen. Der Reiz, sich allen Widrigkeiten zum Trotz füreinander entschieden zu haben, sich immer wieder füreinander zu entscheiden. Bei kurzen leidenschaftlichen Begegnungen in den anderen einzutauchen, voller Erwartung, doch ohne den geringsten Anspruch darauf. Seine uneingeschränkte, ungehemmte Liebe zu meinem Körper. Wie er mich danach hielt. Es kurz machte. Die Tür schloss. Die Schritte. Die Schlichtheit verhallender Schritte.
In den ersten Monaten waren wir Überlebende eines Schiffbruchs, die das Potenzial des anderen prüften, auf der winzigen Insel unserer Chancen zusammen zu sein, zu leben. Doch diese Illusion konnte keinen Bestand haben. Das Meer um uns herum waren wir selbst.
Ich las Adrians Nachricht noch mal, geringfügig getröstet von der Vorstellung, wie er die Hügel um mich herum erkundete, und loggte mich aus. Ich würde ein paar Tage verstreichen lassen, bevor ich ihm antwortete.
Ich war nicht in der Stimmung, zur Villa zurückzugehen.
Als ich den kleinen Platz überquerte, kam ich an dem Tisch vorbei, an dem Rose und ich an diesem Nachmittag ein paar schwierige Stunden zugebracht hatten, und versuchte zu verdrängen, was sie über Adrian gesagt hatte und wie sie urplötzlich jegliches Verständnis für die Beziehung verloren hatte. Ich ging weiter durch die schmale Kluft zwischen den Häusern, bis die Straße abfiel und in drei Stufen unter einem Torbogen hindurchführte, um an einer hüfthohen Steinbrüstung auf dem Felsvorsprung zu enden, hoch über der Meeresbrandung. Adrian war an seinem ersten Urlaubsabend in Brighton wahrscheinlich draußen auf dem Pier. Vielleicht richtete er den Blick aufs Meer, im Bewusstsein, dass auch ich den Wellen nah war, diesem elementaren Etwas, das eine Verbindung zwischen uns herstellte. Doch seine Frau sprach mit ihm, sagte irgendetwas Belangloses darüber, wo sie essen wollten, und im Hintergrund oder Vordergrund hörte er die Stimme seiner Tochter, die ihn auf eine Jacht am Horizont aufmerksam machen wollte, einen Vogel auf dem Geländer, einen Fisch im Wasser.
Du bist in vertrauter Gesellschaft, Adrian.
Das »Vertraute«, ein Geist oder Dämon, der dich führt.
Aber du hast die Kontrolle.
Du bringst ihre Stimmen zum Schweigen, und dann fängst du sie wieder ein, wenn du mich verlässt. Fällt ihr die Unterbrechung gar nicht auf, der Tonausfall, die tote Luft zwischen euch? Ist sie taub?
Das Vertraute. Anfangs war ich beeindruckt, dass du ihm einfach entrinnen konntest. Ich war auch beeindruckt, dass du mir entrinnen konntest. Du bist mein Vertrautes geworden.
Unter der Brüstungsmauer Corniglias hatte sich die Meeresoberfläche in ein milchiges Blassblau verwandelt und war ganz mit dem Himmel verschmolzen, sodass der Horizont verschwunden war. Ich stand am Rand der Unendlichkeit, ein paar Minuten frei von Kategorien, die einzige Andeutung einer Grenze weit im Norden, wo die lange Landzunge unter dem rosa und goldenen Leuchten fast durchsichtig wirkte. Das junge Pärchen, das in einer Mauerecke knutschte, war so mit sich selbst beschäftigt, dass es nichts davon mitbekam. Eine geschwätzige Gruppe Italiener kam vorbei und zeigte auf drei kleine Boote, jedes mit einem wackeligen Licht, die hinter der nächsten Bergspitze auftauchten und sich, parallel zur Küste, lautlos über die Weite des Meeres bewegten. Ihr Kielwasser wogte, ohne die Oberfläche zu durchbrechen, und verebbte innerhalb weniger Augenblicke. Während ich hinunterblickte, wendete das erste der Boote und kehrte um, und dann hielten alle an. Man konnte keine Menschen erkennen, nur die Boote selbst, die sich auf den sanften Wellen bewegten, und die Lichter – als wäre das ganze Meer aus klarem Öl und sie drei brennende Dochte, als Wegweiser, Erinnerung oder Trost.
Das verliebte Pärchen hatte sich voneinander gelöst und sah zu.
Ich ging weiter, zurück durch die nach Stein duftende Straßenkluft.
Der Dorfplatz war von Stimmen erfüllt. Ich verließ ihn durch einen Torbogen und nahm die flachen Stufen hinunter zu dem kleinen Häuschen, in dem ich wohnte. Ich brauchte wenigstens einen kurzen Moment für mich. Dass ich eine eigene Unterkunft hatte, war mehr wert, als ich geahnt hatte. So hatte ich die nötige Privatsphäre, um die Freude darüber auszukosten, dass sich Adrian bisher regelmäßig gemeldet hatte, und gegen die Angst anzukämpfen, dass er in seinem Familienurlaub untertauchte. Und obwohl in der Woche, die wir Schwestern zusammen verbracht hatten, zwischen uns nichts vorgefallen war, waren Rose und ich manchmal froh gewesen, uns hierher zurückziehen zu können, hatten einen Abend auf dem Balkon Wein getrunken oder Tee in meiner winzigen Küche, wenn sie zum Frühstück vorbeikam, um uns so zu entspannen, wie wir es in Gegenwart von Jess und Ngaio nicht konnten.
Ich stieß die Türen auf, deren Läden ich vorher wegen der Hitze geschlossen hatte, und trat auf den Balkon. Während es langsam Abend wurde, verblassten die alten Steinterrassen und -mauern auf dem Hang gegenüber. Eine einsame Gestalt mit einem roten Eimer, wahrscheinlich gefüllt mit frisch gepflückten Auberginen oder Paprika, durchquerte den Torbogen in einer Mauer zwischen zwei Gärten. Unten im Tal hatte sich die Dämmerung über Bambus und Obstbäume gelegt, die bis an den Bach reichten, der in die kleine Bucht auf dieser Seite des Bergvorsprungs mündete.
Ich ließ die Balkontüren offen, um die kühle Brise hereinzulassen, nahm die Trauben, die eigentlich fürs Frühstück gedacht waren, als Friedensangebot mit und schloss die Tür ab.
Bestimmt war Rose inzwischen wieder zurück – wahrscheinlich war sie sauer auf mich, weil ich nicht da war. Auf der Treppe zum Dorfplatz nahm ich drei Stufen auf einmal.
Hast du sie nicht mitgebracht?«
Das war Jess.
Sie saß am Tischende, das Zimmer im Halbdunkel, hinter ihr fiel von draußen Licht herein.
»Rose?«
»Wen sonst?«
»Ist sie nicht hier?«
»Wir dachten, du bist sie suchen gegangen«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. »Wir haben gewartet.«
Neben ihrer rechten Hand stand ein Glas Campari. Sie nahm es und nippte daran. Sie hatte sich hübsch gemacht, trug ein schlichtes, ärmelloses Kleid in einem tiefen Rot und hatte das kurze, dunkle Haar zurückgekämmt. Ihre weiße Haut, das rote Kleid, das rote Getränk. Wir waren vom selben Blut, sie und ich.
»Wir haben keine Zeit fürs Abendessen abgemacht, oder?«, sagte ich leichthin. »Ich bin durch den Ort geschlendert, aber vielleicht ist sie mit jemandem ins Gespräch gekommen und auf einen Drink eingeladen worden.«
»Eingeladen! Wen kennt sie denn hier so gut?«
»Irgendjemanden. Einen Einheimischen. Sie plaudert mit allen möglichen Leuten.«
»Du stellst nur Vermutungen an«, sagte sie von oben herab. »Aber da jetzt wenigstens ein Streuner zurück ist, können wir ja was essen.«
Ich schlug vor, mit den Antipasti zu beginnen, die ich vorhin mitgebracht hatte, und wenn wir auf dem Balkon aßen, würde es nicht so aussehen, als hätten wir ohne Rose angefangen.
Ngaio tauchte wie aus dem Nichts neben der Tür zu ihrem Zimmer auf.
»Gute Idee.«
Auf der anderen Seite der Bucht waren auf den Klippenwanderwegen, die nach Manarola führten, schon die Laternen angegangen. Sie glimmerten unscharf, flüssig wie die Wellen, wie eine Steigerung der goldenen Dämmerung. Draußen im Meer entdeckte ich vier Schwimmer. Rose und ich waren an einem Abend auch noch so spät im Wasser gewesen. Vielleicht war sie ohne mich baden gegangen. Vielleicht war sie die einsame Gestalt, die ich nur mit Mühe erkennen konnte und die sich gerade auf den Rücken drehte, und unsere Unterhaltung vom Nachmittag auf dem Platz glitt von ihr ab, die Kraft des Wassers spülte die Last fort, meine Last.
»Ich glaube, du solltest einsehen«, hatte sie gesagt, »dass du dich in der Phase der Liebe befindest, die immer irgendwann kommt, egal, wie die Partnerschaft geartet ist. Die Normalität, die Realität und die Einengung. Das kannst du akzeptieren oder nicht, aber wahrscheinlich kannst du es nicht rückgängig machen.«
»Vielen Dank auch«, sagte ich verärgert.
»Das nennt man realistisch sein.«
Doch das stimmte nicht. Sie kannte ihn nicht. Sie nannte ihn beim Namen, konnte jedoch nicht sehen, hören, fühlen, was der Mensch Adrian für mich war.
»Stimmt nicht«, sagte ich. »Das nennt man sich mit zu wenig zufriedengeben.«
Womit ich ihre Beziehung mit Sam meinte. Obwohl er auf seine Weise großzügig und liebevoll war, zog er es absolut nicht in Betracht, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, um ihr das Kind zu schenken, das sie sich bisher vergeblich wünschte. Rose hatte erzählt, wie er sich vor dem Gespräch drückte, sauer wurde und behauptete, für ein Kind wäre kein Platz in ihrem Leben.
»Das war echt fies.« Sie wusste genau, was ich gemeint hatte.
»Tut mir leid, tut mir wirklich leid. Aber was du mir sagst, ist auch ganz schön hart. Du glaubst, ich hab’s vermasselt, weil ich mitgespielt habe. Dass, wenn es je die Chance auf eine richtige Beziehung gab, der Zug jetzt abgefahren ist.«
»Woher soll ich das wissen? Woher willst du das wissen, wenn du es nicht ausprobierst? Sag Adrian einfach ins Gesicht, was du willst. Sag, ich will dich ganz. Oder gar nicht.«
»Muss ich das verlangen? Ich werde ihm nicht drohen. Er sollte aus freien Stücken kommen. Das tut er aber nicht. Bisher. Sie ist zehn. Seine Tochter.«
Rose wusste das. »Ich frage mich, ob er zu Hause einen auf glückliche Familie macht«, sagte sie. »Du denkst, er ist dort unglücklich, aber du weißt es nicht, du möchtest es gern glauben. Kauf dir eine Drohne. Spionier ihm nach. Du musst dir darüber klar werden, welchen Stellenwert du in seinem Leben hast.«
»Er muss sich darüber klar werden, welchen Stellenwert wir in seinem Leben haben.«
»Achtzehn Monate. Vielleicht ist er einfach ein totaler Schwindler, und du willst es gar nicht herausfinden.«
»Tja, dann wäre ich wohl ein totaler Idiot.«
Ein gewelltes goldenes Blatt von der mächtigen Platane, in deren Schatten unser Tisch stand, fiel so langsam herab, als würde es an einem Faden durch die warme Luft gezogen, alle Zeit der Welt für Anmut. Doch das plötzliche Gefühl der Einsamkeit versetzte mir einen Stich. Monatelang hatte Rose mir zugestimmt, dass es nur angemessen war, Adrian und mir etwas Zeit zu geben, dass er sein Leben nicht ändern würde, bevor wir einander besser kannten.
Und jetzt diese plötzliche Kehrtwendung.
»Du musst dir klarmachen, wo du in seiner Nahrungskette stehst«, sagte sie und stieß mit dem Knie gegen den Tisch, sodass wir unsere Wassergläser auffangen mussten. »Jeder steht irgendwo in den Nahrungsketten der anderen, und vielleicht ist er schwach und gierig und nimmt einfach alles, was er kriegen kann.«
Sie war meine Zweifel leid, vielleicht langweilte ich sie sogar, doch sie wollte nicht zugeben, dass ihre Ungeduld so einen banalen Grund hatte, und griff Adrian deshalb an.
»Zeugt es von Schwäche und Gier, dass man es sich gründlich überlegt, ob man einem Kind das Zuhause nimmt?«
Ohne zu antworten, überlegte sie einen Moment. Keiner von uns würde so tun, als könne man einen Vater, der seine Familie verließ, auf ein paar Charakterfehler reduzieren. Und ich war mir sicher: Das Zuhause, das Adrian für sein Kind geschaffen hatte, unterschied sich deutlich von der Atmosphäre der fliegenden Gläser und des strafenden Schweigens, die wir »verloren« hatten. Er war alles andere als feindselig. Seine eigenen Eltern waren zusammengeblieben, »süchtig danach, sich gegenseitig das Leben zu versauen«, wie er es formuliert hatte, und von diesem Verhalten hatte er für den Rest seines Lebens genug.
»Blöde Worte, oder? Schwäche, Stärke – manchmal weiß man nicht, was was ist«, lenkte sie ein, verlangte die Rechnung und ging die Straße hinunter, ihr fließendes Kleid locker schwingend, ihre Bewegungen wie immer stakkatohaft, als würde ihr Körper nicht richtig zu ihr gehören.
Ich schrieb ihr eine SMS, dass es mir leidtat, wie unser Gespräch gelaufen war, und dass sie bitte schnell zum Abendessen kommen sollte, und wischte dann den Staub des Tages vom Plastiktisch. Haig kam nach draußen, in seiner Hand das Buch, das er auf dem Sofa gelesen hatte.
»Wir sollten einen Ausflug in die Berge machen«, sagte er. »Da oben gibt es faszinierendes Zeug, wenn ich diese beschissene Übersetzung richtig interpretiere. Es gab einen weiblichen Geheimkult oder so was. Man kann die alten Steine noch sehen.«
»Ja, ich habe es überflogen. Rose will die italienische Originalausgabe besorgen.«
»Hier steht, wo die Steine ungefähr liegen. Wahrscheinlich könnte sie uns hinführen.«
Als ich ihm das Büchlein abnahm, trat Ngaio zu uns.
»Was ist so faszinierend an diesem Buch?«, fragte sie und drückte Haig eine Salami und ein Küchenbrett in die Hand. »Mach dich bitte nützlich«, sagte sie zu ihm.
»Steinvulven«, sagte ich und betrachtete die aufgeschlagene Zeichnung. »Oben in den Bergen. Willst du sie ansehen?«
»Nicht vor dem Abendessen«, sagte sie. »Klingt nicht sehr appetitlich.«
Jess kam mit Oliven, Gläsern, Wein.
»Sie wurden verehrt. Ihr wurdet verehrt«, sagte Haig und beugte sich über mich, um Ngaio flüchtig auf den Mund zu küssen. »Wilde Geschichte.«
Von seinem Körper ging ein schwacher, frischer Schweißgeruch aus. Später sah ich, wie sie sich umarmten, wie sie ihre Beine um ihn schlang. Es war völlig normal, aber ich musste daran denken, wie übel mir immer geworden war, wenn unsere Eltern Zärtlichkeiten austauschten. Diese seltenen Umarmungen nach ihren heftigen Auseinandersetzungen waren mir immer wie ein Trick vorgekommen. Es ging über meinen kindlichen Verstand, dass in der Asche Nähe aufflammen konnte, während meine pyromanischen Eltern noch darüber stritten, wer das Feuer gelegt hatte.
»Der Frauenkult. Das ist mein Spezialgebiet«, sagte Jess und streckte mir die Hand entgegen, damit ich ihr das Buch gab.
»Moment, da gibt es auch Hinkelsteine«, sagte Haig. »Jede Menge phallische Präsenz da oben in den Bergen. Zum Zaubern gehören immer zwei.«
Ich hielt den Plastiktisch fest, während er die Salami schnitt, und der strenge Geruch nach Knoblauch und Fett und geräuchertem Fleisch überdeckte seinen männlichen.
Jess beugte sich vor und nahm eine Scheibe.
»Du bist nervös, weil du nicht wahrhaben willst, dass es Frauen waren, die zuerst angebetet wurden«, sagte sie zu ihm. Sie biss in die Wurst, grub ihre Zähne in das rosa Fleisch. Das Abendlicht schimmerte auf ihrem Haar, auf der speziellen Nacktheit weißer Haut. Ich konnte kleine Fleisch- und Fettstücke in ihrem feuchten, rotlippigen Mund erkennen. »Davor fürchtet ihr Kerle euch doch seit Jahrtausenden. Vor der Urgewalt. Vor uns.« Sie schlug das Buch gegen ihre üppige Brust.
»Nee, nee, schon seit Lehmhüttenzeiten nicht mehr«, sagte er. »Danach habt ihr es uns so leicht gemacht, euch zu unterdrücken, dass es fast peinlich ist.«
Jess lachte so schrill auf, dass es Ngaios und meinen Protest im Keim erstickte.
»Die Zeiten ändern sich«, sagte Jess. »Du wirst schon sehen. Aber es wird euch gefallen. Entspannt euch einfach und betet uns an. Das ist es doch, was Männer sich heimlich wünschen. Sie sind überfordert. In fünfzig Jahren wird die Gesellschaft eine vollkommen andere sein. Eure Zeit ist vorbei. Jetzt sind wir wieder dran.«
»Wieso denke ich nur, dass sich dadurch nichts verbessern wird?«, sagte ich.
»Schwer zu sagen«, meinte Jess sarkastisch. »Aber wenn Frauen nicht wollen, dass andere Frauen an die Spitze kommen, sollten sie sich mal fragen, warum. Nach all den Kämpfen, die wir geführt haben, ist das eine Dolchstoß-Einstellung.«
»Dolchstoß? Überhaupt nicht! Es ist einfach die Erkenntnis, dass Frauen genauso fehlbar sind wie Männer, genauso unheimlich«, sagte ich. »Wer kann ernsthaft glauben, dass wir irgendwie überlegene Wesen sind und die Welt verbessern werden? Das ist doch albern.«
»Bist du etwa gegen Frauenpower? Was hast du davon, dagegen zu sein, dass andere Frauen erfolgreich sind? Na los, frag dich das mal.«
»Ich bin nicht gegen Gleichberechtigung. Ich bin gegen Mystifikation. Es hat in der Geschichte schon weibliche Machthaber gegeben. Wie gut waren die, wenn es um Glück und Frieden ging? Keinen Deut besser als alle anderen.«
Haig lachte. »Verbreitet Liebe und Frieden, Mädels, Liebe und Frieden. Ich sehe es schon vor mir, wenn ich euch zwei so höre.«
»Ich behaupte ja nicht, dass wir Zauberkräfte haben«, sagte Jess mit ihrer eindringlichen Gerichtssaalstimme.
»Obwohl du es gern würdest«, sagte ich, in der Hoffnung, sie damit zu ärgern. Der Kontrollzwang, den sie ausstrahlte, löste in mir den Wunsch nach Chaos aus.
»Würde ich nicht! Ich sage nur, hörst du, dass wissenschaftlich erwiesen ist, dass Männer und Frauen unterschiedlich funktionieren. Alte matriarchalische Strukturen waren sehr, sehr stabil.«
»Und stinklangweilig«, sagte ich. »Lehmhüttenlangweilig buchstäblich.«
Sie ignorierte mich. »Und was die menschliche Gesellschaft momentan vor allem braucht, sind Stabilisatoren.«
Sie verpasste ihnen ein lang gezogenes »o«, ihren Stabilisatoooren, und vollführte mit ihrem schweren weißen Arm eine ausgedehnte Bewegung in Richtung des vertrockneten Rasens unter dem Balkon und zurück zu sich selbst, in einem Kreis, der die Zukunft der Menschheit umfasste, die sie sich selbst zweifellos formen sah. Sie hatte sich als Anwältin einen Namen gemacht, indem sie Datenschutz- oder Umweltfälle von öffentlichem Interesse angenommen hatte, und war eine »Persönlichkeit« geworden. Ihre Begeisterung für diese Rolle wurde nur von der für ihren Sohn übertroffen, für den allein schon die Zukunft des Planeten gerettet werden musste.
»Da hast du recht«, sagte Haig. »Was die Stabilisatoren angeht. Wo man auch hinschaut, haben wir zu wenig davon.«
»Und das ist ein Frauending?«, sagte ich. »Das glaube ich nicht. Denkt nur an die Frau, von der Rose erzählt hat, die in ihrem Video, Isabella. Sie war brillant, sie hatte Macht, viel Macht, aber sie war sicher nicht ausgleichender als andere, was auch immer das überhaupt heißt. Sie hat Kriege geführt. Es gibt kein einziges Beispiel für eine Herrscherin, die irgendwie anders war.«
»Das ist doch kein Argument. Im Italien der Renaissance musste man Kriege führen«, sagte Jess.
»Und Frauen, die heutzutage an der Macht sind, müssen das nicht? Das ist doch Wunschdenken.«
»Ich spreche …«, sagte sie, »ich spreche von schrittweiser Veränderung. Tief greifender Veränderung. Mentaler Veränderung. Während Frauen immer mehr Macht erhalten. Allgemeine Macht. Jedes Ende von Unterdrückung bringt Erleichterung. Und die Unterdrückung der Frau war enorm, enorm, sage ich euch, deshalb wird deren Ende offenkundig, offenkundig eine große Wirkung haben.«
»Nur dass Frauen auch nur Menschen sind – dieselbe Unzuverlässigkeit wie Männer, nur in anderer Verpackung.«
»Kann es sein, dass du von dir selbst redest?«, fragte sie.
Ich ließ den vergifteten Pfeil vorbeizischen.
»Die Frauen in Rose’ Geschichte waren ziemlich beeindruckend«, sagte Ngaio. »Welche war es noch, die mit dem Ehemann gevögelt hat, mit Isabellas Mann?«
»Lucrezia Borgia«, sagte ich. »Ihre Schwägerin. Auch eine einflussreiche Frau.«
»Isabella war bildschön, wie eine Märchenprinzessin. Rose hat mir die Abbildung eines Gemäldes gezeigt. Aber wo sie auftauchte, herrschten Mord und Chaos.«
»Schöner Stabilisator«, sagte ich.
»Man kann nicht nach der damaligen Zeit urteilen«, sagte Jess. »Nach dem, was Rose erzählt hat, wurde sie wie ein Wanderpokal verheiratet. Jedenfalls glaube ich nicht, dass solche Aspekte wichtig sind, auch wenn Rose sich dafür interessiert. Diese Isabella ist unabhängig davon eine unglaubliche Frau gewesen, sie kannte alle bedeutenden Persönlichkeiten ihrer Zeit. Ihre Ehe und diese andere Kreatur sollten nur Fußnoten sein.«
»Im Video ist sie den anderen ebenbürtig«, sagte ich. »Rose möchte, dass sich die Frauen gegenseitig durch die leeren Räume jagen. Der Mann ist nur eine Reflexion in diesen riesigen Wandspiegeln.«
»Und was soll uns das sagen?«, fragte Jess verächtlich. Sie fand Rose’ kreative Projekte im Vergleich zu Sams Brillanz trivial.
»Geschlechter und Konkurrenz«, sagte ich und erkannte sofort, dass ich Rose’ Idee nicht gerecht geworden war.
»Tja, wie originell«, sagte sie. »Niemand ist je darauf gekommen, dass es da einen Zusammenhang geben könnte. Endlich hat das mal jemand erkannt.«
»Ja«, sagte ich. »Und die Wahrheit ist, dass die Menschen sich nicht ändern. Damals dasselbe, heute dasselbe; Männer, Frauen, dasselbe. Wenn es um Macht geht.«
»Was meinst du mit dasselbe