Vogelblick - Emily Glotz - E-Book

Vogelblick E-Book

Emily Glotz

0,0

Beschreibung

Plötzlich ist alles anders. Fremde Menschen, fremde Umgebung, fremde Geräusche und Gerüche. Doch eins ist gleich. Seit vielen Jahren ist "sie" Ellas treue Begleiterin. Doch genau das hat sie hierher geführt, in das Fremde, das sie vor "ihr" bewahren soll. Denn "sie" ist nur auf eines aus. "Sie" möchte Ella am Boden sehen, das Leid in ihren Augen. Bereits jetzt hat "sie" Spuren auf Ellas Körper hinterlassen, um sie immer daran zu erinnern, dass nicht Ella diejenige ist, die hier Entscheidungen trifft. Jetzt ist sie hier. Es soll Ellas letzte Chance sein "sie" loszuwerden. Ob ihr das gelingt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 1

Es war einer dieser schönen, perfekten Tage im Frühling. Die Sonne schien an einem wolkenlosen Himmel. In diesem Jahr stieg die Temperatur das erste Mal über fünfzehn Grad. Die Natur schien wieder zu neuem Leben zu erwachen. Am Rande der Wege sprossen die Krokusse. Aus den Baumkronen hörte man das erste Vogelzwitschern.

Die Parks füllten sich mit Menschen, die sich aus ihren Winterjacken schälten und es genossen, endlich wieder ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen. Sie lachten und trafen sich mit Freunden oder nutzten das tolle Wetter, um draußen eine Runde Sport zu treiben.

Ella war einer dieser Menschen. Doch während alle anderen durch den Park spazieren gingen, ohne auch nur im Geringsten die Schönheit der, um sie erwachenden Natur wahrzunehmen, saß Ella unter einer alten, großen Eiche im frischen Gras. Es war noch feucht vom Tau, welches sich während der Nacht wie eine Decke um die Grashalme gelegt hatte. Ellas Hose war durch das Gras bereits durchnässt. Doch das schien die junge Frau nicht mitzubekommen. Für Außenstehende schien die kleine, zierliche Frau, die dort verträumt unter dem Baum saß, überhaupt nichts mitzubekommen.

Aber das stimmte nicht! Sie nahm alles ganz genau wahr. Die Passanten, die an ihr vorbeiliefen, die, die lachten und auch die, die ganz gedankenverloren über den Schotterweg hinwegschlichen.

Sie sah aber auch den Ameisenhügel, der sich rechts neben ihrem Schuh befand. Oder das hungrige Eichhörnchen, welches verzweifelt seinen Vorrat aus dem letzten Herbst zu suchen schien.

Ella war eine junge Frau mit langen blonden Haaren, die sie meistens zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Hinter ihren dichten, langen Wimpern lugten ihre kastanienbraunen Augen hervor. Obwohl sie viel Zeit draußen in der Natur verbrachte, war ihr Hautton eher blass. Doch ihre Wangen waren immer ein wenig gerötet. Auf Make-up und sonstige Kosmetik machte sie sich nicht viel. Sie mochte es schlicht und natürlich, genauso wie ihren Kleidungsstil. Meist trug sie nur eine lockere Jeans, dazu einen schlichten Sweater darüber. Wurden die Temperaturen wärmer, wechselte sie den Sweater gegen ein mindestens genauso unscheinbares T-Shirt.

Heute waren die Temperaturen noch viel zu kalt, um nur im T-Shirt im Park zu sitzen. Also hatte sie sich in der Früh einen waldgrünen Pullover geschnappt und darüber noch ihre graue Winterjacke übergeworfen.

Die Jacke hatte sie mittlerweile abgelegt, denn auf ihrem Platz unter der alten Eiche schien herrlich die Sonne und wärmte sie. Auf ihrem Schoß lag ihr Zeichenblock und um sie herum waren ihre Malutensilien verteilt. Am liebsten zeichnete Ella Bilder, so wie sie sich ihre Zukunft vorstellte. Schlicht!

Dafür benutzte sie Tusche und Bleistift. Das Bild, welches heute auf ihrem Zeichenblock entstand, war wie so oft eine sehr detaillierte Zeichnung ihrer Umwelt. Gerade bekam die Weide, die ihr gegenüber am Ufer des kleinen Teiches stand, ihre signifikante Baumkrone mit den fließenden Ästen.

„Also wenn du noch länger in dem nassen Gras sitzt, wundert es mich überhaupt nicht, dass du ständig erkältet bist.“

Erschrocken zuckte Ella zusammen, denn sie hatte nicht mitbekommen, wie sich ihr ein Besucher genähert hatte. Ein junger Mann ließ sich mit einem tiefen Seufzer neben ihr ins Gras plumpsen. Es war Manuel, einer von Ellas Mitbewohnern. „Bäh, das ist ja wirklich noch alles ganz nass“, quäkte er. Angewidert schaute Manuel auf seine nassen Finger, bevor er mit den Achseln zuckte und seine Hände einfach an seiner schwarzen Jogginghose abwischte. Er war ein großgewachsener, drahtiger Kerl, dessen dunkle Haare immer aussahen, als wäre er gerade eben erst aus dem Bett gefallen.

„Das stärkt das Immunsystem. Solltest du auch mal ausprobieren“, erwiderte Ella, ohne von ihrer Zeichnung aufzusehen.

„Nein danke, was bleibt mir noch, wenn ich nicht alle zwei Wochen krank im Bett liege“, lachte Manuel.

Ella wusste, dass das eigentlich ein Thema war, mit dem er sehr viele Probleme hatte. Der Mann war in der 32. Schwangerschaftswoche als einer von eineiigen Zwillingen auf die Welt gekommen. Das er und sein Bruder am Leben waren, grenzte an ein Wunder. Doch für jedes Wunder mussten Preise gezahlt werden. Bei Manuel war es seine Gesundheit. Bei jedem umherschwirrenden Virus schien er laut „HIER“ zu schreien.

„Was zeichnest du da?“, fragte er. Neugierig rutschte er ein bisschen näher, um besser erkennen zu können, was Ella dort gerade auf das Papier zauberte. „Sieht gut aus. Aber kann es sein, dass du nicht schon mindestens sechsundvierzig Exemplare von diesem Baum zu Hause hast?“, lachte Manuel beim Sprechen auf.

„Mag sein“, erwiderte Ella kurz. Sie mochte es nicht, wenn man sie beim Zeichnen, Lesen, Musik hören oder Sonstigen störte. Dies wusste Manuel auch.

„Schon gut. Musst nicht gleich pampig werden.“ Er rutschte wieder ein Stück von ihr weg. Ella sah auf, seufzte und legte ihre Tuschefeder zur Seite. „Entschuldigung, aber ich bin mit Absicht hierhergekommen. Ich brauche ein bisschen Abstand. Zu Hause ist momentan so viel los.“

„Zu Hause“, so nannten Ella und Manuel seit nun fast acht Monaten die städtische Allgemeinklinik für Psychiatrie und Neurologie oder wie sie es nannten, die StAP.

„Ja, ich weiß, was du meinst! Die Neulinge sind wirklich anstrengend. Von geregelten Schlafenszeiten haben die auch noch nichts gehört“, erwiderte Manuel.

„Die Neulinge“ waren Mitpatienten und Patientinnen, die neu in die Klinik aufgenommen worden waren.

Neben den Gebäuden für die akute Behandlung, die sich mitten in der Stadt befanden, betrieb die StAP auch ein großes Rehabilitationszentrum am Rande der Stadt. Hier wohnten Ella und Manuel gemeinsam mit 250 Mitpatienten und Mitpatientinnen. Das Rehabilitationszentrum sah von außen eher wie ein kleines Schloss, als nach einem Zentrum für psychische Erkrankungen aus. Das lag daran, dass es früher zu Zeiten von König Friedrich II. ein Kurort für den Hochadel war. Durch die guten Luftverhältnisse und die schöne Landschaft, die das Schlösschen umgab, war es Jahrhunderte lang ein beliebter Reise- und Erholungsort für die ganz Reichen der Gesellschaft gewesen.

Heute war die Luft nicht mehr ganz so rein und die Schönheit der Landschaft beschränkte sich zunehmend auf den kleinen Park, in dem Ella und Manuel nun saßen.

„Ich sollte zurückgehen. Meine Eltern kommen heute zu Besuch. Wenn sie sehen, dass ich mit der teuren Jeans im Gras herumgerutscht bin, darf ich mir wieder anhören, dass ich gefälligst dankbarer gegenüber den wertvollen Stoffen und den Menschen, die daran gearbeitet haben, sein soll.“

Ella setzte sich auf ihre Knie, sammelte ihre Zeichenutensilien zusammen, dann legte sie sie fein säuberlich in ihr Etui.

„Haben sie damit nicht irgendwo recht?“, fragte Manuel.

„Ja, natürlich“, stockte Ella, die in ihrer Bewegung innehielt, bevor sie aufstand, um sich ihren Block unter den Arm zu klemmen. „Aber ich habe momentan andere Dinge im Kopf, als wertvolle Stoffe und wie sie entstanden sind.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie los in Richtung StAP, welches sich erhaben am Horizont abzeichnete. Der Park war nicht besonders breit, dafür erstaunlich lange, der sich über eineinhalb Kilometer erstreckte, bevor sich am Ende das StAP befand.

Während Ella über den Schotterweg schritt, lauschte sie den Geräuschen ihrer Umwelt. Die meisten ihrer Mitpatienten und Mitpatientinnen würden sich für diesen Weg Kopfhörer in die Ohren stecken und die Musik auf die höchste Lautstärke drehen, aber Ella genoss es, ihre Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Als sie ihre Zimmertür öffnete, kam ihr ein Schwall Parfüm entgegen. „Puh, ist dir deine Parfümflasche geplatzt?“, keuchte Ella, die in der Zimmertür stehen blieb und ihre Mitbewohnerin fragend ansah. Die saß im Schneidersitz auf ihrem Bett. Um sie herum lagen drei unterschiedliche Parfümflaschen. Auf ihrem Schoß hatte sie ein rotes Sommerkleid liegen.

„Ich wollte heute unbedingt mein rotes Kleid anziehen, das ich gestern am Lagerfeuer anhatte“, erwiderte Jasmin. Trotzdem sah Ella sie immer noch fragend an. „Na ja, es riecht halt total nach Rauch. Jetzt habe ich auch keine Zeit mehr, es zu waschen. Den Geruch wollte ich irgendwie neutralisieren?“

Schnell hielt sie Ella ihr Kleid entgegen.

„Und da helfen drei Flaschen Parfüm?“

Ella schmiss ihren Zeichenblock auf ihre Matratze und setzte sich neben Jasmin aufs Bett, die sie verzweifelt ansah und ihr weiterhin das Kleid entgegenhielt. Ella nahm es und legte es neben sich.

„Ich wusste nicht, was ich sonst anziehen soll. Heute kommt mich Jonas das erste Mal besuchen, da wollte ich mich ein bisschen schick machen“, gestand Jasmin.

Jonas war Jasmins Langzeitfreund. Mittlerweile waren sie seit nun fast fünf Jahren ein Paar. Seitdem waren sie noch nie so lange voneinander getrennt gewesen. Seit vier Wochen war Jasmin bereits Ellas Zimmernachbarin. Bereits seit vielen Jahren hatte sie mit Anorexie zu kämpfen und war nach einem Krankenhausaufenthalt, bei dem sich multiple Mängel und Herzrhythmusstörungen herausgestellt hatten, ins StAP zur Anschlussbehandlung gekommen.

Gemächlich stand Ella auf, ging zu ihrem Kleiderschrank, öffnete ihn und zog aus dem obersten Fach etwas heraus. „Hier, nimm das. Ist genauso hübsch, aber es riecht nicht nach Drogerie und Rauchbombe“, meinte sie, dann reichte sie Jasmin den türkisenen Stoff.

„Oh, vielen lieben Dank!“ Begeistert sprang Jasmin auf und fiel Ella überschwänglich um den Hals. „Ja, das passt schon.“

Kurz erwiderte Ella ihre Umarmung, bevor sie diese wieder löste und die freudestrahlende Jasmin von sich wegschob. Die schnappte sich quietschend das Kleid, welches Ella aus ihrem Schrank hervorgezaubert hatte und hüpfte ins Bad. Als sich die Badezimmertür schloss, ließ sich Ella mit einem tiefen Seufzer aufs Bett fallen.

Wie viele im StAP teilten Jasmin und Ella sich ein gemeinsames Zimmer. Diese sahen eigentlich alle gleich aus. Zwei Betten lagen sich gegenüber. Auf einer Seite stand ein großer, hölzerner Kleiderschrank, der für beide Bewohner reichen musste. Auf der anderen befand sich noch eine Tür, die ins angrenzende Bad führte. Gegenüber der Eingangstür lag das Fenster, darunter stand ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen.

Schwungvoll riss Jasmin die Badezimmertür auf. „Na, wie findest du mich?“, quietschte sie. Auf Zehenspitzen drehend, präsentierte sie sich in Ellas türkisen Kleid, welches knielang war und einen Carmen-Ausschnitt aus feiner Blumenspitze hatte. Der Rock war aus zwei matten Satins, was ihn besonders leicht und locker fallen ließ. Eigentlich war das Kleid sehr figurbetont geschnitten, doch an Jasmin saß es gerade um die Taille herum sehr locker und ließ sie dadurch nicht mehr ganz so mager wirken. Auch die Ärmel, die einen normalerweise in jeglicher Beweglichkeit einschränkte, hingen an ihr eher in der Ellenbeuge als an den Schultern. Doch obwohl man meinen könnte, dass es Jasmin eher weniger gut stand, sah sie darin wirklich sehr hübsch aus. Sie hatte sich ihre lockigen, blonden Haare nach oben in einen lockeren Dutt gesteckt. Ihr zierliches Gesicht wurde von zwei Strähnen umrahmt. Zudem hatte sie ein wenig Wimperntusche aufgetragen, welche ihre grün-grauen Augen betonten. Ihre Lippen glänzten leicht rosa vom Lipgloss.

Stolz lächelte Ella sie an. Noch vor vier Wochen hätte Jasmin niemals freiwillig so viel von ihrem Körper gezeigt. Jetzt schien sie geradezu vor Selbstbewusstsein zu strotzen und konnte gar nicht aufhören, sich im Spiegel an der Schranktür zu bewundern.

„Du siehst umwerfend aus.“ Ella stand auf und zupfte noch einmal die Ärmel gerade. „Da wird Jonas aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen, wenn er dich so sieht.“

„Na, das will ich doch meinen“, erwiderte Jasmin lachend. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr, die über dem Türrahmen hing. Die Uhr zeigte Viertel vor neun an. „O nein, schon so spät! Meine Familie wird bestimmt schon unten auf mich warten.“ Eilig sammelte sie eine der Parfümflaschen, dazu ihren Geldbeutel ein und stopfte alles hastig in eine kleine Umhängetasche. Dann hetzte sie zur Tür, rief Ella noch ein: „Vielen Dank noch mal. Bis später“, zu und schon war sie verschwunden. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

„So und was mach ich jetzt?“, fragte Ella leise sich selbst. Ihre Eltern würden heute erst nach dem Mittagessen vorbeikommen. So beschloss sie sich noch einmal ihrer Zeichnung zu widmen, denn sie wollte in den Teich unter der Weide noch ein paar Enten hineinzeichnen. Vögel waren ihre Leidenschaft, dabei konnte sie sich stundenlang in Details verlieren.

„Ella, alles gut bei dir?“, fragte plötzlich eine Stimme, dabei klopfte es an der Tür. Augenblicklich schrak Ella hoch. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Verdammt, schon 12:12 Uhr. Frau Wittel, eine der Krankenschwestern, streckte ihren Kopf durch die Tür herein.

„Ja, Entschuldigung! Ich habe die Zeit komplett vergessen.“ Hastig sprang Ella auf.

„Alles gut, aber jetzt beeil dich. Die anderen warten schon. Annabell und Josephine haben Quesadilla gemacht, die duften einfach nur fantastisch“, beruhigte Frau Wittel sie.

Auf Station 32 wurde gemeinsam gekocht und gegessen, denn Station 32 war die Abteilung für Rehabilitation bei Essstörungen, spezialisiert auf Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. Eine der Therapien war das Zubereiten und danach das gemeinsame Essen von allen drei Mahlzeiten. Unter der Woche wurden die Patient*innen in drei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe bestand aus circa vier bis fünf Patient*innen und war für eine Hauptmahlzeit zuständig. Gemeinsam mit ausgebildeten Therapeut*innen, wurde das Essen vorbereitet. Dabei ging das Personal auch auf die verwendeten Lebensmittel ein. Wie viel Nährstoffe sich in den einzelnen Dingen befand. Was sich daraus zubereiten ließ, vor allem das Essen nichts Schlechtes war und nichts Böses wollte. Während der Woche mussten die Patient*innen zu allen drei Mahlzeiten erscheinen. Am Wochenende durften sie sich für insgesamt ein Essen von ihren zuständigen Ärzt*innen befreien lassen. Zudem durfte man sich freiwillig für das Kochen melden. Heute Mittag waren es Annabell und Josefine gewesen.

Zwei junge Mädchen, Annabell war vor drei Tagen fünfzehn Jahre alt geworden. Josefine hingegen war gerade einmal elf Jahre alt. Die zwei waren Zimmernachbarinnen und seitdem nicht mehr ohneeinander anzutreffen.

Ella packte ihre Tuschefeder zurück in ihr Etui, dann folgte sie Frau Wittel Richtung Speisesaal. Wobei Speisesaal wohl etwas übertrieben war. Es war ein großer Raum mit hohen Decken. Früher war es wohl wirklich mal ein Saal gewesen, doch es wurden mehrere Wände gezogen, sodass jetzt nur noch Platz für insgesamt acht Tische à vier Personen war. Normalerweise waren alle Tische voll besetzt. Heute saßen nur vereinzelt Leute an den Tischen. Durch das Wochenende waren viele entweder zu Hause oder mit ihrem Besuch auswärts essen. Ella holte sich ein Tablett und Besteck. Das Essen musste sich jeder selber holen. So legte sie sich einen der Quesadillas auf den Teller. Daneben schaufelte sie sich noch eine große Portion des Eisbergsalates drauf. Jeder ihre Bewegungen wurde von einer Schwester beobachtet. „Josefine hat extra zwei der Veganen für dich gemacht. Die isst sonst keiner.“ Kurz zögerte Ella, doch dann legte sie schließlich den zweiten Quesadilla auf den ersten. Anschließend nahm ihr die Schwester den Teller ab, um ihn einmal abzuwiegen.

Jeder Patient*in hatte eine vorgeschriebene Kalorienmenge, die sie jeden Tag erreichen mussten. Daher wurde jede Mahlzeit abgewogen und dokumentiert. Wortlos reichte die Schwester Ella ihren Teller zurück und notierte etwas in den Computer.

„Danke“, flüsterte Ella und suchte sich einen Sitzplatz an einem der Tische, an den noch niemand saß. Lustlos stocherte sie in ihrem Salat herum, bevor sie schließlich doch ein Blatt auf die Gabel spießte. In den vergangenen acht Monaten hatte sie hier elf Kilo zugenommen. Langsam störte sie das Essen und die damit verbundenen Kalorien nicht mehr. Ihr war nur gänzlich der Appetit darauf vergangen. Es erfüllte sie nicht und den Hunger schien sie schon seit Langem kaum mehr zu spüren. Trotzdem aß sie brav ihre Portion auf. Langsam, aber immerhin. Jeder Patient*in hatte eine Stunde Zeit, um seinen/ihren Teller leer zu machen. Das war nötig, da viele der Patient/innen, Meister*innen im langsam essen waren. Auch Ella hatte vor acht Monaten noch drei Stunden für einen Apfel gebraucht. Selbst dann war oft noch ¼ übrig. Ach ja, vieles hatte sich in den letzten Monaten geändert. Ella war entspannter geworden. Entspannter sich und ihrem Körper gegenüber.

Seit vielen Jahren hatte sie mit ihrer Essstörung zu kämpfen, seit ihre Mum vor elf Jahren bei einem Autounfall tödlich verunglückt war. Um irgendwie mit ihrer Trauer umgehen zu können, fing sie an, weniger zu essen, es schien so gleichlos und ohne Belang. Irgendwann hörte sie dann ganz auf. Nachdem sie in der Schule einmal aufgrund ihrer Schwäche zusammengebrochen war, erkannte auch ihr Vater das Problem und fing an, sie zu Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen zu schicken.

Ohne langfristigen Erfolg. Ella nahm in diesen Jahren immer mal wieder fünf bis sechs Kilo zu. Doch die waren schnell wieder runter. Das Grundproblem war immer noch nicht gelöst. Zudem entwickelte Ella zunehmend ein selbstverletzendes Verhalten. Anfangs ließ sie Haargummis auf ihr Handgelenk schnalzen, irgendwann fing sie an, sich Beine und Arme blutig zu kratzen. Bis sie schließlich eines Abends zu Papas liebsten Küchenmesser griff. Es war nur ein kleiner Schnitt, nicht tief, das Messer hatte kaum ihre oberste Hautschicht durchtrennt. Doch von da an wurden die Verletzungen tiefer. Manche Wunden klafften fast bis zur untersten Hautschicht auf. Sie wurde häufig in verschiedenen Notaufnahmen behandelt. Genäht und versorgt durfte sie jedes Mal danach wieder nach Hause. Da sie zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war, erfuhr ihr Vater davon nichts. Die Wunden und Narben hielt sie versteckt. Bis vor neun Monaten, als die neue Freundin ihres Vaters, ohne zu klopfen, ins Bad gestürmt kam. In diesem Moment stand Ella nackt unter der Dusche. So hatte sie die Narben und Wunden gesehen. Die Frau hatte geschrien, dann war sie entsetzt zu Ellas Vater Klaus gerannt. Es gab einen furchtbaren Streit zwischen Ella und ihrem Vater, bis dieser irgendwann beschloss, sie ins StAP zu bringen. Dort wurde sie aufgenommen und für drei Woche auf eine geschlossene Abteilung gesperrt.

Kapitel 2

Neun Monate zuvor

Ela wachte in einem kahlen Zimmer auf. In dem weißen Raum befand sich nur ein Bett, dazu ein Schreibtisch mit einem Stuhl. Sonst nichts. Kein Schrank, keine Bilder an der Wand, keine Uhr. „So mussten sich Gefängnisinsassen fühlen“, dachte Ella, während sie die Decke zurückschlug und sich an die Bettkante setzte. Die Bettwäsche war noch das bunteste in diesem Raum, die wenigstens dünne rote und grüne Streifen besaß. Wer auch immer sich diese Kombination ausgedacht hatte, brauchte ganz dringend eine Stilberatung. Es war kalt und noch dunkel draußen, daher schlüpfte Ella in ihre Hausschuhe. Wie viel Uhr es wohl war? Langsam ging sie Richtung Tür. Irgendwo musste es doch eine Uhr geben. Sie öffnete ihre Zimmertür und schaute auf den leeren Gang hinaus. Die Nachtschwestern saßen lachend im Stationszimmer. Gegenüber von ihrem Zimmer befand sich die Toilette. Sehr gut, die brauchte sie dringend. Leise tapste Ella den Flur entlang, denn sie wollte nicht, dass die Schwestern merkten, dass sie schon wach war. Ganz vorsichtig öffnete sie die Tür und verschwand auf dem Klo. Als sie wieder herauskam, entdeckte Ella auf der anderen Seite eine Uhr. 05:34 Uhr.

Verdammt, kein Wunder, dass es draußen noch so dunkel war.

„Guten Morgen, Frau Ilg. Haben Sie gut geschlafen?“ Erschrocken zuckte Ella zusammen und setzte sich auf. Neben ihrem Bett stand eine junge Frau, vermutlich eine Auszubildende von der Station.

„Oh, Entschuldigung! Ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Maya, ich bin eine der Schülerinnen hier. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es um 8:00 Uhr Frühstück gibt. Aber vorher dürfen Sie noch zum Wiegen und zur Blutabnahme gehen“, sagte sie, dabei öffnete sie den Vorhang. Draußen war es neblig. Es hingen tiefe Regenwolken am Himmel.

„Guten Morgen, ich muss noch mal richtig tief eingeschlafen sein“, lachte Ella, dann schälte sie sich langsam aus dem Bett.

„Ja, die Nächte hier sind eher weniger erholsam“, erwiderte Maya lächelnd. Sie hatte ein sehr freundliches Gesicht und trotz ihrem, vermutlich noch sehr jungen Alter, ein sehr erwachsenes und reifes Auftreten.

„Jetzt werden Sie erst einmal richtig wach, dann dürfen Sie in das Behandlungszimmer gehen. Das ist das mit der weißen Tür am Ende vom Gang.“

Anschließend ging Maya zur Tür, winkte Ella noch einmal kurz zu, dann verließ sie den Raum.

Es war kalt, obwohl es Anfang August war. Durch ihr Untergewicht fror Ella allerdings fast immer. Umso mehr beeilte sich die junge Frau, sich warm anzuziehen. Schnell zog sie eine graue Jogginghose, dazu einen großen Sweater aus ihrem Rucksack.

Da die Einweisung ins Krankenhaus so überraschend kam, hatte sie nur die nötigsten Dinge eingepackt. Als sie auf der Station angekommen war, wurde ihr Rucksack mehrfach durchsucht. Dabei wurden Ella ihre Brille, das Handy und ihre Einwegrasierer abgenommen. Telefonieren durfte sie nur mit dem Stationstelefon. Aber gerade hatte sie eh nicht das Bedürfnis, irgendjemanden anzurufen. Zum Zähneputzen musste Ella wieder ins Bad, da sie kein eigenes Waschbecken im Zimmer hatte. Als sie die Badezimmertür öffnete, schwappte ihr stickige Luft, eine Menge Deodorant und lautes Gelächter entgegen. Das verstummte allerdings, als die drei Mädchen, die im Bad standen, Ella entdeckten.

„Guten Morgen. Du musst die Neue sein. Wegen dir musste ich gestern mein Einzelzimmer räumen“, meinte die junge Frau lächelnd.

„Ich bin Maggy und das sind Ally und Julia.“ Sie deutete auf die anderen zwei und reichte anschließend Ella die Hand, die sie ergriff.

„Guten Morgen, ich bin Ella. Das mit deinem Zimmer tut mir leid. Das wollte ich nicht.“

Jetzt lachte Maggy, die abwinkte: „Ach, das ist doch überhaupt nicht schlimm! Ich bin froh, endlich aus dieser Einzelhaft raus zu sein.“

„Ella ist ja ein wunderschöner Name. Nicht so langweilig wie Julia“, meinte Julia, die großgewachsene Frau, die durch ihr deutliches Untergewicht viel kleiner und zierlicher wirkte, als sie eigentlich war.

„Das klingt ähnlich wie Ally“, sagte die letzte der drei, in einer unerwartet tiefen Stimme. Ally war das komplette Gegenteil von Julia. Sie war sehr klein, wahrscheinlich gerade einmal 1,55 m groß und wirkte ein wenig korpulent. Das war neben Julia allerdings auch kein Wunder, neben ihr würde noch ein Victoria Secret-Model aussehen wie ein gestrandeter Wal. Alle drei waren gerade dabei, sich fertigzumachen, ob für die Pariser Modewoche oder tatsächlich nur für das anstehende Frühstück, war nicht gerade erkennbar. Überall lagen Lidschattenpaletten, Abschminktücher, Kajale, Lippenstifte und heiße Glätteisen herum.

„Rutscht mal ein bisschen, dann kann sie auch noch mit her“, sagte Maggy und schob einen kleinen Teil des Chaos auf die Seite. „Tut uns leid, aber irgendwie artet das bei uns immer ein bisschen aus.“

Entschuldigend zuckte Julia mit den Schultern, bevor sie sich wieder der Umrandung ihrer Lippen widmete.

„Ein bisschen? Du siehst jeden Tag aus, als würdest du jeden Moment drauf warten, dass ein Fotograf um die Ecke kommt und dich zum neuen Topmodel macht“, kicherte Ally. Gerade sie musste reden. Ihre grünen Augen wurden von einem schwarzen Eyeliner umrandet, der dramatischer nicht sein könnte. Ihre Lippen waren schwarz geschminkt, was sie noch ein bisschen schmaler wirken ließ, als sie eh schon waren.

„Ja, du musst reden. Unauffällig ist dein Look jetzt auch nicht gerade“, entgegnete Julia ein bisschen eingeschnappt.

„Ladys, jetzt beruhigt euch mal. Von einem dezenten Look haben wir alle noch nichts gehört“, sagte Maggy und erstickte damit die Diskussion im Keim. Ella stellte ihren Zahnputzbecher auf dem hintersten der drei Waschbecken ab. Als sie aufblickte, sah sie in ihr verschwommenes Spiegelbild. Denn statt Spiegel gab es hier nur Blechfolien, um die Patient*innen vor sich selbst und anderen zu schützen. Theatralisch seufzte Ella.

„Alles gut bei dir? Die ersten Tage hier sind hart. Irgendwann wird es leichter“, fragte Maggy, die Ella besorgt ansah.

„Ja, sie hat recht. Die ersten zwei Wochen war ich im Überwachungszimmer. Ich dachte, ich erhäng mich jeden Moment“, bestätigte Ally Maggys Aussage.

Das Überwachungszimmer schloss direkt an das Stationszimmer an und hieß so, da die Patient*innen, die dort untergebracht waren, durch ein großes Fenster durchgehend beobachtet werden konnten. Dorthin wurden die Personen gebracht, die weiterhin akut selbstmordgefährdet waren.

„O Gott, das würde mich wahnsinnig machen! Ich brauche meine Privatsphäre. Was ist, wenn ich im Schlaf irgendwelche komischen Dinge tue? Dann wüsste es die ganze Station, nur ich nicht.“

Entgeistert schüttelte Maggy den Kopf. „Wem sagst du das. Du kannst nicht mal deine Unterhose wechseln, ohne dass es mindestens drei Pfleger sehen.“

Entsetzt schüttelte Julia sich.

„Warum glaubt ihr, trage ich seit zwei Wochen dasselbe“, erwiderte Ally trocken. Die drei anderen sahen sie entsetzt an.

„Das war ein Witz, Leute. Was denkt ihr denn von mir?“

„Das wir dir das durchaus zugetraut hätten.“

Maggy widmete sich wieder ihren Haaren. „Also echt“, beschwerte sich Ally entrüstet und schnappte nach Luft.

„Falls es dich beruhigt, riechen tut man nichts“, versuchte Julia sie zu beruhigen. Daraufhin lachte Ally auf: „Ihr seid unfassbar.“

„Wissen wir“, entgegnete Julia. Die drei lachten und auch Ella konnte sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen. Hier war es doch gar nicht so schlimm.

Die Tür öffnete sich und eine Frau Mitte vierzig guckte herein. „Meine Damen, es ist 7:55 Uhr. Ihr wart alle vier noch nicht im Behandlungszimmer. Jetzt aber dalli, dalli.“

„Alles klar, geben Sie uns noch zwei Sekunden“, forderte Maggy. Schnell packte sie ihr Glätteisen zusammen.

„Das will ich meinen“, antwortete sie, dann fiel die Tür wieder ins Schloss.

„So ein Griesgram“, murmelte Ally. „Die Gute ist einfach schon zu lange hier. Da werden sie alle grantig“, analysierte Maggy.

Ella packte ihre Zahnbürste wieder ein. „Ich schau gleich einmal vorbei, bevor es hier noch Theater gibt.“ Als sie aus dem Bad ging, atmete Ella einmal tief durch. Ihr Kopf dröhnte. Die schlaflose Nacht hatte Spuren hinterlassen. Bevor sie ins Behandlungszimmer ging, schmiss Ella noch kurz ihren Zahnputzbecher aufs Bett, dabei hoffte sie, dass er keinen großen Wasserfleck auf der Bettwäsche hinterlassen würde.

Der Pfleger sah sie besorgt an, nachdem sie auf der Waage war. „Dreiundvierzig Kilogramm bei einer Größe von 1,73 m. Das ist nicht gut“, bemerkte er.

Beschämt sah Ella an sich herunter auf den Fußboden. Um sich ein wenig schwerer zu machen, hatte sie noch ein wenig aus dem Waschbecken getrunken und sich extra ein wenig dicker angezogen. Sie mochte es nicht, wenn fremde Leute über ihren Körper urteilten, der sich mit jedem Tag fremder anfühlte und für den sie sich so sehr schämte. Durch ihren langjährigen Nährstoffmangel hatte sich ihre Figur in der Pubertät nicht groß weiterentwickelt. Sie hatte kaum Brüste und war auch sonst sehr zierlich gebaut. Ihre Periode bekam sie nur sehr unregelmäßig, die letzte war nun bereits sechs Monate her. Schon immer hatte Ella von einer großen Familie geträumt. Einem liebevollen Mann und mindestens drei Kindern, dazu ein großes Haus und vielleicht einen Hund. Dass dies vermutlich ein Traum bleiben würde, wusste sie. Ihr Körper würde wahrscheinlich nie stark genug dafür sein, ein Kind neun Monate auszutragen. Und welcher Mann würde sie nur jemals lieben? Sie, das Skelett ohne weibliche Züge und Sex-Appeal. Gedanken wie diese hatten sie früher sehr traurig gemacht. Heute stand sie dem Ganzen eher neutral gegenüber.

Wie eigentlich allem in ihrem Leben. Es war ihr gleichgültig geworden. Alles war ihr gleichgültig geworden.

„Sie dürfen sich alles nehmen, was Sie möchten.

Sie müssen allerdings mindestens eine Semmel und eine Beilage dazu essen. Alles, was Sie zu sich nehmen, wird dokumentiert, nach dem Essen müssen Sie eine halbe Stunde warten, bevor Sie wieder zurück auf Ihr Zimmer dürfen“, erklärte die ältere Krankenschwester, die, die vorhin im Bad war und unterwies Ella in die Regeln. „Essen müssen Sie leider getrennt von den anderen, gemeinsam mit Frau Meier.“ Freundlich reichte sie Ella und Julia jeweils einen Teller.

Da die beiden mit der Hauptdiagnose Magersucht eingeliefert wurden, mussten sie im Gegensatz zu allen anderen in einem externen Zimmer mit einer Schwester essen, anstatt gemeinsam mit ihnen in der Küche. Heute war es die junge Auszubildende Maya, die mit den zwei Frauen frühstückte. Ella nahm sich eine der Vollkornsemmel, dazu ein Stück Margarine. Sie ernährte sich seit circa zwei Jahren vegan. Nachdem sie sich vor einigen Jahren ausgiebig mit dem Thema Ernährung auseinandergesetzt hatte, achtete sie sehr genau darauf, was sie zu sich nahm. Anfangs versuchte sie auf Zucker und leere Kohlenhydrate zu verzichten. Später kam Fleisch und Fisch dazu. Irgendwann ließ Ella dann auch Eier und Milchprodukte weg. Ihre Mahlzeiten in den letzten Monaten bestanden hauptsächlich aus Obst, Gemüse und Wasser. Um das Verlangen nach Süßen zu stillen, trank sie Tee. Viel Tee, teilweise bis zu fünf Litern am Tag. Dann fühlte sich der Magen nicht so leer an.

„Wollen Sie nicht noch etwas zum Belegen nehmen? Der Käse ist gar nicht so schlecht.“

Schon hielt Maya ihr den Käseteller hin.

„Nein danke, ich mag keinen Käse. Margarine reicht mir“, lehnte Ella leise ab.

„Sind Sie sicher? Das sieht ziemlich trocken aus. Außerdem müssen Sie noch einen Aufschnitt nehmen, sonst kommen Sie nicht auf Ihre Kalorien“, versuchte es Maya erneut.

„Nein, ich möchte wirklich nicht.“ Ella kämpfte mit den Tränen, denn sie hasste es, wenn jemand so auf den Inhalt ihres Tellers starrte und darüber urteilte. Ihr Vater hatte das immer gemacht. Nachdem sie das erste Mal in der Schule zusammengebrochen war, hatte er ihr immer extra große Portionen gegeben, die ein zweihundert Kilo Mann nicht schaffen würde. Anschließend musste sie so lange sitzen bleiben, bis sie alles aufgegessen hatte. Ella wusste, dass er es eigentlich nur gut gemeint hatte und sich einfach nicht besser zu helfen wusste. Doch das hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Nach dem Essen bekam sie starke Bauchschmerzen. Irgendwann hatte sie angefangen, nach dem Essen wieder alles zu erbrechen. Stundenlang hing sie über der Toilette und erbrach sich, bis nur noch grüne schleimige Magensäure in die Kloschüssel fiel. Ihr Hals brannte danach und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Oft saß sie danach noch zusammengekauert neben dem Klo.

Erschöpft von der Tortur, erschöpft von der wenigen Nahrung und erschöpft vom Leben.

„Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht unter Druck setzen. Haben Sie irgendwelche Wünsche oder essen Sie gerne etwas Bestimmtes?“ Mitleidig sah Maya Ella an, die nur beschämt auf den Boden sah, dann schüttelte sie den Kopf.

„Okay! Frau Meier, sind Sie fertig?“, erkundigte sich die junge Auszubildende, die sich Julia zugewendet hatte. Die hatte sich bereits eine Semmel mit Aufschnitt, Wurst und eine Banane auf ihren Teller gelegt. Man sah ihr an, dass sie die Abläufe bereits kannte und mit dem Ganzen im Reinen wahr. Zumindest wirkte sie so. Ella wusste, dass dem wahrscheinlich nicht so war. Julia hatte in den vier Wochen, in denen sie bereits hier war, ihre eigenen Strategien entwickelt, um das Personal glauben zu lassen, dass ihre Genesung voran schritt. Die zwei jungen Frauen gingen gemeinsam mit Maya in einen anderen Raum, vorbei an den anderen Patienten und Patientinnen. Es waren ungefähr noch fünf andere Frauen, darunter Ally und Maggy, dazu drei Männer. Keiner älter als dreißig Jahre, aber alle mit einer ganz individuellen Geschichte, wie und warum sie hier gelandet waren. Aufmunternd winkten Maggy und Ally den zwei zu. Ella fühlte sich vorgeführt und erniedrigt. Es war bestimmt nicht so gemeint und nicht anders möglich. Aber Ella fühlte sich miserabel und wünschte sich gerade wieder zurück in ihr Einzelzimmer. Das Zimmer mit den kahlen Wänden und der hässlichen Bettwäsche.

„Das Wetter ist in diesem Sommer wirklich ein Witz. Ständig regnet es“, versuchte Maya ein wenig Small Talk zu betreiben.

„Ja, das stimmt. Ich habe meine Gummistiefel dieses Jahr schon häufiger getragen als meinen Bikini“, lachte Julia. „Dabei habe ich mir letztes Jahr einen richtig schönen im Schlussverkauf gekauft.“

„Wirklich? Wo? Ich bin noch auf der Suche nach einem neuen.“ Während sich Maya und Julia weiter über Bikinis und sonstige Bademode unterhielten, schweifte Ellas Blick aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen. Vor dem Fenster stand ein großer Baum. Eine Amsel spitzte aus dem Blätterdach hervor. Auf der Suche nach Futter hüpfte sie die Äste entlang und sah sich immer wieder nach möglichen Fressfeinden um. Ella mochte Vögel, da sie so unbeschwert und frei waren. Sie konnten hinfliegen, wo immer sie wollten, hatten keine Verpflichtungen und sahen Orte, von denen Ella nur träumen konnte. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre eines dieser wundervollen Geschöpfe. Dann wäre sie endlich frei, müsste sich keine Gedanken um Essen wollen oder nicht machen, brauchte sich dann nicht um den ganzen Weltschmerz und den Schmerz tief in ihrem Herzen kümmern. All das würde dann nicht existieren, es wäre belanglos, denn es gäbe nur den Augenblick und die weite, freie Welt.

„Frau Ilg, Sie müssen was essen“, holte die Schülerin Ella zurück in den Moment. In diesen furchtbaren Moment, hier in diesen furchtbaren Raum, in dieser furchtbaren Klinik mit diesem schrecklichen Frühstück.

„Oh, Entschuldigung, ich bin wohl gedanklich ein wenig abgedriftet!“

Sofort griff Ella zu ihrem Messer und schnitt sich ihre Semmel auf.

„Na, mit dem Aufstrich hast du aber auch nicht gespart“, sagte Julia mit einem Blick auf Ellas Teller.

„Ja, ich mag keine Wurst und ich esse keine Milchprodukte. Die vertrage ich nicht so gut.“ Die Ausrede mit der Laktoseintoleranz wirkte immer. Man musste sich nicht lange erklären und die Leute fragten meistens auch nicht mehr nach. Wenn man dagegen mit dem Thema vegane Ernährung anfing, war eine Diskussion meist abzusehen. Die Argumente dagegen, schienen uferlos.

„O nein, das muss total nervig sein! Kein Eis, keine Schokolade oder Käse“, tat Julia mitleidig. „Ja, aber alles ist besser als dann drei Tage nur auf dem Klo zu sitzen“, meinte Ella, dann biss sie beherzt in ihre Semmel.

Maya und Julia lachten. „Das glaub ich dir. Als Kind hatte ich auch mal den Verdacht auf eine Laktoseintoleranz, weil mir auf Pudding immer schlecht geworden ist. So im Nachhinein betrachtet, habe ich wahrscheinlich einfach nur immer zu viel gegessen“, erzählte Maya.

Während sich die Frauen unterhielten, fiel Ellas Blick auf Julias Teller. Sie hatte schon beinahe aufgegessen, allerdings lagen auf ihrem Teller erstaunlich viele Krümel. Sofort wusste Ella, was das bedeutete, denn Julia hatte, während sie sich mit Maya unterhielt, langsam die Semmel auseinandergenommen. So hatte sie mindestens ¼ des Gebäcks auf ihrem Teller verteilt. Magersüchtigen war alles recht, um auf mögliche Kalorien zu verzichten. Julia folgte Ellas Blick und machte ihr mit ihrem Blick deutlich, nichts zu sagen.

Nach dem Essen standen sie auf. „Ich hasse diese halbe Stunde. Die ist doch eh voll für den Arsch“, beschwerte sich Julia, die sich auf die Bank vor dem Stationszimmer fallenließ. Eine halbe Stunde mussten die zwei Frauen nun hier sitzen bleiben. Damit wollte das Personal verhindern, dass sie die gegessene Mahlzeit wieder erbrachen.