Vogelfrei - Christoph R. Reltir - E-Book

Vogelfrei E-Book

Christoph R. Reltir

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Beschreibung

Alfred Altmanns Geschichte ist undurchsichtig, bizarr. Ein Anruf treibt den Rentner um und lässt ihn rastlos werden. Die wollen ihn tot sehen. Dabei hat er keinem Böses getan. Haben sie Altmann, werden sie ihn verschwinden lassen, wie Stalder seinen Freund – auf Nimmerwiedersehen.

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Seitenzahl: 123

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Christoph R. Reltir

Vogelfrei

Novelle

© 2023 Christoph R. Reltir

Website: reltir.de

Coverbild: Tom

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg (DE).

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

Kapitel 0

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 0

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Vogelfrei

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Vorwort

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Vogelfrei

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Vorwort

Mannigfach gelesen wird die Novelle zum Roman.

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Der Anfang vom Ende.

»… Wir haben Sie zur Tötung freigegeben.« Mit einem sanften Knacken wurde das kurze Telefonat am anderen Ende der Leitung beendet.

Ich ließ den unter dieser Nachricht schwer gewordenen Hörer in meiner Linken, soweit es die brüchige Telefonschnur zuließ, sinken. Es machten sich weder Schreck noch Angst oder Panik in mir bemerkbar; nein, ich empfand nur eine nichtssagende Leere – mir blieb nur dieses schale Gefühl.

Nun war es so weit. Was nie hätte passieren sollen, passierte. Ich wusste, dass ich eine dieser Wendungen erleben würde, die mein Verstand bereits seit Langem als warnende Horrorszenarien voraussah, welche von mir jedoch unliebsam weit nach hinten bis in die tiefsten Winkel meines Bewusstseins verdrängt wurden, um weiterzumachen und der Verzweiflung nicht ganz und gar zum Opfer zu fallen.

Schmerzend meldete sich die Ferse meines rechten Fußes. Vor Jahren noch konnte ich stundenlang stramm dastehen; heute stand ich kaum eine Minute durch, ohne dass sich diese verdammten Fußbeschwerden bemerkbar machten. Es half nichts, mühsam vertrieb ich die Gedanken an Gebrechen freie Zeiten in die besagte hinterste Hirnregion. Mit schmerzenden Füßen vor mich hin zu rosten, würde mir nicht helfen.

Ich legte den Hörer zurück auf die Gabel und tat einen ersten quälenden Schritt. Düster hüpfte der Schatten einer kleinen Motte über die spärlich ausgeleuchtete Wandtapete. Auf dem Weg zur alten Treppe säuberte ich meine Linke an der Hose; ich konnte mir zu gut ausmalen, durch wie viele Hände dieser klebrige Telefonhörer gegangen sein musste und wollte den Talg oder was auch immer sich daran gesammelt haben mochte, nicht an mir haben. Danach strich ich meine zu lang gewordenen, grau melierten Haare würdevoll über die faltige Stirn nach hinten zurück.

Die rechte Seite des Gangs war mit Zimmertüren gespickt. An mehrere Zimmer der Stille reihte sich ein Zimmer des belanglosen Geplappers und im Anschluss daran, ein Raum, aus dem zum Gleichtakt der Stöße gegen die Wand unsanfte Paarungsrufe drangen. In diesem Loch scheint es nicht nur den Schimmel an der Wand hochzutreiben. Angeekelt verzog ich das Gesicht. So was sollte hier nicht erlaubt sein.

Wieso organisierten sie die Kontaktaufnahme stets an Orten der verlorenen Seelen? Nie jedoch im Dolder Grand, dem Schweizerhof oder vielleicht im Beau Rivage? – Nein, dort wäre meinesgleichen zu sehr aufgefallen.

Der Fersenschmerz wanderte in Richtung Achillessehne.

»Nur noch ein paar Schritte, dann wird das Wehwehchen vergehen«, sprach ich mich schmerzfrei. Sanften Schrittes war ich heutzutage gut unterwegs, wie bereits erwähnt, zu langes Rasten bedeutete Rosten, das war zeitlebens mein Leitsatz – oder meinte ich Leidsatz? Dumme Wortspielerei. Wäre ich in vergangener Zeit die eine oder andere Handlung gemächlicher, gelassener, gar überlegter angegangen, wäre ich vielleicht nicht in diese überaus prekäre Sache hineingeraten.

Zur Tötung freigegeben, hatte sie gesagt.

Nun war ich also vogelfrei.

1

Am Fuß der Treppe angekommen, ließ das Vestibül – das zeitgleich als Kaffeehaus diente und Altmann an dieselbigen in Wien erinnerte – etwas vom längst vergangenen Glanz alter Tage erahnen. Vergoldete Deckenleuchter mit in Lapislazuli gefärbten Glasschirmen pendelten in der Höhe des Raums und beschienen die schlecht gepflegten und rissig ausgesessenen Lederpolster der Sitzbänke sowie Stühle aus Nussbaum; die Holztische waren aus demselben Holz gefertigt. Ein königsroter Teppichläufer führte von der Treppe zum Empfang und weiter zur hohen, verglasten Eingangstür in Art nouveau.

Im Raum waren keine Kaffee- oder Hotelgäste zu sehen, die Tische standen unbesetzt da, und einen Portier oder die Dame des Empfangs suchte man vergebens; kein Geruch nach Kaffee und Kuchen. Jemand hatte wohl versucht, Keime zu bekämpfen; in der abgestandenen Luft hing das Sterillium so sehr nach, dass Altmann froh war, an die frische Luft zu kommen.

Er griff nach der länglichen Türstange. Das Ungetüm schwang nicht beiseite, ein starker Windzug hielt von außen dagegen. Altmann stemmte sich mit allem, was sein Körper an Gewicht herzugeben vermochte, dem unsichtbaren Gegner entgegen, mit dem zweiten Versuch gewann er den Kampf.

Draußen angekommen, zögerte er.

Konnte er sich hier im Freien, trotz Stadt, seines Lebens sicher sein?

Er knüpfte sich pro forma die dicke Herbstjacke zu, während er seinen Blick aufmerksam die Straße entlangwandern ließ, um bespitzelndes Gesindel zu erkennen. Doch auch hier draußen war nicht viel los, an diesem kalten, zugigen Nachmittag mieden die Menschen das Wetter, und die ältere Dame mit Rollator als Auftragsmörderin zu verdächtigen, kam ihm nach wiederholter Überlegung lächerlich vor.

Zur Tötung freigegeben.

»Verdammt! Ich werde paranoid, endgültig. Was tue ich als Nächstes; wohin gehe ich als Nächstes; was kommt als Nächstes auf mich zu?«, brummelte Altmann vor sich hin. Diese Fragen würden ihn beschäftigen … bis die mich erwischen.

Er beschloss, sich fürs Erste in die gegenüberliegende Kneipe zu verkriechen. Hinter einem Whiskyglas, unerkannt in der dunklen Ecke eines Pubs sitzend, ließ es sich klarer oder zumindest ruhiger denken als in der Öffentlichkeit, mit der Zielscheibe auf der Brust. Altmann ging über den Platz und bemerkte, während er der älteren Dame zunickte, die Vorboten eines Herbstgewitters auf seiner Stirn. Erfrischend kühl trafen die vereinzelten Tropfen seine Haut.

»Schnell ins Lokal, bevor es zu viele werden.«

Altmann führte mitunter Selbstgespräche. Allein ließ es sich einfacher kommunizieren, fand er, und sowieso, die Momente, sich mit einem Gegenüber zu unterhalten, hatten sich bei seiner beruflichen Tätigkeit selten ergeben. Vor einundvierzig Jahren hatte er erstmals im Führerstand einer RBDe 4/4 Lokomotive Platz genommen und großen Gefallen daran gefunden. Er mochte die geordneten Fahrzeiten und das vorgespurte Tagwerk auf den Schienen sowie die kurzzeitige Einsamkeit in seiner Führerkabine. Zudem verbrachte er den Tag liebend gern die Landschaft betrachtend – bis heute. So war er bis zum Beginn seines Ruhestands vor einem halben Jahr dabeigeblieben.

Der hinterste Tisch der Schankstube war besetzt. Drei bärtige Herren hatten es sich auf der Eckbank bequem gemacht und spielten Mühle auf einem alten Holzspielbrett. Ergo entschied sich Altmann für die exponiertere Sitzgelegenheit an der Bar, mit direktem Blick zum Windfang, der halbrund im Raum hing. Sollte man ihm zu dieser ungünstig frühen Stunde etwas antun wollen, könnte er sich von hier aus – mit dem nötigen Glück – schneller in Sicherheit bringen, hoffte er zumindest.

»Was darf ich bringen?«

»Whisky, doppelt«, antwortete Altmann der Barfrau knapp.

Zur Tötung freigegeben.

Blick zur Tür!

Mit jedem Wimpernschlag, den er schlecht geschützt an der Bar verbrachte, wurde ihm seine missliche Lage bewusster, und die Anspannung stieg. Altmann fühlte sich, als würden sich seine Brusthaare zu beiden Seiten nach hinten ziehen. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen Druck auf der Brust spürte. Bisher hatte ein Spaziergang in der freien Landschaft gegen die Beklemmung geholfen, heute war das nicht mehr möglich. Zwei nervöse, eingangsprüfende Blicke später stand das großzügig gefüllte Glas vor ihm.

»Gesundheit.«

Altmann nickte und setzte zum großen Schluck an. Wohltuend brannte ihm das Destillat die Kehle hinunter, mit dem vierten Schluck wurde die Situation vordergründig erträglicher.

Ich muss wohl oder übel untertauchen.

Wie soll ich das anstellen?

Koffer packen, nur das Nötigste eintüten, klar.

Aber unentdeckt verschwinden?

Vor allem flexibel und schnell.

Eine Zugreise als Passagier kann ich vergessen, zu öffentlich und zu träge. Schade, eine längere Zugreise hätte ich gern unternommen.

Von wegen baldiger Ruhestand, ich werde nicht zur Ruhe kommen – höchstens zur letzten Ruhe.

Ein Auto kostet zu viel.

Altmann seufzte.

Bleibt nur die Schiene und anschließend ein Flugzeug, weit weg von alldem.

Über den Grübeleien vergaß er prompt die Tür im Blick zu behalten. Die mechanische Türklingel verriet einen ankommenden Gast. Ein Mann in den Vierzigern betrat gemächlich das Lokal. Er setzte sich nahe dem Ausgang an die Bar, zog sich den triefend nassen, weißen Bogart-Hut vom Kopf und platzierte ihn auf dem freien Hocker zu seiner Linken.

So stelle ich mir meinen Schlächter vor.

Ob er den Fremden aufgrund der schwarzen, stramm nach hinten gekämmten Haare mit polierter seitlicher Glatze, seinem spitz zugeschnittenen Schnäuzer und dem bleichen Hautton oder der bocksteifen Körperhaltung wegen in diese Schublade steckte, konnte er nicht sagen; an der fehlenden Narbe lag es nicht.

Der Schlächter nickte ihm kühl grinsend zu.

Altmann erschauderte. Er nickte kaum merklich zurück und musste sich zwingen, seinen Blick von dem Mann zu lösen und dem letzten Schluck zuzuwenden. Derjenige des Mannes ruhte weiterhin auf ihm, das spürte er.

»Was kannst du mir bieten?«, fragte der Mann die Barkeeperin.

»Nur das eine …«

»Ist mir recht!«, schnitt er ihr das Wort ab.

»Kommt sofort.«

Altmann wollte den Raum auf dem schnellstmöglichen Weg verlassen. Der letzte Schluck passierte seine Mundhöhle, ohne die Zunge zu berühren. Mit der freien Hand scharrte er das nötige Kleingeld aus der Jackentasche.

»Der Rest ist für Sie!«, raunte er der mit einer Flasche aus dem Vorrat zurückkommenden Barfrau entgegen.

Über den Spiegel hinter der Bar schien der Unbekannte jeden seiner Schritte genauestens zu verfolgen. Der Weg bis zum Ausgang kam Altmann nun unendlich länger vor als vor einigen Minuten.

Schon wieder diese verfluchte Sehne.

Mit dem Blick starr auf den textilen Windfänger gerichtet, hinkte er, so gut er konnte, an dem Fremden vorbei. Mühsam suchte er nach einer Lücke im schweren Vorhang.

Ich muss hier raus.

Schnell.

In einem Anflug von Panik strauchelte er schließlich durch den Vorhang zum Ausgang. Von draußen schlugen die Regentropfen wie Peitschenhiebe gegen die Glastür, doch das kümmerte Altmann wenig; noch weniger die Gehrichtung, schnell machte er sich durch den Regen davon.

An seiner Wohnstation angekommen, musste Altmann sich zunächst trockenlegen, wie er fand, bevor er irgendetwas anderes tun könnte.

Letzte Hürde, die richtige Wohnungstür ausmachen.

»Was für eine Sintflut«, maulte er. Von hinten spritzte unablässig neues Regenwasser in seinen Jackenkragen. Der Niederschlag hatte ihn von den übelsten Gedanken reingewaschen.

»Verfluchter Laubengang; neumodische Scheißwohnung.«

Hektisch fand er in der Brusttasche einen Schlüsselbund, der aus zwei Schlüsseln bestand, einem zu seiner erst kürzlich bezogenen Wohnung, der überdies zum Briefkasten passte – äußerst praktisch –, sowie einem Schlüssel passend zu seiner RBDe 4/4. Diesen trug er aus nostalgischem Wehmut nah am Herzen. Sie war sein Ein und Alles gewesen, damals, bevor die Lok 2013 unsensibel von den Schweizerischen Bundesbahnen eingestampft worden war.

»… nicht zu retten«, murmelte er, als die wohlbekannten Zähne des Schlüsselbarts durch seine Finger glitten. Die schmerzende Erinnerung plagte ihn auch heute noch – so viele Jahre später.

Ein leises Klack! verriet ihm die Entriegelung der Tür. Mit einem letzten Blick über das Staketengeländer des Laubengangs versicherte er sich, dass ihm niemand gefolgt war, dann trat er ein. Sogleich bildeten sich auf dem frisch geölten Dielenparkett der Kleinwohnung mehrere Regenwasserlachen.

»Was für ein Planer verbricht Parkett im Eingang?«

Kopfschüttelnd verstaute er die durchnässte Jacke am vorgesehenen Platz in der weißen Hochglanzgarderobe. Seine Schuhe ließ er an Ort und Stelle stehen, um nicht eine noch größere Sauerei auf dem Holzboden zu hinterlassen.

»Heute werde ich nicht mehr abreisen; bestimmt nicht bei dem Wetter. Und bald wird es dämmern. Aber gleich morgen in der Früh. Ja, morgen.«

In der Folge begann er die nötigen Kleider für seine Unternehmung zusammenzusuchen, was sich schwieriger gestaltete, als gedacht, denn er wusste nicht, wie lange er von zu Hause weg sein würde. Ein paar Monate mindestens oder würden es gar Jahre werden? Für immer?

Vielleicht genügt es, Gras über die Sache wachsen zu lassen.

An diesen Gedanken will er sich klammern, auch wenn ihm seine Neubauwohnung in Bern nicht sonderlich gefiel – die Altbauwohnung in der Berner Altstadt war besser gewesen – mochte er doch die nähere Umgebung und wollte hier nicht weg.

Viel Geschichte war im alten Bern konserviert, seine eigene und die von anderen, und sie ließ sich schön ablesen an den alten Wänden, Türen und Fenstern, den dicken Laubenpfeilern, dem alten Kopfsteinpflaster, den alt gebliebenen Apotheken. Für ihn musste Stadt genau so sein und bleiben. Zu viel Neues – wenn es denn schlecht gemacht wurde, was (zu) oft der Fall war – vertrug die Stadtsphäre nicht. Altmann mochte die flüchtigen, aber immer wiederkehrenden Bekanntschaften, die in kurzen Gesprächen gepflegt wurden. In der Fremde neue Bekanntschaften zu knüpfen, war ihm ein Graus.

»Wenn ich woanders hinmuss, dann wenigstens an einen altehrwürdigen Ort, so viel ist sicher.« Mit diesen Worten legte er die letzte Unterhose in die gut gefüllte Reisetasche aus braunem Leder und marineblauem Stoff.