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Heimat, deine Leichen. Wulzendorf in Niederösterreich: Hier ist die Welt noch in Ordnung. Trotzdem hat der Suchanek so gar keine Lust, nach jahrelang erfolgreicher Heimatflucht nun gleich für mehrere Tage das Haus seiner Eltern zu hüten. Muss er aber. Das hat Folgen. Gleich in der ersten Nacht wird Suchanek beim Kiffen auf dem Balkon Zeuge einer Brandstiftung. Mit Todesfall. Die Frau vom Feuerwehrhauptmann, Mitglied der reaktionären «Legio Mariae», war im Dorf nicht gerade beliebt – aber deswegen bringt man doch nicht gleich jemanden um! Bei der einen Leiche bleibt es indes nicht. Die nächste sieht sogar noch grauslicher aus. Und der Suchanek gerät in Teufels Küche.
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Seitenzahl: 371
Rainer Nikowitz
Volksfest
Kriminalroman
Rowohlt Digitalbuch
Für meine Eltern
Suchanek, der: Held, dessen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben sein Heimatort Wulzendorf viel zu lange missen musste.
Alex Wimberger vulgo Grasel: Besitzer des Clubs «Route 66b» und talentierter Züchter amtlicherseits nicht gern gesehener Pflanzen.
Susi: Wulzendorfer Nahversorgerin, früherer «bester Freund» Suchaneks.
Palenak: Biobauer mit Geldproblemen; schaut wie alle sehr gesund Lebenden eher kränklich aus; vor 20 Jahren brannte sein Heustadl ebenso wie der vom
Neuner-Ranreiter und vom
Fünfer-Mantler: Herrenbauer und Feuerwehrhauptmann – bei dem es nun neuerlich brennt.
«Heilige Johanna» Mantler: Gattin vom Fünfer und Chefin der sehr frommen Legio Mariae; dennoch nicht feuerfest.
Gregor Mantler: Schnittiger Sohn; Beinahe-Weltmeister im Pflügen.
Hansi-Burli: Größtes Fußballtalent, das Wulzendorf je hervorgebracht hat; leider bei einem Verkehrsunfall früh verschieden.
Burli-Urli: Burlis Freundin Ursula, eine echt heiße Disco-Kellnerin. Damals.
«Schneckerl» Prohaska: Dorfsäufer und Entspannungsfischer.
Keller Gerry: Nosferatu-Lookalike und Feuerwehrmann.
Spakowitsch Edi: Stellvertretender Feuerwehrhauptmann, der momentan ganz schön viel schultern muss.
Siebzehner-Stratzner: Ortsvorsteher und Chef der separatistischen «Überparteilichen Bürgerliste».
Gerstmeierin: Pensionierte Gemeindesekretärin; als solche heimliche Ortsvorsteherin; Nummer zwei der Legio.
Heimeder Kurtl: Alleinunterhalter mit von einem S-Fehler geförderten Faible für lateinamerikanische Rhythmen und Hang zum Immer-und-überall-Bonmot.
Die alte Nidetzky: Spezialistin für Dorftratsch.
Lengauer Milli: Seit dem Verlust von Sohn und Mann psychisch etwas labil (Kleptomanin).
Sechser-Hartl: Knochenharter Bauer mit Hang zu schlagkräftiger Argumentation.
Achter-Hiefler: Jerry Lee Lewis unter den Kirchenorganisten; früher Suchaneks Milch-Dealer. Sein Sohn
Hiefler Andi: Ist vor Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben und trotzdem immer noch Rekordhalter für die Strecke Langegg – Wulzendorf.
Willi Bobek: Autohändler & vor allem -verschönerer mit nicht immer astreiner Müllentsorgungsstrategie.
ORF 1 und ORF 2: Die Brüder Leopold (Poldi) und Robert (Bertl) Gärtner; aufgrund ihrer von der Natur verliehenen Kopfform schon früh von anderen Kindern namentlich mit dem Röhrenfernseher in Verbindung gebracht.
Zwölfer-Leitnerin: Resolute Bäuerin mit so was von keinem Blatt vor dem Mund.
Dreier-Kanschitz: Nachbar vom Fünfer-Mantler mit einem nach einem Verkehrsunfall gelähmten Sohn.
Pfarrhofer René: Der Lastzug unter den Landmaschinenmechanikern; Feuerwehrmann.
Einundzwanziger-Wantuschka: Früher Gemeindestierhalter; heute Feuerwehrkritiker.
Urban Ernstl: Feuerwehrmann; sonst auch recht unbedarft.
Kommissar Wimmer: Vielleicht doch kein schlechter Polizist; aber ganz sicher kein Freund vom Suchanek.
«Wenn man einmal was braucht von dir!»
Darauf fiel dem Suchanek instinktiv nichts ein. Eine Art Überlebensreflex wahrscheinlich. Denn nachdem es ohnehin nichts, aber auch schon gar nichts gab, das sich in der prekären Situation, in der er sich befand, zu einer auch nur ansatzweise brauchbaren Entschuldigung zusammenlügen hätte lassen, war es natürlich besser zu schweigen.
In Suchaneks Augen leuchtete ein beeindruckendes Morgenrot. In denen seiner Mutter kondensierte langsam der Zorn.
Suchanek vollführte eine zarte Handbewegung in Richtung des Koffers seiner Eltern, den der Busfahrer eben hochhob, um als vielfältig einsetzbarer Sohn unaufdringlich seine Hilfsbereitschaft bei der Verstauung dieses wichtigen Gepäckstückes voller Unabdingbarkeiten für die gerade beginnende Expedition «Vier Tage Bodensee – Insel Mainau – Schaffhausen/Rheinfall» zu verdeutlichen.
Es war zu spät. Er war zu spät.
Suchanek hatte ohnehin schon den ganzen Weg aus der Stadt heraus gewusst, dass ebendieser Weg in ebendiesem Satz seiner Mutter enden würde. Er war diesem Gipfel elterlicher Enttäuschung – wiewohl es sich beileibe um keine Erstbesteigung handelte – unentrinnbar, wie in richtig tragischen Tragödien nun einmal üblich, entgegengesteuert. Seit den frühen Morgenstunden, in denen er aufgestanden war. Eigentlich schon seit den nur wenig früheren Morgenstunden, in denen er schlafen gegangen war.
Dabei war ihm fraglos zugutezuhalten, dass er, zumindest nachdem er dem Wecker einen linken Schwinger verpasst hatte und erst eine Dreiviertelstunde später wieder aufgewacht war, weil er im Traum glücklicherweise gerade vom Nanga Parbat abgestürzt war, alles versucht hatte, um seine Verspätung so gering wie irgend möglich ausfallen zu lassen. Er hatte seine Rostlaube dermaßen durch die sich vor Wien unnötig breit machende Ebene gejagt, dass sich jeder Verkehrspolizist alle zehn Finger nach ihm abgeschleckt hätte.
Keine Geschwindigkeitsbegrenzung, keine Ortstafel, kein Zebrastreifen, gar nichts vermochte Suchanek zu bremsen. Auch nicht das weiße Kreuz, das knapp vor Wulzendorf an jenem Kirschbaum angebracht war, an dem der Lengauer Edwin und sein GTI, unzertrennlich wie immer, ihre Leben ausgehaucht hatten.
Und auch nicht der Blumentrog mit den verwelkenden Geranien, diesen Straßenhuren unter den Blumen, und die auf rustikal getrimmte Holztafel, auf der stand: «Wulzendorf grüßt seine Gäste».
Als ob nach Wulzendorf schon jemals irgendein Gast gekommen wäre. Nicht einmal der berühmte Gefängnisausbrecher Prtil, der damals auf seiner Flucht hier durchgekommen war, hatte in Wulzendorf haltgemacht.
Nein, Prtil musste unbedingt die drei Kilometer nach Bernhardsau weiterfahren, erst dort zwei Leute erschießen und schließlich der Gendarmerie am Bahnhof ein Gefecht liefern, das er nicht überlebte. Und Wulzendorf kam nicht in die «Zeit im Bild», und dann kamen erst recht keine Gäste, während sie den Bernhardsauern die Türen einrannten.
Wenn die Wulzendorfer die Bernhardsauer nicht schon immer «Bernhardsäue» genannt hätten, wäre das damals ein hervorragender Moment gewesen, damit anzufangen.
Die Bernhardsäue bildeten sich ja sogar noch heute, vierzig Jahre später, weiß Gott was ein auf ihre paar Einschusslöcher in den Bahnhofsmauern. So viel, dass sie sie sogar extra aus der Wand geschnitten hatten, natürlich mit ein bisschen Wand rundherum, weil sonst geht so ein Loch ja leicht verloren. Irgendwann in den Achtzigern war das gewesen, als man den alten Bahnhof durch ein modernes Waschbetonwartehäuschen ersetzt hatte. Vielleicht würde das ja in vierzig, fünfzig Jahren auch ins Bernhardsauer Heimatmuseum kommen, neben Prtils Löcher.
Wulzendorf immerhin hatte dafür nicht nur den einzigen grünen Kirchturm im ganzen Bezirk, auch wenn es mehr so ein gespiebenes Grün war, aber eben doch das einzige, sondern auch die einzige funkgesteuerte Kirchturmuhr weit und breit. Der junge Zwölfer-Leitner hatte diese gottgefällige Anschaffung im Pfarrgemeinderat durchgesetzt. Weil er doch vom alten Zwölfer-Leitner, der bis zum Schluss täglich die Hühnerleiter im Kirchturm hinaufgestiegen war, um die Uhr aufzuziehen, die monströse Kurbel geerbt hatte, die man dazu brauchte. Quasi in dynastischer Thronfolge. Eh der letzten in Wulzendorf, seit der Gemeindestier durch ein doch etwas pflegeleichteres Röhrchen für die künstliche Befruchtung ersetzt worden war, das der Einser-Neuhold nicht mehr zu füttern brauchte. Aber, wie es halt oft so ist mit den Jungen: Kaum hielt er die Kurbel, an der der väterliche Schweiß von Jahrzehnten klebte, in Händen, beschloss der Zwölfer umgehend, das Kirchturmuhraufziehrecht nicht mehr unbedingt als Privileg zu betrachten.
Und die Kirchturmuhr, die aus diesem Grund auf die Millisekunde genau ging, zeigte, als der Suchanek mit 120 an der Ortstafel und den Geranien vorbeiwetzte, 6.14 Uhr. Beide Zahlen musste man als eher ungünstig ansehen. Denn somit wurde die ihn schon länger beschleichende Befürchtung, er müsse seine Eltern möglicherweise gar nicht mehr von ihrem Haus abholen, um sie zum überschaubaren Hauptplatz von Wulzendorf zu bringen, wo sie um 6.15 Uhr den Bus zu besteigen gedachten, zur tragischen Gewissheit. Sie waren schon da.
Dem Busfahrer, einem feisten Glatzkopf ohne Hals, der gerade den Kofferraum des Busses von «Schweinbarth-Reisen» öffnete, wehte es die Krawatte über die rechte Schulter, als Suchanek mit immer noch nicht viel weniger als 120 über den Hauptplatz flog, auch, weil sie in der Autoindustrie sicher wahnsinnig viel bauen konnten, aber leider immer noch keine Bremsen, die auch ohne erwähnenswerte Beläge ihren Dienst taten.
Erstaunt blickte der Chauffeur auf, um festzustellen, woher diese Windhose denn auf einmal kam. Dann wanderte sein Blick zu Suchaneks Vater, der neben ihm stand und angesichts der vorbeifetzenden Frucht seiner Lenden die typische Robert-Lembke-Bewegung machte: Er schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. In dieser Position hatte er weite Teile von Suchaneks Jugend verbracht. Suchanek war sich deswegen nie völlig sicher gewesen, seinen Vater bei einer Gegenüberstellung auch zweifelsfrei identifizieren zu können.
Beim Einundzwanziger-Wantuschka hatte sich Suchanek dann so weit eingebremst, dass er umdrehen und zum Hauptplatz zurückfahren konnte. Als er aus dem Auto stieg, fiel ihm der Werbeslogan am Heck des Busses ins Auge: «Ist das Leben wieder einmal beinhart – fahr auf Urlaub mit der Firma Schweinbarth.»
Suchanek atmete ruckartig aus, wie ein Athlet vor dem Start eines großen Rennens. Dann ging er mit hängenden Schultern auf seine Eltern zu.
«Viertagebodenseeinselmainauschaffhausenrheinfall».
Wochenlang hatte er das jetzt am Telefon gehört. Immer in der Maxi-Version, um der ohnehin schon großen Fahrt noch tonnenschwerere Bedeutung zu verleihen. Nie sagte seine Mutter einfach: «Wir fahren an den Bodensee.» Das war ihr zu prosaisch. Sie sagte: «Wir fahren Viertagebodenseeinselmainauschaffhausenrheinfall.» Und manchmal fügte sie noch triumphierend hinzu: «Dort wachsen Palmen.»
Einmal sagte Suchanek darauf: «Wo genau? In Viertage?»
«Was?»
«Die Palmen. Oder doch in Rheinfall?»
«Du bist immer nur blöd. Nichts leisten, aber Hauptsache, blöd sein. Die Palmen wachsen auf der Insel Mainau. Beim Grafen.»
«Was bei dem alles wächst», sagte Suchanek.
Unter normalen Umständen hätten ihm seine Eltern auch niemals Haus und Hund anvertraut. Die Tante Anni, die auch in Wulzendorf wohnte und die eigentlich gar nicht Suchaneks Tante war, sondern eine Cousine seines Vaters, die zur Tante mutiert war, weil ja Großcousine in den heutigen haltlosen Zeiten nicht mehr wirklich als Verwandtschaft gilt und weil man Kindern ja schnell einmal jemanden als Tante verkauft, der noch viel weniger ist als eine Großcousine, nämlich beispielsweise gar nichts, die Tante Anni also wäre natürlich an sich die erste Wahl für diese diffizile Aufsichtstätigkeit gewesen. Aber die hatte für Freitag endlich den lang erwarteten Operationstermin bei diesem Gefäßspezialisten bekommen, dem König der Krampfadern, der ihr vermutlich so ungefähr alle Venen aus den Beinen ziehen würde. Das hatte er schon bei der Nachbarin von der Tante Anni gemacht, und die hatte seitdem wieder Haxen wie eine Junge. Bei der Tante Anni würden sich zwar trotz der zweifellos magischen Hände des Krampfadernkönigs allenfalls noch die Haxen einer jungen Elefantenkuh ausgehen, aber gut.
Suchaneks Schwester wiederum, eine prinzipiell hochgradig verlässliche Zweitbesetzung, die ein paar Dörfer weiter wohnte, war nicht verfügbar, weil sie etwas hatte, das Suchanek nicht hatte: einen Job. Noch dazu einen, bei dem sie manchmal auch an Feiertagen arbeiten musste, also zum Beispiel heute. Das hätte ja Suchanek schon allein aus ideologischen Gründen niemals gemacht. Und zwar nicht, weil er reumütig in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt wäre, nein. Aus Protest gegen den seelenlosen Neoliberalismus, jawohl! Auch zu Christi Himmelfahrt. Eigentlich vor allem zu Christi Himmelfahrt. Aber seine Krankenschwester-Schwester hatte da halt nicht so ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein.
Also blieb nur mehr er.
Und wie er geschworen hatte, pünktlich zu sein! Wenn es nur wegen des Transports auf den Hauptplatz gewesen wäre. Dann. Aber es hätte schließlich gegolten, Suchanek mit dem allabendlich und darüber hinaus auch im Falle nur kurzzeitiger Abwesenheit vom Zielobjekt strikt einzuhaltenden Abschließplan für das Anwesen vertraut zu machen. Ihn im fachgerechten Gebrauch diverser technischer Geräte, wie dem automatischen Garagentor, der Wasserpumpe, die in letzter Zeit so komisch gurgle und deshalb sicherheitshalber täglich entlüftet werden müsse, oder der brandgefährlichen Brotschneidemaschine zu schulen. Weiters eine artgerechte Bewässerung des Gemüsegartens sicherzustellen. Und und und.
Und nicht zuletzt hätte Suchanek natürlich unbedingt in den ernährungswissenschaftlich wasserdichten Menüplan des Hundes eingeweiht werden müssen. Wie hieß der Hund noch einmal? Das konnte doch nicht wahr sein. Seine Eltern hatten das Vieh jetzt seit zwei Jahren. Suchanek wusste zumindest genau, dass er nicht Henry hieß wie alle Dackel zuvor. Es war mehr was Österreichisches, seine Mutter hatte mit einem Mal befunden, Wulzendorf sei schließlich nicht Westminster oder Wisconsin und deshalb heiße dieser Dackel jetzt Fritzi. Oder Franzi. Ferdi. Fredi?
«Ja, hallo!», sagte Suchanek in selten bescheuertem Kleinkindertonfall, als er nach endlich erfolgter Abfahrt seiner Eltern das heimische Gartentor aufsperrte. Im Sinne einer frühzeitigen Deeskalation hätte es sich jetzt doch als günstig erwiesen, den Namen des Hundes noch zu wissen.
«Hallo … Hund.»
Der Dackel saß regungslos vor dem Rhododendron, schaute Suchanek eisig an und schwieg. Suchanek pirschte sich näher heran, ging dann artenverbindend in die Knie und streckte ihm so einladend wie möglich die Hand entgegen.
«Ich bin ein Freund. Freuuund!», gurrte er.
Unbeteiligte Beobachter hätten womöglich nicht gänzlich ausgeschlossen, dass der Hund das anders sah. Suchanek trat den geordneten Rückzug an, ohne dem Köter den Rücken zuzuwenden. Er parkte das Auto vor der Garage, schrieb auf ein zerknittertes Kuvert, das er unter dem Beifahrersitz gefunden hatte, «Glocke kaputt», befestigte es einigermaßen elegant unter dem Klingelknopf und versperrte dann, um das Risiko überraschenden Sozialkontakts gänzlich auf null zu senken, das Gartentor. Dann versuchte er eine weitere kynologische Kontaktaufnahme.
«Na komm, gehen wir rein. Wie wär’s mit Futter? Faschierte Schweinsknorpel in stinkendem gestocktem Fett? Dafür aber mit einem tollen französischen Namen? Na?»
Der Hund rührte sich nicht. Suchanek ging die Stufen hoch und sperrte die Tür auf, wobei er beim ersten Schloss schon mit dem dritten der elf Schlüssel, die ihm sein Vater beim Bus wortlos in die Hand gedrückt hatte, erfolgreich war, während es bei den beiden anderen etwas länger dauerte. Im Haus ging er sofort die nächste Treppe hinauf in den ersten Stock, in dem das Schlafzimmer seiner Eltern war. Er zog sich Schuhe und Jacke aus, fiel aufs Bett und war nach sekundenlangem Nachdenken, auf wessen Seite er jetzt wohl lag, eingeschlafen.
Auf dem Spülkasten am Klo klebte ein Zettel: «Kleines Geschäft – kleine Taste!»
Neben dem Waschbecken war auch einer: «Nach Gebrauch immer auswischen!»
Und den dritten fand Suchanek in der Brotdose: «Zuerst das alte Brot essen!»
Suchaneks Eltern hatten immer schon ziemlich konkrete Vorstellungen über die Trennlinie zwischen Richtig und Falsch gehabt. Auf welcher Seite sie ihn sahen, war klar.
Suchanek hatte sieben Stunden geschlafen und gleich nach dem Aufstehen den riesenhaften Topf mit dem Krautfleisch, das seine Mutter für ihn vorgekocht hatte, gewärmt. Auch weil der Zettel, auf dem «Nicht immer das ganze Krautfleisch wärmen» stand, von ihm aus gesehen an der Hinterseite des Topfes pickte. Im Haus seiner Eltern hatte sich in den fünfzehn Jahren, seit Suchanek ausgezogen war, einiges verändert. Natürlich war er seither immer wieder einmal zu Besuch gekommen, wenn er durch widrige Umstände wie runde Geburtstage, Weihnachten oder die Überziehung seines Überziehungsrahmens dazu gezwungen worden war. Aber da hatte er stets nur mit hochkonzentriertem Tunnelblick darauf gewartet, dass die Zeit verging. Also fiel ihm erst jetzt so richtig auf, dass die Einrichtung von früher nicht mehr da war. Seine Mutter hielt sich ja für eine innen wie außen gleichermaßen hochbegabte Architektin – und dies war keineswegs der einzige etwas strittige Punkt in ihrer Selbsteinschätzung –, die nur aus einem einzigen Grund in die Karriere einer Versicherungs-Schadensreferentin gerutscht war: «Man hat halt damals nicht so die Möglichkeit gehabt.»
Sein altes Zimmer, die einzigen sechs Quadratmeter in seinem Leben, in denen er sich jemals annähernd zu Hause gefühlt hatte, war jetzt ein Klo. Das zweite im Haus. Nicht, dass es jemand gebraucht hätte. Aber was seine Mutter ganz offensichtlich noch weniger brauchen konnte, war ein Museum des Scheiterns. Also ein im Originalzustand belassenes Kinderzimmer, das sie ständig daran erinnerte, wie nachhaltig sich sämtliche tollen Pläne, die sie für seinen früheren Bewohner gehabt hatte, in Luft aufgelöst hatten. Suchanek hielt es allerdings eher nicht für nötig, sich an die neue Einrichtung groß zu gewöhnen. Es würde sicher bald eine noch geschmackvollere Ära in der ruhmreichen Historie der mit Holzimitat beschichteten Pressspanplatte anbrechen. Und auch die Teilnahme an dieser würde seine Mutter garantiert nicht verpassen.
Nach dem Essen stellte er einigermaßen beunruhigt fest, dass er jetzt gute zehneinhalb Stunden nichts zu sich genommen hatte, das ihn vergessen ließ, wer er war. Eine qualvolle Nüchternheit machte sich in ihm immer breiter. Aber zum Glück wusste er Abhilfe: den Grasel.
Der Grasel hieß eigentlich Alex Wimberger. Der Grund für seinen Spitznamen war nicht etwa, dass Alex im Gedenken an den legendären Räuberhauptmann Grasel den alten Vetteln von der Legio Mariae auf dem Weg zum wöchentlichen Betmarathon aufgelauert und ihnen die Rosenkränze entwunden hätte.
Vielmehr hatte sich Grasel schon früh bei der Dorfjugend beliebt gemacht, indem er seinen in der Gartenbauschule professionalisierten grünen Daumen vor allem bei der Aufzucht von Cannabis-Stauden auf dem elterlichen Misthaufen voll zur Geltung gebracht hatte. Und der Grasel war im schwierigen Wulzendorfer Mikroklima sogar so erfolgreich gewesen, dass er den Teil der Ernte, den er nicht selbst verrauchte oder seinen Freunden schenkte, über die Grenzen Wulzendorfs hinaus hatte exportieren können. Vom Erlös hatte er sich ein kleines Café zur Tankstelle seines Vaters gebaut, die am Bernhardsau zugewandten Ortsende lag.
Da Suchanek seine Eltern ja nun nicht zum Bus gebracht hatte, waren sie mit ihrem eigenen Auto hingefahren. Und das parkte jetzt klarerweise immer noch mutterseelenallein in der Wildnis. Sein Vater hasste das. Selbst unter den Palmen des Mainau-Grafen würde er wahrscheinlich an nichts anderes denken können als an die ungeheuren Gefahren, denen ein neun Jahre alter Mittelklassewagen ohne jeglichen Begleitschutz in einer gemeingefährlichen Gegend wie Central Wulzendorf ausgesetzt war. Aber wenn Suchanek ihn im Zuge einer kleinen Einkaufstour zum Grasel in den sicheren Hafen von Fort Suchanek zurückholte, konnte er vielleicht verhindern, dass ihn sein Vater bei der Rückkehr wieder mit den Händen vorm Gesicht begrüßte. Andererseits war das Auto sicherlich einen guten Kilometer entfernt. Wenn nicht eineinhalb. Für einen Fußmarsch also doch eine gewaltige Distanz. Außerdem durfte man bei so einer entbehrungsreichen Reise durch zwar dünn, aber eben doch besiedeltes Gebiet das Risiko, auf Eingeborene zu treffen, schon an normalen Tagen nicht unterschätzen. Und heute war kein normaler Tag.
Es war schon in der Früh, als er am Feuerwehrhaus und dem gleich daneben liegenden Fußballplatz vorbeigefahren war, nicht einmal mit Suchaneks immer noch recht schmalen Augen zu übersehen gewesen: Da stand ein Bierzelt. Denn heute startete das Wulzendorfer Volksfest. Traditionellerweise das größte in der ganzen Gegend. So viel gesoffen wie in diesen stets mit Christi Himmelfahrt beginnenden vier Tagen wurde nicht einmal am Bernhardikirtag bei den geliebten Nachbarn – obwohl man sich auch dort wirklich Mühe gab. Das Gelage diente, wie alle unter dem Ehrenschutz rühriger Landtagsabgeordneter stehenden Alkoholexzesse in Österreich, einem guten Zweck: Veranstalter war die Freiwillige Feuerwehr Wulzendorf. Und die schaffte mit dem Reingewinn alljährlich nützliche Ausrüstungsgegenstände an, die sie sich ansonsten niemals leisten hätte können, ohne die aber moderne Feuerwehrarbeit undenkbar war. Da brauchte man zum Beispiel nur an die hydraulische Blechschere denken, mit der man dann die, die sie mit eiserner Disziplin ersoffen hatten, aus den Autowracks schneiden konnte.
Wenn er Grasels Telefonnummer gehabt hätte … Naja, selbst wenn. Der würde wohl eher keine Hauszustellung machen. Und außerdem war da noch der Hund. Der würde es vielleicht als Geste des guten Willens verstehen, wenn Suchanek mit ihm einen Spaziergang machte. Eine Viertelstunde später zerrte Suchanek also einen Dackel hinter sich her, dem die Demütigung einer Anleinung durch einen von ihm eher mäßig geschätzten Fremdling sichtlich zusetzte. Wenn sie jetzt auch noch einen anderen Hund trafen, war sein Sozialprestige auf Jahre hinaus im Eimer.
Suchanek bog von der Sackgasse, die den Namen «Sackgasse» trug und aus der er einst ausgezogen war, um erst recht wieder in einer zu landen, nach links auf die Gstettenstraße ab, die pulsierende Lebensader des gleichnamigen Ortsteils. Der andere lag an der Hauptstraße und hieß blumig «Dorf». Damit war gleich klargestellt, wer in Wulzendorf wo wohnte: im Dorf die, die zuerst da gewesen waren – also die Bauern. Und auf der Gstetten die, die es halt auch geben musste. Diese verspielte Detailverliebtheit in der Namensgebung, dieser generationenübergreifende Beweis für himmelstürmende Kreativität zog sich durch ganz Wulzendorf. Der Bach hieß «Graben». Und beim Dorfteich hatten die Altvorderen sicherlich nächtelang gebrütet, eine metgeschwängerte Versammlung nach der anderen abgehalten, bis endlich festgestanden war: «Lacke». Manche verwendeten aber auch gerne die Erweiterung «Krötenlacke». Vor allem die Älteren. Also die, die noch wussten, was Kröten waren.
Ein weit über die normale Würzigkeit von Landluft hinausgehender Gestank zog von der Lacke herauf. Hatte ein Bauer mal wieder seinen Gülle-Überschuss großherzig der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt? Suchanek ging an den Straßenrand, um über die kleine Böschung hinuntersehen zu können. Unten am Wasser saß ein Fischer, den er sofort erkannte. Der Schneckerl.
Der Schneckerl hieß eigentlich Herbert Prohaska. Wie der Fußballer. Einer der wenigen, die Österreich in den letzten Jahrzehnten hervorgebracht hatte, die nicht besser Skifahrer werden hätten sollen. Und da der kickende Herbert Prohaska aufgrund seiner zumindest in jungen Jahren leicht ausufernden Lockenpracht «Schneckerl» genannt wurde, hieß der Wulzendorfer Prohaska auch so, obwohl seine Frisur das vermutlich eher nicht rechtfertigte. Genau konnte man das aber nicht wissen, denn Schneckerl war mit dem speckigen Hut wohl schon geboren worden, den er jetzt auch trug. Suchanek konnte sich nicht erinnern, ihn jemals ohne gesehen zu haben. Wobei er ihn ohnehin meistens nur gehört hatte. Denn Schneckerl wohnte ganz am Ende von Suchaneks Gasse. Seine wegen Schneckerls haltloser Sauferei von ihm Geschiedene hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn auch noch rauszuwerfen, und ihm ein kleines Kammerl im Keller gelassen. Und wenn sich Schneckerl in warmen Nächten, in denen Suchaneks Kinderzimmerfenster offen gewesen war, auf der Schlussetappe des langen, kräftezehrenden Weges vom Wirten zu seinem Keller befunden hatte, hatte er gerne dem Polier auf der Baustelle virtuell die Meinung gegeigt, mit kräftiger Stimme zu Unrecht in Vergessenheit geratene Volkslieder intoniert oder die Dämonen, die ihn wieder einmal heimsuchten, verscheucht.
Schneckerl zeigte auf Suchanek und rief: «Dich kenn ich!» Und nach einer kleinen Pause sagte er: «Du bist doch der. Oder?»
«Der kleine Suchanek», sagte Suchanek.
Schneckerl kniff die Augen zusammen und schien irgendwie nachzudenken. Schließlich gelangte er offensichtlich zu einem zufriedenstellenden Ergebnis und wies auf den halbvollen Doppler Wein, der neben ihm im Wasser dümpelte. «Setz dich her. Und nimm einen Hacker!»
Suchanek kletterte die Böschung hinunter. Dabei stellte er fest, dass der Gestank aus dem großen Kanalrohr kam, das waagrecht unter der Straße durchlief. Es war früher wohl einmal dazu gedacht gewesen, eventuelles Hochwasser aus der Lacke auf die damals noch unbesiedelte Gstetten abzuleiten. Zu diesem aber doch sehr theoretischen Zweck war den praktisch denkenden Wulzendorfern aber zum Glück zusätzlich noch ein anderer eingefallen. Vor allem der Bobek Willi, der seine Autowerkstatt direkt hier am Wasser hatte, war bekannt dafür, in Angelegenheiten der Müllentsorgung vor allem einmal die Kostengünstigkeit im Auge zu haben. Wenn ein Wulzendorfer sagte: «In der Krötenlacke liegt ein ganzes Auto», dann war völlig klar, wie es da reingekommen war. Verschlissene Bremsscheiben, durchgebrannte Lichtmaschinen, aus der Mode gekommene Felgen – Willi musste nur ein paar Schritte bis zum Loch gehen, und weg waren sie. Das Loch war die tiefste Stelle der Lacke. Obwohl eine Lacke definitionsgemäß eigentlich gar keine tiefe Stelle hat. Aber da war Wulzendorf halt wieder einmal was Besonderes.
Und Dinge, die aufgrund ihrer physikalischen Beschaffenheit eventuell wieder auftauchen hätten können, stopfte Willi ganz gerne in das Kanalrohr. Jeder wusste das. Und wenn es der Willi machte, war es eh schon wurscht. Dann konnten die anderen auch. Als Bub hatte Suchanek einmal durch das Rohr kriechen müssen, um nach dieser Mutprobe endlich nicht mehr der einzige Cowboy in einem ansonsten von Indianern bewohnten Dorf zu sein. Er wollte heute noch immer nicht genau wissen, worüber er da im Dunkeln so gerobbt war. Und genützt hatte es im Übrigen auch nichts.
«Beißen sie?», fragte er und wies mit dem Kopf auf Schneckerls Angel.
Schneckerl schüttelte betrübt den Kopf, dass die Trophäen auf seinem Hut sanft zitterten. Er hatte einen ganzen Haufen Wandernadeln, ein Abzeichen von Rapid Wien, zwei fleckig-silbrige rammelnde Hasen und eine Münze mit einem Loch in der Mitte mehr oder minder kunstvoll an seiner Kopferweiterung befestigt.
«Nein», sagte Schneckerl, fischte den Doppler aus dem Wasser und nahm einen Erwachsenenschluck. «Seit dem Atom nicht mehr.»
Suchanek widerstand der Versuchung, mehr über die Beziehung zwischen den Wulzendorfer Fischen und dem Atom als solchem herausfinden zu wollen. Mit einem Gesprächspartner wie dem Schneckerl konnte man ja leicht einmal vom Hundertsten ins Tausendste geraten.
«Schöne Sachen hast du da», sagte er stattdessen und zeigte auf Schneckerls Hut. Der nahm ihn ab – darunter waren übrigens nicht nur keine Schneckerln, sondern eigentlich überhaupt keine Haare, die den Namen verdienten – und betrachtete ihn stolz.
«Das Rapid-Wappen hat mir noch der Hansi Burli gegeben. Die Wandernadeln sind alle von der Gerstmeierin, die rennt immer auf den Bergen herum. Das da hat der Bertl aus dem Wasser geholt, und die Münze ist vom Pfarrhofer. Aus Dubai. Oder Dschibuti? Wurscht! Ist eh dasselbe!»
Er setzte sich den Hut wieder auf, griff zur Flasche und streckte sie Suchanek entgegen: «Da. Trink!»
Suchanek schüttelte den Kopf. «Ich wollte nur kurz Hallo sagen. Ich muss jetzt weiter.»
Während er die Böschung wieder hochkletterte, hinter sich den Hund, dessen Gemütszustand langsam von beleidigt in beißbereit zu kippen begann, stimmte Schneckerl «Hoch auf dem gelben Wagen» an.
Nun stellte sich aber Suchanek sofort das größte Hindernis in den Weg, das es für ihn in Wulzendorf gab: der Bahnübergang. Unbeschrankt und unberechenbar wie eh und je. Es war damals natürlich die Schuld seiner blöden Schwester gewesen, dass Suchanek fast vom Zug überfahren worden wäre. Wie immer hatte er sie an diesem Tag zum Bahnhof begleiten wollen. Sie waren aber etwas spät dran gewesen, und als die schlichte Streberseele es tuten gehört hatte, war sie Suchanek einfach davongerannt, um bloß nicht den Zug und damit den Unterrichtsbeginn in der Volksschule Bernhardsau zu verpassen. Klar, dass sie mit neun ohnehin schon um einiges schneller gewesen war als er mit fünf – oder auch jetzt mit 33. Und dann noch die Schuhe.
Seine Mutter, eine vorbildlich sparsame Frau, hatte es sich in der Zeit von Suchaneks zweifellos kostenintensivem Fußwachstum zur Gewohnheit gemacht, seine stets durchfallbraunen Hausschuhe hinten aufzuschneiden, sobald sie ihm zu klein geworden waren, und den Fuß dann in aller Ruhe noch um eine Nummer weiterwachsen zu lassen. Dann erst wurde das nächste Paar gekauft. Und in diesen Eigenbau-Sprintraketen legte sich der Suchanek mit zwanzig Tonnen Stahl an.
Das panisch verzerrte Gesicht des Lokführers angesichts des kleinen Buben, der eine halbe Ferse hinter seinen Hauspatschen und zwei Meter vor dem Zug über die Gleise gewieselt kam, würde Suchanek nie vergessen. Als der brave Mann dann nach seiner Notbremsung, die natürlich ohnehin viel zu spät gekommen wäre, aus dem Zug geklettert war, hatte er sich zumindest schon wieder so weit gefangen, dass er Suchanek eine knallen konnte.
Suchanek blieb vor den Gleisen stehen, schaute links, schaute rechts. Kein Zug zu sehen. Andererseits war auch nicht wirklich damit zu rechnen gewesen, dass man die schon vor Jahren eingestellte Bahnlinie extra für ihn revitalisiert hatte. Er überwand die Gefahr mit zwei schnellen Schritten und behielt das Tempo angesichts des nunmehr schon sehr nahen Volksfestgeländes gleich bei. Über den Fußballplatz hinweg konnte er schon das Bierzelt sehen. Das war aber auch nicht allzu schwierig, denn das Zelt war ungefähr so groß wie der Petersdom.
«Action, Spannung, Spaß! Treten Sie näher, steigen Sie ein! Drei Mal fahren – und nur vier Mal zahlen!», überbrüllte irgendein Schausteller den Uffta-Uffta-Trotteltechno, der aus ohnehin schon krachend übersteuernden Lautsprechern trenzte. Täuschte sich Suchanek, oder hatte sich an dem Unterhaltungsarsenal, das hier herumstand, seit seiner Kindheit wirklich gar nichts geändert? Autodrom, Karussell, Schiffsschaukeln. Ein Tagada, also so ein horizontales Riesenrad, das sich nicht nur drehen, sondern auch schütteln konnte. Zwei Schießbuden. Eine kleine Spielhalle mit Flippern und so. Und, etwas abseits und trotz der Tatsache, dass das Volksfest erst wenige Stunden alt war, schon jetzt unüberriechbar: zwei Klowägen.
Ein Transparent über dem Eingang des Bierzeltes kündete davon, dass am Samstagabend, am Siedepunkt des Festes, «Alleinunterhalter Kurt» aufspielen würde. Der Heimeder Kurtl aus dem Ort. Als Referatsleiter für Denkmalschutz auf der Bezirkshauptmannschaft war der Kurtl täglich acht arbeitsreiche Stunden, also von 8 bis 14 Uhr, das Musterbeispiel des seriösen Beamten. Denn obwohl böse Zungen möglicherweise behauptet hätten, dass es neben den Kriegerdenkmälern im Bezirk nur noch Kriegerdenkmäler zu schützen gab – und diese allesamt sowieso grottenhässlich waren –, war das wahrlich keine Aufgabe, die man auf die leichte Schulter nehmen konnte. Nach Dienstschluss indessen durchlief der Kurtl regelmäßig eine erstaunliche Metamorphose. In seinen Adern pulsierte nämlich in Wirklichkeit das Blut eines Latin Lovers mit zwar mittlerweile schon recht ausufernder Stirnglatze und einem weichen Endvierzigerbauch, aber, hey! Einmal Latin Lover, immer Latin Lover. Und auch wenn sein Sprachfehler die Suche nach der Liebe seines Lebens erfolglos hatte enden lassen, so hatte er aus dem starken Lispeln doch immerhin eine Showbiz-Tugend gemacht und sich und seine Hammondorgel auf heiße spanischsprachige Rhythmen spezialisiert. Oder was er halt dafür hielt. Es war ja eh egal, denn beim Kurtl klang alles, was er spielte, nach Polka. Aber die vielen gezischten S in den Texten kamen ihm sehr entgegen.
Nunmehr nahezu im Laufschritt, versuchte Suchanek, unerkannt an der Vorhölle vorbeizukommen. Er hatte es auch schon fast geschafft, als ihm plötzlich der Sechser-Hartl von rechts in die Spur schnitt. Er zerrte ein vielleicht vierzehnjähriges Mädchen hinter sich her, das sich die stark geschminkten Augen zu einem Alice-Cooper-Look verheult hatte und einen Minirock trug, der dort, wo er anfing, eigentlich auch schon wieder aus war.
Das war ja nun auch so eine besondere Facette im Wulzendorfer Ortsleben. Anderswo beschwerten sich Menschen, wenn man sie als Nummern behandelte. In Wulzendorf hingegen war das das Höchste. Und es stand nur den großen Bauern zu. Der Sechser-Hartl. Der Dreier-Kanschitz. Der Siebzehner-Stratzner. Oder man sagte überhaupt gleich nur: der Vierer. Der Zwölfer. Und wenn einer zu wenige Hektar hatte, war er nicht etwa eine kleine Nummer, sondern gleich gar keine.
Der Sechser schrie: «Wie die billigste Schlampe … So tust du mir sicher nicht mehr am Volksfest mit den ganzen Gfrastern da herum! Und jetzt hör auf zu heulen oder du fängst gleich noch eine!» Dann bemerkte er den Suchanek und bellte ihn an: «Was ist? Gibt’s da leicht was zu sehen?»
Suchanek schüttelte eilig den Kopf und schaute weg. Das Schluchzen des Mädchens entfernte sich. Als Suchanek wieder hinsah, bog Hartl mit seiner Tochter gerade um die nächste Ecke und war weg. Suchanek wartete noch eine halbe Minute und ging ihnen dann nach. Nicht etwa, weil er eingreifen wollte oder so. Nein. Er hatte bloß denselben Weg.
Nach dem Feuerwehrhaus begann die Hauptstraße, und endlich, endlich war Suchanek beim Auto. Erleichtert ließ er sich hinters Steuer fallen. Bis auf den Schneckerl hatte er mit keinem reden müssen. Und der zählte ja eher nicht. Auch der Hund freute sich sichtlich, wieder auf vertrautem Terrain zu sein, und rollte sich auf der Rückbank zusammen. Als sich Suchanek eine Minute später vor dem «Route 66b» einparkte, Grasels Café, das der in einem seiner bekannt zahlreichen Anfälle geistiger Umnachtung nach der durch Wulzendorf führenden Landesstraße benannt hatte, ließ er den Köter im Auto.
Der Grasel war vier oder fünf Jahre älter als Suchanek, und bis auf die beiden tiefen senkrechten Falten in seinen Wangen sah er exakt so aus wie vor fünfzehn Jahren. Suchanek war sich sogar beinahe sicher, dass Grasel genau dasselbe angehabt hatte, als sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Hager bis an die Hungergrenze, die Haare von den Schläfen bis hinter die Ohren wegrasiert, hinten allerdings lang und zu einem Zopf zusammengebunden. Dazu ein Batik-Tuch, zu einem Stirnband zusammengezwirbelt. An nahezu jedem Finger inklusive der Daumen Ringe. Einen kunstvoll verknautschten Armreifen. Eine Cargo-Hose und ein Gilet, das nicht viel von dem schmalen, harten Oberkörper verbarg.
Es soll ja durchaus mehrere Menschen geben, die ihr Styling für cool halten, obwohl eine einigermaßen repräsentative Umfrage möglicherweise zu einem anderen Ergebnis gelangen würde. Aber niemand hielt ein Styling, das schon immer uncool gewesen war, so bewundernswert unbeeinflussbar über Jahrzehnte durch wie der Grasel.
Gäste waren keine in dem Lokal, als Suchanek reinkam. Grasel saß hinter der Bar und sah von seiner Zeitung auf.
«Gibt’s doch nicht!», stieß er hervor. «Der verlorene Sohn! Alter! Was machst du denn hier? Neinnein, lass mich raten: Du bist der Chef des Heimeder-Kurtl-Fanclubs und darfst ihm am Samstag das Handtuch zum Schweißabwischen reichen.»
Suchanek lächelte gequält. «Meine Eltern sind auf Urlaub. Und ich muss das Haus hüten.»
«Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen. Was treibst du immer so?»
Suchanek entschied sich ohne weiteres Nachdenken für die wahrheitsgemäße Antwort: «Nichts.»
Grasel grinste: «Ah eh. Ein Bier?»
Suchanek hatte kurz ein Bild von sich selbst im Kopf. Er lag im Garten seiner Eltern und zündete sich eben einen riesenhaften Joint an. Dieses hehre Ziel galt es, ohne über Gebühr unhöflich zu wirken, in der kürzestmöglichen Zeit zu erreichen.
«Nur ein kleines, ich hab den Hund im Auto. Der läuft Amok, wenn ich zu lange weg bin», log er. «Was gibt es Neues?»
Grasel fischte ein Glas von einem Regal und zapfte das Bier. «Was Neues? In Wulzendorf? So lang kannst du aber nicht weg sein, dass du die Frage ernst meinst.»
«Reichen fünfzehn Jahre?»
Grasel schüttelte den Kopf. «Never ever. Das sind ungefähr 100 Jahre zu wenig.»
«Wie geht’s denn dir so?»
«Ach, kann mich nicht beklagen. Diese ganzen Supermodels haben halt meine Adresse immer noch nicht herausgefunden. Aber sonst … Kennst mich ja, ich hab immer meinen eigenen Film laufen.» Grasel spreizte den Daumen und den kleinen Finger von seiner rechten Faust ab und machte eine schaukelnde Bewegung neben seinem Kopf, um zu verdeutlichen, wo sein Kino war. «Und so hält man’s dann auch in Wulzendorf aus.»
Suchanek zündete sich eine Zigarette an. «Und die anderen?»
Was sollte man schon groß sagen zu den anderen. Eh erwartungsgemäß, so weit. Drei Kinder schon, Wahnsinn. Und die sind geschieden, stell dir vor, dabei waren sie doch das Traumpaar, weißt du noch? Und der Ding ist ein arbeitsloser Alkoholiker. Naja, war eh klar, dass das einmal so kommt.
Nach einer Weile fand Suchanek, dass das Opfer für den Gott des Smalltalks jetzt ausreichend dimensioniert sei. Er räusperte sich: «Du, und wie gehen die Geschäfte?»
«Ich kann mich nicht beklagen. Mit der Tankstelle allein würde es nicht gehen. Aber seit der Ziehrer-Wirt zugesperrt hat, bin ich das einzige Lokal. Das passt schon.»
«Die Geschäfte hab ich eigentlich nicht gemeint. Ich täte da nämlich was kaufen wollen, wenn du was hättest.»
Grasel verstand den eminent subtilen Hinweis. «Ach so. Naja, im Moment gibt es da zwar einen kleinen Engpass – aber ein bissl was geht immer.»
Er verschwand nach hinten und kam kurz darauf mit einem kleinen Sackerl zurück. Alle Last der Welt fiel ab von Suchanek.
«Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dankbar ich dir bin. Was bekommst du?»
«Aber nein», sagte Grasel mit gespielter Entrüstung. «Das geht aufs Haus. Schließlich schneist du ja nicht jeden Tag hier herein. Kommst du eigentlich heute aufs Volksfest?»
Suchanek schüttelte angewidert den Kopf. «Oh Gott, nein. Ich werd mir’s zu Hause gemütlich machen», sagte er und griff nach dem Sackerl. Doch plötzlich zog Grasel seine Hand zurück.
«Da fällt mir was ein … Du weißt doch, am Samstag haben wir das Hansi-Burli-Gedenkmatch.»
Wie immer am Volksfest-Samstag. Ja, natürlich. Die Ledigen gegen die Verheirateten. Eine Mordsgaudi für jeden, der, wie Suchanek jetzt zum Beispiel überhaupt nicht, für Mordsgaudis empfänglich war. Der Hansi-Burli war das größte fußballerische Talent gewesen, das Wulzendorf jemals hervorgebracht hatte. Einmal hatte man ihn sogar zu einem Probetraining bei der Admira eingeladen. Aber da waren ihm dann leider die Nerven dazwischengekommen. Die hatte der Admira-Trainer an der Fahne gerochen, die schon ein paar Meter vor dem Hansi-Burli am Platz gewesen war, weil er doch zur Beruhigung ein bisschen was getrunken hatte. Eh nicht viel. Aber da war der Trainer irgendwie eigen gewesen. Also war der Hansi-Burli dem SC Wulzendorf erhalten geblieben, zumindest so lange, bis er dem Ladinger Heinz, dem einzigen Bernhardsauer, der sich jemals bei Wulzendorf zu spielen getraut hatte, einen Gefallen tat.
Der bestand darin, dass er ihn am Volksfestsamstag vor 25 Jahren oder so nach Hause bringen wollte, weil man dem Ladinger Heinz gleich bei der Ausfahrt vom Parkplatz den Führerschein abgenommen hatte. Und der Hansi-Burli hatte seinen noch. Aber halt auch genauso einen in der Birne wie der Heinz.
Dass der Ladinger Heinz den Unfall, den die beiden knapp vor Bernhardsau hatten, überlebte, der Hansi-Burli aber nicht, bestätigte den Wulzendorfern die Richtigkeit zweier Überzeugungen, die sie eh immer schon gehegt hatten:
Tu niemals irgendwem einen Gefallen.
Scheiß-Bernhardsäue.
«Wir Ledigen haben eine böse Verletzungsserie zu verkraften», sagte Grasel. «Der Nidetzky Markus hat’s irgendwie im Knie, Meniskus oder was. Unser Tormann, der Miletic Franzi, hat unlängst beim Holzmachen in die Kreissäge gegriffen. Und den Spakowitsch Edi hat’s überhaupt am schlimmsten erwischt. Der hat vor drei Monaten zum zweiten Mal geheiratet, der Depp.»
Suchanek schwante ganz Übles.
«Wir bringen nicht einmal elf Leute zusammen, das war noch nie da. Also: Was ist mit dir?»
«Ich? Also nein, echt nicht. Ich hab ewig nicht mehr Fußball gespielt. Und rennen ist sowieso nicht meins.»
«Dann spiel halt im Tor. Das ist nicht anstrengend. Eine Stunde herumstehen und ab und zu den Ball aus dem Netz holen.»
«Ja, klar. Ich wäre die glatteste Vorgabe aller Zeiten.»
«Ist doch egal. Es geht nur um den Spaß.» Grasel ließ das Sackerl mit der greifbaren Rettung für Suchaneks unmittelbare Zukunft zwischen Zeige- und Ringfinger tanzen. «Hilfst du mir, helf ich dir», sagte er und zog die Augenbrauen hoch.
Als Suchanek wieder ins Auto stieg, Grasels Sackerl an seinem Herzen tragend, stellte er fest, dass der Hund auf die Rückbank gepinkelt hatte.
Er war nicht überrascht.
Der Radiowecker, den sein Vater einmal bei einer Prämienrunde im Fußball-Toto gewonnen hatte – wobei sie ihm das Ding in Wirklichkeit ja zum Dank dafür geschenkt hatten, dass er dreißig Jahre lang Woche für Woche mit bewundernswerter Konsequenz bewiesen hatte, dass er von Fußball nichts verstand –, klappte auf 3.28 Uhr, als Suchanek mit einer anmutigen finalen Streichelbewegung den letzten Joint des Tages fertigstellte.
Wenn es stimmt, dass jeder, so unfähig er ansonsten sein mag, dennoch irgendetwas besonders gut kann – ob es nun das Reparieren eines Formel-1-Vergasers ist oder das Lösen einer kilometerlangen mathematischen Formel oder das Melken von Kobras im laotischen Dschungel –, dann manifestierte sich Suchaneks gottgegebenes singuläres Talent im Drehen von perfekt konischen, in ihrer schlanken Anmut selbst die hartgesottensten Stamminsassen eines Coffee-Shops in Amsterdam zu Beifallsstürmen hinreißenden Joints. Suchanek musste allerdings einräumen, dass es sich hierbei eher um ein Orchideenfach unter den Talenten handelte. Das Sackerl vom Grasel war jetzt jedenfalls leer. Er würde morgen Nachschub brauchen.
Suchanek ging auf den Balkon. Schließlich würde es seine Mutter unter Garantie riechen, wenn er im Haus rauchte. Seine Mutter würde allerdings wahrscheinlich sogar riechen, dass er im Haus ausgeatmet hatte, nachdem er auf dem Balkon geraucht hatte. Er zündete den Joint an, traf ihn dabei immerhin schon beim zweiten Versuch und sog den Rauch tief ein. Wulzendorf wurde schlagartig wieder ein Stück schöner.
Die Aussicht vom Balkon hatte sich in den Tausenden Stunden, in denen der junge Suchanek auf der geistigen Flucht vor Schulaufgaben, nützlichen Verrichtungen in Haus und Hof oder sinnvollen Gedanken jeder Art hier ins Leere gestarrt hatte, unauslöschlich in sein Hirn geätzt. Suchanek schloss die Augen, um sich zu beweisen, dass er sie tatsächlich immer noch auswendig konnte.
Hinter dem Gartenzaun seiner Eltern kam der Bahndamm. Daran anschließend stand, eingerahmt von zwei kleinen Äckern, das Haus des alten Kaiszers. Der alte Kaiszer war die erste Leiche gewesen, die Suchanek jemals gesehen hatte. Kaiszer hatte es hochgradig unfair gefunden, dass seine Verdienste für Führer, Volk und Vaterland im Alter nicht mit einer Zusatzpension, sondern mit einem Darmkarzinom vergolten worden waren, und sich beleidigt im Schuppen aufgehängt. Suchanek war genau hier gestanden, wo er jetzt stand, als sie ihn raustrugen und in die Blechwanne legten. Nach Kaiszers Haus kam der Graben und dahinter der Pappelwald am Ortsanfang und quasi die Rückseite der Hauptstraße. Man konnte also zumindest einigen der Bauern, die dort aufgefädelt waren, in die Höfe schauen. Dem Einser-Neuhold, dem Dreier-Kanschitz und dem Fünfer-Mantler, bei dem vor zwanzig Jahren oder so die Scheune gebrannt hatte. Suchanek öffnete die Augen.
Wie jetzt.
Wie jetzt!
Rund um die leicht schiefen Holzwände flossen zwei Feuerbäche aufeinander zu, die sich mit einem satten Fluscher zu einem Ring schlossen. Dann begannen die Flammen schnell hochzukriechen. Der Mantler brannte. Schon wieder.
Da war eine Gestalt.
Auf dem Schotterweg, der entlang des Grabens an den Höfen vorbeiführte, stand ganz am Rand des Wäldchens jemand und beobachtete einen Moment lang das Feuer. Dann verschwand die schwarze Silhouette hinter den Bäumen.
So.
Jemand müsste die Feuerwehr verständigen, dachte Suchanek. Kaum eine Minute und einen weiteren Zug vom Joint später kam ihm die bestechende Idee, dass dieser Jemand nach Lage der Dinge eigentlich auch er sein könnte. Andererseits standen um halb vier in der Nacht sicher jede Menge Wulzendorfer auf ihren Balkonen oder in ihren Gärten, weil sie ihr Gras auch nicht im Haus rauchen durften, und die alle eilten hundertprozentig in diesem Moment zu ihren Telefonen.
Wobei, was wählte man da überhaupt? Dasselbe wie in der Stadt, also … keine Ahnung was? Sollte man nicht besser gleich den Feuerwehrhauptmann anrufen? Das war ja das Schöne am Dorfleben, dass man einander kannte und zum Beispiel dem Feuerwehrhauptmann viel schonender als irgendeine anonyme Notrufzentrale beibringen konnte, dass es bitte brannte und er jetzt vielleicht aufstehen sollte, um …
Wer war denn der Feuerwehrhauptmann?
Suchanek stöhnte gequält, sog ein letztes Mal an seiner schon winzigen Kippe, schnippte sie dann über die Brüstung und taumelte, nunmehr wild entschlossen, seine Bürgerpflicht zu erfüllen, zu seinem Handy. Der Grasel musste noch wach gewesen sein, so schnell wie er abhob.
«Wer ist der Feuerwehrhauptmann?»
In diesem Moment begann eine Sirene zu heulen, wurde wieder leiser, schwoll wieder an, dreimal. Jemand war trotz der kaltblütigen und blitzschnellen Reaktion Suchaneks um einen Hauch schneller gewesen.
«Der Fünfer-Mantler», sagte Grasel. Er wohnte am anderen Ende des Dorfes und konnte unmöglich gesehen haben, wo das Feuer war.
«Woher weißt du das denn schon?»
«Was heißt ‹schon›? Seit ich denken kann, ist der Fünfer der Feuerwehrhauptmann. Sag, weißt du, wo’s brennt?»
Suchanek ging zurück zum Balkon. Neben der wabernden und knackenden Scheune konnte er jetzt drei Menschen ausmachen, die aufgeregt gestikulierten.
«Beim Mantler brennt die Scheune. Ist aber sicher eh nur Stroh drin», sagte Suchanek.
«Stroh. Dumm.» Manchmal war der Grasel witzig. Manchmal auch nicht. «Siehst du hin?», fragte er.
«Erste Reihe Balkon. Das hat sicher einer angezündet. Ich hab wen gesehen.»
«Wen?»
«Was weiß ich? Einen Menschen halt.»
«Das schränkt den Täterkreis schon einmal drastisch ein.»
«Mehr konnte ich nicht erkennen.»
«Schon wieder beim Fünfer. Dann kommen als Nächstes wahrscheinlich bald der Neuner-Ranreiter und der Palenak.»
Suchanek erinnerte sich natürlich. Damals hatten binnen weniger Wochen drei Scheunen gebrannt. Und Suchanek war das erste und einzige Mal in seinem Leben in der Zeitung gewesen. Nach dem letzten Feuer hatte einer von der «Krone» von ihm und der Susi ein kreatives Foto vor der abgebrannten Scheune gemacht. Sie zeigten darauf auf die abgebrannte Scheune. Und drunter stand dann «Wulzendorfer Kinder zeigen auf die abgebrannte Scheune». Und der ganze Artikel hieß völlig überraschend: «Scheune abgebrannt. Ein Dorf in Angst vor dem Feuerteufel!»
Wer die Stadln angezündet hatte, ließ sich nie herausfinden. Die Dorfmeinung kam schließlich überein, dass wohl einer von den drei Betroffenen die Versicherung ganz gut hatte brauchen können und die beiden anderen zur Tarnung mit abgefackelt hatte. Am ehesten traute man so etwas dem Palenak zu. Ein ewig mürrischer Kleinhäusler, der Einzige von den dreien ohne Nummer im Namen. Er hatte den Hof damals erst neu von seinem Vater übernommen, auf Bio-Landwirtschaft umgestellt und gewaltige Geldprobleme gehabt. Damals gab es das hartnäckige Gerücht, der Palenak habe eine besondere Technik entwickelt, die es ihm erlaube, in der Kirche in den Klingelbeutel nicht nur nichts reinzulegen, sondern sogar unbemerkt etwas rauszunehmen.
«Und da behauptest du, in Wulzendorf gibt es nie was Neues», sagte Suchanek.
«Ist ja auch nichts Neues. Alles vor zwanzig Jahren schon einmal da gewesen.»
«Sag, gibt’s eigentlich den Palenak noch?»
«Darf ich aus deiner Frage eine leichte Tendenz zur Vorverurteilung herauslesen?»
«Glaubst du eigentlich, dass er es damals gewesen ist?»
«Keine Ahnung. Aber einer von den drei wird’s wohl gewesen sein. Warum wäre sonst nach drei Feuern Schluss gewesen? Wenn ein richtiger Psycho mit dem Zündeln anfängt, macht der doch so lange weiter, bis sie ihn erwischen, oder? Na, jedenfalls: Ja, den Palenak gibt’s natürlich noch. Und es geht ihm sogar viel besser als früher. Jetzt, wo Bio modern ist.»
Bio, dachte Suchanek. Und dann: Grün. Und dann weiter: Gras!
«Du, übrigens», formulierte er das Ergebnis dieser beeindruckenden Assoziationskette, «ich hab nichts mehr zu rauchen.»