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Im 20. Jahrhundert haben die großen christlichen Kirchen auf höchster Ebene eine Neubesinnung auf das Judentum vollzogen. Bis heute begegnen allerdings die alten Pauschalvorstellungen in Gottesdienst und Schule: vom vermeintlich zornigen Gott des Alten Testamentes bis zu den "Pharisäern" als sprichwörtlich kleinlichen Gesetzesdienern. Dagegen hat es eine internationale Gruppe von 34 jüdischen und christlichen Wissenschaftlern gemeinsam unternommen, Irrtümer kompetent und allgemein verständlich aufzuklären: 58 Schlagwörter von A bis Z. Mit vielen überraschenden Erkenntnissen zur Bibel und zum Verhältnis von Christen und Juden. Mitwirkende unter anderen: Rabbiner Henry Brandt, Micha Brumlik, Hans Hermann Henrix, Rabbiner Walter Homolka, Hubert Frankemölle, Hanna Liss, Christian Rutishauser, Werner Trutwin, Klaus Wengst, Josef Wohlmuth
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Seitenzahl: 208
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Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen
Herausgegeben von Paul Petzel und Norbert Reck
im Auftrag des Gesprächskreises Juden und Christen
beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken
Patmos Verlag
Vorwort
Abba – Vater
Auferweckung/Auferstehung
Auge um Auge, Zahn um Zahn
Beschneidung
Bibel
Blut
Bund. Alter Bund – Neuer Bund
Christlich – Christen – Christentum
Christus
»Dabru Emet« – Redet Wahrheit!
»Den Willen unseres Vaters im Himmel tun«
Dreifaltigkeit
Erlösung/Befreiung
Erwählung/Berufung
Exodus – der Auszug aus Ägypten
Feindesliebe
Gerechtigkeit
Gnade
Gott
Gottesknecht
Gottesmörder
Heil
Hellenistisches Judentum
»Ich aber sage euch …« – die Antithesen
Israel
Jesus von Nazaret
JHWH – der Gottesname in christlichen Bibelübersetzungen
Johannes der Täufer
Judenmission
Jüdisch – Juden –– Judentum
Kreuz/Kreuzigung
Kriegsgott JHWH?
Messias/Christus
Nächstenliebe
Nostra aetate 4
Opfer
Ostern/Pessach
Passionserzählungen
Paulus
Pharisäer
Prophetie
Qumran
Rache
Reich Gottes
Reinheit/Unreinheit
Sabbat
Speisegebote – die Kaschrut
Sündenbock
Tora
Umkehr
Vergebung
Verheißung – Erfüllung
Volk Gottes
Wehe-Rufe
Wort/Logos
Zebaot
Zorn Gottes
Die Mitwirkenden an diesem Buch
Zu den Herausgebern
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Seit das Zweite Vatikanische Konzil 1965 nach dem Schrecken der Schoa die geistliche Verbundenheit »mit dem Stamme Abrahams« (Nostra aetate 4) erkannt und bekräftigt hat, hat sich im Verhältnis zwischen Christen und Juden vieles verändert. Nach Jahrhunderten, die geprägt waren von einer christlichen »Lehre der Verachtung« gegenüber den Juden (Jules Isaac), von Missionierung, Diskriminierungen, Verfolgung und Gewalt, kam es in erstaunlicher, dankbar machender Weise zu respektvollem Austausch und fruchtbaren gemeinsamen Forschungen und Diskussionen. Nicht nur gegenseitige Wertschätzung und Freundschaften entstanden bei solchen Zusammenkünften, sondern auch ein tieferes Verständnis der eigenen wie der anderen Tradition.
Auf christlicher Seite ging es dabei zunächst darum, Überlegenheitsgehabe, Herablassung und Geringschätzung gegenüber dem Judentum zu erkennen und zu überwinden. Vieles davon hatte sich über Jahrhunderte so eingeschliffen, dass man es gar nicht mehr als völlig inadäquate Sicht der Wirklichkeit wahrnahm. Das Zusammenspiel von christlicher Mission und politischer Macht ließ den gewaltsamen Umgang mit Juden oft als etwas völlig Selbstverständliches erscheinen. Und immer wieder wurden Bibelstellen herangezogen, wenn es um die Rechtfertigung von Ausgrenzungen, Zwangstaufen, Pogromen, Vertreibungen oder Entrechtung ging.
Hier vor allem galt es anzusetzen. Stand wirklich in der Bibel, was da allenthalben in ihr »gefunden« wurde? Waren die christlichen Interpretationen tatsächlich die einzig schlüssigen? Was lasen Juden in den alttestamentlichen Texten, die sie gemeinsam mit den Christen als heilige Schriften betrachteten? Was hatte es zu bedeuten, dass wohl auch die meisten Autoren des Neuen Testaments Juden waren? Und was war daraus zu schließen, dass der Apostel Paulus zeitlebens auf seiner jüdischen Identität beharrte und sie bei aller Liebe zu Christus niemals aufzugeben gedachte?
Es zeigte sich, dass eine neue, kritische Lektüre der Bibel imstande war, die in Jahrhunderten angesammelten Verzerrungen sozusagen von der Wurzel her aufzubrechen und durch neue Perspektiven zu ersetzen. Das Konzil sah es ähnlich, wenn es daran erinnerte, dass die Heilige Schrift das bleibende Fundament aller Theologie sei, aus der sie Kraft gewinne und sich ständig verjünge (Dei Verbum 24).
So kam es in vielen Teilen der Welt zu fruchtbaren Gesprächen und wissenschaftlichen Anstrengungen im Geist des Dialogs. Über Jahrhunderte falsch gelesene Bibelstellen erschienen in neuem Licht; Verzeichnungen der »Anderen« konnten geradegerückt werden; und die Einsicht, wie die Geschichte aus Macht, Gewalt und Verfolgung nicht nur das Miteinander zwischen Juden und Christen vergiftete, sondern auch zu irrigen theologischen Vorstellungen führte, eröffnete neue Wege der Verständigung. In kurzer Zeit füllten die neu gewonnenen Erkenntnisse ganze Fachbibliotheken.
Allerdings blieb die Freude am gemeinsamen Entdecken und Lernen meist auf die direkt Beteiligten an solchen Dialogen begrenzt. Nur wenig von den Erträgen ist bislang an der christlichen Basis, in den Gemeinden angekommen. Sei es, weil die in Gemeinde und Schule Tätigen einfach nicht die Zeit haben, die umfangreiche Forschungsliteratur zum christlich-jüdischen Verhältnis zu studieren; sei es, weil interessierte Laien oft genug vor komplexen wissenschaftlichen Abhandlungen kapitulieren müssen. Und so bestehen zahlreiche Irrtümer über das Judentum unter Christen weiter fort. Nicht weil diese an den neuen Erkenntnissen kein Interesse hätten, sondern weil sie einfach keinen Zugang zu den nötigen Informationen haben.
Das wollen wir ändern!, sagten wir vor ungefähr drei Jahren im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Wir wollen einige der wichtigsten Erkenntnisse aus jüdisch-christlichen Forschungen auch für interessierte Nichtfachleute und vielbeschäftigte Gemeindemitarbeiter in knapper und verständlicher Form zugänglich machen. Für Bibelleser und Bibelkreise, die Hintergründe kennenlernen wollen, für Katecheten, Pfarrer und Lehrerinnen, die Gottesdienste oder Unterricht vorzubereiten haben.
So entstand dieses Buch: als eine Sammlung von kurzgefassten Stichwörtern aus Gebieten, in denen Judentum und Christentum einander berühren. Jedes Stichwort erläutert die Irrtümer, die sich oft hinter einem Begriff verbergen, analysiert, was wirklich dahinter steckt, und entfaltet Perspektiven für eine neue, respektvollere Lektüre. Wir hoffen, dass dieses Buch ein Begleiter für das Bibelstudium sein kann und dass es für alle, die im aufreibenden Alltag der Verkündigungspraxis und des Unterrichts stehen, einen festen Platz auf dem Schreibtisch bekommt: zum schnellen Nachschlagen neben Kalender, Telefon und PC-Tastatur. Damit sich etwas vom Befreienden der jüdisch-christlichen Verständigung weiter herumspricht.
Die Texte, die Sie in diesem Buch finden, sind etwas Besonderes: Sie sind nicht einfach von einzelnen Personen geschrieben worden. Sie alle haben einen längeren Prozess der Entstehung hinter sich. Anerkannte Fachleute – aus dem Gesprächskreis Juden und Christen, aber auch aus anderen Dialog-Zusammenhängen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – verfassten zunächst erste Versionen zu den verschiedenen Stichwörtern. Von den Herausgebern auf gute Verständlichkeit und Kürze überprüft (und gegebenenfalls überarbeitet), wurden sie dann mehreren jüdischen und christlichen Mitgliedern des Gesprächskreises zur Durchsicht und Kommentierung vorgelegt. Die Kommentatoren trugen in die Texte ein, was ihnen fehlte, und merkten an, was aus ihrer Sicht anders gesagt oder anders gesehen werden müsste. Die Herausgeber versuchten dann, diese Anmerkungen in die Stichwörter aufzunehmen und so neue lesbare Versionen zu erstellen. Manchmal mussten auch zusätzliche Einschätzungen eingeholt werden, um bei Unklarheiten voranzukommen. Den ursprünglichen Plan, den Namen des Autors am Ende eines Stichworts anzugeben, mussten wir fallen lassen: Kein Stichwort hat nur einen Autor, überall haben fünf oder mehr Personen mitgewirkt.
Alle Texte veränderten sich in diesem Prozess – ausnahmslos. Die unterschiedlichen kritischen Blicke von Christen und Juden hinterließen Spuren, die die Texte reichhaltiger und genauer machten. Ein Konsens entstand dabei aber nicht. Wir stellten bald fest: Auch wenn wir uns noch einige Monate oder Jahre zusätzlich Zeit genommen hätten, um alle Einwände und Anfragen zu diskutieren und alle Kritikpunkte auszuräumen, wären wir kaum zu größerer Übereinstimmung gekommen. Das liegt in der Natur der Sache: Die Auseinandersetzung mit der Bibel und den Traditionen, die daraus entstanden sind, ist nicht einfach auf dem Weg der Diskussion oder des Beschlusses zu einem Ende zu bringen. Immer wieder tauchen neue Aspekte auf; immer wieder werfen Entwicklungen der Gegenwart ein anderes Licht auf jahrtausendealte Schriften. Und niemand – nicht im Gesprächskreis Juden und Christen noch anderswo – hätte die Autorität, den definitiven Sinn eines biblischen Textes festzulegen. Die Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften ist ein offener Prozess; er wird niemals abschließbar sein.
In diesem Buch sind also keine autoritativen Stellungnahmen eines offiziellen jüdisch-christlichen Gremiums zu finden – es handelt sich vielmehr um Zwischenergebnisse aus Dialogen von Juden und Christen. Nach dem Erscheinen dieses Buches geht die Diskussion weiter. Übrigens war es auch keineswegs so, dass bei Meinungsverschiedenheiten die Juden geschlossen auf der einen und die Christen auf der anderen Seite gestanden hätten. Verschiedene Christen vertraten unterschiedliche Ansichten, verschiedene Juden fanden ganz unterschiedliche Sätze richtig oder falsch. Wir haben gelernt: Kein Text in diesem Buch stellt alle gleichermaßen zufrieden, und Einstimmigkeit ist auch nicht das, was wir anstreben sollten. Worum es sich aber immer zu bemühen gilt, ist, mit unseren Unterschieden zu leben und mit unseren unvollkommenen Arbeiten Geduld zu haben. Dass wir hier nichts Endgültiges zustande bringen, gehört zu unserem Menschsein und ist kein Beinbruch, solange wir weiter auf dem Weg und im Gespräch bleiben. Neugier auf andere Auffassungen ist allemal vielversprechender als der Drang zur Einmütigkeit.
Zur Unvollkommenheit dieses Buches gehört auch, dass manche manches darin vermissen werden. Es ist kein Kompendium für alle Fragen der christlich-jüdischen Verständigung. Es ersetzt keine christliche Theologie des Judentums. Es kann und will auch nicht systematisch die vielen Fragen, die bis ins Innerste christlicher Identität reichen, aufarbeiten. Die Sammlung der Stichwörter, die wir alphabetisch geordnet haben, spricht Punkte an, die uns immer wieder begegnen und bekümmern. Wir hätten uns gewünscht, dass uns nicht so viele Begriffe eingefallen wären, die mit Klischees und Vorurteilen verstellt sind. Und wir wissen, dass noch mehr davon in diesem Buch stehen könnten. Das ist unsere Situation: Wir stehen bis heute im Wirkungsfeld der etwa 17 Jahrhunderte währenden christlichen Judenfeindschaft, und oft genug wiederholen wir Christen selbst ihre Versatzstücke, meist ohne es zu ahnen und zu wollen! Wenn das Buch hier einigen Lesern Aha-Effekte beschert und zu genauerem Hinsehen anregt, sind wir schon glücklich.
Unglücklich waren indes etliche unserer Autoren, die gerne zu jedem einzelnen Stichwort mehr und Genaueres geschrieben hätten. Als Herausgeber konnten wir das nicht zulassen und haben damit vielen Bauchschmerzen bereitet. Warum sollte man die Dinge einfacher ausdrücken, als sie sind, fragten uns manche. Unsere Antwort war stets dieselbe: Damit endlich etwas von dem gesammelten Wissen der letzten Jahre auch außerhalb des wissenschaftlichen Elfenbeinturmes ankommt. Nicht alle Leser haben genügend Zeit und Energie, allen Differenzierungen der wissenschaftlichen Diskussion nachzugehen; sie wollen aber trotzdem etwas lernen und mehr verstehen. Ihnen fühlten wir uns in besonderem Maße verpflichtet.
Wir hoffen darum, dass die Lektüre dieses Buches nicht nur eine Zumutung neuer und ungewohnter Sichtweisen ist, sondern auch das Vergnügen des Lernens und der Horizonterweiterung bereitet. Die zahlreichen Verweispfeile in den einzelnen Texten wollen es ermöglichen, genau dort weiterzulesen, wo die nächste Neugier am größten ist. So kann man auch durch das Buch »surfen«, wenn man nicht nach einer bestimmten Information sucht.
Im Gesprächskreis haben wir beschlossen, auf inklusive Sprache zu verzichten; das Risiko der Ermüdung, immer wieder von »Jüdinnen und Juden«, »Christinnen und Christen« lesen zu müssen, erschien uns größer als der Gerechtigkeitsgewinn, den die Verdoppelung der Subjekte verspricht, die weder Mut noch Anstrengung kostet. Gemeint sind bei allen Formulierungen immer alle Geschlechter, und ein Blick in die Literaturangaben am Ende der Stichwörter mag zeigen, dass die Leistungen von Frauen nicht ignoriert wurden.
Nicht vereinheitlicht haben wir die Pluralität in den Bezeichnungen für den Tanach, das Alte oder Erste Testament, die jüdische oder Hebräische Bibel. Die Vielfalt der Ausdrücke scheint uns präzise zu spiegeln, dass wir uns heute mitten in einem Prozess der Neuorientierung und der Suche nach Verständigung befinden, einem Prozess, der ebenfalls nicht per Beschluss zu beenden ist. Nicht das Beenden ist das Ziel dieses Buches, sondern der Anfang – der Anfang neuer Auseinandersetzungen, neuer Gespräche und neuer Sichtweisen.
Allen Autoren und Kommentatoren, die zum Zustandekommen dieses Buchs mit Scharfsinn, Geduld, Flexibilität und Leidenschaft beigetragen haben, gilt unser herzlicher Dank. Ihre Namen sind am Ende des Bandes verzeichnet. Besonders danken möchten wir an dieser Stelle Frau Dr. Edna Brocke und Herrn Professor Hubert Frankemölle: Ohne ihr unermüdliches Engagement bei der Durchsicht der Texte hätte dieses Buch so nicht entstehen können. Selbstverständlich gehen alle verbliebenen Fehler zu Lasten der Herausgeber.
Der Deutschen Bischofskonferenz, der Buber-Rosenzweig- wie der Born-Waldenfels-Stiftung sowie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken danken wir herzlich für die freundliche Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Sie haben es ermöglicht, das Buch für alle Interessierten zu einem besonders günstigen Preis erhältlich zu machen.
Für viele der an den christlich-jüdischen Gesprächen Beteiligten war nach dem Entsetzen über die Schoa, den millionenfachen Mord an den europäischen Juden, die Motivation ausschlaggebend, dass mit aller Kraft an einer neuen Ära des Respekts und der Verständigung zwischen Christen und Juden gearbeitet werden müsse. Dabei bleibt es auch in Zukunft. Dennoch gilt es einem Missverständnis vorzubeugen: Nicht wegen des nationalsozialistischen Massenmordprogramms sollen oder dürfen heute bestimmte Dinge über das Judentum nicht mehr gesagt werden – sondern einfach, weil sie falsch sind. Gottesmordvorwürfe und Rachegottfantasien sind nicht erst heute Unsinn, sondern waren es immer. Die Schoa verpflichtet uns alle zur Achtung vor den Ermordeten und zur Solidarität mit ihren Angehörigen und Nachkommen. Aber Redlichkeit und intellektuelle Aufrichtigkeit verpflichten Christen – nicht erst heute – zu einer ehrlichen Lektüre ihrer heiligen Schriften und zum Widerspruch gegen Verzerrungen und Verleumdungen des Judentums.
Veränderungen sind möglich! Vor Jahrhunderten machte sich die christliche Theologie noch ernsthaft Gedanken darüber, ob Frauen eine Seele hätten oder ob die Ureinwohner der europäischen Kolonien wirklich Menschen seien. Solche Erwägungen erscheinen uns heute völlig absurd. Unser Traum geht dahin, dass die Verachtung, die Ressentiments und der Hass gegenüber Juden uns in nicht allzu ferner Zukunft ebenso fremd vorkommen mögen. Wir wünschen anregende Lesestunden.
Paul Petzel Norbert Reck
Jesus, so heißt es oft, habe mit der aramäischen Anrede »Abba« an seinen Gott ein ganz besonderes, einzigartiges Gottesverhältnis zum Ausdruck gebracht. »Abba« heiße so viel wie »Papa«. Jesus habe sich voller Zärtlichkeit und Vertrauen an Gott gewandt, wie ein Kind sich an seinen Vater wendet, und er habe damit einen Gott der Liebe bezeugt, der sich vom Gottesverständnis Israels deutlich abhebe. Der Neutestamentler Joachim Jeremias war sogar der Meinung, dass die Botschaft Jesu damit »aller Religiosität seiner Zeit widersprach, ja das Ende des Judentums war«1.
Diskussion: Für die Gottesanrede »Abba« aus dem Munde Jesu gibt es nur eine einzige Belegstelle (Mk 14,36). Meist spricht Jesus nach den Evangelien schlicht von →Gott oder vom »himmlischen Vater«. »Abba« ist darüber hinaus keine Anrede, die nur Jesus verwendet hat, sie ist auch nicht mit »Papa« zu übersetzen, sondern einfach das übliche Wort, das erwachsene Juden zur Zeit Jesu gebrauchten, um sich sowohl an ihren Vater als auch an Gott zu wenden (was bis heute im Judentum gebräuchlich ist). Der Ausdruck findet sich in den griechischen Bibelübersetzungen der Juden wie in anderen frühjüdischen Schriften, in pharisäisch-rabbinischen Gebeten ebenso wie in den Targumim, den jüdisch-aramäischen Bibelkommentaren und -übersetzungen aus der Zeit Jesu. Man wird angesichts dieser alltäglichen Verbreitung darin kaum ein einzigartiges Gotteszeugnis des Jesus von Nazaret sehen können. Die Wortkombination »Abba, patér« (»Abba, Vater« – und nur in dieser Kombination kommt Abba im Neuen Testament vor; neben Mk noch zweimal bei Paulus: Röm 8,15; Gal 4,6) war möglicherweise ein bewusstes Gegenstück zum im Römischen Reich verbreiteten »Zeus, patér«. Mit dem Ausdruck »Abba, patér« antworteten wahrscheinlich Christen aus anderen Völkern im griechischen Kulturraum auf die Frage, wer denn ihr Gott sei: der Gott Israels.
Perspektiven: Die Gottesanrede »Abba« hebt Jesus nicht aus dem Judentum seiner Zeit heraus, sondern verbindet Jesus zutiefst mit ihm. In der Zeit des Hellenismus (→Hellenistisches Judentum) und der römischen Besatzungsherrschaft, d. h. der kulturellen Konfrontation mit zahlreichen anderen Göttern des Mittelmeerraums, verrät die Gottesanrede »Abba« keine Abkehr vom Gott Israels, sondern im Gegenteil das bewusste Bekenntnis zu jenem Gott, der nicht wie Zeus Unterwerfung fordert, sondern sein Volk »aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt« (Jos 24,17 u. ö.; →Exodus) hat.
1 Joachim Jeremias, Der gegenwärtige Stand der Debatte um das Problem des historischen Jesus, in: Helmut Ristow/Karl Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1961, 12–25, hier 21.
Literatur: Martina Gnadt, Abba isn’t Daddy. Aspekte einer feministisch-befreiungstheologischen Revision des ›Abba Jesu‹, in: Luise Schottroff/Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden 1996 · Georg Schelbert, ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den späten Haggada-Werken, Göttingen 2011 · Angelika Strotmann, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften, Frankfurt am Main 1991.
Die Auferweckung Jesu (mit etwas anderer Bedeutung auch »Auferstehung«) steht im Zentrum des christlichen Glaubens. Sie ist das zentrale Thema in fast allen Büchern des Neuen Testaments. Alle Texte bezeugen, dass der Tod des Gekreuzigten nicht sein endgültiges Ende war, sondern dass Jesus am dritten Tag nach seinem Tod von Gott erweckt worden ist und bei Gott lebt. Mit diesem Glauben ist eine große Hoffnung verbunden, weil damit auch die Auferweckung aller Menschen verheißen ist. Aufgrund dieser herausragenden Bedeutung nehmen viele Christen an, der Auferstehungsglaube sei ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. Er sei erst durch das Neue Testament in die Welt gekommen.
Diskussion: Das Neue Testament und ebenso die jüdischen Zeugnisse aus derselben und aus älterer Zeit zeigen, dass der Auferweckungsglaube zur Zeit Jesu schon im Judentum lebendig war und seine Wurzeln in der früheren jüdischen Geschichte hat. Schon im ältesten neutestamentlichen Zeugnis für den Auferweckungsglauben (1 Kor 15,3f) aus dem Jahr 56/57 sagt →Paulus, dass Jesus am dritten Tag »gemäß der Schrift« auferweckt wurde. Damit verweist Paulus klar auf das Buch, das Christen Altes Testament und Juden Tanach nennen (→Bibel). Während die Gruppe der Sadduzäer den Auferstehungsglauben ablehnt (Mt 23,23), weil er nicht explizit in der →Tora steht, teilt Jesus mit den →Pharisäern diesen Glauben.
Der Glaube an die Auferstehung ist schon für die frühhellenistische Zeit (3.–2. Jh. v. Chr.) nachweisbar. Im Zweiten Makkabäerbuch findet sich die Geschichte vom Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter sowie von ihrem Glauben an die Auferweckung nach dem gewaltsamen Tod. »Als der zweite [Sohn nach schrecklichen Qualen] in den letzten Zügen lag, sagte er [zu König Antiochus IV.]: Du Unmensch! Du nimmst uns dieses Leben; aber der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Tora gestorben sind.« (2 Makk 7,9) Denjenigen also, die →Gott bezeugen, treu an seiner →Tora festhalten und wegen dieser Treue ermordet werden, erweist sich Gott mit der Aufweckung als treu und gerecht. Mit Paulus glauben auch die Christen an jenen Gott, »der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft« (Röm 4,17). Es geht um die Macht Gottes, die nicht an der Todesgrenze endet.
Wie man sich die Existenz der Auferstandenen vorstellen soll – ob »nur« in einer Seele oder leiblich, in welcher Verfassung: ob mit Gebrechen oder ohne usw. –, wurde und wird unter Juden wie unter Christen kontrovers diskutiert. »Kein Auge hat es gesehen außer Gott allein«, erinnert der Talmud. (Berachot 34b). Wichtig für die Rabbinen ist bei all dem aber, dass ein verantwortungsvolles Leben der Menschen sich auch über die Todesgrenze hinaus auswirkt. So werden auch »die Gerechten aus den [nichtjüdischen] Völkern« auferweckt. Die Hoffnung besteht in erster Linie darin, Anteil zu erhalten an der »kommenden Welt« bzw. an den »Tagen des Messias«. Da die Ankunft des Messias vom Ölberg her (Sach 14,4) erwartet wird, lassen sich manche Juden hier bestatten, weil sie dem Messias gleich nahe sein wollen, wenn er kommt. Der Brauch, Erde aus dem Land →Israel auf ein Grab in der Diaspora zu legen, verdeutlicht, wie auch die Hoffnung auf Auferweckung aus der biblischen Verheißungsgeschichte erwachsen ist.
Perspektiven: Im Vertrauen und Hoffen auf die Auferweckung vom Tode stehen Juden und Christen Seite an Seite, auch wenn Christen im auferweckten Gekreuzigten schon das »Angeld« auf die Auferweckung aller erkennen (1 Kor 15,13). Die enge Verbindung des jüdischen Auferweckungsglaubens mit einem toragemäßen Leben könnte auch für Christen inspirierend sein und an die Nähe von Auferweckung und Verantwortung im jüngsten Gericht erinnern, die auch im christlichen Glaubensbekenntnis bezeugt wird.
Literatur: Art. Auferstehung, jüdisch, in: Lexikon der Religionen (hg. von Hans Waldenfels), Freiburg 41999 · Johann Maier, Judentum, Glauben von A bis Z. Geschichte, Kultur, Freiburg 2001 · Julius H. Schoeps (Hg.), Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh 2000 · Werner Trutwin, Judentum, München 2011.
Inwieweit die Gesellschafts-, Menschen- und Gottesbilder der jüdischen →Bibel (bei Christen »Altes Testament« genannt) im Christentum Aufnahme fanden, wird unterschiedlich gesehen. Gewiss sprechen Christen aber zuweilen bis heute vom »Rachegott« des Alten Testaments, im Gegensatz zum eigenen, christlichen »Gott der Liebe«. Als »Beleg« für diesen Gegensatz wird häufig die Wendung »Auge um Auge, Zahn um Zahn …« (Ex 21,22–27; Lev 24,17–22; Dtn 19,15–21) angeführt. Sie wurde – und wird bis heute – bei Nichtjuden als biblisch-jüdische Aufforderung zur Rache gedeutet; sie fand Eingang in die europäische Kultur und wird immer wieder von Journalisten, Literaten und Wissenschaftlern gebraucht.
Diskussion: Bei allen drei Belegstellen dieser Wendung handelt es sich um die sogenannte Talionsformel, der zufolge die Bestrafung dem Vergehen entsprechen soll. Nach überwiegender rabbinischer und historisch-kritischer Auffassung verlangte die Talionsformel (a) vom Täter einen angemessenen Schadensersatz in allen Fällen von Körperverletzung, um die im Alten Orient verbreitete Blutrache einzudämmen, und (b), diese durch eine Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Strafe abzulösen. Das hebräische Original legt deshalb die Übersetzung »Auge für Auge …« nahe, weil es schon sprachlich deutlich macht, dass es um »Ersatz« geht. Für ein (verlorenes) Auge geht es erstens um den Gegenwert eines Auges und zweitens um den Gegenwert nur eines Auges. Dies in einer Umwelt, die nur die Blutrache kannte.
Bereits die frühe Kirche deutete diese Bibelstellen fälschlich als Aufforderung zur Rache und nutzte sie zur Kampfansage gegen das Judentum. Diese Fehldeutung hat sich inzwischen verselbständigt und wird in der säkularen Welt leider im selben Kampfgeist weiterhin verwendet. Die biblischen Erwähnungen der Talionsformel weisen hingegen auf anderes hin:
1. Der Text in Ex 21,22–27 steht im Rahmen der ausführlichen Bestimmungen zum biblischen Grundgesetz des Zehnworts (der »Zehn Gebote«): Der Geschädigte muss sich an die Richter wenden, darf sich sein Recht nicht selbst verschaffen.
2. Im Buch Levitikus finden sich zahlreiche juristische Vorgaben zur Todesstrafe, darunter auch in Kapitel 24,17–22. Anders als in der griechischen oder römischen Ordnung unterscheidet das biblische Recht nicht zwischen Rechtsansprüchen von Bürgern und Fremden (Ex 23,1–9; Dtn 10,17–19 und 16,18–20). Die Ansprüche gelten für alle gleich.
3. Das biblische Recht ist Zeugenrecht. Eine gerichtliche Verhandlung kann nur aufgrund von Tatzeugen stattfinden. (Im germanischen Recht wie auch im Kirchenrecht hingegen ist das Geständnis des Beschuldigten notwendig; darin lag der Grund für wiederholte Folter, um eine Aussage des Angeklagten zu erpressen.) Die Stelle Dtn 19,15–21 ist ein Hinweis auf diesen Aspekt. Dort, wo Aussage gegen Aussage steht, ist – nach biblisch-jüdischem Recht – das Gericht nicht zuständig. Nur wer Zeugen beibringen konnte, hatte einen Rechtsfall, der vor Gericht verhandelt werden konnte – weshalb das gesamte Rechtssystem von der Verantwortung der Zeugen abhing.
Perspektiven: Für alle drei biblischen Quellen gilt, dass »Auge für Auge« keine Anweisung zur Rache, sondern eine Vorschrift zum Schutze des Schwächeren gegen Gewalttäter ist. Soweit die biblische Grundlage. Die langjährige nachbiblische jüdische Auslegungstradition legte sehr früh fest: »Der juristische Grundsatz lautet Auge für Auge – das ist Entschädigung.« (mBaba Kama, VIII.1).
Literatur: Zur Talionsformel, zu Schadensersatz, Blutrache und Verhältnismäßigkeit vgl. die entsprechenden Einträge im Online-Lexikon Wikipedia unter www.de.wikipedia.org. Der Text des Mischnatraktats Baba Kama ist zugänglich in: M. Krupp (Hg.), Die Mischna: Schädigungen – Seder Neziqin, Frankfurt am Main 2008.
Nach dem Urteil des Kölner Landgerichts von 2012, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen in Deutschland als Körperverletzung einzustufen sei und somit eine Straftat darstelle, entlud sich eine monatelange heftige öffentliche Debatte. Ist Beschneidung nicht ein barbarischer archaischer Brauch? Ist die Beschneidung von Jungen nicht ebenso eine gewalttätige Verstümmelung wie die Beschneidung der Genitalien von Mädchen in manchen Teilen Afrikas? Besonders die religiösen Aspekte der Beschneidung im Islam und im Judentum erhitzten die Gemüter. Dass in den USA die allermeisten neugeborenen Jungen (nicht nur die jüdischen und muslimischen) aus medizinisch-hygienischen Gründen beschnitten werden, erregt dagegen kaum Anstoß. Die Juden in Deutschland aber sahen im Kölner Urteil ihr Verbleiben im Lande – erstmals nach der Schoa – ernsthaft in Frage gestellt. Darum beschloss der Deutsche Bundestag bald darauf, dass die Beschneidung aus religiösen Gründen unter Wahrung medizinischer Standards weiterhin erlaubt bleiben solle (§ 1673 BGB). Welche Bedeutung hat die Beschneidung im Judentum?
Diskussion: Die Beschneidung von Jungen gab es seit jeher und gibt es bei vielen Völkern. Im Judentum ist die Brit Mila (»Bund der Beschneidung«) seit dem babylonischen Exil (6. Jahrhundert v. Chr.) generell jüdische Praxis. Sie wurde zu einem elementaren Identitätsmerkmal der Juden. Grundgelegt ist das Gebot der Beschneidung in der →Tora als Zeichen des →Bundes Gottes mit Abraham und seinen Nachkommen: »Und Gott sprach zu Abraham: Du aber halte meinen Bund, du und deine Nachkommen, Generation um Generation. Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden« (Gen 17,9–12a).
Richtig ausgeführt beeinträchtigt die Beschneidung der Vorhaut Jungen nicht in ihren körperlichen und sexuellen Funktionen – ganz anders als die zu missbilligende Beschneidung der Genitalien von Mädchen, die auf die Zerstörung ihrer sexuellen Empfindungsfähigkeit ausgerichtet ist.