Von hier aus kann man die ganze Welt sehen - Enne Koens - E-Book

Von hier aus kann man die ganze Welt sehen E-Book

Enne Koens

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Beschreibung

Dee lebt mit ihrer Mutter in einem Hochhaus am Rande der Stadt. Dee liebt ihr Zuhause mit seinen Bewohnern aus aller Welt. Eines Tages findet sie auf der Straße einen Brief; Empfänger und Absender sind unleserlich. Dee wittert ein Geheimnis, denn der Brief ist von jemandem, der jemanden sehr vermisst. Mit Vermissen kennt Dee sich aus: Ihre Mutter ist so anders als sie, dass Dee sich fragt, ob sie vielleicht adoptiert ist? Zusammen mit ihrem besten Freund Vito macht sie sich auf die Suche nach dem Empfänger des Briefes. Sie begegnen den unterschiedlichsten Menschen. Aber jede Begegnung wirft neue Fragen auf … Eine poetisch und mitreißend erzählte Geschichte, in der es um die Frage aller Fragen geht, die der eigenen Herkunft.

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Enne Koens

Von hier aus kann man die ganze Welt sehen

Aus dem Niederländischen von Andrea KluitmannMit Bildern von Maartje Kuiper

Für Chrisje, die Familie wurde

Inhalt

Prolog

Der Brief

Mein Liebling

Meine Mutter und ich

Grazia

Mama Veronica

Kevin und Vito

Vuk

Grazia

Vito

Der Mann der Hexe

Das Foto

Herr Mo

Bilal

Kevin

Mama

Vito

Mama

Der Brief

Elly

Mama

Welmoed

Vito

Mama

Kevin

Mama

Dena

Vito, Kevin und ich

Denzel

Dank

Prolog

Diese Geschichte fängt an einem ganz normalen Samstag an.

Nein, eigentlich fing sie schon viel früher an. Sie muss in dem Moment angefangen haben, als meine Mutter meinen Vater sah. Oder war es mein Vater, der meine Mutter sah? Ich weiß es nicht, ich war nicht dabei. Aber in dieser Sekunde fing meine Geschichte an. Ja, denn wenn meine Mutter meinen Vater nicht gesehen hätte oder mein Vater meine Mutter nicht, dann hätten sie jemand anderen gesehen und dann wäre ich jemand anders. Dann wäre ich nicht ich und ich hätte mich auch nicht auf die Suche gemacht und dann …. Halt, Deetje, nicht abschweifen.

An einem ganz normalen Samstagnachmittag fand ich einen Brief. Er war nicht an mich gerichtet, aber es war gut, dass ich ihn fand. Denn durch diesen Brief fing ich an, Fragen zu stellen. Für wen war dieser Brief bestimmt? Und wer hatte ihn geschrieben? Ich musste mich einfach auf die Suche machen.

Da, in diesem Moment, wusste ich noch nicht, wie groß meine Suche würde. Ich wusste auch nicht, dass ich unterwegs war zu einer noch viel größeren Frage. Je mehr Fragen ich stellte, desto größer wurde das Geheimnis. Hinter jeder Frage versteckte sich die nächste. Bis ich bei der Frage aller Fragen landete: Wer bin ich?

Der Brief

Es ist Samstag und wir stehen beim Metzger. Mama hat gerade bezahlt, sie steckt das Wechselgeld in ihr Portemonnaie.

Der Metzger schneidet eine Scheibe Wurst ab. »Magst du Wurst?«

Ich nicke und strecke die Hand aus.

»Unsinn, keine Wurst«, sagt meine Mutter. »Die haben wir nun wirklich selbst.« Sie schwenkt die Papiertüte, die der Metzger ihr gerade gegeben hat.

Die Scheibe Wurst hängt bebend in der Luft.

Der Metzger lässt die Hand auf die Theke zurückfallen. Meine Mutter dreht sich um. Die Ladenklingel an der Tür bimmelt. Sie ist weg.

Dann stehen der Metzger und ich zusammen in seinem Laden.

Ich sehe ihn an. Er bewegt sich nicht und ich kann an seinem Gesicht nicht erkennen, was er denkt. Aber plötzlich sehe ich in seinen Augen etwas aufleuchten, ein Schiff auf dem Meer, das sich allmählich nähert. Und dann passiert alles gleichzeitig. Er kräuselt die Lippen, seine dicken Wangen blasen sich auf und er kneift ein Auge zu. Er zwinkert mir zu. Ich spüre, wie mein Gesicht anfängt zu glühen.

»Wurst?«, fragt er.

Ich werfe einen schnellen Blick zurück über die Schulter. Mama wartet auf mich, aber sie schaut nicht. Ich strecke die Hand aus, um die Wurst anzunehmen. »Danke schön.« Eilig stopfe ich mir die Wurstscheibe in den Mund.

»Gern geschehen«, sagt er zufrieden.

Hinter mir klopft meine Mutter an das Schaufenster der Metzgerei. Ich kaue unsichtbar.

»Deetje!« Sie winkt ungeduldig. »Dee!«

Ich hebe die Hand, sage noch einmal: »Danke schön«, und drehe mich um. Wieder ertönt die Ladenklingel.

»Tschüs, Deetje«, sagt der Metzger. »Kommst du dir bald mal wieder eine Scheibe Wurst holen?«

Ich nicke und husche schnell aus dem Geschäft.

Auf der Straße laufe ich hinter meiner Mutter her, die Wurst sicher in meinen Backentaschen. Mit den Schuhspitzen ziehe ich Linien über die Steine, das macht schöne Geräusche.

»Lass das«, sagt meine Mutter. »Sonst kann ich nächste Woche wieder neue kaufen.« Sie fischt ein paar Umschläge aus ihrer Tasche, um sie in den roten Briefkasten zu werfen.

Ich stecke die Hand in den Schlitz für »Andere Orte« und lasse die schwarzen Plastikzähne an meinen Fingern vorbeiklappern. Mama geht weiter.

»Darf ich mal kurz?«

Die Stimme kommt von oben, ich erschrecke, aber dann erkenne ich sie.

Sie gehört zu Bilal, dem Postboten.

»Ich will dich nicht verjagen«, sagt er, »aber es ist Zeit.« Er klopft auf seine Armbanduhr und im selben Moment fängt die Kirchturmuhr an zu schlagen.

Wir zählen mit. Eins, zwei …

Ich kenne Bilal gut, er ist schon sehr lange unser Postbote. Wenn er die Briefkästen im Hochhaus füllt und ich zufällig unten in der Halle rumhänge, quatschen wir immer ein bisschen. Er hat zum Beispiel mal erzählt, dass er keine Freundin hat, aber schon gern eine hätte. Bilal war auf der Suche. Er trug knallige spitze Schuhe unter seiner Briefträgeruniform und gab sich viel Mühe mit seinem Ziegenbärtchen. In der Brusttasche der Uniform steckte eine glänzende Pinzette, und wenn er eine Haustür sah, nutzte er die Fensterspiegelung, um an seinem Bart herumzuzupfen. Das habe ich oft gesehen. Er erzählte, er würde sich in Kneipen verabreden, wo er hübschen Mädchen bunte Getränke holte und sich total anstrengen musste, lauter zu schreien als die Musik, um herauszufinden, ob sie Haustiere hatten oder vielleicht allergisch waren, ob sie Lammrippchen mochten oder lieber Salat aßen, oder was auch immer sie gern erzählen wollten. Jede Woche wieder war er enttäuscht. Es war auch wirklich schwierig, meinte er, denn er war mal mit Grazia zusammen gewesen. Und Grazia war berühmt, welches andere Mädchen hätte da heranreichen können? Trotzdem hatte er eines Tages plötzlich eine Freundin. Sie war ganz anders als der Rest und Bilal warf seine Briefe tanzend in die Briefkästen. Er war verliebt.

Wir warten, bis die Kirchturmuhr verstummt. Vier. Fünf. Bilal will den Briefkasten schon aufmachen. Sein Gesicht ist längst nicht so fröhlich wie sonst.

»Ich muss schnell sein, Deetje«, sagt er. »Und du hast mich nicht gesehen, klar?«

»Warum nicht?«, frage ich.

»Ich hätte ihn gestern schon leeren müssen, aber alles ging drunter und drüber und ich bin an diesem Briefkasten vorbeigefahren. Ich leere ihn jetzt noch schnell, sonst passt am Wochenende nichts mehr rein.«

»Ist alles in Ordnung bei dir?«, frage ich.

Bilal lässt die Arme sinken. »Ach, Deetje«, seufzt er. »Frag lieber nicht.«

»Was ist denn passiert?«

»Sie will verreisen.«

»Das ist doch schön.«

»Wenn das alles wäre. Aber sie will jede Woche etwas anderes. Jetzt möchte sie eine Kreuzfahrt nach Lappland machen.«

»Ist das weit weg?«

»Das weiß ich nicht, aber es kostet ein Vermögen, also wird es wohl nicht hier in der Nähe sein. Und gestern, als ich gerade hier um die Ecke war, rief sie an und sagte, es würde so nicht länger gehen, ich müsse mich jetzt entscheiden. Darf ich da mal kurz ran?« Mit einem Minischlüssel öffnet er den Briefkasten. Gleichzeitig hält er einen großen Postsack darunter. Alle Einladungen, Rechnungen, bösen Briefe, Liebesbriefe, Mahnungen, herzlichen Grüße und Drohungen fallen wie ein Wasserfall aus dem Briefkasten. Der Postbote fängt sie alle auf. Als die Briefe mit dem Fallen fertig sind, bindet er den Sack zu und wirft ihn hinten in sein orangefarbenes Auto.

»Wenn das zu teuer ist, musst du das einfach sagen.«

Bilal seufzt. »Nein, Dee, so funktioniert das nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich muss einen guten Eindruck machen.«

»Pfff«, mache ich. »Mit Geld, das du nicht hast, oder wie?«

Bilal schluckt. »Okay, du hast ja recht.« Er schaut furchtbar enttäuscht. Dann zuckt er die Achseln, springt in sein Auto und winkt mir zu. »Bis Montag!«

Er braust davon.

Ich bleibe allein zurück. Unruhig suche ich die Straße ab, ob ich die Jacke meiner Mutter sehe. Wo ist sie nur?

In diesem Moment fängt es an zu regnen.

Ich schaue mich noch mal nach allen Seiten um, aber ich sehe sie nirgends. Bestimmt ist sie weitergegangen. Gerade als ich beschließe, nach Hause zu rennen, sehe ich ihn.

Den Brief.

Er liegt vor mir auf dem Boden. Der Umschlag ist klein, hellblau und hebt sich scharf ab gegen die grauen Gehwegplatten. Erst traue ich mich nicht, ihn aufzuheben. Unentschlossen schaue ich mich um, aber Bilals Auto ist längst verschwunden, weiter zum nächsten Briefkasten. Regentropfen machen Flecken auf das Papier. Blitzschnell hebe ich ihn auf und schiebe ihn in meine Innentasche. Dann renne ich los.

Mein Liebling

Ich renne an der Bushaltestelle vorbei, zwischen den Hochhäusern hindurch und schräg über die Grünanlage.

Als ich am Spielplatz vorbeilaufe, sehe ich Kevin und Vito, meine beiden besten Freunde. Sie hängen am Zaun herum. Kevin hat seinen Ball unter dem Arm, seine Trainingshose ist noch weiter runtergerutscht als sonst. Zwischen den Gitterstäben kann ich ein Stück von seinem Hintern erkennen. Vito steht daneben, das Haar streng gescheitelt. Wie immer trägt er ein glatt gebügeltes Oberhemd. Unterschiedlicher können zwei Freunde nicht sein.

Oder drei, sollte ich eigentlich sagen. Wir sind alle drei sehr unterschiedlich. Genau wie unsere Familien übrigens. Meine Mutter ist sechsundzwanzig, viel jünger als die meisten Mütter. Vitos Mutter zum Beispiel ist zweiundvierzig und Kevins dreißig. Meine Mutter lacht fast nie, sie ist furchtbar ernst. Vitos Mutter lacht den ganzen Tag und Kevins Mutter ist meist wütend. Vitos Mutter backt Kekse. Kevins Mutter telefoniert mit Leuten über ihre Versicherung. Und meine Mutter arbeitet in der Bibliothek. Bei ihr kann man ausgeliehene Bücher zurückgeben oder auch Fragen stellen. Vito hat einen Vater und drei Schwestern. Kevins Eltern sind geschieden. Kevins Vater holt Kevin ganz manchmal ab, um etwas Schönes zu unternehmen. Ich habe keinen Vater. Und meine Mutter ist eigentlich auch … Aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich später.

Ich winke Kevin und Vito zu und renne weiter. Meine Mutter hatte es eilig, glaube ich. Das würde mich nicht wundern. Alles an meiner Mutter ist praktisch und schnell. Bestimmt ist sie längst oben. Ich springe in den Aufzug. Gerade als sich die Tür schließen will, schiebt Herr Ibrahim den Fuß dazwischen. Die Tür öffnet sich. Das muss mir wieder passieren.

»Hallo«, sage ich lächelnd und halte die Hand auf meine Innentasche, damit ich es nicht verliere, das kleine blaue Geheimnis.

Herr Ibrahim lächelt zurück. »Bist du in Eile, Deetje?«

»Nein, nein«, antworte ich. Was geht ihn das an.

Im Spiegel sehe ich meine roten Wangen. Meine Brust, die sich schnell hebt und senkt. Herr Ibrahim steigt in der sechsten Etage aus. Superlangsam schlurft er aus dem Aufzug. Mama wartet nicht gern. Ich drücke mindestens hundert Mal auf den Knopf und flüstere: »Tür zu, Tür zu, Tür zu.« Aber es geht nicht schneller, als es geht. Inschallah, würde Herr Ibrahim sagen.

Endlich bin ich oben. Und ja, natürlich, als sich die Aufzugtür öffnet, in der achten Etage, steht sie da.

»Na endlich«, seufzt sie. »Wo bist du denn nur geblieben?« Sie dreht sich um und geht vor mir her über die Galerie. Herbstblätter wehen aus ihren Haaren.

Erst viel später an diesem Tag gelingt es mir, den Brief zu öffnen. Nachdem wir was gegessen haben. Meine Mutter bestreicht Brote mit Margarine und belegt sie mit Wurst. Ich darf mir meine Brote nie selbst machen, weil keiner so dünne Wurstscheiben abschneiden kann wie sie. Der Brief ist inzwischen in meinem Zimmer. Gleich als ich reingekommen bin, habe ich ihn unter meine Matratze geschoben, das kommt mir fürs Erste am sichersten vor. Meine Mutter darf das niemals erfahren. Ganz bestimmt würde sie ihn mir an Ort und Stelle aus den Händen reißen und rufen: »Woher hast du den denn?« Und anschließend verlangen, dass ich ihn bei der Polizei abgebe. So ist sie.

Als beide Teller gespült und wieder eingeräumt sind, die Margarine und die Wurst wieder im Kühlschrank stehen und der Tisch abgewischt ist, setzt sich meine Mutter aufs Sofa. Sie liest die Zeitung und ich husche in mein Zimmer.

Leise schließe ich die Tür. Meine Mutter mag geschlossene Türen nicht, aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich ziehe den Brief unter der Matratze hervor und setze mich damit an den Schreibtisch. Vorsichtig lege ich ihn vor mich hin. Er ist klein und babyblau. Der Name und die Adresse vorn sind durchgestrichen. RETOUR AN ABSENDER, hat jemand in Druckbuchstaben danebengeschrieben. Ich muss Vito fragen, was das bedeutet, Retour an Absender. Für wen ist dieser Brief ? Ich sehe eine Handschrift mit großen Wellenlinien und Schlaufen. Aber sie ist so sorgfältig durchgestrichen, dass ich die Anschrift nicht mehr lesen kann. Hintendrauf stehen ein paar Zahlen und Buchstaben, eine Postleitzahl, halb vom Regen verwischt. Ich starre auf das, was davon übrig ist. Schließlich kann ich mühsam eine Drei und eine Neun entziffern. Ich seufze.

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich zum ersten Mal gelesen habe. In der ersten Klasse haben wir Buchstaben auf Papier ohne Linien abgemalt. Ich begriff nicht, dass diese seltsamen Zeichen etwas mit Sprechen zu tun hatten, mit Geheimnisse-Weitererzählen, mit Abenteuern von Monstern und Drachen. Der Lehrer stieß seltsame Laute aus. »Das ist das Ka«, sagte er. »Ka-Ka-Ka. Sprecht mir bitte nach.« Er zeigte auf die Tafel.

Aber ich schaute nur wie gebannt auf sein Gesicht und den stammelnden Ton, der aus seinem Mund hervorbrach, als würde er selbst gleich zusammenbrechen.

Ich suchte mir einen roten Stift aus und malte den Buchstaben von der Tafel ab, wie wir es machen sollten. Konzentriert folgte ich dem Buchstaben mit dem Blick nach oben und nach unten.

Aber erst als ich meine Mutter schreiben sah, begriff ich, dass es für etwas gut war. Sie ging mit ihrem Zettel weg und kam mit Sachen, die wir brauchten, vom Supermarkt zurück. Den Zettel fand ich zusammengeknüllt ganz unten in der großen Plastikeinkaufstasche. Und ich schaute. »Ss, Aa, Ll, Aa, Mm, Ii«, sagte ich. Plötzlich vermischten sich die Klänge zu einem Lied und das Lied sang ein Wort. Ich hörte es. Es ertönte in meinem Kopf. Salami. Wie erstarrt stand ich im Flur.

Ich strich über die Buchstaben. »Salami«, flüsterte ich. »Salami.« Und: »Be, Rr, Oo, Te.« Es klappte schon besser. »Brot«, sang ich. Die Zeichen standen dort anstatt der Dinge. S, A, L, A, M, I ersetzten die echte, die rote Wurst, die im Kühlschrank lag. Und wenn kein Brot da war, konnte man es aufschreiben, um es nicht zu vergessen. Brot.

Vorsichtig stecke ich die Spitze meiner Schere in den Umschlag, wie Mama es oft macht, und ritze ihn auf. In dem Umschlag ist ein zusammengefaltetes liniertes Blatt Papier. Meine Hände zittern. Ich lese die Worte eines Fremden, krieche in den Kopf eines Unbekannten, um zu sehen, was dort gewachsen ist und rausmusste.

»Mein Liebling«, lese ich. »Die Tage sind so kahl wie Bäume im Herbstwind …«

Ich schiebe den Finger unter das Wort, das ich gerade lese. »Heute Morgen sind wir mit der Familie durch die Felder gegangen. Es war kalt. Der Weg kommt mir noch länger vor als früher, da Du mit uns gegangen bist. Die blattlosen Bäume an unserem Pfad – und dann etwas, was ich nicht lesen kann – Schafe stoben blökend auseinander. Ich ging ganz am Ende und sah, wie wir uns beugten, die Schultern hochgezogen, um uns gegen den Wind zu wappnen. So kleine Menschen unter einem so großen Himmel. In der Kirche las der Pfarrer über Jakob und Josef. Es stimmte mich nachdenklich. Wie kurz das Leben doch ist und wie sehr ich Dich vermisse. Meine Gedanken sind immer noch in Bewegung. Vielleicht sollten wir vergessen, was alles geschehen ist. Ich hoffe, Du kannst uns bald besuchen. Auf ewig …

Verwirrt setze ich mich auf. Ich bin wieder in meinem Zimmer und schüttele die seltsame Welt von mir ab. Den Wind, die kahlen Bäume und die Kirche. Für einen Moment war ich dort, bei … Ich kann den Namen nicht lesen.

Etwas mit P?

Es könnte auch ein B oder ein D sein.

Sein Name ist verwischt. Oder ihr Name. Aus den Buchstaben sind blaue Flecken geworden. Wie an mehreren Stellen in dem Brief. Vielleicht durch den Regen. Oder waren es Tränen?

Vorsichtig fahre ich mit der Zunge über das Papier. Salz.

Ich starre auf die Flecken. Was stand da? P … Pieter? David? Bilal? Dann höre ich Schritte. Mama. Alarmiert falte ich den Brief zusammen und schiebe ihn zurück in den Umschlag. Sie kommt näher.

»Dee?«

So schnell ich nur kann, schiebe ich den Brief unter die Matratze und setze mich wieder hin.

»Was machst du da?« Ihre Augen kriechen über mich.

Meine Haut juckt. »Nichts.«

Sie macht noch ein paar Schritte und schaut sich suchend in meinem Zimmer um. Die Vorhänge hängen brav an den Fenstern. Die Bettdecke liegt gerade. Mein Kuschelkaninchen sitzt neben dem Kopfkissen. Die Sekunden auf meinem Wecker springen weiter. Nichts, was nicht so sein sollte. Ich folge ihrem Blick. Sie dreht sich um und verschwindet in die Küche. Mit gespitzten Ohren höre ich, wie sie sechs Löffel voll in den Filter gibt, Wasser in die Kanne füllt und danach in die Maschine gießt. Sie macht Kaffee. Drachentrunk. Sie stellt die Kanne auf die Platte und klappt den Deckel des Wasserbehälters zu.

»Deetje!«, ruft meine Mutter.

Ich stehe auf und gehe zur Tür. Der Brief muss unter meiner Matratze bleiben.

»Dee!«, ruft sie noch lauter.

Schnell gehe ich ins Wohnzimmer. »Was?«

»›Wie bitte‹ heißt das«, murmelt sie. Dann zieht sie einen Stuhl unter dem Tisch hervor und zeigt darauf. In ihrer Hand blitzt der Läusekamm auf. »Hinsetzen!«

Ich lasse mich auf den Stuhl fallen.

Sie teilt meine Haare in mehrere Stränge auf. Der Kamm schabt über meine Kopfhaut. Ich beiße die Zähne zusammen, meine Mutter auch. Sie flucht leise. Meine Haare sind wild und springen in alle Richtungen. Wir quälen uns durch. Ich denke an Sahnetorte und Butterblumen und fettige Handcreme. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das macht. Manchmal denke ich, es macht ihr richtig Spaß. Sie mag es, wenn alles ganz gerade ist. Sie mag genau und klar. Ich mag verschwommen und weich, ich mag träge, ungefähr.

Dann denke ich wieder an den Brief. Es gibt so viel zum Nachdenken. Wer hat ihn geschrieben? Wann und wo? Was bedeutet Retour an Absender? Das klingt nach Geheimsprache. Ob ich denjenigen kenne, der ihn geschrieben hat? Jemand muss ihn danach in den Briefkasten geworfen haben, aber warum mit einer durchgestrichenen Adresse? Oder hat jemand anders die Adresse durchgestrichen, um dafür zu sorgen, dass der Brief nicht ankommt? Aber wer kann das getan haben? Nur Bilal kann an die Post ran und ich war ja dabei, als er den Briefkasten geleert hat. Hat er den Brief schon davor unterschlagen und die Adresse unleserlich gemacht? Ist der Brief aus seiner Tasche gefallen? Warum sollte ein Postbote nicht wollen, dass ein Brief ankommt? Aber Bilal war schon irgendwie komisch. Und ich weiß auch nicht, ob ich glauben soll, was er erzählt hat, warum er den Briefkasten erst am Samstag geleert hat. Vielleicht hat die Liebe etwas damit zu tun? Die Liebe bringt Leute dazu, komische Sachen zu machen. Wer weiß mehr über Bilal und die Liebe? Grazia. Sie waren mal ein Paar. Es dauerte nur kurz. Aber das war das einzige Mal, dass er auch total verliebt war. Er hat ihr jeden Tag Rosen oder Schokolade mitgebracht. Sogar wenn er keine Post für sie hatte, stieg er alle Stufen zu ihrer Wohnungstür rauf, um Geschenke abzugeben und sie zu küssen. Ich habe sie oft an der Wohnungstür küssen sehen. Das kann man von unten aus einfach sehen. Vielleicht war der Brief für Grazia, und Bilal möchte nicht, dass jemand anders ihr schreibt? Das könnte sein. Ich finde, dass ich mir das gut ausgedacht habe, aber es könnte auch ganz anders sein.

Zurück zum Anfang. Jemand vermisst jemanden. Kenne ich jemanden, der jemanden vermisst? Ist es der Metzger? Jemand mit einem P, einem D oder einem B. Ich weiß nicht, wie der Metzger heißt. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mir mal von Jakob erzählt hat, der seinen Lieblingssohn Josef verlor. Eine Geschichte aus der Kirche.

»Aua!«

»Fast fertig«, sagt sie. »Halt den Kopf gerade.«

Oder sollte ich lieber nach dem Empfänger suchen? Nach derjenigen oder demjenigen, der den Brief nie bekommen hat und so furchtbar vermisst wird. Meine Gedanken überschlagen sich. Überall sehe ich Anknüpfungspunkte. Aber je stärker ich nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich nichts weiß.

Und dann fällt mir das Allerschlimmste ein. Wie soll es weitergehen, wenn da jemand ist, der nicht weiß, dass er oder sie vermisst wird, und auch noch jemand, der nicht weiß, dass seine oder ihre Wörter nie angekommen sind? Das ist furchtbar. In diesem Moment verstehe ich, dass ich ein wichtiges Schriftstück gefunden habe. Ich muss herausfinden, wer den Brief geschrieben hat oder für wen er bestimmt ist, damit ich ihn da abgeben kann, wo er hingehört. Damit alles gut wird.

»So«, sagt meine Mutter. »Läusefrei.«

Meine Mutter und ich

Als sie mit dem Kämmen fertig ist, fängt sie an, meine Haare zu flechten. Sie nimmt den Spiegel in ihrem Zimmer von der Wand und stellt ihn vor mich hin, damit ich mitschauen kann. Sie glaubt, ich sehe ihr beim Flechten zu. Sie weiß nicht, dass ich sie anschaue. Uns.

Meine Mutter und ich sind so verschieden. Das Einzige, was wir beide mögen, ist, sonntagabends altmodische Krimis gucken. O ja, und lesen. Aber meine Mutter mag Bücher über die Liebe, die gut ausgehen, und ich mag Bücher, die anders enden, als man vorher glaubt. Sie kauft meine Kleidung immer eine Nummer zu groß, zum Reinwachsen. Sie kauft Lederschuhe und lange Baumwollröcke. Ich gehe mit, aber ich bleibe vor Schaufenstern voller T-Shirts mit Goldbuchstaben, hohen Sneakern und engen Jeans stehen. Die will ich. Sie kocht Suppe und schneidet die Wurstscheiben möglichst dünn ab. Ich versuche, möglichst oft bei Vito zu essen. Da stehen immer große Töpfe mit Schmorfleisch auf dem Tisch, Spaghetti mit Peperoni, Fischsuppe mit Muscheln. Aber das ist nicht alles.

Eines Morgens standen wir zusammen vor dem Spiegel, genau wie jetzt. Meine Mutter machte mir ganz stramme Zöpfe und meckerte wie immer an meinen Locken herum. »Deine Haare wollen einfach nicht gehorchen«, sagte sie. Ich hatte, wie immer, das Gefühl, sie würde nicht meine Haare meinen, sondern mich.

»Nun sitz endlich still!«

Und wieder dachte ich das.

Eine echte Mutter kommt doch mit den Haaren ihres Kindes zurecht.

Wir gehören überhaupt nicht zusammen, dachte ich. Und in diesem Moment änderte sich alles.

Ich schaute zu ihr. Die Haare meiner Mutter hängen gerade herab, wenn sie offen sind. Meine Haare springen zu allen Seiten. Sie geht ein wenig krumm, damit niemand ein Gespräch mit ihr anfängt. Wenn ich etwas sage, braucht der Lehrer nie zu sagen: »Bitte etwas lauter!« Ich kenne alle in der Nachbarschaft, sie kennt fast niemanden. Sie ist klein. Ich bin groß. Sie ist blond, ich habe kleine dunkle Locken. Sie hat eine helle Haut und ich eine dunkle. Sie will, dass alles praktisch ist, nützlich, säuberlich, pünktlich und an der richtigen Stelle. Ich will nur tanzen, mein Herz so offen wie eine Ladentür am verkaufsoffenen Sonntag.