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Allein über die Alpen Mit Zelt und Gaskocher im Gepäck wandert die junge Schweizerin Christina Ragettli auf der herausfordernden roten Via Alpina vier Monate lang durch sechs Länder. Auf 2363 Kilometern erlebt sie einige verrückte Geschichten und Abenteuer, die sie zum Teil an ihre Grenzen bringen. Doch trotz Schmerzen, Kälte, tagelangem Regen und scheinbar unüberwindbaren Hindernissen setzt sie einfach jeden Tag einen Fuss vor den anderen, und ihre Erlebnisse auf der Via Alpina werden zu Lebenslektionen. Sie zeigt, dass es manchmal nur etwas Mut und Selbstvertrauen braucht, um seine Träume zu verwirklichen. Fernwanderungen sind nur was für Extremsportler:innen? Von wegen! Christina Ragettli beweist, dass es auch mit pink lackierten Nägeln geht. »Ein Buch zum Wanderschuhe schnüren« Markus Rottmann, Das Bergsportmagazin Inspiration "Mit jeder Seite mehr möchte man aufbrechen, sofort das passende Zeltmodell googeln. Hat man doch gerade eine unerschrockene Wanderin kennengelernt, die es geschafft hat, in einem Buch, das nicht bewundert werden will, sondern einen mitnimmt." Markus Rottmann, Das Bergsportmagazin Inspiration
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Mit 33 farbigen Abbildungen und einer Karte
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© Arisverlag (ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH), Embrach 2022
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Katrin Sutter & Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.
Covergestaltung: Autorenfoto: privat
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
nach einem Entwurf von Lynn Grevenitz, kulturkonsulat.com
Coverabbildung: Florian Johänntgen
Bildteilfotos: Christina Ragettli, außer anders angegeben
Karte: Nina Danuser
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Cover & Impressum
Karte der Via Alpina
Vorbemerkung der Autorin
Vorwort
Juni 2020
Vorbereitung
_ Sommer 2017
_ Das Wandervirus ist ausgebrochen!
_ Ich muss ausbrechen aus dem Hamsterrad!
_ Blödes Coronavirus: Fällt der Traum ins Wasser?
Mai bis August 2020: Schweiz–Triest
_ Am liebsten einfach die nächsten vier Monate im Bett liegen bleiben
_ Start mit Hindernissen
_ Hoffentlich wache ich morgen nochmals auf ...
_ Regenwoche im Wallis: Bekanntschaften und grosse Zufälle
_ Giftschlangen und Hitze im Tessin
_ Graubünden – Schweiz durchwandert
_ «Wie weit geht es noch?»
_ Drama fürs Schweizer Fernsehen
_ Direkter Weg in die Dolomiten
_ Menschenmassen in den Dolomiten
_ Neue Freunde auf dem Karnischen Höhenweg
_ Die schönste Woche und mein traurigster Tag
_ Liebeskummer vor der Grenze
_ Motivationskrise in Slowenien
_ Triest – Ankunft am Meer
August bis Oktober 2020: Schweiz–Monaco
_ Start 2.0 in Vernayaz, Schweiz
_ Coronapanik im Wallis
_ Grenzübertritt nach Frankreich kurz vor Wintereinbruch
_ Nationalpark Vanoise – ein Einzelgänger und ich
_ Die Nacht auf über 3000 Metern
_ Ein letztes Mal einkaufen
_ Sturm und Horrorbiwak
_ Über die letzten Pässe
_ Unheimliches Waldwandern
_ Ich will ankommen, ich will nicht ankommen
_ Epilog
Life Lessons der Via Alpina
Danka vo Herza
Bildteil
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Meine Erlebnisse auf der Via Alpina habe ich in Notizen und mit täglichen Sprachnachrichten an mich selbst festgehalten. Ich habe mit den Personen, die im Buch vorkommen, über die von mir niedergeschriebenen Erinnerungen gesprochen. Sie haben mir bestätigt, dass sie die Situationen ähnlich oder gleich erlebt haben. Und doch würde wohl jeder meine Wanderung anders beschreiben. In den vier Monaten ist viel mehr passiert, als ich auf den folgenden Seiten erzählen werde. Ich hoffe, dass ich einen authentischen und spannenden Einblick in meine Via-Alpina-Wanderung geben kann. Eine Expertin in diesem Bereich bin ich nicht – es war mein erstes Projekt dieser Art. Das Gleiche gilt auch fürs Schreiben dieses Buches.
Von Andri Ragettli, Bruder und Weltmeister Freeski Slopestyle
Christina, Gian und ich sind ein unschlagbares Team. Meine Schwester Christina, die Älteste von uns, hat unser Trio angeführt. Sie ist die Organisierte und hat wirklich immer alles unter Kontrolle. So war ihre Rolle schon früh klar, sie schaute auf mich und unseren Bruder Gian. Denn als ich ein Jahr alt war, verunfallte unser Vater tödlich. Deshalb arbeitete unsere Mama viel und war nicht immer zuhause. So entwickelte sich meine um sechs Jahre ältere Schwester zu meiner zweiten Mama.
Viele Jahre lang sind wir immer zu dritt auf den Berg gegangen, im Winter, um mit unseren neuen Freeskis über die Schanzen in Laax zu springen. Hin und wieder stürzte einer von uns. Christina brachte mich mehrmals nach Hause, legte mir einen kalten Lappen auf die Stirn, liess die Storen in meinem Zimmer herunter, damit es dunkel wurde und kontaktierte Mama. Manchmal, wenn es schlimmer war, brachte sie mich auch zum Arzt. Sie wurde dadurch schneller als wahrscheinlich üblich erwachsen und übernahm früh Verantwortung für unsere Familie.
Wenn wir über Mittag allein zuhause waren, hat sie mir oft mein Lieblingsgericht gekocht: Omeletten. Ich bin ihr auch auf ewig dankbar, dass sie immer meine Aufsätze korrigiert hat und mir bei meinen Vorträgen geholfen hat. Denn das Fach Deutsch ist bis zum Ende des Gymnasiums mein schwächstes Fach geblieben. Einfach hatte Christina es mit mir nie. Ich war schon immer wild. Als ich ihre Schulkollegen auf dem Pausenplatz anspuckte, musste sie mich beschützen, damit ich nicht von den älteren Jungs verprügelt wurde. Aber es gab auch oft richtig heftige Streitereien zwischen uns. Es ist eine sehr schlechte Idee, sich mit Christina anzulegen. Einmal war sie so wütend auf mich, dass sie mich ganze zwei Wochen ignoriert hat. So etwas kann nur sie. Und trotzdem sind wir ein Dreamteam und unzertrennlich.
Unsere Freizeit als Kinder gestaltete sich als ein einziger Wettkampf. Wer kann schneller die Piste hinunterfahren, wer kann länger die Luft anhalten oder wer kann weiter barfuss durch den Schnee laufen? Da ich der Jüngste bin, waren Gian und Christina in allem besser als ich. Verlieren war für keinen von uns eine Option, alle waren und sind wir besonders ehrgeizig. Ich wäre wohl nie so erfolgreich als Sportler, wäre ich nicht mit meinen beiden Geschwistern aufgewachsen. Das «du lahme Ente, jetzt mach mal» beim Skifahren zu dritt hat mich angespornt und mich besser werden lassen.
Auch jetzt noch schaut Christina, dass es allen gut geht, kommt regelmässig nach Hause und kocht hin und wieder für uns. Sie ist engagiert und gibt immer Vollgas – das zeichnet uns alle drei aus. Jeden in seinem Bereich. Ausserdem möchte sie alles perfekt machen – eine Perfektionistin, genau wie ich auch. Daher liebe ich es, dass ich mit ihr zusammenarbeiten darf, man kann sich zu 100 % auf sie verlassen. Sie ist nämlich nicht nur meine Schwester, sondern auch meine pr-Managerin. Und das eigentlich schon, seit ich zehn Jahre alt bin und sie 16. Sie erstellte meine Facebook-Fanseite, meine Insta-Seite, beantwortete meine ersten Interview-Anfragen und war immer total überzeugt, dass ich Profi werden würde. Sie glaubte an mich und half mir, meinen Weg zu gehen. So unterstützte sie mich auch im Sommer 2021 – denn sie schrieb gleich zwei Bücher. Mein Buch Attack your Dreams und ihres über die Via Alpina.
Sie ging schon immer ihren eigenen Weg. Mit nur sechs Jahren entschied sie sich, nie mehr einen Bissen Fleisch zu essen. Als Vegetarierin war sie damals die Ausnahme. Mit meinem Bruder Gian machte ich mich jahrelang darüber lustig und hielt ihr gerne ein Stück Fleisch ins Gesicht, worauf sie sich geekelt abdrehte. Wie kann man nur Vegetarierin sein, dachte ich mir? 20 Jahre später bin ich es selbst und absolut überzeugt davon, dass es für mich, den Planeten und die Tiere besser ist. Vielleicht aber auch, weil sie mir jahrelang erklärte, wie ekelhaft es ist, dass ich tote Tiere esse. ;)
Christina war immer schon eine Abenteurerin, nachts barfuss aus dem Haus schleichen, im kalten Wasser baden. Sie ist tough. Ich kenne wenige Personen, die es so lange in Eiswasser aushalten. Oft endet dies noch heute in einem Wettkampf, wer es länger schafft, beispielsweise im Dorffluss kurz nach der Schneeschmelze. Wir pushen unsere Grenzen, wir wollen mehr, wir drei Geschwister stehen mitten im Leben – und geniessen es. Früh haben wir durch den schmerzlichen Schicksalsschlag gelernt, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Umso mehr habe ich mich gefreut, als Christina sich entschieden hat, ihren grossen Traum, die Via Alpina, Realität werden zu lassen.
Als meine Schwester letztes Jahr erzählte, dass sie die rote Via-Alpina-Route absolvieren möchte, konnte ich nicht einschätzen, was das bedeutet. Als sie sagte, das seien über 2000 Kilometer zu Fuss, und zwar von Monaco nach Triest, dachte ich noch immer: «Naja, ich bin auch schon 100 Kilometer in zehn Stunden gejoggt.» Nichts Verrücktes also, für jemanden aus meiner Familie. Erst als sie mittendrin war, wurde mir bewusst, wie körperlich und mental anstrengend ein solches Abenteuer ist! Jeden Tag um die 25 Kilometer, auf und ab und das über Monate. Allein. Ohne jemanden, der dich täglich motiviert, dir einen neuen Trainingsplan vorlegt oder dir am Abend den Rücken massiert und dir zur Stärkung Spaghetti kocht. Allein den Gefahren ausgesetzt von Schnee, Gewitter, wilden Tieren, Menschen und vor allem, allein mit den Gedanken. Nur du und deine Gedanken. Ich bin zwar selbst immer in den Bergen, aber mit Wandern und Bergsteigen habe ich bisher kaum Erfahrungen gemacht. Dafür weiss ich aber, wie es ist, sich in schwierigen Situationen durchzuschlagen, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Obwohl Christinas Via-Alpina-Projekt nicht auf Leistung ausgelegt war, so war es für sie trotzdem unumgänglich, an ihre Grenzen zu gehen – sei es körperlich, sei es in Bezug auf Ängste und Gefahren, denen sie ausgesetzt war, oder auch auf die emotionalen und mentalen «Ups & Downs», die sie meistern musste.
Obwohl wir während ihrer Tour nicht ständig in Kontakt waren, war ich durch unsere Mama und meinen Bruder Gian immer bestens informiert. Nach zehn Wochen erzählte mir Gian, dass Christina eine Krise habe und mit dem Weitergehen kämpfe. Ich rief sie sofort an und packte alle meine Tipps aus, die ich in den letzten vier Jahren durchs viele Lesen und mein Training im mentalen Bereich anzuwenden gelernt hatte. Ein Zitat berührte mich besonders und ich hoffte, dass es auch sie motivieren würde. Ich schickte ihr einen Abschnitt aus dem Buch Living with the monks von Jesse Itzler:
«Quitting because it’s easier is never the right decision. It only takes a minute to quit, but the moment will replay in your mind tomorrow, and the tomorrow after that, and the one after that.»
Ich wollte Christina daran erinnern, dass es immer einfacher ist, aufzugeben. Denn sobald man einmal aufgegeben hat, macht man es öfter und es wird zu einer Gewohnheit. Und wenn man aufgibt, bleibt man genau an diesem Ort stehen. Man kommt nicht weiter und es fühlt sich auch nicht besser an. Es ist jedoch wichtig, dass man seine grossen Ziele in kleine Teile bricht. Denn das grosse Ganze kann einen manchmal überfordern. Wenn man ein kleines Ziel nach dem anderen erreicht, dann kommt man (bei der Via Alpina wortwörtlich) Schritt für Schritt nach Monaco – bis ans Meer. Aber man muss einen flexiblen Plan haben. Da Christina und ich beide Kontrollfreaks sind, ist es für uns schwierig, wenn ein Plan nicht aufgeht. So war es bei ihr beim Start der Via Alpina wegen Corona und so ist es bei mir beispielsweise bei einer Verletzung. Das macht nervös. Genau in diesen Momenten ist es wichtig, nicht emotional zu werden. Ruhe zu bewahren und tief durchzuatmen. Dann gilt es die weiteren Wege zu prüfen. Als Perfektionisten haben wir immer einen Plan B bereit. Denn wenn wir Ragettlis ein Ziel haben, dann bringt uns nichts davon ab!
Ich wusste es. Ich wusste genau, heute wird es heikel – heute wird es nicht gut laufen. Das Gefühl kam, als ich aufwachte und mich wie erschlagen fühlte. Die gesamte Nacht tanzten die Mäuse im Dach der kleinen Selbstversorgerhütte. Ich tat kein Auge zu und es regnete noch immer. Aber nicht nur darum hatte ich ein ungutes Gefühl. Im Juni die Schweizer Alpen zu überqueren ist eine grosse Herausforderung. Es liegt noch zu viel Schnee. Schon zig Schneefelder hatte ich gemeistert. Einige harmlos, andere gefährlich, wieder andere konnte ich irgendwie umgehen. Aber Corona gab mir keine andere Wahl, als in der Schweiz zu starten – lange bevor die Alpen ihr sattes Sommergrün erreicht hatten. Ich durfte mein Heimatland nicht verlassen, die Grenzen waren noch immer geschlossen.
Und da war es. Das nächste Schneefeld. Der Regen verschlechterte meine Situation zusätzlich. Doch um vom Bergpass runterzukommen, musste ich über dieses Schneefeld absteigen. Ich tat, was ich immer tat, versuchte Schritt für Schritt meine Wanderschuhe in den Schnee zu rammen und Halt zu finden. «Du weisst, wie das geht», sagte ich zu mir selbst. «Konzentrier dich, bald ist es geschafft.» Schon die Hälfte des Schneefelds lag hinter mir, als ich mir eine kurze Verschnaufpause gönnen wollte. Der Regen lief mir über die Regenpelerine und die Landschaft war in triste Grautöne gehüllt. Aber ehe ich mich versah, glitt ich aus meinem Tritt und lag im Schnee. Ich rutschte und wurde immer schneller und schneller. Ich versuchte mit aller Kraft zu bremsen, meine Schuhe einzuhaken, mit den Stöcken irgendwie Halt zu finden. Zwecklos. Die grossen Gesteinsbrocken unterhalb des Schneefelds kamen näher und näher und mein Gedanke war: Schütze deinen Kopf.
Ich rammte die Felsen und überschlug mich. Als ich endlich stoppte, sass ich im nassen Schutt. Sofort spürte ich Schmerz. Mein Fussknöchel. Meine Hand. Und doch, meinem Kopf ging es gut. Ich richtete mich auf und untersuchte die schmerzenden Stellen. Mein Fussknöchel tat mir am meisten weh, aber er sah ganz okay aus und nach ein bisschen hin- und herbewegen war ich mir sicher, dass nichts kaputtgegangen war. Meine Hand blutete, aber auch diese Schürfungen waren kaum der Rede wert. Dann noch ein kurzer Check des Knies – alles gut, es schwoll an, aber es hielt. Heisse Tränen liefen mir übers Gesicht. Aber was nützt es, allein auf 2290 Metern wegen Schmerzen zu heulen? Krampfhaft versuchte ich, meine Tränen zurückzuhalten und konzentrierte mich darauf, gleich weiterzuwandern. Aber die Tränen liefen mir dennoch unkontrolliert übers Gesicht. Wann hatte ich mich das letzte Mal so hilflos gefühlt? Eine vergleichbare Situation kam mir nicht in den Sinn.
Hier sieht mich niemand, keine Hilfe in Sicht.
Ich atmete heftig und wollte schon weitergehen, doch ich konnte kaum etwas sehen. Mit dem Ärmel versuchte ich meine Tränen wegzuwischen. Und aus irgendeinem Grund machte ich ein Selfie – ein Foto von mir selbst, meines verheulten Gesichts. Ich denke, ich wollte den Moment – definitiv ein Tiefpunkt – festhalten. Für mich allein. Das Foto hat nie jemand gesehen.
Ich schluchzte noch immer, tat mir selbst unendlich leid. Der Regen wurde nun heftiger – was für ein Timing. Meine Augen waren noch immer wässrig, mein Blick getrübt, sodass ich auf dem nassen Gras ein paar Meter weiter erneut ausrutschte und hinfiel. Dann gleich nochmal. Und nochmal. Bis ich so wütend auf die Welt und meine doofe Idee wurde, 2000 Kilometer zu wandern, dass ich nur noch losschreien wollte. Doch so bin ich nicht. «Heulen kannst du heute Abend, so viel du willst, aber jetzt ist dein einziger Job, heil ins Tal zu kommen.»
Noch 1500 Höhenmeter Abstieg lagen vor mir bis Prato Sornico im Maggiatal. Ich hatte mir selbst versprochen, die gesamte Via Alpina zu wandern. Ein Plan, an dem ich festhalten wollte.
Es war Zeit, dass ich mich an unangenehme Momente gewöhnte.
Es war Juni 2017 und ich hatte soeben ein weiteres E-Book über Fernwanderungen zu Ende gelesen. Sarah Marquis, eine 49-jährige Schweizerin, erzählte, wie sie die Wüste Gobi allein durchquerte und sich der Hitze und Sandstürmen stellte. Ganz passend, ich war nämlich gerade in den Ferien in Namibia. Doch mit der Wüste konnte ich persönlich noch nie viel anfangen – sie reizt mich nicht und ich mag Hitze nicht. Seit längerem befasste ich mich nun mit dem Thema Weitwandern. Erst vor einigen Jahren hatte ich das Wandern wiederentdeckt. Ich brauchte damals unbedingt ein Sommerhobby, denn immer, wenn das Flimser Skigebiet, wo ich wohne, im Frühling schloss, wusste ich nicht mehr, was ich am Wochenende unternehmen sollte. Es gab Jahre, da verbrachte ich einen Teil meiner Sommerferien in Zermatt, um auf dem Gletscher skifahren zu können. Auf meinem Handy hatte ich immer eine Countdown-App, die mitzählte, wie viele Tage es noch dauerte, bis im Herbst der Skibetrieb wieder starten konnte. Der Sommer war mir zu heiss und musste überbrückt werden.
Wandern empfand ich als langweilig. Etwas für alte Leute. Als Kind musste ich immer mitgehen. Meistens war es eine Qual, ausser wir wanderten zu diesem einen Bergrestaurant, wo es ein Trampolin gab. Die Einstellung, dass Wandern was für Langweiler ist, änderte ich erst mit etwa 20. Da entwickelte ich wieder Interesse an der Natur als faszinierender Schönheit und nicht als praktischem Spielplatz, um sich auszutoben. Als ich das erste Mal einen Klettersteig meisterte, merkte ich, dass Wandern durchaus spannend sein und für Adrenalinkicks sorgen kann. Später reizte mich das wilde Campieren am Fusse der heimischen Berge und so kam ich schlussendlich unverhofft, aber anscheinend unvermeidlich zum Mehrtageswandern.
Ich fing an, Bücher über Abenteurer zu lesen, und besonders die Geschichte einer jungen Frau auf dem Pacific Crest Trail (kurz pct) inspirierte mich. Cheryl Strayed machte den amerikanischen Weitwanderweg mit ihrem Buch Wild zu einer der bekanntesten Weitwanderrouten der Welt. Als ich das Bücher-Universum nach Wandergeschichten durchsuchte, fand ich viele Erzählungen von sogenannten pct-Hikern. Ich wurde neugierig und, nachdem ich von meinen Namibia-Ferien wieder in meinem Schweizer Heimatdorf Flims angekommen war, machte ich den ersten Schritt und trat auf Facebook diversen pct-Foren bei. Der wohl berühmteste Weitwanderweg der Welt zieht sich über 4000 Kilometer von der mexikanischen Grenze im Süden der usa hoch bis zur kanadischen Grenze im Norden. Diese Wanderung dauert durchschnittlich fünf bis sechs Monate und da sie so viele berühmte Geschichten hervorgebracht hat, brechen mittlerweile jedes Jahr tausende Leute auf, um die ganze Westküste der Vereinigten Staaten abzulaufen. Das bedeutet aber auch, dass man nicht wirklich allein wandert – zumindest las ich das so in meinen Büchern. Auf den Streckenabschnitten des Pacific Crest Trail gibt es immer wieder Hikertowns. Das sind kleine Ortschaften entlang der Strecke, die auf die Wanderer ausgerichtet sind. Da gibt es Poststationen, wo man seine Nachschub-Pakete abholen kann, und auf die Bedürfnisse der wandernden Menschen zugeschnittene Hostels, Campingplätze oder Restaurants. Immer wieder begegnet man Gleichgesinnten an diesen Orten und es bilden sich «Trail-Families». Manchmal schliessen sich einige mit gleichem Rhythmus und Wandertempo zusammen, um sich den Herausforderungen des Trails gemeinsam zu stellen. Für mich hörte sich das sehr beruhigend an, dass man zwar allein losgeht, aber, wenn man sich dafür entscheidet, auch immer in der Gruppe weitergehen könnte. In den pct-Foren war ich eine stille Mitleserin und sog alle Informationen auf.
Seit Sommer 2017 konnte ich mich auch in der realen Welt regelmässig übers Wandern austauschen: Bei meiner Arbeit in der Marketingabteilung eines Bündner Skigebietes hatten wir ein neues Teammitglied bekommen: Domenica. Ich kannte sie zwar schon lange, aber wir freundeten uns erst bei der Arbeit wirklich an – denn uns verband etwas. Domenica hatte bereits Weitwander-Erfahrung gesammelt und lief im Sommer 2016 zwei Wochen lang auf dem berühmten Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Wir tauschten uns in den Arbeitspausen lebhaft aus und träumten beide vom Pacific Crest Trail. Über das Facebook-Forum lernten wir Stefan kennen, einen Bündner, der auf dem pct war, aber leider nach einigen Wochen wegen einer Fussverletzung abbrechen musste. Domenica und ich waren Feuer und Flamme und luden ihn zum Abendessen ein. Wir wollten alles wissen, erarbeiteten gemeinsam einen riesigen Fragenkatalog und trafen uns mit Stefan in Chur. Ich nahm sogar das iPad mit und wir stellten ihm eine Frage nach der anderen, während ich seine Antworten schriftlich festhielt. Stefan erzählte uns viel übers richtige Schuhwerk, darüber, wie man seinen Stuhlgang mit der ultraleichten Schaufel verbuddelt oder wie man mit Bären umgeht beziehungsweise sie nicht neugierig macht.
Während ich mich in den folgenden Monaten regelmässig über den pct informierte, kamen bereits die ersten Zweifel auf. Länger als einen Monat wandert man durch die Wüste Kaliforniens. Wandern in der Wüste? Ich bin lieber in den Bergen unterwegs. Und dass es dort viele Klapperschlangen gibt, fand ich auch nicht gerade motivierend.
In meiner Familie finden nur meine Mama und ich das Wandern faszinierend. Meine beiden jüngeren Brüder Gian und Andri sind absolute Adrenalin-Junkies. Wandern ist für sie, wie für mich zuvor auch, unendlich langweilig und mühsam. «Wieso machst du sowas freiwillig? Einen Berg hoch und auf der anderen Seite wieder runter?», fragten sie mich manchmal. Auch wenn wir in dieser Hinsicht verschieden sind, haben wir alle ein grosses Bedürfnis nach Action und Abenteuer. Wir sind ein eingeschworenes Team. In meinem Freundeskreis kenne ich kaum jemanden, der noch immer eine so enge Beziehung zu seinen Geschwistern pflegt.
Eines Tages rief mich mein Bruder Gian an. Er kenne jemanden, der gerade die Via Alpina wandere. «Die Via Alpina? Davon habe ich noch gar nie gehört!», sagte ich. Es verwunderte mich etwas, dass Gian mit einem Wanderthema auf mich zukam. Er selbst hatte damit gar nichts am Hut. Andererseits hatte er viele verrückte und mutige Freunde und, wie ich später herausfand, ist die Via Alpina eine toughe Weitwanderung entlang des gesamten Alpenhauptkamms. Gian schickte mir den Bloglink seines Kollegen Pascal. Er kannte ihn vom Freeriden. Fortan las ich von Pascals Erlebnissen auf der Via Alpina über den Blog oder auch auf Instagram. Er war im April 2017 in Monaco gestartet und ich klinkte mich quasi mittendrin ein, um sein Abenteuer mitzuerleben. Die lange rote Via Alpina ist eine eher unbekannte Weitwanderung, die grüne Via-Alpina-Route kennen hingegen viele. Als ich anfing zu googeln, um einen Überblick zu erhalten, lernte ich Folgendes: Die Via-Alpina-Organisation hat vor über zwanzig Jahren angefangen, zusammenhängende Wege in den Alpen als Weitwanderungen zu vermarkten. «Discover the Alps», so der Slogan. Es gibt in den verschiedenen Alpenländern separate Via-Alpina-Strecken, also beispielsweise eine französische Via Alpina (die blaue), eine schweizerische Via Alpina (die grüne), eine slowenische Via Alpina (die violette) und so weiter. Dann gibt es zusätzlich die Königsroute aller Via Alpinas – eben «die Rote». Sie führt durch alle acht Alpenländer, vom Meer in Monaco ans Meer nach Triest – oder umgekehrt. So wandert man von Monaco durch Frankreich und Italien, kommt in die Schweiz, wandert ins Fürstentum Liechtenstein, weiter nach Deutschland, Italien und Österreich. Von dort nach Slowenien, bevor man bei Italien wieder ans Meer gelangt – immer dem Alpenhauptkamm folgend. Dabei verläuft die rote Route nicht auf den bereits bestehenden länderspezifischen Via Alpinas, sondern es wurde eine neue Routenführung gewählt. Das heisst, man durchwandert irgendwann die Schweiz, folgt aber nicht der Strecke der Schweizer Via Alpina (der grünen), sondern wandert eher im Süden der Schweiz. Der rote Streckenabschnitt durch die Schweiz dauert etwa fünf Wochen und ist technisch anspruchsvoller als die grüne Route, die nur drei Wochen dauert.
Je mehr ich über die rote Via Alpina erfuhr, desto mehr Respekt entwickelte ich für Pascals Projekt. Um seine einmalige Erfahrung bei der mehrmaligen Alpenüberquerung beneidete ich ihn heimlich. Trotzdem plante ich weiter am pct-Projekt. Obwohl mir bei der Recherche zur Via Alpina warm ums Herz wurde, war mir das eine Nummer zu gross. Der pct in Amerika, mit der guten Infrastruktur für Wanderer und den vielen Menschen, die jährlich starten, gab mir ein grösseres Sicherheitsgefühl. Ich recherchierte weiter.
Im August 2017 machte ich meine erste kleinere Weitwanderung. Obwohl ich fast jedes Wochenende wandern war, hatte ich noch nie alleine im Zelt übernachtet. Nun war ich stolze Besitzerin eines neuen msr-Hubba-nx-Einzelzelts und fest entschlossen, es sogleich zu testen: auf dem Bernina Trek im Engadin, der mit 140 Kilometern Länge, 7 Tagen, 8000 Höhenmetern und mit Zwischenstopps in sechs Berghütten das perfekte erste Wanderabenteuer zu sein schien. Die Route wurde zwar als Hüttentour vermarktet, ich entschied mich aber, im Zelt zu schlafen – beruhigt, dass im Notfall immer eine Unterkunft in der Nähe wäre. Mein Ziel auf dieser Tour war es, herauszufinden, wie ich allein in der Natur klarkomme.
In meinen Rucksack packte ich viel zu viel. Neben Zelt, Matte und Schlafsack stopfte ich auch einen kleinen Gaskocher, Kleidung (mehr als ich brauchte) und jede Menge Essen in den 50-Liter-Rucksack, der fast aus seinen Nähten platzte, als ich endlich fertig war.
Meine Mama, meine grösste Unterstützung bei allem, was ich tat, war mindestens genauso aufgeregt wie ich. Auch sie ist eine Abenteurerin, ist in ferne Länder gereist und motiviert mich immer wieder, meine Träume zu realisieren. Manchmal weiss sie sogar besser, was ich will, als ich zugeben möchte.
Als ich etwa 14 war, trainierte ich jede freie Minute im Snowpark. Das heisst, ich sprang mit Skiern über Schanzen und versuchte Tricks wie den «ThreeSixty» (eine ganze Drehung), den «Backflip» (einen Rückwärtssalto) und viele weitere. Jedes Jahr gab es in meinem Heimskigebiet einen Wettkampf für die internationalen Freeskier. Die besten der Welt wurden eingeladen und Normalos wie ich durften mitmachen und konnten sich fürs Finale qualifizieren. Etwa zwei Wochen vor dem Wettkampf sagte meine Mama mir, dass sie mich angemeldet habe, und dass ich – falls ich nicht teilnehmen wollte – ihr das Startgeld zurückzahlen müsste. Was sich wie eine Erpressung anhörte, war ein Schubs, meinen unausgesprochenen Traum zu realisieren. Obwohl sie meine Brüder und mich allein grosszog, kamen unsere Träume und Ziele nie zu kurz. Auch wenn sie zwischenzeitlich fast als Taxiunternehmen hätte durchgehen können. Stets musste sie einen von uns in irgendein Training fahren.
Bei meiner ersten kleineren Weitwanderung wollte sie mich unbedingt an den Startpunkt bringen. Als ich den Rucksack in ihr Auto lud, runzelte sie die Stirn, denn ich konnte ihn kaum hochheben.
Obwohl es schon Ende August war und der Sommer sich dem Ende zuneigte, war das Wetter fantastisch und zeigte sich von seiner besten Seite. In Madulain zog ich meine klobigen Bergschuhe an – sogar steigeisenfest waren sie. Ich hievte den Rucksack auf den Rücken und war bereit zum Start. Mama machte noch ein Foto, es gab eine Umarmung und schon wanderte ich los.
Nach nur wenigen Schritten merkte ich, dass der Rucksack nicht gut sass. Ich konnte meinen Kopf kaum aufrichten und deshalb nicht nach oben schauen, denn der Rucksack war so hoch gepackt, dass er über meinen Kopf hinausragte. Da es zu Beginn den Berg hochging, hätte ich ihn am liebsten abgesetzt und gleich an Ort und Stelle die Riemen angepasst. Doch meine Mama schaute mir nervös hinterher und ich wollte sie nicht verunsichern. Also ging ich erstmal weiter, Schritt für Schritt, bevor ich das Problem hinter der ersten Baumgruppe zu lösen versuchte.
Der Bernina Trek lehrte mich in den folgenden sieben Tagen vieles. Ich wusste nun, dass ich gerne allein in der Natur bin, gerne draussen schlafe. Aber auch, dass ich damals zu massives Schuhwerk trug und mein Rucksack viel zu schwer war. Er wog 20 Kilogramm und etwa ein Drittel der eingepackten Sachen brauchte ich während der Wanderung im Engadin nicht – so beispielsweise meine schöne Emaille-Tasse mit dem kitschigen Trendspruch On an Adventure. Das Schuhwerk bereitete mir jedoch die grössten Schmerzen: Weil es so warm war, schwitzte ich in den Schuhen, die kaum eine Lüftung hatten. Deshalb bildeten sich neun Blasen, die von Tag zu Tag schlimmer wurden, bis ich es nicht mehr aushielt und schliesslich in den Wandersandalen zum Zielort des Bernina Treks lief. In Poschiavo angekommen, konnte ich kaum noch gehen, aber ich zog es durch. Für mich war es ein Meilenstein und nach meiner ersten längeren Tour fühlte ich mich nun der Weitwander-Community etwas mehr zugehörig. Auch wenn es nur sieben Tage waren, endlich konnte ich mitreden.
Das Abenteuer von Pascal verfolgte ich immer noch voller Neugier. Er war mittlerweile in Triest am Meer angekommen, wie ich auf seinem Blog las. Seine Berichte waren sehr eindrücklich. Die Bilder der Berge, der steilen Pässe, sie waren wunderschön und die Landschaft so ursprünglich und einsam. Aber als Mann der Berge hielt er sich bei den Beschreibungen auf seinem Blog meist kurz. Teilweise musste die Via Alpina aufgrund von Schnee für ihn eine sehr grosse Herausforderung gewesen sein – so viel hatte ich jedenfalls erfahren.
Für mich lag die Via Alpina zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne und doch wurde mir klar, dass ich nicht nach Amerika wollte. Die Idee, in ein Flugzeug zu steigen, um Amerika zu durchwandern, wirkte in meinen Augen immer sinnloser. Ich wohne in einer der schönsten Gegenden der Welt. Die Schweiz ist ein Paradies und die Alpen sind noch viel grösser als nur die Berge in der Schweiz – einen Bruchteil davon hatte ich schon erkunden können. Selbst wenn ich mich auf Europa beschränken würde, gäbe es eine Vielzahl an Weitwanderrouten, die einfach viel weniger Bekanntheit geniessen als der pct. Wieso so weit reisen, wenn das Schöne so nah liegt? Wortwörtlich vor der Haustüre. Ich entschied mich, mein persönliches Weitwander-Projekt auf meinem Heimatkontinent zu planen.
Weitwanderung: Ja! pct: Nein.
Doch dann wurde meine Arbeit als pr- & Kommunikationsangestellte für eine Tourismusdestination in Graubünden immer intensiver. Auch mein Nebenjob als pr-Managerin von Andri nahm Fahrt auf. Er wurde immer bekannter und so häuften sich die Interviewanfragen im E-Mail-Postfach. Die Arbeit machte mir so viel Spass, dass sich mein Fokus veränderte und ich mich einer weiteren Ausbildung widmete. Den Titel als eidgenössische Marketingfachfrau hatte ich schon, aber ich beschloss, mein Wissen auch im Bereich pr zu vertiefen. Ich arbeitete 100% bei meinem Hauptarbeitgeber, koordinierte morgens und abends die Termine für Andri und am Wochenende ging ich nach Zürich in die Schule, um mich auf die eidgenössischen pr-Fachprüfungen vorzubereiten. Mir blieb maximal ein Tag Freizeit und somit schob ich das Thema Weitwanderung auf die Seite. Ich hatte keine Zeit, mich zu informieren oder etwas zu planen. Aber mir war klar, dass der Moment für die Wanderung noch kommen würde.
Im Frühling 2019 kam ich an einen Punkt, wo ich realisierte, dass sich etwas ändern musste. Ich versuchte mich gegen den Stress, den Druck und die Schnelligkeit meines Lebens zu wehren – ohne Erfolg. Mir wurde alles zu viel. Ich war überall gleichzeitig und nirgends richtig. An meinem einzigen freien Tag pro Woche schmiss ich den Haushalt, bezahlte Rechnungen, besuchte meine Familie, lernte und versuchte jeweils eine Bergtour zu unternehmen, um meine Batterien aufzuladen. Das funktionierte aber nicht. Deshalb plante ich mit meinem Freund Christian eine grosse Reise nach Kanada. Wir wollten beide abschalten. Er hatte sein Masterstudium abgeschlossen und ich wollte Überstunden abbauen und den Stress hinter mir lassen. Nur die Schule lief wie gewohnt weiter. Da ich den Unterricht «schwänzte», musste ich in den Ferien für die pr-Prüfungen lernen. Fünf Wochen reisten wir durch Westkanada, wanderten und fuhren Kajak in der grenzenlosen Wildnis. Zu Beginn der Reise war ich eine Woche so krank, dass ich im schäbigen Hostel in Vancouver bleiben musste, während Christian allein die Stadt erkundete. Ich war genervt von meinem Körper. Wieso machte er genau jetzt schlapp? Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich erholte und merkte, dass meine Batterien sich nicht mehr so leicht aufluden, dabei war ich doch erst 26.
Im Juni 2019 kamen wir zunächst erholt und glücklich zurück in die Schweiz. Allerdings ging alles weiter wie gewohnt und schon nach wenigen Wochen stand mir das Wasser wieder bis zum Hals. Doch meine Arbeit für die Destination machte sich bezahlt und ich wurde zur Teamleiterin der pr- & Kommunikationsabteilung befördert. Darüber freute ich mich sehr, wusste aber, dass es eigentlich kein guter Zeitpunkt war.
Im Herbst 2019, noch vor den letzten Prüfungen meiner Ausbildung, entschied ich mich, meinen Job zu kündigen, um das Projekt Weitwanderung nun endlich anzugehen. Ich war reif für eine richtige Auszeit ohne Rückkehr ins Bekannte. Die Zeit verging wie im Flug. Mein letzter Arbeitstag und die Abschlussprüfungen fielen terminlich fast zusammen und rauschten regelrecht an mir vorbei.
Nur zwei Tage später reisten meine Mama und ich nach Nepal. Nach der anstrengenden Zeit wollten wir gemeinsam in den Bergen Nepals nach Erholung suchen. Kein Netz – all die täglichen «To-dos» waren weit weg. Wir trekkten für fast drei Wochen im Everest-Gebiet. Es war eine besondere und neue Erfahrung. Erstens konnte ich drei Wochen nicht duschen und zweitens war ich erstmals in richtig hohem Gebirge. Wir wanderten über 5500 Meter hohe Pässe und beide kämpften wir fast täglich gegen die Übelkeit, die die Höhenkrankheit mit sich brachte. Gegen Schluss der Reise erlebte ich einen Aufschwung. Mit der Hilfe von einheimischen Sherpas – unser Schweizer Bergführer musste nämlich umkehren – schaffte ich es von 5100 Metern über felsiges Gelände und Gletscherspalten bis auf den 6200 Meter hohen Island-Peak-Gipfel. Wir waren am Morgen zu zehnt gestartet und zu viert standen wir schlussendlich auf dem Gipfel. Das zeigte mir, dass mein Körper trotz fast zweiwöchiger Schwächung ziemlich viel zu leisten vermochte, wenn es darauf ankam. Meine Mama verfolgte mein Abenteuer von der Hütte aus.
Zurück in der Schweiz ging ich meinem geheimen Masterplan nach. Ich arbeitete während der Wintersaison als Skilehrerin in meinem Heimatort Flims, um mich abends meinen Abenteuerplänen widmen zu können. Als Skilehrerin arbeitet man selten mehr als sechs Stunden am Tag – was für ein befreiendes Gefühl. Das ermöglichte mir viel Freizeit. Trotzdem war für mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, was für ein Abenteuer es im Sommer 2020 werden sollte. Plan a war eine Weitwanderung – aber welche? – und Plan b ein Sommer auf einer Berghütte. Ich liess mir diese beiden Optionen vorerst offen und genoss den Winter. In meine Pläne weihte ich kaum jemanden ein. Lange überlegte ich hin und her, was ich wohl lieber machen wollte.
Irgendwann machte es einfach «Klick». Bei einem Abendessen mit Bekannten wurde ich gefragt, was ich denn im Sommer arbeiten würde. Ohne gross darüber nachzudenken erzählte ich, dass ich die Weitwanderung «Via Alpina» versuchen wollte. Innerlich wusste ich, dass der Hüttensommer mir nicht weglaufen würde. Den konnte ich auch noch mit 60 Jahren machen, eine Weitwanderung vielleicht nicht. Zuhause sagte Christian: «Hey, mir hast du gar nie gesagt, dass es nun die Via Alpina wird! Wann hast du dich entschieden und warum hast du es mir nicht gesagt?» Diese Fragen konnte ich nicht beantworten. Ich wusste es selbst nicht so genau. Dann stand es also fest – und ohne mir nochmals gross Gedanken zu machen, wollte ich trotz aller Ängste und grösstem Respekt die rote Via Alpina versuchen.
Wenn schon, denn schon.
Tagsüber trainierte ich für die Examen einer Zusatz-Skilehrerausbildung und coachte Gäste aller Levels zu einer besseren Skitechnik. Abends ging ich als mittlerweile 27-Jährige nicht mehr auf Partys, etwas unüblich für mein Alter, sondern plante die Weitwanderung. Ich begann meine Route auf der Karte zu skizzieren, lud gps-Daten auf mein Navigationsgerät herunter und markierte Dörfer mit Supermärkten für Verpflegungsnachschub.
Bis zum 13. März 2020.
Dann kommt der Coronavirus-Lockdown und ich bin von einem Tag auf den anderen ohne Job, weil auch der Skiunterricht ausfällt. Meine sichere Anstellung habe ich schon im Herbst aufgegeben und ich weiss auch nicht, ob ich diesen Sommer überhaupt aufbrechen kann. Am Anfang mache ich mir keine Sorgen, aber als die ersten Stimmen in den Medien eine angespannte Situation für über zwei Jahre prophezeien, wird mir mulmig zu Mute und die Lust, eine Wanderung zu planen, die vielleicht niemals stattfinden wird, ist verflogen. Wenn man nach mehr als fünf Jahren einen sicheren Job mit regelmässigem Einkommen gekündigt und viel Mut aufgebracht hat, um endlich seinen grossen Traum Realität werden zu lassen, dann belastet diese Planlosigkeit. Zuerst kann ich mich noch mit Freelance-Aufträgen über Wasser halten und auch meine nebenberufliche Arbeit für meinen Bruder Andri hält mich stets beschäftigt. Doch irgendwann wird es Zeit, sich mit der Zukunft dieses Schlamassels zu befassen. Eine Besserung der Situation ist noch nicht in Sichtweite. Doch als ich wieder beginne nach Jobs zu suchen, kommen die ersten Aussagen der Schweizer Regierung zu den geplanten Lockerungen der Corona-Massnahmen. Da habe ich bereits ein Angebot für eine interessante Stelle bekommen. Wieder werde ich unsicher: Soll ich den Wanderplan umsetzen oder doch lieber hierbleiben? Auf Nummer sicher gehen?
Ich entscheide mich fürs Wandern.
Die Grenzen in Europa sollen schon im Juni wieder geöffnet werden. Glücklicherweise stosse ich bei meinem zukünftigen Arbeitgeber mit meinem Problem, dass ich nun doch noch nicht arbeiten will, auf Verständnis und kann im Mai 2020 den perfekten Deal abschliessen: Festanstellung ab November 2020, sobald ich von der Via Alpina zurück bin. Jackpot. Nachdem das geregelt ist, kehre ich nun mit Vollgas zur Planung zurück, die ich aus Frust zur Seite gelegt habe. Die ursprünglich angedachte Route von Monaco nach Triest ist leider nicht machbar, aber ich habe eine neue Idee. Und zwar werde ich einfach in der Schweiz losgehen, und wenn ich diese durchquert habe, sind weitere fünf bis sechs Wochen vorbei und die Grenzen mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder offen.
In den letzten Tagen vor meinem Aufbruch beginne ich, alle meine Ausrüstungsgegenstände zu wiegen. Ich habe schon davon gehört, dass es viele, die auf Weitwanderungen gehen, so machen. Das finde ich zwar etwas doof, doch irgendwann kommen Zweifel an meinem Schlafsystem auf. Also wiege ich jeden Gegenstand und siehe da, mein Schlafsystem ist tatsächlich überdurchschnittlich schwer im Vergleich zu meinem übrigen Wander-Hab-und-Gut. Zum Schlafsystem gehören eine Matte, der Schlafsack und das Zelt. Auch mein Tragesystem – also der Rucksack – ist etwas zu schwer. Da ich eher klein bin und besonders gut auf das Rucksack-Gesamtgewicht achten muss, entschliesse ich mich kurzerhand, mir einen neuen Rucksack und Schlafsack zu leisten. Obwohl ich eine komplette Ausrüstung besitze, ist diese einfach nicht fürs Weitwandern gedacht, sondern für kürzere Mehrtagestouren. Mein Material muss unbedingt leichter werden! Das Schlafsack-Problem löst sich schnell. Korrekt ausgedrückt handelt es sich aber gar nicht mehr um einen Schlafsack, sondern um einen Quilt. Nie hätte ich mir zugetraut, diesen Kompromiss einzugehen und mir einen Quilt anzuschaffen, aber das ist die beste und einfachste Lösung, um Gewicht zu sparen. Ein Quilt ist ein Schlafsack, der am Rücken offen ist. Er ist mehr wie eine Decke und mit Gummizügen kann man diesen Quilt um die Matte fixieren, damit keine kalte Luft hineinkommt. Man liegt also einfach auf der nackten Matte. Die Theorie dahinter ist, dass die Daunenfedern, auf welchen man in einem normalen Schlafsack liegt, aufgrund der Kompression durch das eigene Körpergewicht sowieso keine Wärme mehr speichern können.
Der Rucksack ist eine neuere und leichtere Version meines alten Rucksacks. Er ist breiter als lang, was ideal für mich ist. Noch wichtiger: Er überragt nicht meinen Kopf.
Mit sieben Kilo Basisgewicht bin ich nun bereit für mein Abenteuer auf der Via Alpina.
Es ist der 28. Mai 2020. Ich winke gerade meinem Freund ein letztes Mal zu, als er mit dem Zug von Chur nach Zürich davonfährt. Obwohl er mich möglicherweise schon am folgenden Wochenende auf der Via Alpina besuchen kommt, fühle ich mich unglaublich zerbrechlich und traurig. So lange habe ich diesem grossartigen Moment entgegengefiebert und nun versetzt mich der kommende Samstag in Panik. «Was zur Hölle habe ich mir nur vorgenommen?!», frage ich den Spiegel im Auto. «Warum will ich über vier Monate lang jeden Tag allein wandern?»
Die Idee kommt mir immer bescheuerter vor: Ich, 160 cm gross, mittelmässig fit, kaum Weitwander-Erfahrung, will einen der anstrengendsten Trails überhaupt in Angriff nehmen. Warum? Das weiss ich mittlerweile nicht mehr.
Ich fahre mit dem Auto vom Bahnhof Chur zurück nach Flims. Ich muss noch kurz zu meiner Mutter, um ihr das Auto zurückzugeben, das sie mir geliehen hat, um Christian am Bahnhof abzuladen. Eigentlich hoffe ich, dass sie nicht zuhause ist. Wir hatten am Vortag einen grossen Streit wegen einer Lappalie. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gestritten und es war nur passiert, weil ich unter Druck stehe und sie nervös ist. Ein schlechteres Timing gibt es nicht. Seitdem herrscht Funkstille.
Als ich bei ihrem Haus ankomme, ist sie dort. Ich bedanke mich für das Auto und gebe ihr den Schlüssel zurück. Sie sieht mich an und sagt: «Dir geht es nicht gut, stimmt’s?» Ach, Mamas müssen aber auch immer noch Öl ins Feuer giessen. Direkt füllen sich meine Augen mit Tränen und sie nimmt mich in den Arm. Ich schluchze etwas von «Christian ist jetzt weg und ich weiss nicht, ob ich noch los will …». Das gesamte Via-Alpina-Projekt erscheint mir einfach eine Nummer zu gross. Meine Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss scheinen gleich Null und die Unsicherheit der anhaltenden Corona-Pandemie macht die Sache kein bisschen leichter. Fragen, auf die ich keine Antwort finde, schwirren mir pausenlos im Kopf herum. Wie wird sich der Sommer entwickeln? Bleiben meine Liebsten gesund? Werde ich, wenn ich zurück bin, meinen neuen Job überhaupt starten können? Wie wird sich die Corona-Pandemie in den Bergen entwickeln? Werden die Berghütten offen sein?
Aber dann legt meine Mama ihre Arme um mich und sagt mir, dass auch sie vor jedem grossen Abenteuer am liebsten gar nicht mehr aufgebrochen wäre. Dass es normal sei, sich so zu fühlen. «Immer dem Herzen nach», sagt sie. Dann bringt sie mir eine kleine Schachtel, worin sich ein Anhänger befindet. Er ist roségold, was ich sehr gerne mag, und darauf steht geschrieben: Lebe deinen Traum. Ich trockne meine Tränen, meine ersten Via-Alpina-Tränen. Es ist nur ein Heul-Moment von vielen, die noch folgen werden.
Den Anhänger befestige ich an meiner Halskette mit dem blauen Herzen, welche ich von Christian bekommen habe. Ich weiss, dass ich von allen unterstützt werde und dass Abbrechen eigentlich gar nicht schlimm wäre. Aber versuchen muss ich es. So verbringe ich zwei letzte Tage in Flims, mit fast durchgehend laut klopfendem Herzen, nervös wie nie zuvor.