Von Whisky, Werwölfen und Weichspüler -  - E-Book

Von Whisky, Werwölfen und Weichspüler E-Book

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Beschreibung

Diese Anthologie bietet nicht nur einen Bummelgang kopfüber durch den Zauberwald zu einem Plausch mit dem schnellsten Kind der Welt im Waschsalon. Sie ist ein Festival wilder Mixturen und einmaliger Begegnungen mit schwer vermittelbaren Außenseitern. Lektionen und Wandel tummeln sich dort wie Seifenblasen im seidigen Fell der Werwölfe. Diese besondere Textsammlung gleicht einem Spaziergang mit Suff statt Wuff durchs Heidekraut und entführt auf einen Ritt durch die Wüste am Ende der Zeit - ganz romantisch bei Vollmond und immer mit der Sehnsucht nach Juli im Herzen. Ein buntes Textpotpourri aus Prosa und Poesie, gestaltet von 22 Schreibenden, unterschiedlich und doch vereint in dem Wunsch, eine Spendenanthologie zu schaffen, deren Erlöse vollumfänglich dem Verein aktion tier zugutekommen.

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Seitenzahl: 360

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INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Seidiges Haar

Das schnellste Kind der Welt

Die Lektion

Schwer vermittelbar und nicht auf der Suche

Gedankenträume und Bonbonbäume

Noctuniar

Manfred geht Gassi

Wenn Dunkelheit alles ist, was bleibt

Vollmondküken

Sehnsucht nach Juli

Wolfsvermächtnis

Hikikomori

Wolfszeiten

Dagegen ist ein Kraut gewachsen

Kopfüber

Der Sinn von allem

Das Trüffelschwein

Eine ängstliche Liebe

Ein aufstrebendes … Berufsfeld

Die Weichspüler-Witwe

Von Gefühlen, Gerüchen und Gentlemen

Familienbande

Vorwort

Wenn eine Autorin und eine Lektorin feststellen, dass es trotz aller gemeinschaftlichen Vereinene und ehrenamtlichen Tätigkeiten, trotz der wertvollen Aufklärungsarbeit und des fortschreitenden Denkwandels im Bezug auf Diversität und Tierwohl immer etwas gibt, das man tun kann, dann entsteht eine wunderbare Idee.

Eine Idee, die in der Zusammenarbeit mit 20 weiteren Schreibenden zu etwas Großem und Wunderbarem gewachsen ist, das mitunter nicht die Welt verändern oder gar retten kann, aber seinen Teil dazu beiträgt, dass der Tierschutzverein aktion tier weiterhin so wichtige und wertwolle Arbeit leisten kann.

Wir wünschen spannende, humorvolle, schmachtende und einmalige Lesestunden, bei denen das Bummeln durch die Geschichten so viel mehr erreichen kann, als nur Türen zu neuen Welten zu öffnen.

Anna Kügler wurde am gleichen Tag geboren wie E. A. Poe, allerdings fast 200 Jahre später. Sie lebt und liebt in einem Dorf bei Göttingen, wo sie hauptberuflich als Gesundheits- und Krankenpflegerin arbeitet. In ihrer Freizeit schreibt sie Dystopien mit einem kleinen Touch Hoffnung. Ihr Debütroman SPLITTERSTERNE – Toter Himmel erschien 2023.

Anna Kügler

Seidiges Haar

Ich wusste, dass etwas faul war, als mich abends auf dem Esstisch ein Glas Whisky erwartete, und zwar neben einem Zettel, auf dem stand: Trink erst mal was, Paps, und komm dann ins Wohnzimmer.

Nach all den Jahren kannte ich meine Töchter gut genug, um ihren Worten Folge zu leisten. Sicherheitshalber goss ich mir noch ein zweites Glas ein, bevor ich die gute Stube betrat.

Dort saßen meine acht Töchter auf Sofa und Sessel versammelt und guckten mir betreten entgegen.

»Äh, Paps«, fing Marta an. Sie war die Älteste und die anderen bewunderten sie für ihre drei Minuten Vorsprung vor Sally. »Sei bitte nicht sauer.«

»Du hast doch was getrunken, oder?«, vergewisserte Angie sich.

Vielleicht sollte ich demnächst mal ein Gespräch darüber führen, dass Alkohol keine Probleme löste. Bei dem Anblick, der sich mir bot, wünschte ich mir allerdings, viel mehr als nur ein Glas Whisky intus zu haben.

Die Mädchen sahen aus, als hätten die Achtzigerjahre ein Comeback gefeiert und dabei die doppelte Dosis an Haarspray verwendet – um anschließend fröhlich ein paar Cheerleader-Pompons in die Luft zu jagen, auf den Köpfen meiner Kinder zu befestigen und das Ergebnis dann Frisur zu nennen. Das Whisky-Glas entglitt meinen Fingern.

June rollte sich von der Couch und fing es auf, bevor es den Boden erreichte. Nicht ein Tropfen Alkohol wurde vergossen. Mit reumütigem Gesichtsausdruck gab sie es mir zurück. »Nicht sauer sein in«, bat sie kleinlaut.

Ich brauchte einen Moment – und einen großen Schluck –, um meine Stimme wiederzufinden. »Was ist hier passiert?«, fragte ich dann – nicht gerade originell, aber man sah auch selten seine Kinder mit explodierten Dauerwellen auf dem Kopf.

Auf dem Sofa gab es ein allgemeines Ellbogengeschubse, an dessen Ende Marta sich räusperte. »Na jaaa«, fing sie an und gab sich dabei sehr erwachsen. Dass ihre Haare aussahen wie ein geplatztes Sofakissen, half nicht. »Weißt du, Paps, es gibt doch diese App.«

»MoonTok«, warf Carla hilfsbereit ein. »Du weißt schon, mit diesen Videos.«

Oh, ganz toll. Ich scheuchte Sina und Bella mit einer Handbewegung vom Sessel runter und setzte mich. »Ich ahne Furchtbares.«

Nora grinste hilflos unter ihrer gruseligen Puschelfrisur. »Jaaa, Paps, aber du siehst das völlig falsch.«

Was gab es daran denn bitte falsch zu sehen? Eine riesige Onlineplattform, auf der junge Werwölfe sich dämliche Videos schickten, in denen sie beinahe von Menschen bei der Verwandlung gesehen wurden oder versuchten, in Wolfsgestalt Menschendinge zu bedienen, zum Beispiel Fahrstühle, Computer oder so etwas Simples wie Besteck.

»Na, ich weiß ja nicht«, fing ich an, doch ich kam nicht weit.

»Neiiiin, Paps, das ist total wichtig!«, unterbrach Marta mich und fand zustimmendes Nicken bei all ihren Schwestern. Was eine Überraschung. »Wir haben doch sonst sooo wenig Möglichkeiten, uns zu connecten.«

Mein angeschickertes Hirn brauchte einen kleinen Moment, um das zu übersetzen. »Wieso?«, wollte ich dann wissen. »Es gibt mehr als genug Treffpunkte für Untote.«

»Jaaa, Paps, aber die sind alle sooo analog!« Marta rollte mit den Augen, als sei es eine große und unfassbare Zumutung, mal bei Vollmond nach draußen zu gehen. »Wir brauchen doch auch online ein paar Friends!«

Äh, ja, wenn sie das sagte. Aber das erklärte noch nicht alles.

»Wie dem auch sei …« Ich tat so, als hätte ich die Unterhaltung bisher dominiert. »Was ist denn jetzt mit euren Haaren?«

»Na, Paps, da gab es so ein Video«, murmelte Sina.

»Einen Lifehack!«, warf Nora ein. »Das funktioniert sonst immer!«

Wollte ich wirklich darüber nachdenken, wie viele dieser ›Lifehacks‹ meine Töchter schon ausprobiert hatten? Vielleicht sollte ich nächsten Vollmond doch besser das Kabel vom WLAN-Router durchkauen.

»Und?«, hakte ich nach. Ich hätte echt gern den Ton eines bösen, gefährlichen Leitwolfs angeschlagen, aber irgendwie klang ich dann doch wie ein alleinerziehender Vater, der dringend eine Mütze Schlaf brauchte.

Trotzdem genügte es, um meine Töchter zur Kooperation zu bringen. Marta holte nach ausgiebigen Blickwechseln ihr Smartphone aus der Handtasche – das Teil war so groß, dass sie es mit beiden Händen halten musste – und tippte darauf herum. Dann reichte sie es mir. »Hier, Paps«, sagte sie und klang dabei wie ein Wolf, der unter einer undichten Regenrinne stand. »Es tut uns echt leid, weißt du.«

»Wir wollten doch nur –« Was immer Angie nur wollte, wurde von einem Schluchzer unterbrochen. Carla schlang einen Arm um ihre Schultern. Na, immerhin trösteten sie sich gegenseitig. Das war doch ein Anfang.

Zögerlich warf ich einen Blick auf Martas Handy. Auf dem Display war eine junge Frau zu sehen, die einen Filter über ihr Video gelegt hatte, der sie mit Hundeohren versah. Wie witzig. Sie strahlte, trug eine viel zu tief ausgeschnittene Bluse und erzählte irgendwas über flauschiges Haar. Ah, so langsam verstand ich, worauf das hinauslief. »Echt jetzt?«, stöhnte ich, noch bevor die Wolffluencerin im Smartphone auf den Punkt kam. »Ich dachte, ihr wärt schlauer.«

»Maaann, Paps!«, jammerte Marta. »Guck wenigstens bis zum Ende!«

Wer war ich, da zu widersprechen? Ich schluckte einen weiteren bösen Kommentar runter und guckte weiter zu, wie die Wölfin im Handy ihre Haare mit etwas wusch, das dem Etikett nach Weichspüler war.

»Du weißt doch, dass Menschenhaarpflegeprodukte bei uns nichts bringen«, jaulte Sina. »Und was ist denn so schlimm daran, seidiges Haar zu wollen?«

»Gar nichts«, antwortete ich automatisch und starrte weiter aufs Handy. Die Wolffluencerin schüttelte gerade ihre – ja, okay – seidigen Haare und hielt eine Flasche Weichspüler in die Kamera. Echt jetzt? »Aber, Mädels … Weichspüler?!«

Es gab eine ganze Menge verlegenes Gescharre mit den Füßen, bis Marta sagte: »Na jaaa … Es war einen Versuch wert, oder?«

Wenn ich mir ihre Frisuren so ansah, dann nicht, nein.

»Und, Paaaaps …« Angie dehnte das letzte Wort beunruhigend lang. »Weißt du, wir schämen uns ja. Und du könntest uns jetzt eeecht mal einen Gefallen tun.«

Sofort blinzelten mir acht große, herzzerreißende Augenpaare entgegen. Das war nicht fair! Wie sollte ich den Mädchen so denn irgendwas abschlagen?

»Was wollt ihr?«, fragte ich und fühlte mich von den lieben Blicken und dem hoffnungsvollen Lächeln in die Defensive gedrängt.

»Na jaaa«, meinte Marta, die ohne ihre dämliche Explosionsfrisur bestimmt eine hinreißende Politikerin abgegeben hätte. »Wir können morgen nicht in die Schule. Ist ja klar. Alle würden uns auslachen.«

»Und das würde dem Ruf des Rudels schaden!«, legte Carla eifrig nach. So begeistert, wie sie das sagte, könnte sie auch mit heraushängender Zunge und wedelndem Schwanz vor mir sitzen.

»Aber ihr würdet vielleicht etwas daraus lernen«, meinte ich und gab mir wirklich große Mühe, entschlossen zu klingen. »Zum Beispiel, dass ihr euch nicht jedem dummen Trend im Internet anschließen müsst. Und dass ihr die Folgen eurer eigenen Handlungen selber tragen müsst!« In diesem Fall auf dem Kopf. Selbst schuld.

Ein großer Chor von »Ooooh nein, Paps!« über »Aber Paaaaps!« bis zu »Paaaps, das kannst du nicht von uns verlangen!« erklang. Unglaublich, wie einig sie sich sein konnten, wenn sie nur wollten. Normalerweise führte schon das Abendessen zu Beißereien unter den Mädchen.

»Oh doch, ich kann!«, behauptete ich und nahm noch einen großen Schluck Whisky.

Das half nicht gegen acht Augenpaare, in denen Tränchen schimmerten. Acht zitternde Unterlippen. Acht Gesichter, in denen die Angst stand, ausgelacht zu werden.

»Nein, Mädels.« Ich versuchte, meinen Standpunkt zu verteidigen. »Das ist nicht okay! Ich kann euch doch nicht allen für morgen eine Entschuldigung schreiben.«

»Schreib, wir haben Flöhe!«, schlug Sina vor. »Oder irgendwie so was!«

»Wir brauchen nur zwei, drei Tage, um unsere Haare in Ordnung zu bringen!«, fügte Nora hinzu.

Und schon waren es drei Tage. Das wurde ja immer besser. Aber diese großen flehenden Augen … »Guckt nicht so!«, wehrte ich ab. »Das ist nicht fair!«

»Das Leben ist nicht fair!«, rief Marta. »Und die Schule ist es auch nicht. Biiiitte, Paps, nur drei Tage! Wir lassen uns auch die Hausaufgaben herbringen!«

Ja, von Jakob, dem Nachbarwolf, der sich gar nicht entscheiden konnte, welcher meiner Töchter er nachhecheln wollte. Das kannte ich bereits.

Nora grinste noch etwas breiter. »Und wir versprechen auch, keine MoonTok-Challenges mehr mitzumachen«, flötete sie.

Das war verlockend. »Versprochen?«, vergewisserte ich mich in die Runde.

»Versprochen!«, schallte es mir achtstimmig entgegen.

Na, was sollte ich da noch tun? »Dann gebt mir halt eure Entschuldigungshefte.«

Ich seufzte schwer. Das war beim nächsten Elternabend garantiert wieder Thema. Und abgesehen von Eliza, die alleine einen Wurf Jungs aufzog, verstand mich wieder niemand. Aber damit kam ich klar. Was machte man nicht alles für seine Familie?

Marie Herwegh, geboren 1992, lebt zwischen Hamburg und Buchwelten. Seit ihrer Kindheit schreibt sie Geschichten, die bisher nur die eigene Familie zu Gesicht bekam. Mit ihren Kurzgeschichten bewegt sie sich mit ihren Charakteren zum ersten Mal in das Licht der Öffentlichkeit.

Marie Herwegh

Das schnellste Kind der Welt

Der Mittag war eine grausame Tageszeit. Auf den Straßen Ehrachs wimmelte es von Menschen, die nach Nahrung suchten und dabei ihre Manieren vergaßen. Schultaschen wurden in Schultern gerammt und Münzen fielen klirrend zu Boden, meist gefolgt von Flüchen. Doch niemand machte sich die Mühe, sich zu bücken und danach zu suchen. Denn sie wussten, wer sich dort aufhielt, und niemand wollte ihr begegnen.

Whisky war ein ungewöhnliches Mädchen. Keiner wusste genau, wie jung sie war, aber es wurde gemunkelt, sie müsste mittlerweile die Schule besuchen. Dort gesehen hat sie nie jemand. Und niemand hat je nach ihr gefragt.

Whisky kaufte sich von dem gefundenen Geld grobe Würste beim Metzger und teilte sie mit den Straßenhunden in den Häusergassen. Sie waren ihre besten Freunde und die Einzigen in der ganzen Stadt, die genauso schnell waren wie sie. Dafür reichten ihr die Tiere, die sonst ihre Zähne bleckten, die Pfote. Und niemand war überrascht. Für die meisten Leute bestand kein Unterschied zwischen dem Mädchen und ihren Freunden.

Whisky trug den Geruch der Gosse als Parfüm und ihre Haare dienten ihr als Mantel. Ihre Mähne reichte bis zu den Knöcheln und war verfilzt, sodass sie wenig liebevoll »Werwolfspelz« genannt wurde. Auf ihren Wegen durch die Ortschaft blieben Schulkinder stehen und warfen kleine Papierflieger nach ihr, stets in der Hoffnung, dass diese in ihren Haaren hängen blieben. Dann fletschte Whisky ihre Zähne und fauchte, sodass sogar die größten Jungen Reißaus nahmen.

Die meiste Zeit verbrachte Whisky in der kleinen Eckkneipe, die ihrem Onkel gehörte, wo normalerweise aber nur ihre Tante anzutreffen war. Niemand hier würdigte Whisky eines Blickes und falls doch, boten sie ihr Getränke an. Whisky streckte ihnen als Antwort die Zunge entgegen und sammelte weiter leere Flaschen vom Boden auf.

Sie hatte schon einmal Bier getrunken. Ihr Onkel hatte es ihr angeboten, als sie das erste Mal in die Kneipe kam. Er trank es jeden Tag, wie schlimm konnte es also schon sein? Doch es hatte scheußlich geschmeckt und es war ihr davon stundenlang schlecht gegangen. Ein grausames Gebräu! Seitdem hielt sie Abstand von Bier und ihrem Onkel, der allzu oft danach roch. Zum Glück half ihre Tante in der Kneipe aus und machte den Ort zu einer annehmbaren Alternative zur Straße.

Nichts an dem heutigen Tag war anders. Selbst das Wetter schmückte sich im Alltagsgrau. Und so legte sie auch heute die Flaschen klirrend in einen Beutel, den sie in der Besenkammer deponierte. Doch als sie die Tür schloss, stand er plötzlich vor ihr.

Er hatte die blonden Haare akkurat zur Seite gekämmt und duftete nach Weichspüler. »Kinder dürfen nicht in Kneipen«, stellte er fest und starrte sie mit unschuldigen Augen an.

»Du bist doch auch hier!«, erwiderte Whisky und fletschte die Zähne.

Der Junge legte den Kopf schräg, wich jedoch nicht zurück. »Meine Mutter will nur schnell etwas erledigen, dann gehen wir wieder!«, stellte er klar.

»Umso besser!«, fauchte Whisky und drängte sich an ihm vorbei. Doch der Junge folgte ihr.

»Ich bin übrigens Leonhard, aber eigentlich nennen mich alle Leon.«

Whisky lief durch das Labyrinth an Tischbeinen und Stühlen, doch er trottete einfach hinter ihr her.

»Whisky.«

»Nein danke. Das ist nichts für Kinder!«

»Das ist mein Name!«, fauchte sie.

»Whisky?« Leon lachte, aber es war anders als das Lachen der Schuljungen am Straßenrand. »Trinkst du das gerne?«

Whisky fuhr herum. »Eine dumme Frage! Und ich rede nicht mit dummen Menschen!«

Leon legte erneut den Kopf schräg. »Um genau zu sein, redest du noch gar nicht viel«, stellte er fest. »Was machst du mit den Flaschen?« Er deutete auf die Besenkammer.

»Geht dich nichts an!«, zischte Whisky und ihre Haare wippten vor Wut. Was ging es diesen verzogenen Jungen an, was sie tat? Niemanden interessierte, was sie tat.

»Zeig es mir und ich verrate es niemandem.«

Dieser arrogante Schnösel! Whisky entblößte ihre Zähne und fauchte ihn an. Das war ihre wildeste Geste und sie half immer.

Leon fuhr zurück, fing sich aber nach nur wenigen Schritten wieder.

»Zu zweit kann man doppelt so viel tragen, weißt du?«, fügte er hinzu, seine Stimme leiser als zuvor.

Er ging sicherlich zur Schule. Whisky roch es an der Art, wie er sich ausdrückte. Er war klug, aber er sprach dummes Zeug!

Sie dachte kurz nach. Vielleicht hatte sie doch eine Verwendung für ihn! Der Beutel war heute besonders voll, die Gäste der Kneipe hatten ganze Arbeit geleistet.

»Wenn du mich verrätst, suche ich dich in ganz Ehrach!«, drohte sie ihm, doch ein leichtes Grinsen huschte über Leons Gesicht.

Das gefiel ihr nicht und sie rauschte an ihm vorbei. Zusammen zogen sie den großen Beutel mit leeren Glasflaschen aus der Besenkammer und zerrten ihn hinaus.

»Du nimmst den hinteren Teil!«, befahl sie ihm und deutete auf einen Zipfel des Stoffbeutels. Nur von ihrem Keuchen begleitet, stapften sie die Straße hinunter bis zu den Feldern, die Ehrach umgaben, und hinein in den Wald.

»Du kennst dich hier aus?«, fragte Leon und sah zu den hohen Baumwipfeln auf, die sich langsam im Wind wiegten.

»Manchmal verirre ich mich auch, aber spätestens nach zwei Tagen finde ich immer wieder zurück.«

»Zwei Tage?« Leon ließ fast seinen Zipfel fallen. Whisky sah, dass seine Knöchel hervortraten. Schwächling!

»Hier ist es!«, verkündete sie und schob ein paar Äste zur Seite. Eine kleine Lichtung erschien, auf der sich ein Berg an leeren Flaschen erhob. Statt reiner Waldluft roch es hier nach Kneipe.

Whisky leerte den Beutel und die Glasflaschen fielen scheppernd auf den Haufen. Sie zog eine rot gefärbte Flasche daraus hervor und deutete auf einen abgeholzten Baumstumpf. »Das ist meine Werkstatt!«, sagte sie und ließ sich zu Boden fallen, wobei sie auf ihrem Werwolfspelz Platz nahm.

Mit einem Hammer zerbrach sie die Flasche, nahm eine Glasscherbe und zog ein Schleifpapier aus ihren Röcken. Leon stand nur vor ihr, während sie sich an die Arbeit machte. Sie wand das Glasstück in ihren Händen und rundete die Ecken ab.

»Fertig!«, sagte sie und hielt triumphierend das geschliffene Glas in die Luft.

»Und was soll das sein?«, fragte Leon.

Enttäuscht ließ Whisky das Glas sinken und funkelte ihn an. »Wir gehen zurück!«

»Das war doch gar nicht böse gemeint!«, verteidigte sich Leon und stolperte hinter Whisky her, während sie den Wald verließen.

Als die Eckkneipe schon in Sichtweite war, bog Whisky in eine Gasse ab, schnell genug, dass Leon ihr nicht folgen konnte. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, so einem arroganten Jungen ihr größtes Geheimnis zu zeigen?

»Alle Kinder müssen in die Schule!« Leon stand vor ihr, sein Schulranzen drückte seine schmalen Schultern nach unten.

Er passte nicht in ihre Kneipe, befand Whisky und baute weiter an ihrem Stühlelabyrinth, das sie sich für heute vorgenommen hat.

»Gehst du denn morgen mit in die Schule?« Leon ließ nicht locker mit seinem nervigen Thema.

Whisky zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Ich wette, ich bin schneller als du!«

Whisky erstarrte bei ihrem Stühlebau und sah ihn das erste Mal direkt an. Welch eine Dreistigkeit! Es gab kein schnelleres Kind als sie! Schon gar keins, das in die Schule ging!

»Pah! Niemals!«, schnaubte sie und schüttelte entgeistert den Kopf.

»Wenn ich gewinne, kommst du mit mir in die Schule!« Leon hielt ihr eine Hand hin.

Whisky starrte sie an und ihr Blick glitt zu seinem Gesicht. Er meinte es tatsächlich ernst! Vielleicht war er doch so dumm, wie er immer redete.

Ohne einzuschlagen, trat sie an ihm vorbei. »Einverstanden«, rief sie. Es gab wenig Wetten, denen sie lieber zugesagt hatte. »Wenn ich gewinne, kommst du nie wieder in die Kneipe!«

Sie hielt ihm die Tür auf, sodass Leon an ihr vorbei in den Regen treten konnte. Er trug helle Hosen und ein gebügeltes Hemd. Beides würde er ruinieren, wenn er auch nur einen Fuß in den Schlamm der Straßen setzte. Wie gesagt, die leichteste Wette ihres Lebens!

Doch Leon nahm seine Tasche ab und stapfte an ihr vorbei. »Kommst du, Whisky?«

Sie erschauderte. Das war das erste Mal, dass jemand ihren Namen aussprach, ohne dabei zu spucken.

Nun gut, er wollte es so! Sie trat neben ihn, der Regen perlte auf ihrem Werwolfspelz ab und sie schielte zu Leon. Sein Gesicht war ernst und er zählte laut herunter.

»Bis zum Waldrand! Drei, zwei, eins, los!«

Schlamm spritzte auf, als sie losstürmten. Leons Hose färbte sich in Sekunden und er atmete laut. Aber er war schnell.

Whisky biss die Zähne zusammen, das gab ihr immer mehr Schnelligkeit. Und sie verkleinerte ihre Augen zu schmalen Schlitzen, um wie ein Blitz voranzukommen. Mit ihren Armen griff sie nach Leon, sie musste gewinnen. Leon hingegen rannte mit seinen dünnen Beinen, als wären die Straßenhunde hinter ihm her, und sein sonst so blasses Gesicht wurde feuerrot. Und dann strahlte es.

Whisky fehlten die Worte, als sie hinter ihm zum Stehen kam. Ein anderes Kind war schneller als sie. Und dieses Kind war blass, klein und zu gut angezogen. Und dann lachte sie. Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben lachte sie so laut, dass sie es hören konnte.

Es war so komisch! Dieser feine Junge war das schnellste Kind, das sie kannte! Ohne zu wissen, was sie amüsierte, stieg Leon mit in ihr Lachen ein und sie fielen zu Boden, weil ihre Bäuche anfingen zu schmerzen.

»Dann kommst du morgen mit!«, sagte Leon triumphierend, während sie sich wieder beruhigten. Sie erhoben sich aus dem Dreck, doch anstatt ihn loszuwerden, verteilten sie ihn über die letzten sauberen Stellen.

»Deine Mutter wird sauer sein!«, stellte Whisky fest. Nicht einmal Leons Haare glänzten mehr hell.

»Sie hat gesagt, ich soll Freunde finden. Das ist also in Ordnung.«

»Hast du denn Freunde?«, fragte Whisky. Den Begriff kannte sie, aber bis auf die Straßenhunde konnte sie niemanden leiden.

»Ich kenne dich«, sagte Leon und stupste sie an. »Und jetzt bist du meine Freundin!«

»Aber können wir das einfach so sein?«

»Ja klar!«, sagte Leon und lachte laut. »Du bist witzig, deswegen mag ich dich.«

Whisky zog die Augenbrauen zusammen, wie sie es so oft bei ihrer Tante Loura beobachtete, wenn diese nachdachte. Es hatte Vorteile, mit dem schnellsten Jungen der Stadt befreundet zu sein. Auch wenn er dumme Sachen sprach.

Sie nickte. War es so leicht, Freunde zu finden?

Die Papierflieger folgten ihnen den ganzen Weg. Als sie an der Schule ankamen, war Whiskys Haar gespickt mit weißem Papier.

»Lasst sie in Ruhe!«, schimpfte Leon mit ihnen, doch seine Stimme übertönte ihr Lachen nicht.

»Die Waldhexe will lesen lernen!«, riefen sie.

Whisky streckte ihre Zunge heraus. Sie wollte nicht lesen lernen. Aber sie hatte verloren und jetzt hielt sie ihr Versprechen. Sie durchquerten die Schülergruppen und traten in das alte Schulgebäude. Ein paar Lehrer blieben stehen und beobachteten sie, während sie sich den Weg zum Klassenzimmer bahnten.

Leon legte ihr einen Stift und Zettel zurecht und setzte sich direkt neben sie.

Whisky wusste nicht, was sie erwartet hatte. Aber nicht das. Die Lehrerin bedachte sie mit einem Lächeln, fragte alle nach ihrem Lieblingsessen und forderte sie auf, es zu malen. Der Stift fühlte sich komisch an in Whiskys Hand, selbst nachdem Leon ihr erklärt hatte, wie man ihn hielt. Und doch war es lustig, dass die schwarzen Linien fein auf dem Papier blieben und nicht immer verwischten, wie es mit dem Ruß auf der Hauswand war.

»Werwolfspelz kann nicht einmal malen!«, schrie ein Schüler, doch die Lehrerin brachte ihn mit erhobenem Zeigefinger zum Schweigen. Dann kniete sie sich vor Whisky und flüsterte ihr so zu, dass nur sie es hören konnte: »Lass dir niemals sagen, was du kannst! Da ist eine Welt draußen für dich, die deinen Namen noch hören muss.«

Whisky nickte, verstand zwar nicht genau, was sie meinte, aber sie mochte die Frau. Vielleicht würde sie sie auch fragen, ob sie ihre Freundin werden würde.

Leon holte sie immer an der Eckkneipe ab. Heute wartete sie mit dem Beutel auf ihn, in dem sie normalerweise ihre Flaschen transportierte. Er war zusammengeknotet, sodass sie ihn schräg über ihre Brust tragen konnte.

»Ich habe auch eine Schultasche!«, erklärte sie Leon und strahlte.

»Du hast doch nur einen Stift!«

»Na und?«, fragte Whisky. »Dafür ist er von dir!« Sie hakte sich bei ihm unter und sie gingen bei den Straßenhunden vorbei, um sie mit Leons Pausenbrot zu füttern.

Die Schule war eine gute Alternative zum Wald, befand Whisky. Sie bekam Bücher und ihre Lehrerinfreundin half ihr mit dem Lesen. Und es war gar nicht so schlimm wie gedacht. Vielleicht sogar spannend. Aber das würde sie Leon nie erzählen.

Mittlerweile konnte sie ihre Eckkneipe zeichnen, auch wenn ihr die Blätter von den anderen weggenommen wurden und sie sich als Papierflieger in ihrem Haar wiederfanden. Doch Leon stupste sie immer an und grinste.

Meistens rannten sie um die Wette zurück und hielten sich die Bäuche vor Lachen. Und dann spazierten sie in den Wald. Leon fragte nicht mehr, warum sie Glas schliffen, und er war eine gute Hilfe.

Heute zog Whisky ihn aber stattdessen mit in die Räume der Eckkneipe. »Meine Tante backt heute Kekse, da können wir nicht in den Wald!«

Das war keine Lüge, auch wenn Leon laut lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht. Tante Louras Kekse waren nicht von dieser Welt und besser als alles, was Whisky jemals in ihrem Leben probiert hatte. Wegen der Arbeit in der Kneipe kam Tante Loura nur selten dazu, aber heute war wieder so ein Tag. Whisky hatte die Butter und die Eier schon in ihrem Einkaufskorb erspäht und wenn sie richtiglag, waren dort auch Haselnüsse gewesen.

Nur zwei ältere Herren unterhielten sich leise an der Bar, sonst waren die Stühle leer. Der übliche Biergeruch wurde von einem anregenden Duft überzogen. Whisky und Leon streiften ihre Taschen ab und ließen sie zu Boden fallen. Whisky kroch unter dem Tresen durch und zog Leon in die kleine Küche. Eine Frau mit grauen Strähnen in ihren braunen Locken stand am Ofen und grinste die beiden an.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du so lange bleibst!« Sie hob ein Blech und reichte es ihnen hinab. Große Kekse leuchteten ihnen entgegen.

Whisky nahm sich drei und gab Leon einen ab.

»Das ist Leon, mein Freund!«, stellte Whisky ihn vor. »Und das ist Tante Loura.«

Loura riss die Augen auf. »Dein Freund, Whisky?« Ihr Blick glitt von Whisky zu Leon und sie strahlte ihn an. »Dass ich so etwas noch erlebe!«

»Wir gehen zusammen zur Schule!«

Loura stellte das Tablett ab und schüttelte lachend den Kopf. »Meine Whisky geht zur Schule. Da hast du ordentlich was mit ihr angestellt, Leon!«

Leon grinste, Schokostücke färbten seine Zähne braun und Whisky strahlte zurück.

»Was machen die Bälger hier?«, donnerte es durch den Raum.

Whisky fuhr herum und riss Leon mit. Ein großer, vollbärtiger Mann trat ein und stellte sein Bier neben das Backblech.

»Das ist Whiskys Freund und ich habe ihnen Kekse gebacken«, entschuldigte Tante Loura sie.

»Komm mit!«, flüsterte Whisky Leon zu und zog ihn rückwärts aus dem Raum. »Wir sollten lieber gehen.«

Sie rannten aus der Küche, in ihrem Griff brachen die Kekse.

»Wir sind eine Kneipe, keine Bäckerei!«, hallten die Worte noch durch die Gänge.

Sie stolperten vor die Tür und setzten sich in eine der verwinkelten Gassen Ehrachs.

»Wer war das?«, fragte Leon und seine hellen Augen waren aufgerissen.

»Mein Onkel Thomson. Ihm gehört die Eckkneipe. Er sagt, er trinkt sein Bier lieber zu Hause, aber manchmal kommt er vorbei.«

»Mag er keine Kekse?«, fragte Leon.

Whisky schüttelte den Kopf.

»Sie sind aber wirklich lecker!«, stellte Leon fest und sog die letzten Krümel von seinem Hemd mit dem Mund auf.

Whisky lächelte stolz. Sie kannte die beste Keksbäckerin, den schnellsten Läufer und die netteste Lehrerin der Stadt. Wer würde als Nächstes dazustoßen?

Der Nebel hing tief in den Gassen, obwohl die Sonne schon aufgegangen war. Whisky stand an der Eckkneipe, ihren Beutel um die Brust geknüpft. Leon war spät dran heute. Normalerweise kam er immer pünktlich. Vielleicht hatte er sich bei dem Nebel verlaufen.

Whisky trottete langsam los. Sie wollte nicht ihre Lehrerinfreundin enttäuschen.

Leon kam nicht zum Unterricht. Die Papierflieger hagelten auf sie ein und er war nicht da, um sie aufzumuntern.

Langsam trottete Whisky zurück. Ihr fiel auf, dass sie nicht wusste, wo Leon wohnte. Ihr gemeinsames Zuhause war die Eckkneipe gewesen. Eine unausgesprochene Abmachung. Doch jetzt war Leon nicht da. Vielleicht war ihm etwas passiert?

Sie wanderte durch die Gassen Ehrachs. Zeitweise kroch sie zwischen den Passanten hindurch und sammelte heruntergefallene Münzen auf. Eine Aktivität einer anderen Zeit. Und wie immer hatte sie Glück. Zwei Schilling lagen auf dem Boden, im Schlamm der Pflastersteine versenkt.

Sie spazierte zu dem großen Marktplatz und kaufte ein Stück Schokolade. Leon liebte Schokolade. Vielleicht war er krank und Schokolade half bei allem. Sie überreichte der Verkäuferin das Geld und dann sah sie ihn.

Ein blonder Schopf lief an der Hand seiner Mutter an der alten Apotheke vorbei. Sein Kopf hing herab und schüttelte sich im Trott seiner Schritte.

»Leon!«, rief Whisky und winkte ihm zu. Er sah auf und suchte den Marktplatz ab. Dann sah er in ihre Richtung. Sie winkte ihm erneut, hob die Schokolade und rannte auf ihn zu.

Er jedoch wandte sich ab und ließ sich von seiner Mutter in das nächste Geschäft zerren. Als Whisky ankam, stellte sich ihr ein Mann in blauer Uniform entgegen.

»Kinder haben keinen Zutritt zu diesem Laden«, sagte er und blickte auf sie herab.

»Aber mein Freund Leon ist auch dort!«, rief Whisky.

»Nur in Begleitung der eigenen Eltern!«

Whisky starrte durch die gläserne Tür. Leon stand einsam in der Mitte und sein Blick schweifte umher. Sie winkte wild und versuchte, ihn herauszulocken, doch Leon reagierte nicht und trottete seiner Mutter hinterher.

Das konnte nicht sein, er musste sie hören! Whisky klopfte gegen die Fensterscheibe, was der Mann in der Uniform wohl nicht sehr lustig fand, denn er schickte sie daraufhin fort.

Unentschlossen blieb Whisky auf dem Platz stehen. Sie verstand nicht, was los war. Leon sah nicht krank aus und er war nicht weggezogen. Aber er hatte nicht geantwortet. Oder war die Wahrheit, dass er nicht antworten wollte?

Aber das konnte nicht sein. Freunden antwortete man.

Die Schokolade schmolz in ihrer Hand und tropfte auf den Boden.

Dann begriff sie.

Und das tat weh.

Whisky lief los. So schnell sie konnte.

Durch die Gassen und Straßen. Vorbei an der Eckkneipe und vorbei an ihrem Glasberg. In den tiefen Wald.

Sie wusste, dass man anderen Menschen nicht trauen konnte. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie ein normales Leben führen konnte? Und warum musste sie sich Tränen wegwischen?

Freunde waren nichts anderes als Papierfliegerwerfer, nur tat es noch viel mehr weh. Denn es schmerzte im Inneren, dort, wo sie kein Pflaster auftragen konnte.

Wenn das Freundschaft war, dann brauchte sie diese nicht. Nicht den schnellsten Läufer der Stadt und auch keine Lehrerinfreundin. Sie würde ab jetzt hier leben. Im Wald gab es das alles nicht.

Whisky baute sich aus Holzstämmen ein Baumzelt. Am Fluss konnte sie Wasser holen, auch wenn sie keinen Durst verspürte. Um diese Jahreszeit war es frisch, aber es gab zahlreiche Beeren und Äpfel, falls sie Hunger bekam.

Doch meistens saß sie am Fluss und warf Steine. Einen nach dem anderen. Und beobachtete, wie das Wasser sofort über sie hinwegrauschte, als wären sie nicht gerade in einer neuen Umgebung angekommen und bräuchten etwas Aufmerksamkeit.

Und immer wieder huschte ein Gesicht dazwischen.

Warum wollte Leon sie nicht mehr sehen? Was hatte sie getan?

Die Vögel riefen sie aus dem Schlaf, doch Whisky wollte nicht aufstehen. Die Gedanken an die Welt da draußen krochen in ihr Baumzelt und sie zog ihre Beine an den Bauch. Langsam wippte sie auf und ab.

So verbrachte sie die nächsten Tage und Wochen. Mindestens so lange musste es gewesen sein, doch Whisky zählte nicht mit. Es war ihr egal. Alles war ihr egal und sie wollte nicht zurück in die Schule ohne Leon. Sie wollte nicht zurück in die Eckkneipe ohne Leon und sie wollte nicht mehr laufen ohne Leon.

Aber es gab eine Sache, die sie doch vermisste.

Die Sonne ging gerade unter, als Whisky in die Straße der Eckkneipe einbog. Das rote Licht kroch über die Spitzen der Gebäude und der Geruch von gebratenen Zwiebeln und gekochtem Kohl zog die Menschen in ihre Häuser.

Whisky trat in die Eckkneipe und obwohl dies normalerweise eine beliebte Stunde für Gäste war, saß nicht einmal ein älterer Herr am Tresen. Stattdessen hörte Whisky zwei Stimmen, die lautstark miteinander stritten. Sie kamen aus der Küche. Langsam schlich Whisky näher.

»Den Verlust des heutigen Abends wirst du mir mit deinem Trinkgeld bezahlen!«, schimpfte Onkel Thomson.

»Ich muss sie suchen gehen. Sie ist schon zu lange verschwunden!«, sagte Tante Loura und ihre Stimme brach gelegentlich ab.

»Whisky verschwindet ständig. Es sind erst fünf Tage!«

»Hörst du dir selber zu? Fünf Tage! Ihr kann alles passiert sein!«

»Unsinn! Es ist Whisky, von der wir hier reden! Sie wird schon wiederkommen. Ganz im Gegensatz zu dem Geld, das ich heute verpasse!«

Tante Loura schluchzte auf. »Immer du und dein Geld! Ich werde heute meine Whisky suchen und sie nach Hause holen!«

Ein lauter Knall ließ Whisky zusammenfahren. Aus dem Gang heraus sah sie, dass Onkel Thomson sein Bier auf die Küchenzeile gedonnert hatte, sodass es überschwappte, und er sich mit beiden Armen darüberlehnte.

»Wir wissen doch beide, was los ist!«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Whisky musste sich vorlehnen, um sie weiter zu verstehen.

»Dass dir Geld wichtiger ist als ein Kind, so sieht es doch aus!«, kreischte Tante Loura und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Sag das nicht, Loura! Ich bin zwar betrunken, aber nicht blind und taub. Ich habe mitbekommen, dass du mit der Mutter von Whiskys Freund gesprochen hast!«

Whisky fuhr zusammen. Leons Mutter und Tante Loura? Sie wusste gar nicht, dass sie sich kannten.

»Sie hat sich Sorgen gemacht. Wie soll sie das auch nicht, mit einem Trunkenbold in der Nähe ihres Sohnes!«, schrie Tante Loura und ihre Stimme überschlug sich.

»Und warum wirkte sie so verschreckt, während du mit ihr gesprochen hast? Hast du ihre Bedenken angefeuert?«

»Unsinn! Warum sollte ich das? Es ist Whiskys erster und einziger Freund.«

»Und genau das ist das Problem, Loura! Hör auf mit den Lügen, du willst Whisky für dich und ganz allein für dich.«

Tante Loura kreischte auf. »Das Gespräch ist beendet! Du redest wirr!«

Jetzt hob auch Onkel Thomson seine Stimme wieder. »Ich habe dich gehört. Wie du mit Whiskys Freund gesprochen hast. Nein, gedroht hast du ihm! Dass du seine Kekse vergiften wirst, wenn er sie noch einmal sieht. Du hast einem Kind gedroht! Und weißt du warum? Weil du der einzige Mensch sein willst, den Whisky sehen möchte. Sie macht dich und dein elendiges Leben besonders. Sie ist deine Droge! Und du lachst über meinen Alkohol. Immerhin ruiniere ich nicht die Leben anderer, um mich besser zu fühlen!«

Tante Loura lachte laut. »Meins ruinierst du! Ich kümmere mich alleine um Whisky und dieser Junge hat ihr nicht gutgetan! Sie ist eine Einzelgängerin und ein Freigeist. Niemand weiß das besser als ich, denn ich habe sie großgezogen!«

Onkel Thomson schüttelte den Kopf und hob sein Bier auf. »Mach, was du willst. Aber lass meinen Laden in Ruhe!«, sprach er und schob sich an Tante Loura vorbei.

Whiskys Erstarrung löste sich auf und sie rannte davon. Vor der Eckkneipe drückte sie sich an die Wand und atmete tief durch. Das konnte nicht sein! Nicht Tante Loura! Nicht die beste Keksbäckerin der Welt! Nicht das Letzte, was ihr geblieben war!

Die Dämmerung war eingetreten und Whisky trottete durch die Gassen. Sie ließ sich in einer zu Boden fallen und legte ihr Haar als Decke über sich. Warum war die Welt so kompliziert? Sie verstand das alles nicht.

Sie wurde geweckt vom Keifen vorbeilaufender Schuljungen.

»Sie ist wieder dort, wo sie hingehört!«, schrie einer und eine Flut weißer Papierflieger regnete auf sie herab. Whisky suchte nach ihrer Grimasse, aber fand nur eine Träne, die ihr über die Wange lief.

Ihr Magen knurrte und sie sammelte kleine Münzen auf dem Marktplatz. Dieses Mal aß sie die Wurst alleine und ignorierte das bettelnde Jaulen der Hunde neben sich. Das war ihr neues Zuhause. Nicht die Eckkneipe. Sondern die Gassen.

Der Herbstregen setzte ein und die Pfützen wurden zu kleinen Teichen. Es wurde ungemütlich und Whisky verbrachte ihre Tage in den Hinterhöfen von Bäckereien, um sich an den Hauswänden zu wärmen.

Die Schulkinder liefen an ihr vorbei, doch keine Papierflieger flogen mehr. Ihnen schien der Spaß vergangen zu sein, seitdem Whisky stumm am Boden saß. Sie hatte keine Kraft, ihren Spielen zu trotzen.

Sie mied Tante Loura, die öfter durch die Gassen wanderte und ihren Namen rief. Und niemals kam Leon vorbei.

Nur wenige Münzen blieben zwischen den Pflastersteinen hängen und die Kälte hielt sie vom Schlafen ab. Das Schlimmste aber war die Langeweile, die sich in ihre Trauer mischte. Wohin sollten all ihre Gedanken fliehen, wenn nichts ihre Finger beschäftigt hielt?

Und als der erste Schnee fiel, stand Whisky am Waldrand und sah der aufgehenden Sonne zu, während sie sich in ihren Beutel wickelte. Dann lief sie weiter. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und der Weg führte sie zu ihrer alten Glasschmiede. Vielleicht konnte sie sich damit ihre Zeit vertreiben.

Sie trat durch die Büsche und erstarrte. Es gab keinen Glasflaschenberg mehr. Und auch keine kleine Lichtung. Stattdessen thronte vor ihr eine Hütte aus gesteckten Flaschen. Die Sonne schien durch die kahlen Bäume und auf das Glashaus. Bunte Farben fielen auf den Boden und spielten über den Schnee.

Mit offenem Mund trat Whisky ein. Es war das Schönste, was sie je gesehen hatte.

Innen war eine kleine Feuerstelle mit Steinen abgegrenzt. Ein Bücherlabyrinth bildete einen Tresen, wie in ihrer Eckkneipe. Moos deckte den Boden und ihre Freunde, die Straßenhunde, schmiegten sich darauf. Sogar die schnellsten Tiere der Welt brauchten mal eine Pause. Ein Lächeln huschte über Whiskys Gesicht.

In der hinteren Ecke stand ihr alter Holzstamm. Nur lag dieses Mal kein Schleifpapier dort, sondern Stift und Papier. Die Glasfarbsprenkel färbten es in ein buntes Licht.

Whisky trat näher und las langsam vor: »Lass dir niemals sagen, was du kannst! Da ist eine Welt draußen für dich, die deinen Namen noch hören muss. Und für mich bist du schon jemand. Meine Freundin. Die beste Freundin der ganzen Welt.«

Oliver Gross wurde im Jahr des Drachen (1976) geboren und lebt im Münsterland. Neben seinem Hauptberuf arbeitet er als Autor in den Genres Thriller und Krimi mit Ausflügen in die Bereiche Science-Fiction, Horror und Fantasy. Er schreibt schon seit der Schulzeit, damals inspiriert von Klassikern und populären Autoren wie Stephen King zunächst Horror- und Science-Fiction-Kurzgeschichten. Außerdem ist er Co-Autor einer Episode einer populären ZDF-Krimireihe. Im Juli 2023 erschien sein erster Thriller, im November 2023 eine Kurzgeschichte in einer Science-Fiction-Anthologie. Eine Thriller-Fortsetzung, ein Fantasy-Projekt und einige andere Ideen befinden sich in Arbeit.

Oliver Gross

Die Lektion

»Whisky«, orderte ich und schob mein Hinterteil auf den ungepolsterten Barhocker. Jeder Muskel in meinem Körper ächzte bei der Bewegung. Und weshalb klang meine Stimme wie eine Mischung aus Krächzen und Brummen?

»Geht’s etwas genauer, Schätzchen?«, fragte die Frau hinter der Theke mit hochgezogener Augenbraue. Sie stützte sich mit beiden Händen auf dem blank polierten Holz ab und nickte mit einer knappen Kopfbewegung hinter sich.

Mein Blick fiel auf das riesige, verspiegelte Regal mit der Auswahl unzähliger Spirituosen.

»Laphroaig«, sagte ich und strich mir mit beiden Händen verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn. Wo war nur mein Haarband abgeblieben? »Einen Doppelten. Bitte.«

Die Barfrau verzog einen Mundwinkel zu einem Schmunzeln. »Na, geht doch. Auf Eis?«

»Warum nicht«, gab ich achselzuckend zurück. Vielleicht half das Eis, mein Gemüt zu kühlen. Ich zwang mich, tief durchzuatmen und mich nicht umzudrehen. Die Theke hatte ich für mich allein, aber aus den Schatten der Bar spürte ich die bohrenden Blicke der sechs anderen Gäste – alles Kerle – in meinem Rücken. Besonders auf dem Streifen nackter Haut zwischen der Lederjacke und dem Bund der Jeans.

Die Barkeeperin legte eine Papierserviette vor mir hin und platzierte das Whiskyglas darauf. Ihre sehnigen Unterarme waren mit Tattoos übersät. Ein harter Zug umspielte die Lippen in dem scharf geschnittenen Gesicht. Der Name Jenna stand auf einem kleinen Schild, das rechts über ihrem üppigen Busen tanzte.

»Danke, Jenna«, sagte ich und nahm das Glas mit der hellgoldenen Flüssigkeit auf.

Die Eiswürfel klimperten leise darin. Unsere Blicke begegneten sich kurz.

Ich leerte das Glas in einem Zug. Brennend und rauchig bahnte sich die ölige Flüssigkeit ihren Weg durch meinen Rachen und meine Speiseröhre. Kurz musste ich einen Hustenreiz unterdrücken und räusperte mich stattdessen. Die Wärme erreichte meine Körpermitte und breitete sich von dort aus. Als ich wieder aufsah, beobachtete Jenna mich.

»Gleich noch einen?«, erkundigte sie sich.

»Da sage ich nicht Nein.«

Sie griff nach der Flasche und schenkte mir ein.

Ich schickte den Whisky seinem Vorgänger hinterher. Die Eiswürfel klackerten gegen meine Zähne, und ich ließ einen auf meine Zunge gleiten.

»Harte Nacht?«, fragte Jenna.

Ich funkelte sie finster an. »Was soll die Frage?«

Sie hob beschwichtigend die Hände. »Hey, mir ist es gleich, wie du dein Geld verdienst, Schätzchen. Hauptsache, du kannst die Zeche zahlen.«

Zur Antwort fingerte ich eine Geldnote aus der Hosentasche und warf sie auf die Theke. Jenna sammelte sie ein. Ich lenkte meinen Blick wieder auf das Whiskyglas, das sich langsam zwischen meinen Fingern drehte, während der Eiswürfel in meinem Mund zügig schmolz.

»Hartes Leben«, antwortete ich schließlich undeutlich.

Jenna nickte verständnisvoll. »Wer ist schuld? Ein Kerl? Oder ein Mädchen?«

»Kerl.«

Sie hob eine Augenbraue. Einen Moment später stellte sie ein zweites Whiskyglas neben meines und füllte beide zu zwei Fingerbreit. Der fragende Ausdruck auf meinem Gesicht ließ sie schmunzeln.

»Trinken wir darauf?«, fragte sie und hob ihr Glas.

Wir stießen an. Diesmal begnügte ich mich mit einem Schluck, der sich mit dem Rest des eisigen Wassers in meinem Mund vermengte. Mit geschlossenen Augen genoss ich die Aromen von Rauch, Islay-Torf, Seeluft, Vanille und Apfel, die sich auf Zunge und Gaumen ausbreiteten. Sie weckten Erinnerungen an frühere Zeiten …

»Willst du darüber reden?«

Ich schüttelte den Kopf. Als ich die Augen wieder öffnete, war Jennas Blick tiefer gewandert.

»Glotzt du gerade auf meine Brüste?«, stieß ich gedämpft hervor, damit die anderen Gäste mich nicht hörten.

»Ist das Blut?«, fragte Jenna ungerührt zurück.

Ich sah an mir hinunter. An meinem Dekolleté hatte ich nichts auszusetzen, aber auf dem silbrigen Seidenstoff, unter dem sich meine Brüste verbargen, prangten mehrere dunkle Flecken und Spritzer.

»Scheiße«, zischte ich. »Das ist mein Lieblingstop.« Schnell kontrollierte ich die Lederjacke, aber auf dem schwarzen Material konnte ich keine Spuren entdecken.

»Mit Waschmittel allein bekommst du die Flecken jedenfalls nicht raus«, sagte Jenna.

»Na toll!«

»Versuch es mit kaltem Wasser«, riet sie mir, »und mach zwei Aspirin mit rein. Und danach eine Runde mit Weichspüler.«

»Und das soll funktionieren?«

Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Noch einen Whisky auf den Schreck?«

»Auf jeden Fall«, sagte ich und schob ihr mein Glas hin, in dem das verbliebene Eis sich fast aufgelöst hatte.

»Für ein Mädchen verträgst du ganz ordentlich was.«

Wenn du wüsstest, dachte ich und zuckte die Achseln.

Das geräuschvolle Aufstoßen der Tür unterbrach unsere Konversation. Drei Männer stürzten herein, lautstark lamentierend.

Na großartig, dachte ich sarkastisch. Warum habe ich mir auch die nächstbeste Bar ausgesucht?

Die Neuankömmlinge steuerten direkt die Theke an und besetzten drei Barhocker. Zwischen uns ließen sie zwei Plätze frei. Ich hatte bereits genug gesehen und wandte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Glas zu. Zumindest scheinbar.

»So etwas hab ich echt noch nie gesehen«, ließ der Lauteste des Trios die anderen wissen.

Jenna schwebte hinter der Theke zu ihnen hinüber und schenkte ihnen ein freundliches Lächeln, das eindeutig gespielt war. »Hallo Jungs! Was kann ich für euch tun? Dasselbe wie immer?«

Alle drei bestellten Wodka Red Bull. Keiner von ihnen bemerkte, wie die Barkeeperin die Augen verdrehte, als sie sich umwandte, um die drei Drinks zuzubereiten. Sie hatten längst wieder die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten.

Ich ließ einen Schluck Whisky in meinem Mund umherschwappen, genoss seine Wärme und honigartige Süße, die durch den Rauch drang, und lauschte. Trotz meines scharfen Gehörs verstand ich nur einzelne Bruchstücke ihrer Unterhaltung. Verletzt … Verrückter … Krankenhaus … wir denn jetzt?

»Fehlt nicht einer von euch?«, fragte Jenna, als sie den drei Männern ihre Getränke servierte. »Der mit den blöden Sprüchen?«

Alle drei brummten zustimmend, bis einer von ihnen sagte: »Chris hatte eine Art … Unfall …«

Ein anderer quittierte diese Formulierung mit einem verächtlichen Grunzen.

»Ein Unfall?«, echote Jenna. »Was ist denn passiert?«

»Was interessiert’s dich?«, fauchte der dritte Mann barsch.

Seine Stimme klang undeutlich, als wäre er bereits angetrunken.

»Entschuldige mal!«, entgegnete sie in gleichem Ton. »Ich versuche nur, höflich zu sein. Solltest du auch mal probieren.«

Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, und erhob sich von seinem Barhocker. »Ich gehe mal pinkeln.«

Unwillkürlich schoss mein Blick zu dem Typen, einem breitschultrigen Glatzkopf. Mit leicht unsicheren Schritten schob er sich dicht hinter mir vorbei in Richtung der Toiletten. Eine Mischung aus Red Bull, Zigarettenrauch und Schweiß umwehte ihn. Angstschweiß. Fast kalt.

»Also?«, fragte Jenna die anderen zwei.