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Im September 1940 kommt Stefan Zweig mit seiner zweiten Ehefrau, der dreißig Jahre jüngeren Lotte Altmann, nach Brasilien. Mit seiner ethnischen Buntheit ist dieses Land für ihn ein Gegenentwurf zum in Europa herrschenden Rassenwahn. Voller Hoffnung quartiert er sich nördlich von Rio ein. Auch seine Frau knüpft an Brasilien große Erwartungen. Sie werden herzlich aufgenommen, sie werden gefeiert und sie feiern mit – sogar im Karneval. Die Farben leuchten, das Klima lässt Lotte aufleben und in Ernst Feder, dem früheren Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, gewinnen sie einen unterhaltsam ironischen Freund.
Doch Stefan Zweig ist nicht nur auf der Flucht vor den Nazis. Er flieht auch vor den Gespenstern, die ihm nachts den Schlaf rauben – die Schatten seiner toten Freunde, allen voran Joseph Roth. So fällt es ihm schwer, seiner Frau die Gefühle zu zeigen, die sie ersehnt. Umgekehrt will sie lange das Ausmaß seiner Verzweiflung nicht wahrhaben. Eine der großen Tragödien der Weltliteratur nimmt ihren Lauf.
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Seitenzahl: 217
Vorgefühl der nahen Nacht
Vorgefühl
der nahen
Nacht
Roman
Aus dem Französischen von Hanna van Laak
Karl Blessing Verlag
Originalverlag: Flammarion, Paris 2010
Originaltitel: Les derniers jours de Stefan Zweig
1. Auflage
Copyright © 2011 by
Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright 2010 Laurent Seksik.
Layout und Herstellung: Ursula Maenner
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-06269-9
www.blessing-verlag.de
September
Oktober
November
Dezember
Januar
Februar
Er warf einen Blick auf den beigefarbenen Lederkoffer, der im Flur neben den anderen Gepäckstücken stand. Dann wandte er den Kopf Mrs Banfield zu, der lieben Margarida Banfield, und streckte ihr den Arm entgegen, um das Glas Wasser zu ergreifen, das sie ihm anbot. Er dankte ihr und leerte es in einem Zug. Ihre Einladung, die Wohnung zu besichtigen, lehnte er ab, denn er kannte das Haus bereits. Jedes der winzigen Zimmer hatte ihm gefallen, die einfache und rustikale Einrichtung, der schrille und inbrünstige Gesang der Vögel draußen, die unendliche Weite des Tals vor der Veranda. Einige Dutzend Kilometer weiter südlich erhoben sich der Corcovado und der Zuckerhut wie Monolithen über den Inseln, die aus dem Meer aufragten – diese Landschaften bargen das Herz der Welt in sich.
Für immer dahin der Nebel, der die Gipfel der Alpen einhüllt, die kalten und regungslosen Abenddämmerungen, die sich auf die Donau herabsenken, der Prunk der Wiener Hotels, die Spaziergänge bei Sonnenuntergang unter den hohen Kastanien des Waldsteingartens, das Defilee der schönen Damen in ihren Seidenkleidern, die Paraden im Fackelschein der Männer in Schwarz, die nach Blut und totem Fleisch gieren. Petrópolis würde der Ort eines vollkommenen Neubeginns sein, der Ort der Anfänge, vergleichbar jenem, an dem der Mensch aus Staub geboren worden war und wieder zu Staub werden würde, die primitive, unerforschte und jungfräuliche Welt, ein Garant für Ordnung und Gewissheit, ein Garten der Zeit, in dem der ewige Frühling herrschte.
In einer Art hypnotischer Ruhe blieb er vor dem Koffer stehen, wie durch einen Zauber gebannt. Es war der erste unbeschwerte Augenblick seit Monaten. Er suchte in der Innentasche seiner Weste nach dem Kofferschlüssel, diesem Schlüssel, den er immer bei sich getragen hatte, über den er manchmal mit den Fingerspitzen strich wie über einen kostbaren Talisman – inmitten einer eiligen Menschenmenge, auf einem Bahnsteig oder auf einer Hafenmole beim Warten auf ein Schiff oder auf einen Zug, deren Ankunft auf unbestimmte Zeit verschoben war. Der Zauber wirkte jedes Mal. Die Berührung des Schlüssels führte ihn in die Vergangenheit. Ein Streicheln über das kalte Metall schenkte ihm eine Kutschfahrt um den Ring, eine Karte für eine Premiere im Burgtheater, die Gesellschaft Schnitzlers im Restaurant Meissl & Schadn oder ein Gespräch mit Rilke in dem Kaffeehaus am Nollendorfplatz in Berlin.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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