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Imogen ist außer sich. Sie soll einen Wildfremden heiraten - auf Befehl ihres Vaters! Ihr zukünftiger Ehemann Javier Dos Santos ist zwar unermesslich vermögend und einflussreich, gilt aber als kaltherziger, skrupelloser Geschäftsmann. Niemals wird sie für so einen Mann zärtliche Gefühle entwickeln können! Doch dann steht Javier in der Nacht vor der Hochzeit plötzlich vor ihr - und allein sein Anblick weckt in ihr ein nie gekanntes Verlangen. Aber dem Selfmade-Millionär geht es nicht um Leidenschaft, ihre Verbindung ist nur ein Mittel zum Zweck. Oder?
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Seitenzahl: 206
IMPRESSUM
JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2018 by Caitlin Crews Originaltitel: „My Bought Virgin Wife“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 102020 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Monika Schott
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733714154
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Imogen
Morgen würde ich einen Unmenschen heiraten müssen. Es spielte keine Rolle, ob ich es wollte. Und erst recht nicht, was ich empfand. Als die jüngste Tochter Dermot Fitzalans musste ich den Wünschen meines Vaters nachkommen, wie es in unserer Familie üblich war.
Mir war immer klar gewesen, was mir vorbestimmt war. Allerdings hätte ich früher, als ich noch jünger und naiver war, nicht gedacht, dass es mir so schwerfallen würde, mich damit abzufinden. Aber damals hatte mir auch keine Hochzeit bevorgestanden, die unausweichlich war wie ein hochansteckender Virus. Gegen die Wünsche meines Vaters war kein Kraut gewachsen.
„Pass bloß auf, dass Vater dich nicht in diesem desolaten Zustand sieht, Imogen“, sagte meine Halbschwester Celeste, als sie hereinkam. „Das würde alles noch schlimmer machen.“
Das war richtig. Vertrackterweise hatte Celeste in der Regel mit allem recht.
Die elegante, anmutige Celeste, die ohne Murren ihrer Verpflichtung nachgekommen war und ihre Rolle anscheinend gern erfüllte. Celeste, schlank und blond wie ihre verstorbene Mutter, gut aussehend und bei allen beliebt. Celeste, mit der man mich ständig verglichen hatte, und mit der ich nie hatte mithalten können. Meine eigene Mutter war eine hellhäutige, rothaarige Sexbombe mit geheimnisvollen smaragdgrünen Augen gewesen, aber ich ähnelte ihr kaum. Neben meiner Schwester war ich mir stets wie ein hässliches Entlein vorgekommen, zu dem ein Leben unter einer Brücke besser gepasst hätte als eines in der gehobenen Gesellschaft, das mir von Geburt an vorbestimmt war und in das sich Celeste so mühelos einfügte.
Auch jetzt sah sie schick und erhaben aus in ihrer schlichten, eleganten Kleidung. Das Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten frisiert, ihre Augen und die hohen Wangenknochen mit einem Hauch von Make-up betont. Während ich nach wie vor meinen Schlafanzug trug, obwohl es bereits Mittag war, und meine widerspenstigen Locken noch nicht gebändigt hatte.
Das alles wirkte heute noch bedeutsamer als sonst, denn der Mann, den ich morgen heiraten sollte, hatte zunächst sie begehrt.
Und man munkelte, dass er das noch immer tat.
Sogar mir hatte man es zugeraunt, und es hatte mich überrascht, wie sehr es mich getroffen hatte. Denn ich wusste ja, wie es war. Es handelte sich nicht um eine Liebesheirat. Ich war keine Auserkorene. Ich war die Fitzalan-Tochter, die noch zu haben war. Mein Erbe machte mich zu einer attraktiven Partie. Es ließ über mein widerspenstiges Haar hinwegsehen – und darüber, dass ich auch ansonsten keine atemberaubende Schönheit war.
Ich fiel aus anderen Gründen auf. Mein Lachen war laut und stets unangemessen. Meine Kleidung immer leicht daneben. Bücher waren mir lieber als gesellschaftliche Anlässe; es war mir noch nie gelungen, so zu tun, als begeisterten mich die Interessen anderer mehr als meine eigenen.
Also war es ein Glück, dass ich nun eine Zweckehe eingehen würde – wenn die auch eher den Zwecken meines Vaters diente als meinen. Mit etwas wie einer Liebesheirat hatte ich ohnehin nie gerechnet. „In dieser Familie wird nicht auf den Märchenprinzen gewartet“, hatte meine strenge Großmutter immer gesagt und dazu ihren Stock auf den harten Fußboden des großen Hauses geschlagen, in dem unsere Familie seit dem zwölften Jahrhundert lebte. „Die Fitzalans streben nach höheren Zielen.“
Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, wie ich mit Celeste, in Rüstungen gewandet, zu den Klängen alter Volksweisen zu irgendeiner Schlacht ritt und wir vor dem Abendessen noch ein oder zwei Drachen töteten. Das war es, was ich mir unter einem „höheren Ziel“ vorgestellt hatte.
Es hatte der strengen österreichischen Nonnen bedurft, mir klarzumachen, dass das Töten von Drachen nicht zu den Hauptbeschäftigungen von Mädchen aus angesehenen Familien gehörte, die ins Ausland geschickt wurden, um in abgelegenen Klosterschulen erzogen zu werden. Mädchen mit makellosen Stammbäumen und ambitionierten Vätern mussten anderen Rollen gerecht werden.
Mädchen wie ich, die nie gefragt worden waren, was sie aus ihren Leben machen wollten, weil man bereits über ihren Kopf hinweg über ihre Zukunft entschieden hatte.
„Du musst deine Verpflichtungen annehmen und deinen Frieden damit machen“, hatte die Mutter Oberin immer gesagt, wenn ich wieder einmal wütend und verheult mit dem zigsten Rosenkranz um die Vergebung meiner Sünden gebeten hatte. Stolz und Selbstachtung, zum Beispiel. „Du musst aufhören, die Dinge infrage zu stellen, und darauf vertrauen, dass diejenigen, die nur das Beste für dich wollen, dafür gesorgt haben, dass alles seinen Gang geht.“
Irgendwann war mir klar geworden, dass es sich bei den „höheren Zielen“, von denen meine Großmutter immer geredet hatte, lediglich um Geld handelte. Die Fitzalans häuften Geld an und vermehrten es. Das war der Grund für den Aufstieg der Familie im Laufe der Jahrhunderte gewesen. Die Fitzalans hatten nie zum Hochadel gehört. Sie hatten ihnen genehme Herrscher gefördert und unliebsame Regierungen gestürzt – alles nur, um den eigenen Reichtum zu vergrößern. Das war das glanzvolle höhere Ziel, das wir im Blut hatten.
„Ich bin nicht in einem ‚desolaten Zustand‘“, antwortete ich Celeste, machte aber keine Anstalten, mich aufzusetzen oder mich in Ordnung zu bringen.
Und Celeste sagte nichts weiter dazu.
Ich hatte mich in meinem Wohnzimmer verbarrikadiert, um in Ruhe in den Regen hinauszustarren und an den schönen Frederick mit den verträumten blauen Augen zu denken, der in den Stallungen meines Vaters arbeitete.
Vor Jahren hatten wir einmal miteinander gesprochen. Er hatte mein Pferd am Zaum genommen und auf den Hof hinausgeführt, als würde ich Hilfe benötigen. Von seinem Lächeln hatte ich jahrelang gezehrt.
Und nun musste ich einen Mann heiraten, dem ich noch nie begegnet war und der in ganz Europa gehasst und gefürchtet wurde.
Heute fühlte sich das Anwesen der Fitzalans an wie das Gefängnis, das es tatsächlich war. Es war nie ein wirkliches Zuhause für mich gewesen.
Meine Mutter war gestorben, als ich gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Mich hatte man der Gnade meiner Großmutter überlassen, bis auch sie das Zeitliche gesegnet hatte – und meinem stets mit mir unzufriedenem Vater. Und Celeste, die zehn Jahre älter war als ich und in allem besser.
Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich mich an dem festgeklammert, was von meiner Familie übriggeblieben war, aber es hatte sich oft angefühlt, als würde ich mir damit selbst die Luft abdrücken.
„Du solltest dir deine Schwester zum Vorbild nehmen“, hatte Großmutter oft gesagt. Zum Beispiel, wenn man mich wieder einmal dabei ertappt hatte, als ich zerzaust und wenig standesgemäß in den langen Korridoren des Anwesens herumgerannt war, anstatt dekorativ irgendwo herumzusitzen und zu üben, wie man die Beine züchtig übereinanderschlägt und unterwürfig lächelt.
Ich hatte es ja versucht. Wirklich versucht.
Ich hatte Celeste immer um ihre Eleganz und ihre Sanftmut beneidet, zu denen ich nicht fähig gewesen war. Selbst das Erwachsenwerden war bei ihr voller Schönheit und Anmut vonstatten gegangen, wie alles, was sie tat.
An ihrem zwanzigsten Geburtstag war sie mit einem Erbgrafen, in dessen Adern königliches Blut floss, verheiratet worden. Mit einem Mann im Alter unseres Vaters, den ich noch nie auch nur ansatzweise hatte lächeln sehen.
Mittlerweile hatte Celeste ihrem stets finster dreinblickenden Gatten zwei Söhne und eine Tochter geschenkt. Celeste blühte in ihrer Rolle als Gräfin voll auf.
Es fiel mir schwer, diese „Blütenpracht“ zu ertragen. Zumindest heute, am Tag vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, ab dem ich über mein ererbtes Vermögen verfügen konnte und an dem ich – mir war klar, dass das kein Zufall war – den von meinem Vater ausgesuchten Mann heiraten würde. Ein Treffen vor der Hochzeit hatte mein Vater für überflüssig befunden, und niemand widersprach Dermot Fitzalan, schon gar nicht seine Töchter, die für ihn lediglich so etwas wie Schachfiguren waren.
Was für ein Geburtstag. Ich würde einen Mann heiraten, dessen Name die Hausangestellten entsetzt zusammenzucken ließ.
Einen Mann, über den ich nur Schreckliches wusste.
Einen Mann, den man als leibhaftigen Teufel betrachtete.
Einen Mann, der nicht einmal blaublütig war, wie ich eigentlich erwartet hätte, wo mein Vater doch so viel Wert auf gute Herkunft legte. Der Stammbaum von Celestes Mann ließ sich bis sonst wann zurückverfolgen. Allerdings verfügte der mürrische Graf nicht über nennenswertes Land oder Geld. Das war wohl auch der Grund dafür, dass mein Vater für mich einen Mann ausgewählt hatte, der zwar keine edle Abstammung vorzuweisen hatte, dafür aber ein umso größeres Vermögen. Was sicher den Einfluss und die finanzielle Schlagkraft der Fitzalans verstärken würde.
Die sanfte, zarte Celeste war per Heirat mit einem Titel ausgestattet worden, der perfekt zu ihren feinen Zügen passte. Ich war robuster. Mich konnte man an irgendeinen steinreichen Bürgerlichen verhökern. So konnte mein Vater zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Celeste setzte sich ans andere Ende des Sofas, auf dem ich mich an diesem grauen Januartag als Häufchen Elend zusammenkauert hatte, als könnte ich so mein Schicksal aufhalten. „Du wirst krank, wenn du weiter so hier sitzt“, sagte sie. „Und es bringt nichts.“
„Ich will ihn nicht heiraten, Celeste.“
„Du willst ihn nicht heiraten?“ Ihr leises Lachen, das sonst wie Musik klang, rieb mich heute nur noch mehr auf. Und ich fragte mich, ob ich es mir lediglich einbildete oder ob ihr Blick sich verhärtete. „Wie kommst du denn darauf, dass es eine Rolle spielt, was du willst?“
„Man hätte mich zumindest fragen können, was ich will.“
„Wenn dir Selbstbestimmung so wichtig ist, dann bist du in die falsche Familie geboren worden“, erwiderte Celeste.
„Ich habe es mir nicht ausgesucht.“
„Imogen, sei nicht so kindisch. Du hast immer gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde. Du kannst nicht ernsthaft geglaubt haben, dass dir erspart bleibt, was allen Fitzalan-Töchtern seit Generationen blüht.“
Je länger ich über ihre Worte nachdachte, desto elender wurde mir zumute. Es klang, als sei Celeste weder so sorglos noch so glücklich, wie ich immer angenommen hatte. Und ich wusste nicht ganz, wie ich damit umgehen sollte.
Ich fröstelte; diese düsteren Gemächer waren vor vielen Jahrhunderten erbaut worden, um plündernd durchs Land ziehende Normannen zu beeindrucken, nicht, damit die Nachfahren dieser Invasoren es gemütlich hätten. Ich starrte aus dem Fenster in die trügerisch friedliche Landschaft hinaus. In die sanft hügeligen Gärten, die momentan zwar im Dornröschenschlaf lagen, aber makellos gepflegt waren wie immer.
Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass meine Angehörigen und die anderen Gäste bereits eingetroffen waren. Celeste und ihre Familie aus Wien, unsere hutzeligen Großonkel aus Paris, die frechen Cousins aus Deutschland, weitere Verwandtschaft aus aller Herren Länder. Und die Geschäftspartner und Rivalen meines Vaters aus aller Welt.
Ganz zu schweigen von dem schrecklichen Bräutigam. Dem Unmenschen, den ich morgen heiraten sollte. „Wie ist er denn?“, fragte ich beklommen.
Celeste sagte so lange nichts, dass ich mich zu ihr umwandte.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – aber ganz sicher nicht, dass meine Schwester versonnen lächelte. Doch genau das tat sie.
Ein unangenehmes Gefühl wallte in mir auf, und mich schauderte. Ich bemühte mich, es abzuschütteln oder zumindest zu ignorieren.
„Willst du das wirklich wissen?“, fragte Celeste schließlich, nachdem sie noch eine Weile still in sich hineingelächelt hatte, was nichts Gutes ahnen ließ. „Ich bin mir nicht sicher, ob es bei einer arrangierten Ehe zuträglich ist, zu viel über den Mann zu wissen, mit dem du dich ohnehin wirst abfinden müssen.“
„Du hast gut reden – immerhin musstest du keinen Unmenschen heiraten“, erwiderte ich.
Doch als ich jetzt an den stets angewiderten Gesichtsausdruck des Grafen dachte, fragte ich mich, ob das Wort Unmensch nicht vielleicht breiter anwendbar war.
Celestes Lächeln wirkte fast noch zufriedener als eben, was das ungute Gefühl, das sich in mir breitgemacht hatte, verstärkte.
„Einem Mann wie ihm bist du noch nie begegnet, Imogen. Er ist viel zu heftig, als dass man sich auf ihn vorbereiten könnte.“
„Ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst.“
Wieder lachte sie ihr perlendes Lachen. „Ich vergesse immer, wie jung du bist. Wie wohlbehütet. Und wie unschuldig.“
„Als du verheiratet worden bist, warst du auch jünger. Und wahrscheinlich genauso wohlbehütet und unschuldig.“
Ihr Gesichtsausdruck ließ mir das Herz stocken. Denn ihr durchtriebener und gleichzeitig etwas wehmütiger Blick passte so gar nicht zu der Person, für die ich meine Halbschwester all die Jahre gehalten hatte.
Und wenn Celeste eine andere war, als ich immer dachte … wie sollte ich dann noch wissen, wer ich war?
Mir war nicht klar, wie ich damit umgehen sollte. Also beschloss ich, es erst einmal dabei zu belassen und später darüber nachzudenken. Wenn ich verheiratet wäre und mich irgendwie mit dem Fremden abgefunden hätte, der sich schon in diesem Haus befand und auf mich wartete.
„Du Arme!“, sagte Celeste schließlich, doch es klang irgendwie spöttisch. „Es ist wirklich nicht fair. Wie kann man von einem naiven jungen Ding wie dir erwarten, dass es mit einem Mann wie Javier Dos Santos zurechtkommt?“
Schon allein sein Name ließ die Angst in mir aufwallen. „Ich dachte, du würdest ihn hassen“, erwiderte ich. „Nach dem, was er dir angetan hat …“
Ich erinnerte mich noch gut an den lautstarken Streit. An die donnernde Stimme meines Vaters. An Celestes Schluchzen. Es war das einzige Mal, dass ich meine Halbschwester aufgelöst gesehen hatte – und ich war immer davon ausgegangen, dass Javier Dos Santos der Grund dafür gewesen war.
Und ich erinnerte mich daran, wie ich damals einen kurzen Blick auf ihn erhascht hatte. Als das Geschrei und Geschluchze wieder losgegangen waren, war ich zum Fenster über der Eingangstür geklettert und hatte den Unhold erspäht, der die Familie zu zerstören drohte.
Das war viele Jahre her, doch ich erinnerte mich daran, als wäre es gestern gewesen.
Sein glänzendes tiefschwarzes Haar hatte mich an Rabengefieder erinnert, und seine Gesichtszüge waren so hart und grausam gewesen, dass mir der Atem gestockt hatte. Er war ein Muskelpaket, gestählt und bedrohlich, ein krasses Gegenstück zu den vornehmen Männern, in deren Umgebung ich aufgewachsen war. Und er war nicht elegant.
Ich weiß noch genau, dass ich damals gedacht hatte, dass er kein Recht auf meine schöne Schwester hatte.
Dasselbe hatte auch mein Vater unmissverständlich geäußert. Er hatte gedonnert, dass Celeste etwas Besseres verdient habe.
Für mich war Javier Dos Santos aber offenbar gut genug.
„Natürlich hasse ich ihn nicht“, antwortete Celeste, die noch immer lachte, als fände sie mich wirklich sehr jung und naiv. Das gefiel mir nicht, aber ich sagte nichts dazu. „Wie kommst du denn auf so was?“
„Du hast es doch selbst gesagt. Du hast geschrien, dass du ihn hasst und für immer hassen würdest und dass du ihm das nie verzeihen würdest …“
„Also, eins kann ich dir über Javier sagen“, unterbrach mich Celeste. „Er ist anders als andere Männer. Das solltest du vorher wissen.“
„Die einzigen Männer, die ich kenne, sind unser Vater, unsere Verwandten, ein paar Priester und dein Ehemann.“
Celeste lehnte sich auf dem Sofa zurück, als würde sie sich entspannen und es genießen, einmal nicht perfekt sein zu müssen. „Javier ist sehr männlich. Animalisch. Er nimmt sich, was er will. Und das Schlimmste ist, dass du dich ihm gern fügen wirst, um es ihm zu geben.“
„Ich werde mich nicht fügen. Und schon gar nicht gern.“
Celeste machte eine wegwerfende Handbewegung. „Oh doch, das wirst du. Er wird dich erniedrigen, er wird dich verletzen, und wahrscheinlich wird er dich zum Weinen bringen. Und du wirst ihm dafür danken.“
Mein Herz klopfte so heftig, dass mir schwindelig wurde. Die Angst breitete sich in mir aus und wurde sekündlich stärker. „Warum erzählst du mir so etwas? Am Tag, bevor ich ihn heiraten muss?“
„Ich will dich nur vorbereiten, Imogen“, antwortete Celeste, die ganz und gar nicht verlegen wirkte.
„Ich halte ihn doch schon für einen Unmenschen. Wenn du jetzt obendrein erzählst, dass er mich erniedrigen und verletzen wird, macht das die Sache nicht gerade besser.“
„Du wirst deine Zunge im Zaum halten müssen“, fuhr Celeste fort. „Er wird deine vorlaute Art nicht akzeptieren. Genauso wenig wie deine Joggerei. Es wird ihm nicht gefallen, dass du rumrennst, bis du verschwitzt und rot im Gesicht bist wie diese ordinären Frauen, die in Fitnessstudios gehen.“
Celeste, die von Natur aus schlank und schön war, hatte so etwas natürlich nicht nötig. Sie war der Meinung, dass Leute, die sich um ihr gutes Aussehen bemühen mussten, es nicht verdient hatten. Bislang war ich nie auf die Idee gekommen, dass in ihren Augen auch ich zum Kreis dieser Bedauernswerten gehörte. „Dann kannst du ja froh sein, dass der Kelch an dir vorübergegangen ist und ich diese Bürde für dich tragen kann.“
Celeste lief rot an, und ihre Augen funkelten. Sie wirkte wütend – so hatte ich sie nie zuvor gesehen. „Allerdings. Tag für Tag sage ich mir, was für ein Glück ich hatte.“
Ich erwischte mich dabei, wie ich am Saum meines Schlafanzugoberteils zupfte und damit verriet, wie nervös ich war.
Auch wenn meine Schwester sich heute seltsam verhielt, war sie doch immer noch meine Schwester. Die einzige Person, der ich je ungestraft Fragen hatte stellen können. Darum wagte ich es, ihr die Frage zu stellen, die mich plagte, seitdem mein Vater beim Weihnachtsessen meine bevorstehende Hochzeit bekannt gegeben hatte. „Meinst du …“, ich räusperte mich, „meinst du, er wird mir wehtun?“
Eine Weile lang sagte Celeste nichts. Schließlich verhärtete sich ihr Blick, und sie sah überhaupt nicht mehr entspannt aus, als sie antwortete: „Du wirst es überleben.“ Auf einmal war die Stimmung zwischen uns gekippt. „Ich rate dir, so schnell wie möglich schwanger zu werden. Männer wie er wollen Nachkommen. Letztendlich ist es das Einzige, was sie wollen. Je eher du deinen Verpflichtungen nachkommst, desto früher lässt er dich in Ruhe.“
Nachdem sie gegangen war, blieb ich noch eine ganze Weile wie vom Donner gerührt auf dem Sofa sitzen. Meine Kehle war wie zugeschnürt vor Angst, und ich hatte das Gefühl, dass ich meine Halbschwester heute zum ersten Mal so gesehen hatte, wie sie wirklich war. Das erfüllte mich mit einer gewissen Wehmut.
Aber gleichzeitig hatte mich eine seltsame Unruhe gepackt, sodass ich schließlich aufstand.
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und lief zur Tür, doch ich konnte mir allzu bildlich vorstellen, wie mein Vater reagieren würde, wenn ich ungekämmt und im Pyjama durch das Haus laufen würde, das bereits voller wichtiger Gäste war.
Also ging ich ins Schlafzimmer zurück und streifte rasch das Kleid über, das die Hausmädchen mir herausgelegt hatten, um mich wortlos zu ermuntern, mich so anzuziehen, wie mein Vater es gern sah. Von selbst wäre ich nie auf die Idee gekommen, um diese Jahreszeit Kleider zu tragen, auch dann nicht, wenn sie wie dieses aus Wolle waren und lange Ärmel hatten. Ich kombinierte das blaue Kleid mit weichen kniehohen Lederstiefeln und betrachtete mich im Spiegel.
In eine elegante Gestalt hatte ich mich während meines Sitzstreiks auf dem Sofa jedenfalls nicht verwandelt.
Locken wie meine sahen immer unfrisiert aus. Mein Haar widerstand jedem Versuch, es zu bändigen. Die Nonnen hatten alles getan, was in ihrer Macht gestanden hatte, aber auch sie waren an meiner widerspenstigen Mähne gescheitert.
Ich fuhr ein paarmal mit den Fingern durch meine Locken, bevor ich mich geschlagen gab und ihnen ihren Willen ließ. Erst dann, als ich ehrlich sagen konnte, dass ich es wirklich versucht hatte, verließ ich mein Zimmer.
Nachdem ich den Flur des Familienflügels durchquert hatte, ging ich eine der Hintertreppen hinunter, die normalerweise von den Hausangestellten benutzt wurden. Meinem Vater würde es sicher nicht gefallen, dass ich mich wie das Gesinde durchs Haus bewegte, aber ich war immer der Meinung gewesen, dass er nicht zu wissen brauchte, wie gut ich mich in den geheimen Gängen dieses alten Gemäuers zurechtfand. Sie zu kennen machte das Leben hier wesentlich erträglicher. Denn so konnte ich mich frei bewegen. Nach langen Spaziergängen konnte ich verdreckt und zerzaust direkt in meine Zimmer gelangen, ohne meinem Vater zu begegnen – und so verhindern, dass er mit mir schimpfte und mir damit drohte, mich an der kurzen Leine zu halten, bis ich lernte, mich wie eine Dame zu benehmen.
Ich ging zum Gästeflügel hinüber und machte einen Bogen um die Räume, in die mein Vater Verwandte und Freunde einquartiert hatte.
Es gab nur einen Ort, an dem mein Vater einen so reichen und mächtigen Mann wie Javier dos Santos untergebracht haben konnte. Auch wenn er ihn vor zehn Jahren aus dem Haus gejagt hatte – jetzt, wo Javier die richtige Tochter heiraten wollte, würde Dermot Fitzalan nicht an Luxus sparen, wenn es um seinen Schwiegersohn ging.
Ich steuerte auf eine der neueren Erweiterungen des großen, alten Anwesens zu, ein zweistöckiges Gebäude, das mit dem Gästeflügel verbunden war und in dem meine Großmutter ihre letzten Jahre verbracht hatte. Eigentlich war es ein eigenständiges Haus mit separatem Eingang, aber es gab zusätzlich einen geheimen Zugang über den ersten Stock des Haupthauses.
Zwar wusste ich nicht genau, was mich hierher geführt hatte, aber ich ahnte, dass es damit zu tun hatte, dass meine Schwester sich eben so eigenartig verhalten hatte, und mit meiner Angst vor Javier, die mich noch immer nicht losließ.
Ich schlüpfte durch die Dienstbotentür, die auf die Galerie des Anbaus führte und dort hinter einem Wandteppich verborgen war. Ich drückte mich an die Wand und spitzte die Ohren.
Und dann hörte ich eine Stimme.
Seine Stimme.
Eine gebieterische, tiefe Stimme.
Eine anziehende, verführerische Stimme.
Er befand sich im Stockwerk unter mir, das ich von hier aus nicht einsehen konnte, und sprach spanisch. Es klang wundervoll, und ich schlich mich näher an die Balustrade, um einen Blick in den Raum darunter zu erhaschen.
Zum zweiten Mal sah ich Javier Dos Santos aus dieser Perspektive – von oben und aus einer gewissen Entfernung, und meine Erinnerung vermischte sich mit der Gegenwart.
Wie damals überwältigte mich seine Körperlichkeit. An jenem Tag hatte er einen Smoking angehabt, der die unterschwellige Rohheit betont hatte, die von Javiers imposantem Oberkörper und seinen breiten Schultern ausging. Heute trug er ein Hemd, das er in die Hose gesteckt hatte, die nicht zu verbergen vermochte, wie muskulös seine Oberschenkel waren. Ich konnte den Blick nicht von ihm losreißen.
Mein Herz klopfte wie verrückt.
Ich wollte ihm mit den Fingern durch das Haar fahren, das noch immer so dunkel und glänzend war, wie ich es in Erinnerung hatte. Das Telefon am Ohr und mit leicht schiefgelegtem Kopf schwieg er einen Moment, bevor er wieder etwas auf Spanisch sagte. Seine Stimme klang zu mir hinauf, sie umgab und durchdrang mich.
Mit meinen grundlegenden Spanischkenntnissen verstand ich, worum es ging, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Geschäftliche Angelegenheiten in Wales. Irgendetwas mit den USA. Und eine hitzige Debatte über eine Sache in Japan.
Er beendete den Anruf unvermittelt und warf das Telefon auf den Tisch, neben dem er stand. Der dumpfe Ton, der beim Aufprall entstand, machte mir die Stille unangenehm bewusst. Was mein heftiges Atmen und mein wie verrückt klopfendes Herz umso lauter erscheinen ließ.
Einen Moment lang starrte Javier Dos Santos auf den Tisch. Dann hob er unvermittelt den Kopf und sah mich mit seinen dunklen Augen durchdringend an. Mir wurde heiß vor Schreck, und ich fürchtete, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, dass ich hier war.
Natürlich hatte er es gewusst.
„Hallo, Imogen“, sagte er auf Englisch mit einem ganz leichten Akzent, der meinen Namen wie eine Art Beschwörungsformel klingen ließ. Oder wie einen Fluch. „Gibt es etwas Bestimmtes, oder bist du nur gekommen, um mich anzustarren?“
Javier
Lügen hatten mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Die Lügen meines unzuverlässigen Vaters und meiner schwachen Mutter, die alles hingenommen hatte. Die Lügen, die sie einander, mir und meinen Schwestern, anderen erzählt hatten – sie haben mich geprägt.
Und in dem Leben, das ich mir aufgebaut hatte, war für Lügen kein Platz. Von niemandem. Nicht von Angestellten und Geschäftspartnern. Nicht von meinen inzwischen erwachsenen Schwestern. Von keiner Menschenseele.
Und schon gar nicht von mir selbst.