8,99 €
Die große Philip K. Dick-Reihe bei Fischer Klassik 2055 ist die Erde in einem interstellaren Konflikt mit dem Planeten Lilistar verstrickt. Dr Eric Sweetscent, der geschickteste Transplantations-Chirurg der Galaxis, soll zwischen seinen zahlreichen Sternreisen Gino Molinari behandeln, der Herrscher über die Erde. Der soll die Gabe besitzen, von den Toten zurückzukehren, aber warum liegt dann sein Double im Eisschrank? Leibarzt der Mächtigen zu sein ist ein gefährlicher Job. Aber kann er auch den Konflikt mit Lilistar lösen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 328
Philip K. Dick
Eine andere Welt
Roman
FISCHER E-Books
Für Don Wollheim –
der mehr für die Science-Fiction getan hat
als jeder andere.
Danke, Don, für dein Vertrauen in uns
während all der Jahre.
Wie gewöhnlich verbreitete das apterixförmige Gebäude, das ihm so vertraut war, rauchiges graues Licht, als Eric Sweetscent sein Rad zusammenklappte und es in den winzigen Verschlag schob, der ihm zugeteilt worden war. Acht Uhr morgens, dachte er verdrossen. Und sein Chef, Virgil L. Ackerman, hatte die Büros der TF&D Corporation bereits geöffnet. Kann ein Mensch um acht Uhr morgens schon klar denken? Nein, das verstößt gegen die göttliche Ordnung. Eine schöne Welt, die man uns da vorgesetzt hat: Der Krieg entschuldigt jede menschliche Verirrung – sogar die des alten Mannes.
Missmutig ging er auf den Eingang zu, als jemand seinen Namen rief. »Hallo, Mr. Sweetscent. Einen Moment bitte, Sir!« Die näselnde – und ausgesprochen widerwärtige – Stimme einer Robameise. Eric blieb stehen, und dann war die Maschine mit ihren beflissen rotierenden Armen und Beinen auch schon bei ihm. »Mr. Sweetscent von der Tijuana Fur & Dye Corporation?«
»Dr. Sweetscent, bitte.«
»Ich habe hier eine Rechnung für Sie, Doktor.« Die Maschine zog ein zusammengefaltetes weißes Stück Papier hervor. »Ihre Frau, Mrs. Katherine Sweetscent, hat diese Ausgabe hier vor drei Monaten über das Traumland-für-alle-Konto getätigt. Fünfundsechzig Dollar. Plus sechzehn Prozent Bearbeitungsgebühr. Sie kennen ja die Vorschriften. Es tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, aber es ist, äh, illegal.«
Mit äußerstem Widerwillen griff Eric nach seinem Scheckbuch. »Was hat sie denn gekauft?«, fragte er düster, während er den Scheck ausschrieb.
»Eine Packung Lucky Strike, Doktor. In der historisch authentischen grünen Version, die es vor dem Zweiten Weltkrieg gab, so um 1940. ›Lucky Strike in Grün ist in den Krieg gezogen‹ – Sie kennen ja den Spruch.« Die Robameise kicherte.
Eric sah die Maschine misstrauisch an. »Aber das müsste doch der Firma in Rechnung gestellt werden.«
Die Robameise protestierte mit einem Surren. »Nein, Mrs. Sweetscent hat darauf bestanden, die Ware zu ihrer persönlichen Verwendung zu behalten.« Und dann fügte sie eine Erklärung hinzu, die Eric sofort als unwahr erkannte. Aber er konnte nicht sagen, ob die Robameise oder Kathy sie erfunden hatte, zumindest nicht in diesem Augenblick. »Mrs. Sweetscent«, sagte die Maschine mit salbungsvoller Stimme, »baut an einem 39er Pitts, wissen Sie.«
»Ach ja?« Eric warf der Robameise den ausgefüllten Scheck zu und ging weiter Richtung Eingang.
Eine Lucky-Strike-Packung, dachte er grimmig. Mit Kathy ist es also wieder so weit. Ihr Schöpferdrang, den sie nur überwinden kann, indem sie ihm nachgibt. Und natürlich nie ihr eigenes Gehalt damit belastet – das, wie er zugeben musste, sehr viel höher war als sein eigenes. Aber warum hatte sie ihm nichts davon gesagt? Eine Ausgabe in dieser Höhe …
Die Antwort war offensichtlich. Die Rechnung allein machte das Problem in all seiner deprimierenden Einfachheit deutlich. Vor fünfzehn Jahren, überlegte er, hätte ich behauptet – und habe es ja auch –, dass mein und Kathys Einkommen zusammengelegt ausreichen würde, ausreichen müsste, zwei halbwegs verantwortungsbewussten Erwachsenen einen vernünftigen Lebensstandard zu ermöglichen. Selbst wenn man die kriegsbedingte Inflation mit einbezieht.
Aber es hatte nicht funktioniert. Und er hatte das sichere Gefühl, dass es niemals funktionieren würde.
Nachdem er das TF&D-Gebäude betreten hatte, nahm er den Gang, der zu seinem Büro führte, und unterdrückte den Impuls, Kathy einen kurzen Besuch abzustatten und die Angelegenheit sofort zu klären. Später, entschied er. Nach der Arbeit, vielleicht beim Abendessen … Und das bei seinem Terminplan, der ihm kaum Luft zum Atmen ließ. Er hatte einfach nicht die Kraft – hatte sie nie gehabt –, diese endlosen Zankereien durchzustehen.
»Guten Morgen, Doktor.«
»Morgen.« Eric nickte Miss Perth, seiner Sekretärin, zu. Heute hatte sie sich die Haut hellblau gefärbt, und in dem blauen Sprayfilm waren Glitzerkörner eingelassen, die das Licht der Deckenlampen reflektierten. »Wo steckt Himmel?« Von dem Leiter der Abteilung Qualitätskontrolle war nichts zu sehen, obwohl Eric bereits einige von Himmels Untergebenen vom Parkplatz hatte heraufkommen sehen.
»Er hat gerade angerufen und mitgeteilt, dass ihn die Stadtbibliothek von San Diego verklagt hat und er womöglich vor Gericht erscheinen muss und deshalb wahrscheinlich zu spät kommen wird.« Miss Perth lächelte und entblößte dabei ihre makellosen synthetischen Ebenholzzähne, eine Modetorheit, mit der sie im letzten Jahr aus Amarillo, Texas, zurückgekommen war. »Gestern hat die Bibliothekspolizei sein Konap durchsucht und über zwanzig gestohlene Bücher entdeckt. Sie kennen ja Bruce, er hat diese Manie, alles an sich zu nehmen – wie lautet doch gleich die griechische Bezeichnung dafür?«
Eric ging an ihr vorbei und betrat sein Büro. Es stand ihm allein zur Verfügung; Virgil Ackerman hatte auf diesem Statussymbol bestanden – und ihm dafür eine Gehaltserhöhung verweigert.
Und dort, am Fenster, stand seine Frau Kathy, rauchte eine dieser süßlich riechenden mexikanischen Zigaretten und blickte hinaus auf die öden braunen Hügel von Baja California, die sich südlich der Stadt erhoben. Er sah sie zum ersten Mal an diesem Morgen; sie war eine Stunde vor ihm aufgestanden, hatte allein gefrühstückt und war dann mit ihrem eigenen Rad zur Arbeit gefahren.
»Was gibt es?«, fragte Eric unwirsch.
»Komm rein und mach die Tür zu.« Kathy drehte sich um, sah ihn jedoch nicht an; auf ihrem fein geschnittenen Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck.
Er schloss die Tür. »Danke, dass du mich in meinem eigenen Büro willkommen heißt.«
»Ich wusste, dass dieser verdammte Schuldeneintreiber dich heute Morgen abfangen würde«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Fast achtzig Dollar. Einschließlich der Gebühren.«
»Hast du bezahlt?« Nun blickte sie ihn an, ihre künstlichen schwarzen Wimpern zuckten, verrieten ihre Besorgnis.
»Nein, ich habe mich von der Robameise unten auf dem Parkplatz erschießen lassen.« Eric hängte seinen Mantel in den Wandschrank. »Natürlich habe ich bezahlt. Seit der Maulwurf das Kreditsystem abgeschafft hat, ist es Vorschrift. Ich weiß, dass dich das nicht interessiert, aber wenn du nicht innerhalb …«
»Bitte«, unterbrach ihn Kathy. »Versuch nicht, mich zu belehren. Was hat das Ding gesagt? Dass ich ein 39er Pitts baue? Das ist eine Lüge – ich habe die grüne Lucky-Strike-Packung als Geschenk gekauft. Ich würde nie ein Babyland errichten, ohne dir etwas davon zu sagen. Schließlich würde es ja auch dir gehören.«
»Nicht das 39er Pitts. Ich habe weder 1939 noch sonst irgendwann in Pittsburgh gelebt.« Eric setzte sich an seinen Schreibtisch und aktivierte das Vicom. »Ich bin jetzt da, Mrs. Sharp«, informierte er Virgil Ackermans Sekretärin. »Wie geht es Ihnen heute? Haben Sie die gestrige Veranstaltung zu den Kriegsschuldverschreibungen heil überstanden? Oder ist es wieder zu Tumulten gekommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schaltete er wieder ab und sagte zu Kathy gewandt: »Lucile Sharp ist eine glühende Verfechterin der Appeasementpolitik. Ich finde, dass es einem Unternehmen gut ansteht, wenn es seinen Angestellten erlaubt, sich politisch zu engagieren, meinst du nicht auch? Und noch besser ist, dass es nicht einen Cent kostet – politische Versammlungen sind umsonst.«
»Aber man muss dabei beten und singen«, erwiderte Kathy. »Und man bekommt diese Schuldverschreibungen aufgeschwatzt.«
Seufzend fuhr sich Eric durch die Haare. »Für wen war die Zigarettenpackung, Kathy?«
»Für Virgil Ackerman natürlich.« Kathy stieß eine Rauchwolke aus; grauer Dunst stieg hinauf zur Decke. »Oder glaubst du, dass ich woanders arbeiten will?«
»Sicher, wenn du woanders noch mehr verdienen würdest …«
»Es ist nicht das Gehalt, das mich hier hält, Eric, auch wenn du das annimmst. Ich glaube, dass wir helfen, den Krieg zu gewinnen.«
»Hier? Wie?«
Die Tür öffnete sich, und Miss Perth lehnte sich herein; ihre lumineszierenden Brüste berührten den Rahmen. »Oh, tut mir leid, dass ich Sie stören muss, Doktor, aber Jonas Ackerman möchte Sie sprechen.«
Eric streckte die Hand aus und begrüßte den Urgroßneffen des Firmenbesitzers. »Was machen die Brüter, Jonas? Ist während der Nachtschicht irgendetwas herausgesprudelt?«
»Wenn ja«, erwiderte Jonas, »dann hat es die Gestalt eines Arbeiters angenommen und ist durch den Vordereingang verschwunden.« Er bemerkte Kathy. »Guten Morgen, Mrs. Sweetscent. Sagen Sie, ich habe dieses neue Objekt gesehen, das Sie für unser 35er Wash erworben haben, dieses käferartige Auto. Was ist es? Ein Volkswagen?«
Kathy drückte ihre Zigarette aus. »Ein luftgekühlter Chrysler. Ein gutes Auto, aber viel zu viel sprödes Metall. Ein Konstruktionsfehler, der verhinderte, dass es sich auf dem Markt durchsetzen konnte.«
»Beeindruckend. Wie es wohl ist, wenn man sich in einer Sache wirklich auskennt? Ich … Entschuldigung, habe ich Sie beide bei etwas unterbrochen?«
»Nein«, entgegnete Eric. »Das Geschäft ist wichtiger als unsere persönlichen Angelegenheiten.« Er war froh über das Erscheinen des jüngsten Mitglieds der Eigentümerfamilie. »Bitte, Kathy, verschwinde jetzt«, sagte er barsch zu seiner Frau. »Wir reden beim Abendessen weiter. Ich habe einfach zu viel zu tun, um darüber zu streiten, ob eine Robameise technisch in der Lage ist zu lügen oder nicht.« Er schob Kathy zur Tür – sie leistete keinen Widerstand – und fügte leise hinzu: »Wie alle anderen hat sich auch der elektronische Schuldeneintreiber über dich lustig gemacht. So weit ist es schon gekommen.« Er schloss die Tür hinter ihr.
»So ist die Ehe heutzutage«, brummte Jonas Ackerman. »Legalisierter Hass.«
»Warum sagen Sie so etwas?«
»Oh, die Obertöne waren nicht zu überhören. Wissen Sie, es sollte ein Gesetz geben, das es einem Mann verbietet, mit seiner Frau in der gleichen Firma zu arbeiten, ja nicht einmal in der gleichen Stadt sollten sie arbeiten dürfen.« Jonas lächelte, und sein schmales, jugendliches Gesicht hatte plötzlich jegliche Ernsthaftigkeit verloren. »Aber sie ist wirklich tüchtig. Virgil hat alle seine anderen Antiquitätensammler entlassen, nachdem Kathy hier anfing … Nun, das wird sie Ihnen gegenüber wohl schon erwähnt haben.«
»Schon oft.« Fast jeden Tag, fügte Eric in Gedanken hinzu.
»Warum lassen Sie sich denn nicht scheiden?«
Eric zuckte mit den Achseln, eine Geste, die er immer dann einsetzte, wenn er jemanden von seiner philosophischen Natur überzeugen wollte. Zumindest hoffte er, dass sie diesen Zweck erfüllte.
In diesem Fall offenbar nicht, denn Jonas fragte: »Heißt das etwa, dass es Ihnen gefällt?«
»Nein … Ich will damit sagen, dass ich schon einmal verheiratet war, und das war auch nicht besser. Und wenn ich Kathy verlasse, dann werde ich bestimmt wieder heiraten – denn meinem Seelenklempner zufolge bin ich nur glücklich in der Rolle des Ehemannes, des Vaters, des Ernährers der Familie, der das Geld verdient und mit großen Einkaufstüten voll guter Sachen nach Hause kommt. Es wird alles wie gehabt sein, weil mich nur eine bestimmte Sorte Frauen anzieht. So bin ich eben.« Eric sah Jonas an, wobei er sich bemühte, so viel masochistischen Trotz wie möglich in seinen Blick zu legen. »Also, um was geht es?«
»Um eine Reise«, erwiderte Jonas heiter. »Zum Mars. Alle werden teilnehmen, Sie eingeschlossen. Eine Tagung. Auf dem Flug sollten wir uns zwei Sitze schnappen, die so weit wie möglich von Virgil entfernt sind, damit wir nicht über Geschäfte oder den Krieg oder Gino Molinari sprechen müssen. Da wir das große Schiff nehmen, dauert der Flug jedes Mal sechs Stunden.«
»Und wie lange werden wir dort bleiben?« Innerlich verfluchte Eric die Reise schon jetzt – sie würde ihn von seiner Arbeit abhalten.
»Morgen, spätestens übermorgen werden wir wieder zurück sein. Dadurch können Sie Ihrer Frau einige Zeit aus dem Weg gehen – Kathy bleibt hier. Es klingt wie Ironie, aber ich habe bemerkt, dass der Alte seine Antiquitätensammler nie bei sich haben will, wenn er sich im 35er Wash befindet. Er zieht es vor, sich dem, äh, Zauber des Erlebnisses hinzugeben, umso mehr, je älter er wird. Wenn Sie erst einmal einhundertdreißig Jahre alt sind, werden Sie das verstehen – und ich wohl auch. Bis dahin müssen wir es mit ihm aushalten.« Ein düsterer Ausdruck legte sich auf Jonas’ Gesicht. »Aber das wissen Sie bestimmt alles schon, schließlich sind Sie sein Arzt. Er wird niemals sterben, nie die letzte Entscheidung treffen – wie man so sagt –, ganz gleich, welche Organe in ihm versagen und ausgetauscht werden müssen. Manchmal beneide ich ihn um seinen … Optimismus. Weil ihm das Leben so sehr gefällt, weil er es für so wichtig hält. Tja, und wir Normalsterblichen – in unserem Alter …« Er sah Eric an. »Mit lächerlichen dreißig oder dreiunddreißig Jahren …«
»Also, ich fühle mich noch sehr vital«, unterbrach ihn Eric. »Ich halte noch lange Zeit durch. Und das Leben erdrückt mich auch in keinster Weise.« Aus seinem Mantel holte er die Rechnung, die ihm die Robameise überreicht hatte. »Mal was anderes. Ist vor etwa drei Monaten im 35er Wash eine Schachtel Lucky Strike aufgetaucht, in der grünen Verpackung? Ein Geschenk von Kathy?«
Jonas überlegte kurz, dann erwiderte er: »Sie misstrauischer, armer Kerl. Ist das alles, worüber Sie nachgrübeln? Hören Sie, Doktor, wenn Sie Ihre Gedanken nicht bei der Arbeit behalten können – es stehen mindestens zwanzig voll ausgebildete Ärzte in unserer Kartei, die nur darauf warten, für einen Mann wie Virgil arbeiten zu können. Einen Mann, der von entscheidender Bedeutung ist für die Wirtschaft und den Krieg. So gut sind Sie nun auch wieder nicht.« Sein Gesichtsausdruck war freundschaftlich und missbilligend zugleich, eine merkwürdige Mischung, die Eric geradezu alarmierte. »Was mich betrifft, falls mein Herz versagen sollte – und zweifellos wird es irgendwann so weit sein –, dann wären Sie der Letzte, den ich deswegen aufsuchen würde. Sie sind zu sehr mit Ihren privaten Angelegenheiten beschäftigt. Sie leben nur für sich, nicht für die große Sache, die uns alle vereinen sollte. Mein Gott, Sie wissen es doch! Wir führen einen Krieg auf Leben und Tod. Und wir verlieren ihn. Wir können jeden gottverdammten Tag ausgelöscht werden!«
Das stimmt, dachte Eric. Und wir haben einen kranken, hypochondrischen, mutlosen Führer. Und die Tijuana Fur & Dye Corporation ist einer der industriellen Giganten, die den Maulwurf an der Macht halten. Ohne die feste, persönliche Freundschaft eines Mannes wie Virgil Ackerman wäre Gino Molinari schon längst gestürzt worden. Er wäre tot oder in einem Altersheim. Ich weiß das alles. Und dennoch – das Leben geht weiter, für jeden Einzelnen von uns. Außerdem war es ja nicht meine Absicht, von meinem Privatleben, meinem Ehekrieg mit Kathy so sehr beansprucht zu werden. Wenn du das glaubst, Jonas, dann liegt es einfach an deiner Jugend. Du hast es nicht geschafft, deine Jugend hinter dir zu lassen und jenes Land zu betreten, in dem ich lebe: verheiratet mit einer Frau, die mir finanziell, intellektuell und – ja, auch das – erotisch überlegen ist.
Bevor er das Gebäude verließ, fuhr Eric mit Jonas hinunter zu den Brutkammern, um nachzusehen, ob Bruce Himmel inzwischen eingetroffen war. Er fand ihn neben dem großen Ausschusskorb, der von defekten ›Faulen Braunen Hunden‹ überquoll.
»Schmeißen Sie sie weg«, forderte Jonas Himmel auf – der wie immer vor sich hin grinste – und warf ihm eine der defekten Kugeln zu, die von den TF&D-Förderbändern rollten, während die brauchbaren weiterglitten, um in den Steuermechanismus der interplanetarischen Raumschiffe eingebaut zu werden. »Wissen Sie«, wandte sich der Jüngste der Ackermans an Eric, »wenn Sie ein Dutzend von diesen Kontrollgeräten nehmen – nicht die defekten, sondern die aus den für die Armee bestimmten Kisten –, dann werden Sie entdecken, dass sich die Reaktionszeit im Vergleich zu den vor einem Jahr oder vor sechs Monaten hergestellten Apparaten um mehrere Mikrosekunden verlangsamt hat.«
»Wollen Sie damit sagen«, erwiderte Eric, »dass unser Qualitätsniveau gesunken ist?« Es war undenkbar. Die Produkte von TF&D waren einfach zu wichtig – die gesamte Kriegsführung hing von diesen schädelförmigen Kugeln ab.
»Genau.« Es sah allerdings nicht so aus, als würde das Jonas allzu sehr beunruhigen. »Wir müssen zu viele Einzelstücke aussortieren. Es springt für uns nichts mehr dabei heraus.«
»M-m-manchmal«, stotterte Himmel, »wünsche ich mir, wir wären wieder im F-fl-fledermaus-Geschäft.«
Vor langer Zeit hatte die Firma den Dung der marsianischen Fledermäuse gesammelt, damit ihre ersten Gewinne erzielt und sich so die Möglichkeit erarbeitet, sich einer anderen extraterrestrischen Lebensform zuzuwenden – der marsianischen Kopieramöbe. Dieser beeindruckende einzellige Organismus sicherte sein Überleben, indem er andere Spezies kopierte – hauptsächlich jene, die in etwa seine Größe besaßen –, und obwohl diese Fähigkeit die irdischen Astronauten und die Vertreter der UNO überaus amüsiert hatte, hatte niemand das wirtschaftliche Potential erkannt. Bis der mit dem Guano der Fledermäuse bereits erfolgreiche Virgil Ackerman auftauchte. Schon nach wenigen Stunden kam er auf die Idee, eine der Kopieramöben mit dem Nerz seiner damaligen Geliebten zusammenzubringen. Die Kopieramöbe nahm die Gestalt des Nerzes an, so dass Virgil und dem Mädchen mit einem Mal zwei Nerze zur Verfügung standen. Allerdings war es die Amöbe nach einiger Zeit leid, die Nerzgestalt beizubehalten, und sie wechselte wieder in ihr ursprüngliches Aussehen. Das Ganze ließ also noch etwas zu wünschen übrig.
Eine Lösung für dieses Problem zu finden nahm mehrere Monate in Anspruch. Es stellte sich heraus, dass man die Amöbe während ihrer Mimikry töten und den Kadaver in ein Bad mit Chemikalien legen musste, das die letzte Gestalt der Amöbe konservierte. Dadurch veränderte sich die Amöbe nicht mehr, ja es war sogar unmöglich, sie von dem kopierten Original zu unterscheiden. Kurz darauf eröffnete Virgil eine Handelsfirma in Tijuana, Mexiko, und von seinen Werken auf dem Mars trafen ganze Schiffsladungen mit Ersatzpelzen von jeder Form und Qualität ein – und praktisch über Nacht brach der Naturpelzmarkt auf der Erde zusammen.
All das hatte der Krieg geändert.
Aber was hatte der Krieg nicht geändert? Und wer hatte je geglaubt – damals, als man den Friedensvertrag mit dem Lili-Stern schloss –, dass sich alles so furchtbar entwickeln würde? Hatte der Lili-Stern – sein Minister Freneksy – nicht behauptet, die dominierende Militärmacht der Galaxis zu sein? Ihre Feinde, die Riegs, waren militärisch und auch in allen anderen Bereichen unterentwickelt, und niemand hatte daran gezweifelt, dass der Krieg in kürzester Zeit beendet sein würde.
Krieg allein ist schon schlimm genug, dachte Eric, doch nichts kann einen so ins Grübeln bringen wie ein Krieg, den man verliert. Man versucht – erfolglos –, in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen zu widerrufen – den Friedensvertrag, um ein Beispiel zu nennen, ein Beispiel, das vermutlich den meisten Menschen in den Sinn kommen würde, wenn man sie fragte. Aber in dieser Zeit wurde niemand von dem Maulwurf oder der Regierung des Lili-Sterns um seine Meinung gebeten. Ja, es wurde sogar allgemein angenommen – und in den Kneipen oder in der Intimität der Wohnungen auch offen darüber gesprochen –, dass nicht einmal Wert auf die Meinung des Maulwurfs gelegt wurde.
Nachdem die Auseinandersetzungen mit den Riegs begonnen hatten, waren die Geschäfte der Tijuana Fur & Dye Corporation vom Handel mit Ersatzpelzen auf Kriegsproduktion umgestellt worden, so wie bei allen anderen Unternehmen. Die fast perfekte Duplikation von Steuermechanismen für die Raumschifffahrt, die man durch die Fixierung der Marsamöbe in der Gestalt der ›Faulen Braunen Hunde‹ erreichte, war für TF&D kein Problem; die Umstellung war schmerzlos und rasch vonstattengegangen. Und genau deshalb betrachtete Eric nachdenklich den Korb mit der Ausschussware und fragte sich – wie sich jeder der Angestellten bereits gefragt hatte –, wie aus diesen defekten und dennoch hochkomplexen Geräten noch Gewinn herausgeschlagen werden konnte. Er nahm eines davon in die Hand. Vom Gewicht her erinnerte es an einen Baseball, von der Größe her an eine Grapefruit. Nun, ganz offensichtlich waren diese Mängelexemplare zu nichts mehr zu gebrauchen, und er wollte sich schon umdrehen und die Kugel in die Trichtermündung werfen, wo die konservierte Form wieder ihre ursprüngliche organische Einzellergestalt annehmen würde, als Himmel plötzlich »Warten Sie!« krächzte.
Eric und Jonas sahen ihn überrascht an.
»S-schmelzen Sie es nicht ein.« Himmels unansehnliche Gestalt wand sich verlegen, die Arme zuckten, die langen, knotigen Finger zitterten. »Ich … ich mache das nicht mehr. Dieses Teil ist nicht mehr wert als einen Viertelcent. Und alles, was in dem Korb ist, nicht mehr als einen knappen Dollar.«
»Und?« Jonas hob die Augenbrauen. »Trotzdem müssen sie …«
»I-ich kaufe sie«, stammelte Himmel. Er griff in die Hosentasche und zog seine Geldbörse hervor.
»Was wollen Sie mit dem Zeug?«
»I-ich habe eine Vereinbarung getroffen. Für jeden defekten ›Faulen Braunen Hund‹ zahle ich einen halben Cent, das Doppelte seines tatsächlichen Wertes, so dass die Firma noch einen Gewinn erzielt. W-warum also sollte irgendjemand etwas dagegen einzuwenden haben?«
»Niemand hat etwas dagegen einzuwenden. Ich möchte nur gerne wissen, was Sie damit anfangen wollen.« Jonas blickte zu Eric hinüber, als wollte er ihn fragen: Was halten Sie denn davon?
»Äh, i-ich benutze sie.« Himmel wandte sich ab und schlurfte auf eine nahe gelegene Tür zu. »A-aber sie gehören mir, das Geld dafür wurde b-bereits von meinem Gehalt abgezogen.« Er öffnete die Tür und trat zur Seite; Widerwillen verdunkelte sein von Phobien zerfurchtes Gesicht.
In dem hinter der Tür gelegenen Raum – offenbar eine Art Lagerraum – rollten kleine Wägelchen geschäftig hin und her. Insgesamt mochten es an die zwanzig sein. An jedem Wägelchen war ein ›Fauler Brauner Hund‹ angebracht, der ihre Bewegungen steuerte und dafür sorgte, dass sie nicht aneinanderstießen.
Jonas rieb sich den Nasenflügel. Als eines der Wägelchen an seinem Fuß vorbeirollte, bückte er sich und hob es auf. Die Räder drehten sich in der Luft weiter. »Wodurch werden sie angetrieben?«, fragte er.
»V-von einer kleinen Batterie, die knapp zehn Jahre Lebensdauer hat«, erwiderte Himmel. »Sie k-kostet ebenfalls einen halben Cent.«
»Und Sie haben diese Dinger gebaut?«
»Ja, Mr. Ackerman.« Himmel nahm ihm das Wägelchen ab und setzte es wieder auf den Boden; schnell rollte es davon. »D-diese hier sind noch zu neu, um sie fortzulassen. Sie müssen noch ein wenig ü-üben.«
»Und dann schenken Sie ihnen … die Freiheit?«
»J-ja.« Himmel wackelte mit seinem langen, fast kahlen Kopf, so dass die Hornbrille auf seiner Nase zu rutschen begann.
»Warum?«, fragte Eric.
Himmel errötete, wand sich unbehaglich und zeigte dennoch eine Art Stolz. »W-weil«, stieß er hervor, »sie es verdient haben.«
»Aber das Protoplasma lebt nicht mehr«, sagte Jonas. »Es starb, als es dem Fixierspray ausgesetzt wurde. Das wissen Sie doch. Seither sind diese Dinger nichts anderes als eine elektronische Schaltung, die genauso wenig lebt wie – nun, wie eine Robameise.«
»Aber i-ich betrachte sie als Lebewesen, Mr. Ackerman. Und nur weil sie defekt und n-nicht in der Lage sind, ein Raumschiff zu steuern, bedeutet das doch nicht, dass sie kein Recht haben, ihr L-leben zu leben. Ich lasse sie frei, und sie können noch sechs Jahre lang herumrollen. O-oder auch länger.«
Jonas wandte sich Eric zu. »Wenn der Alte darüber informiert wäre …«
»Virgil Ackerman ist darüber informiert«, unterbrach ihn Himmel. »U-und er ist damit einverstanden. Oder hat zumindest nichts dagegen – er weiß, dass ich die Firma dafür entschädige. Und ich baue die Wagen in der Nacht, in meiner freien Zeit. In meinem K-konap habe ich mir ein Montageband zusammengebastelt – simpel, aber sehr effektiv. I-ich arbeite jede Nacht bis ein Uhr.«
»Und was geschieht mit ihnen, nachdem Sie sie freigelassen haben?«, fragte Eric. »Treiben sie sich in der Stadt herum?«
»K-keine Ahnung.« Himmel zuckte mit den Achseln. Offenbar schien ihn diese Frage nicht allzu sehr zu berühren – sobald er die Wägelchen zusammengebaut und die ›Faulen Braunen Hunde‹ angeschlossen hatte, war die Angelegenheit für ihn erledigt. Schließlich konnte er nicht den Weg eines jeden Fahrzeugs verfolgen, konnte sie nicht alle vor den Gefahren der Stadt beschützen.
»Sie sind ein Künstler«, sagte Eric, unentschlossen, ob er amüsiert oder empört sein sollte. Zumindest war er nicht beeindruckt, so viel war sicher – die ganze Sache war bizarr, närrisch, vollkommen absurd. Himmel arbeitete nicht nur hier in der Firma, sondern auch zu Hause in seinem Konap und sorgte dafür, dass die Ausschussproduktion ihren Platz an der Sonne erhielt … Und das geschah, während alle anderen Menschen mit der weitaus größeren, kollektiven Absurdität des Krieges beschäftigt waren.
Vor diesem Hintergrund wirkte Himmel allerdings nicht ganz so verrückt. So waren eben die Zeiten. Wahnsinn bestimmte das Leben, vom Maulwurf angefangen bis hinunter zu diesem Qualitätskontrolleur, der im klinischen Sinne zweifellos gestört war.
»Er hat sie nicht mehr alle«, bemerkte Eric, als er mit Jonas den Korridor hinunterging.
Jonas nickte nachdenklich. »Ja, offensichtlich. Aber das lässt den alten Virgil in einem ganz anderen Licht erscheinen. Wenn man bedenkt, dass er das toleriert – und bestimmt nicht, weil er damit Profit macht, nein, darum geht es nicht. Wissen Sie, ich bin froh darüber. Ich hätte erwartet, dass Virgil diesen armen Bekloppten sofort feuern und ihn mit einem Zwangsarbeitertransport zum Lili-Stern schicken würde. Eigentlich ist Himmel ein Glückspilz.«
»Was denken Sie, wie das alles enden wird? Der Krieg, meine ich. Glauben Sie, dass der Maulwurf mit den Riegs einen Separatfrieden schließen und das Kämpfen den Leuten vom Lili-Stern überlassen wird? Immerhin hätten sie es verdient.«
»Das kann er nicht. Freneksys Geheimpolizei würde Hackfleisch aus ihm machen. Ihn aus dem Amt werfen und einen militanteren Burschen an seine Stelle setzen. Jemanden, dem es gefällt, den Krieg fortzusetzen.«
»Aber das dürfen sie nicht. Er ist schließlich unser gewählter Führer, nicht ihrer.« Doch Eric wusste, dass Jonas – all diesen legalistischen Einwänden zum Trotz – recht hatte, dass er ihren Verbündeten nüchtern und realistisch einschätzte.
»Das Beste, was uns passieren könnte«, sagte Jonas nach einer Weile, »wäre eine Niederlage. Eine langsame, unaufhaltsame Niederlage – wie wir sie derzeit erleben.« Er senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern. »Wissen Sie, ich hasse es, defätistisch daherzureden, aber …«
»Tun Sie sich keinen Zwang an.«
»… aber das ist die einzige Möglichkeit, da herauszukommen. Selbst wenn uns dadurch ein Jahrhundert Besetzung durch die Riegs blüht – als Strafe dafür, dass wir zur falschen Zeit den falschen Alliierten in einem falschen Krieg gewählt haben. Unser erster Ausflug in den interplanetaren Militarismus, und wie sehr haben wir uns doch darum bemüht. Wie sehr hat sich der Maulwurf darum bemüht.« Jonas schnitt eine Grimasse.
»Und wir haben uns um den Maulwurf bemüht«, erwiderte Eric. Und gab so die Verantwortung wieder ihnen zurück.
Unvermittelt erschien vor ihnen eine schmächtige, vertrocknete, gewichtslose Gestalt, die mit dünner, schriller Stimme rief: »Jonas! Und Sie auch, Sweetscent – es wird Zeit, dass wir uns auf die Reise zum 35er Wash vorbereiten.« Virgil Ackermans Tonfall war leicht gereizt, wie der eines Vogelweibchens, das seine Jungen herumscheuchte; in seinem fortgeschrittenen Alter war er praktisch zu einem Hermaphroditen geworden, eine dürre, saftlose Mischung aus Mann und Frau, die als Einheit dennoch zu Enormem fähig war.
Virgil Ackerman öffnete die antiquierte, leere Packung Camel-Zigaretten und presste sie dann sorgfältig zusammen. »Hits, Cracks, Taps oder Pops. Was nehmen Sie, Sweetscent?«, fragte er.
»Taps«, erwiderte Eric.
Der alte Mann musterte den Aufdruck auf der Innenseite des Packungsdeckels. »Cracks. Ich habe Sie wieder drangekriegt – zum zweiunddreißigsten Mal.« Wie es dem Ritual entsprach, klopfte er Eric auf die Schulter, lächelte heiter und entblößte dabei seine wohlgeformten, elfenbeinfarbenen Zähne, die im Licht funkelten. »Mir liegt es fern, Sie zu kränken, Doktor – schließlich könnte ich jeden Augenblick eine neue Leber benötigen … Wissen Sie, als ich gestern Nacht zu Bett ging, habe ich einige schlimme Stunden durchgemacht. Ich glaube, es lag wieder an der Blutvergiftung. Ich fühlte mich wie erschlagen.«
»Wie lange waren Sie auf, und was haben Sie getan?«
»Tja, Doktor, da war dieses Mädchen.« Virgil grinste Harvey, Jonas, Ralf und Phyllis Ackerman an, die anderen Mitglieder der Familie, die um ihn herum in dem Interplanschiff saßen, das sich mit hoher Geschwindigkeit auf dem Weg von der Erde zum 35er Wash auf dem Mars befand. »Muss ich noch mehr sagen?«
Mit strenger Stimme sagte seine Urgroßnichte Phyllis: »Großer Gott, du bist doch viel zu alt. Irgendwann wird dir dabei das Herz stehen bleiben. Und was wird sie dann denken? Es ist würdelos, während dem Du-weißt-schon-was zu sterben.« Missbilligend sah sie Virgil an.
»Nun«, krächzte Virgil, »dann wird die für derartige Notfälle in meiner rechten Hand eingebaute Apparatur Dr. Sweetscent herbeirufen, der unverzüglich mein krankes altes Herz herausholt und ein funkelnagelneues einsetzt. Und ich …« Er kicherte und wischte sich mit einem Taschentuch den Speichel von Kinn und Unterlippe. »Ich werde weitermachen wie zuvor.« Seine papierdünne Haut glänzte, und man konnte deutlich sehen, wie seine Knochen, wie die Umrisse seines Skeletts vor Vergnügen zitterten, weil es ihm gelungen war, sie zu schockieren; sie hatten keinen Zugang zu seiner Welt, zu seinem Privatleben, das er trotz des Mangels, den der Krieg mit sich brachte, in vollen Zügen genoss.
»›Mille tre‹«, zitierte Harvey leicht säuerlich Da Ponte. »Aber bei dir geht es schon in die Millionen. Ich hoffe, wenn ich einmal in deinem Alter bin …«
»Du wirst niemals in mein Alter kommen.« Virgils Augen glühten vergnügt. »Vergiss es, Harvey. Kümmere dich lieber um deine Steuerunterlagen, du verdammter Bürokrat. Dich wird man bestimmt nicht tot im Bett neben einem Mädchen finden, sondern neben einem Taschenrechner.«
»Ich bitte dich!«, entfuhr es Phyllis. Sie wandte sich ab und sah hinaus in die Finsternis des Weltraums.
Eric räusperte sich. »Ich, äh, würde Sie gerne etwas fragen, Mr. Ackerman. Es geht um eine grüne Packung Lucky Strike. Vor ungefähr drei Monaten …«
»Ihre Frau mag mich«, unterbrach ihn Virgil. »Ja, die Packung war für mich bestimmt, Doktor, ein Geschenk ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie können ganz beruhigt sein – Kathy ist nicht interessiert. Außerdem würde das nur zu Problemen führen. Frauen gibt es überall, aber Transplantspezialisten …« Er dachte kurz nach. »Hm, wenn ich es mir recht überlege, gibt es davon auch genug.«
»Das habe ich Eric heute Morgen auch schon gesagt«, bemerkte Jonas. Er blinzelte Eric zu, der sich jedoch nicht provozieren ließ.
»Aber ich schätze Dr. Sweetscent«, fuhr Virgil fort. »Er ist ein nüchterner Charakter. Seht ihn euch an. Vollkommen vernünftig, ein Verstandesmensch, der jeder Krise gelassen begegnet. Ich habe ihn schon oft bei der Arbeit beobachtet, Jonas, ich weiß Bescheid. Und er ist zu jeder Tages- und Nachtzeit einsatzbereit – so etwas findet man selten.«
»Du bezahlst ihn schließlich dafür«, warf Phyllis ein, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Virgils Urgroßnichte, die wie alle anderen Familienmitglieder im Vorstand der Firma saß, war ein kaltes, raubtierhaftes Geschöpf; sie ähnelte sehr dem alten Mann, ohne jedoch seine Schrullen zu besitzen. Für sie zählten nur Geschäfte und Geld. Wüsste sie von Himmels Aktivitäten, dachte Eric, wären die umherrollenden Wägelchen längst verschwunden – in Phyllis’ Welt gab es keinen Platz für Spielereien. Sie erinnerte ihn darin ein wenig an Kathy. Und wie Kathy war sie bemerkenswert sexy: Sie trug ihr langes, ultramarin gefärbtes Haar zu einem Zopf geflochten und hatte sich mit rotierenden Ohrringen und – was ihm weniger gefiel – mit einem Nasenring geschmückt, der in den oberen Kreisen der Bourgeoisie als Zeichen für Heiratsfähigkeit galt.
»Was ist eigentlich der Zweck dieser Konferenz?«, wandte sich Eric an Virgil. »Können wir denn nicht, um Zeit zu sparen, schon jetzt damit beginnen?«
»Es ist eine Vergnügungsreise. Eine Gelegenheit, die verdammten Geschäfte für einige Zeit zu vergessen. Im 35er Wash erwartet uns ein Gast, ich nehme an, dass er bereits da ist. Ich habe ihm einen Blankoscheck gegeben, habe für ihn mein Babyland geöffnet – das erste Mal, dass ich das für jemanden gemacht habe.«
»Wer ist es?«, fragte Harvey. »Immerhin befindet sich das 35er Wash technisch gesehen im Besitz der Firma, und wir gehören zum Vorstand.«
»Vermutlich hat Virgil all seine Karten aus der Reihe ›Die Schrecken des Krieges‹ an diesen Burschen verloren«, bemerkte Jonas sarkastisch. »Was blieb ihm also anderes übrig, als die Türen weit zu öffnen?«
Indigniert hob Virgil eine Augenbraue. »Ich gehe weder mit meinen FBI-Karten noch mit den ›Schrecken des Krieges‹ leichtsinnig um. Nebenbei bemerkt, besitze ich ein Duplikat des ›Untergangs der Panay‹. Eton Hambro – ihr wisst schon, dieser Fettsack, der bei Manfrex Enterprises Vorstandsvorsitzender ist – hat es mir zum Geburtstag geschenkt. Ich dachte, jeder wüsste, dass meine Sammlung komplett ist, aber Hambro war offenbar nicht darüber informiert. Kein Wunder, dass seine sechs Fabriken von Freneksys Leuten geführt werden.«
»Erzähl uns von Shirley Temples The Littlest Rebel«, sagte Phyllis gelangweilt, während sie weiterhin ins Nichts starrte. »Erzähl uns, wie sie …«
»Du hast den Film doch selbst gesehen.« Virgil klang leicht verärgert.
»Ja, aber ich kann nicht genug davon bekommen. Ich finde ihn noch immer faszinierend, von Anfang bis Ende.« Phyllis drehte sich zu Harvey um. »Dein Feuerzeug.«
Eric stand auf, ging den Gang hinunter und betrat die Cafeteria des Schiffes. Dort griff er nach der Getränkekarte. Seine Kehle war trocken; das Gezänk des Ackerman-Clans machte ihn immer durstig, ließ ihn nach einer Art Beruhigungselixier lechzen … vielleicht, so dachte er, nach einem Ersatz für die Muttermilch, die Urmilch des Lebens. Ich hätte auch ein eigenes Babyland verdient, sagte er sich halb im Scherz. Aber nur halb.
Für jeden außer Virgil Ackerman war das Washington des Jahres 1935 Zeitverschwendung – weil sich nur Virgil an den Ort, die Zeit und das Milieu erinnerte, an die Dinge, wie sie damals wirklich gewesen waren. Deshalb bestand das 35er Wash in jedem Detail aus einer sorgfältigen Rekonstruktion jener eng umfassten Kindheitswelt, die Virgil gekannt hatte, und wurde von Kathy Sweetscent, seiner Antiquitätensammlerin, ständig verfeinert und auf seine Authentizität hin überprüft – ohne dass es sich jemals wirklich veränderte: Es war erstarrt, das Abbild einer toten Vergangenheit. Zumindest soweit es den Rest der Familie betraf. Doch für Virgil war es natürlich lebendig. Dort blühte er auf, dort regenerierte er seine nachlassenden biochemischen Energien. Um dann in die Gegenwart, in die wirkliche Welt zurückzukehren, die Welt, die er so gut kannte und manipulierte, ohne sich allerdings je in ihr heimisch zu fühlen.
Und so war sein großes, regressives Babyland bekannt geworden, ja hatte sich geradezu zu einer Mode entwickelt. Andere Top-Industrielle und Geldleute – um nicht zu sagen: andere Kriegsgewinnler – legten ebenfalls lebensgroße Modelle ihrer Kindheit an; Virgils Babyland war nicht mehr einzigartig. Natürlich erreichten die anderen nicht die Komplexität und Authentizität von Virgils Schöpfung, Fälschungen antiker Gegenstände waren weit verbreitet. Aber man musste auch zugeben, dachte Eric, dass niemand das Geld und das Know-how besaß, um dieses höchst kostspielige und vollkommen unökonomische Wagnis einzugehen. Und dies alles inmitten eines furchtbaren Krieges.
Nichtsdestotrotz war es auf seine absonderliche Art völlig harmlos. Es erinnerte ein wenig an Bruce Himmels schrullige Beschäftigung mit den kleinen Wägelchen. Niemand erlitt dadurch Schaden. Was man schwerlich von der großen planetaren Aufgabe sagen konnte – dem Heiligen Krieg gegen die Kreaturen von Proxima, die Riegs … Auf der Erde, in der UNO-Hauptstadt Cheyenne, Wyoming, existierten – zusätzlich zu denen in den Kriegsgefangenenlagern – etliche dieser exoskelettierten Wesen, die von den Militärbehörden zu Propagandazwecken eingesetzt wurden. Sie wurden zur Schau gestellt, die Bevölkerung durfte ihre sechs Extremitäten bewundern, zusehen, wie sie sich mit großer Geschwindigkeit auf zwei oder vier Beinen vorwärtsbewegten. Die Riegs besaßen keinen Stimmapparat, sie verständigten sich untereinander durch kunstvolle Bewegungen ihrer Fühler. Um mit Terranern oder Sternmenschen zu kommunizieren, verwendeten sie einen Translator, der nun den vielen Neugierigen Gelegenheit gab, ihren gedemütigten Gefangenen Fragen zu stellen.
Bis vor kurzem waren diese Fragen eine Ansammlung von Banalitäten gewesen. Doch dann hatte ein geschickt geführtes Verhör unheilvolle Ergebnisse gezeigt – unheilvoll zumindest vom Standpunkt der Behörden aus. Abrupt hatte man die Propagandaveranstaltungen bis auf weiteres beendet. Wie können wir zu einer Einigung gelangen? Merkwürdigerweise hatten die Riegs eine Antwort auf diese Frage. Sie lautete: Leben und leben lassen. Wenn die Terraner ihre Expansion in das Proxima-System einstellten, würden die Riegs ihrerseits das Sol-System verschonen.
Doch da war immer noch der Lili-Stern, und für dieses Problem gab es offenbar keine Lösung. Seit Jahrhunderten schon waren die Sternmenschen die Feinde der Riegs, und für den Austausch von Argumenten war es längst zu spät. Ganz abgesehen davon, dass es den Sternmenschen bereits gelungen war, sich der Erde als ›Sicherheitsberater‹ zu empfehlen. Als ob sich ein ameisenähnliches Wesen von zwei Metern Größe unbemerkt auf einer New Yorker Straße herumtreiben könnte … Die Anwesenheit der Berater vom Lili-Stern wurde dagegen kaum bemerkt; waren die Sternmenschen mental von eher phykomythischer Natur, so unterschieden sie sich morphologisch kaum von den Terranern. Wofür es natürlich einen Grund gab: Vor Urzeiten hatte eine Flotte des Alpha-Centauri-Imperiums, dessen Zentrum der Lili-Stern war, das Sol-System erreicht und die Erde und teilweise auch den Mars kolonisiert. Doch bald brach ein erbitterter Streit zwischen den Siedlern der beiden Welten aus, gefolgt von einem langen, zerstörerischen Krieg, der beide Kulturen in das Dunkel der Barbarei stieß. Durch klimatische Veränderungen wurde die Mars-Kolonie schließlich ganz vernichtet, während sich die Siedlungen auf der Erde im Laufe der Zeit erholten und eine neue Zivilisation begründeten. Durch den Konflikt mit den Riegs von Alpha Centauri abgeschnitten, breiteten sich die Siedler über den gesamten Planeten aus, entwickelten sich weiter, schossen die ersten Satelliten in den Orbit, dann eine unbemannte Sonde zum Mond, dann ein bemanntes Schiff – bis es ihnen schließlich gelang, jenes System zu erreichen, aus dem sie stammten. Kaum verwunderlich, dass die Überraschung auf beiden Seiten ziemlich groß war …
»Ist es Ihnen zu viel geworden?« Phyllis Ackermans Stimme riss Eric aus seinen Gedanken. Sie nahm neben ihm Platz und lächelte ihn an, ein Lächeln, das ihr schmales, scharf konturiertes Gesicht für einen Moment ganz sanft erscheinen ließ. »Bestellen Sie mir auch etwas zu trinken – sonst kann ich diese Welt aus Bolo-Fledermäusen und Jean Harlow und Baron von Richthofen und Joe Louis nicht ertragen.« Sie legte die Stirn in Falten, das Lächeln verschwand. »Ah, Tom Mix habe ich vergessen. Tom Mix und seine Ralston Straightshooters. Und die Hafergrütze. Und diese gottverdammten unsterblichen Hits aus der Musikbox. Sie wissen, was uns erwartet? Eine weitere Runde mit Orphan Annie und ihrer kleinen Dechiffriermaschine. Wir werden der Ovaltine-Werbung lauschen, die Zahlen herausfiltern und sie decodieren – nur um zu erfahren, was Annie am Montag so treibt. Großer Gott!« Sie beugte sich nach vorn und griff nach ihrem Glas, was Eric einen Blick auf ihre kleinen, bleichen Brüste ermöglichte.
Davon in einigermaßen gute Laune versetzt, sagte er: »Eines Tages werden wir alle Zahlen notiert haben, die der falsche Ansager über das falsche Radio bekanntgibt, sie mit Orphan Annies Hilfe entschlüsseln und …« Er brach ab und fügte in Gedanken hinzu: Schließt sofort einen Separatfrieden mit den Riegs! – so wird die Botschaft lauten.
Phyllis nickte. »Ich weiß. ›Es ist hoffnungslos, Erdenmensch. Gib auf! Hier spricht der Herrscher der Riegs. Hört alle zu! Ich habe die WMAL-Radiostation in Washington, D.C., besetzt und werde euch vernichten.‹« Sie nippte an ihrem großen Glas. »›Und außerdem ist das Ovaltine, von dem ihr gerade trinkt …‹«
»Ich wollte es eigentlich ein wenig anders ausdrücken«, sagte Eric leicht verärgert. Doch sie war seinen Worten verflucht nahegekommen. »Wie der Rest Ihrer Familie besitzen Sie ein Gen, das Sie dazu zwingt, dem Gesprächspartner ins Wort zu fallen, bevor ein Nichtbluter …«
»Ein was?«
»So nennt man Sie. Alle Ackermans.«
»Na schön, Doktor.« Sie schmunzelte leicht. »Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«
Eric winkte ab. »Vergessen Sie’s. Wer ist der Gast?«
Phyllis’ blassgraue Augen waren ihm nie zuvor so groß, so weise erschienen; sie bezwangen ihn mit ihrer Ausgeglichenheit, mit ihrer Ruhe, die von dem absoluten Wissen über alles Wissenswerte herrührte. »Ich schlage vor, wir warten ab, bis wir mit ihm zusammentreffen«, sagte sie. Und dann begannen ihre Lippen vor mädchenhaftem Vergnügen zu zucken, ohne dass dadurch der Ausdruck in ihren Augen berührt wurde. »Die Tür öffnet sich, und es erscheint ein Abgesandter von Proxima. Was für ein Anblick! Ein aufgedunsener, schmieriger, feindseliger Rieg. In geheimer Mission, stets auf der Hut vor Freneksys allgegenwärtiger Geheimpolizei. Er ist hier, um …« Sie senkte die Stimme, flüsterte beinahe. »Um mit uns einen Separatfrieden auszuhandeln.« Mit vielsagender Miene leerte sie ihr Glas. »Ja, das wäre was, nicht wahr? Und wie gut ich mir das alles vorstellen kann. Der alte Virgil sitzt da, gackernd wie immer, und sieht zu, wie seine Kriegsverträge den Bach runtergehen. Zurück zu den falschen Nerzen. Zum Fledermausdung, als die ganze Fabrik zum Himmel stank.« Sie lachte kurz auf. »Es kann jede Minute geschehen, Doktor, glauben Sie mir!«
Eric schüttelte den Kopf. »Freneksys Leute würden das 35er Wash dem Erdboden gleichmachen. So schnell, dass …«
»Ich weiß. Es ist nur ein Traum, ein Hirngespinst, das hoffnungsloser Sehnsucht entspringt. Insofern spielt es auch keine Rolle, ob Virgil ein derartiges Vorhaben in die Tat umsetzen würde oder nicht. Denn selbst in einer Million Jahre hätte es keinen Erfolg. Man könnte es natürlich versuchen – aber man würde es nicht schaffen.«