Was die Dornen flüstern - Saskia Nieke - E-Book
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Was die Dornen flüstern E-Book

Saskia Nieke

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Beschreibung

"Ich habe dich in mein Bett gelassen, Malin. Nicht in mein Herz." Worte, die Prinz Damian zu ewigem Schlaf verdammen, als er die Fee Malin abweist. Von Rachedurst erfüllt, lässt sie ihn ruhen, bis er im Angesicht der wahren Liebe wieder erwachen soll. Einhundert Jahre später liegt es nun an der Assassinin Eleira, den Fluch zu brechen, indem sie Malin tötet. Davon getrieben, nach der Vollendung des Auftrags mit Geld und Ehre zu ihrem Volk zurückzukehren, macht sie sich auf in das weit entfernte Königreich Auroris. Doch kann die Fee mit der Rosenmagie wirklich die sein, die sie sucht?

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Triggerwarnung:

Da es sich bei der Protagonistin dieses Romans um eine Assassinin handelt, sind Blut, Tod und Verlust nicht nur am Rande der Handlung von

Bedeutung.

WREADERS TASCHENBUCH

Band 251

Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen

Vollständige Taschenbuchausgabe

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Druck: Sowa Sp. z o.o.

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendor

Umschlaggestaltung: Miriam Schwardt

Lektorat: Rebecca Voeste, Lektorat Zeilenwunder

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für Lilly und Vincent

Playlist

I Believe – KAMRAD

The Secret Garden – AURORA

Infinity – James Young

Wildest Dreams – Taylor Swift

A Thousand Years – Christina Perri

Runaway – AURORA

Warriors – Imagine Dragons

Loyal Brave True – Christina Aguilera

Enemy – Imagine Dragons x J.I.D

A Dangerous Thing – AURORA

I Found – Amber Run

Love Story – Sarah Cothran

Weeds – MARINA

Why Her Not Me – Grace Carter

Stay - Rihanna ft. Mikky Ekko

Dark Paradise – Lana Del Rey

Falling Apart – Michael Schulte

Prolog

Als sie ihn das erste Mal sah, war es, als wäre ihr Herz zu Glas geworden und nur er hielt es davon ab, zu zerspringen. Oder war er der Grund dafür, dass es zu zerspringen drohte?

Sie war durch die Gärten des Schlosses gewandelt, auf dem Weg zu ihren Schwestern, die den Knaben einst mit ihren Gaben ausgestattet hatten. Nun war er ein Mann und saß unter einem Apfelbaum, der von Rosensträuchern umringt war, sodass sie ihn ausschließlich durch den schmalen Eingang auf der dem Weg abgewandten Seite beobachten konnte.

Die Rosenblüten erstrahlten weiß und rein vor den Blättern, so wie ihr weißes Haar auf ihrer dunklen Haut. Sie beäugte den Prinzen, von dem sie zwar gehört, sich aber nie in seine Nähe gewagt hatte.

Sie, die Fee der Reinheit, lebte zurückgezogen in den Wäldern, im Einklang mit der Natur. Die Menschen hatten sie nie übermäßig fasziniert, doch dieser Mann, der dort im Gras saß und das Blätterdach über seinem Kopf betrachtete, sah so anders aus als die anderen seiner Art, denen sie bisher begegnet war. Seine feinen Gesichtszüge hätte sie mit dem Meißel nicht besser formen können. Das dunkle Haar über der Porzellanhaut erinnerte sie an den Gegensatz in ihrem eigenen Äußeren, daran, wie nah hell und dunkel manchmal beieinander lagen. Und das sanfte Grün seiner Augen, welches sie aus der Entfernung eher erahnen als sehen konnte, erinnerte sie an die Wälder, in denen sie aufgewachsen war. In seinem Gesicht wirkte die Farbe wie die ersten Knospen der Bäume im Frühjahr auf dem späten letzten Schnee.

Sollte sie es wagen und sich ihm …?

»He, was machst du da?«

Sie hatte sich zu weit hinter den Rosenbüschen hervor gelehnt, um die Farbe seiner Iris bestimmen zu können.

Eilig drehte sie sich um, bereit, durch den gesamten Schlossgarten zu fliehen. Vergessen war der Besuch bei ihren Schwestern. Ein Jahrzehnt mehr würde keinen Unterschied machen.

»Halt, bleib stehen!«

Plötzlich waren ihre Füße wie festgewachsen auf dem Gras unter ihren Sohlen, als würden die Wurzeln der Bäume, mit denen sie oft sprach, sie an die Erde ketten.

Die Grashalme dämpften seine Schritte, doch die Blätter flüsterten ihr zu, dass sich der Mann unaufhaltsam näherte.

Erst als er die Hand auf ihre Schulter legte und sie zu sich umdrehte, bekam sie wieder Luft. Wann hatte sie aufgehört, zu atmen?

Seine Finger auf ihrer nackten Haut schickten Stromstöße durch ihre Körper, die gar nicht existieren dürften.

»Wer bist du?«

Seine Unterlippe war wesentlich voller als seine Oberlippe. Ein weiteres Detail, das sie nicht besser hätte kreieren können. Diesen perfekten rosigen Ton hätte sie niemals getroffen.

»Man nennt mich Malin, Eure Königliche Hoheit.«

Seine grünen Augen fixierten sie, als sie ihn mit seinem Titel ansprach. Hatte sie zu viel gesagt? Hätte sie gar nicht wissen dürfen, dass er der Prinz war?

Diese gesprächigen Rosen, fluchte sie in Gedanken.

»Malin.« Zuerst sprach er ihren Namen hart aus, dann weich und fließend, als wollte er kosten, wie er sich auf seiner Zunge anfühlte. »Was machst du hier, Malin?«

Obwohl es Sommer war und die Sonne auf sie herabschien, überzog eine Gänsehaut ihre Arme. »Ich möchte meine Schwestern besuchen.«

Sie erschauderte, als er eine Augenbraue hob und seine Finger nach einer ihrer schneeweißen Strähnen griffen.

Als wäre sie ein Spielzeug, wickelte er sie auf. »Deine Schwestern also, so so. Leben sie im Schloss? Hast du sie schon lang nicht mehr gesehen, Malin?«

Sie schluckte.

Er sagte ihren Namen, als hätte er Angst, ihn zu vergessen. Also sprach er ihn immer wieder aus, denn das gesprochene Wort ist es, was in Erinnerung bleibt.

»Nicht im Schloss, im Garten. Ich habe sie schon viel zu lang nicht mehr gesehen; Ihr würdet es gewiss als eine Ewigkeit bezeichnen, Eure Königliche Hoheit.«

Bei dem Gedanken an sein vergängliches Leben überkam Malin eine Furcht, die sie nicht einordnen konnte. Alle Sterblichen waren vergänglich, wie könnte es für den Prinzen anders sein?

Sein Mundwinkel zuckte. »Nenn mich Prinz Damian.«

Sie nickte. Heftig. Zu heftig?

Malin meinte, den Apfelbaum kichern zu hören.

»Wie Ihr wollt, Eure Königliche Hoheit.« Sie räusperte sich. »Prinz Damian.«

»Also, Malin«, er hatte ganz sicher Gefallen am Geschmack ihres Namens gefunden, »wenn es dir nichts ausmacht, kannst du gern deine Schwestern besuchen, sooft du willst. Solang du mir nur einen weiteren Besuch unter dem Apfelbaum abstattest.«

Er griff hinter sie und pflückte eine der unschuldigen Blüten des Rosenstrauches. Malin ignorierte seine Schmerzensschreie, der Prinz konnte sie ohnehin nicht hören.

»Ich würde mich freuen, wenn du zu mir zurückkehrst.« Sanft strich er ihr Haar zurück und steckte die Blüte hinter ihr Ohr. Konnte er sehen, dass es spitzer zulief als die Ohren der Menschen? Machte es ihn neugierig oder verwirrte es ihn? Wenn, dann ließ er es sich nicht anmerken.

»Wie Ihr wünscht, Eu- Prinz Damian.«

Als er seine Hand zurücknahm und über ihre dunkle Wange strich, klopfte ihr Herz so laut, dass sie nicht hörte, was die Büsche ihr zuraunten.

Einst so rein, nun mit Blut beschmutzt.

Und der Tropfen, durch einen Dorn ebendieses Busches in der Hand des Prinzen verursacht, würde auf ewig Malins Haar an dieser Stelle färben, ein Zeugnis, welches sie niemals vergessen durfte.

»Dann sehen wir uns wieder?« Sie hätte sich wohl schelten sollen, so viel Hoffnung lag in ihrer Stimme.

Malin hatte die Menschen den Großteil ihres Lebens gemieden. Nun fragte sie sich, warum. Gefiel es ihr nicht, mit einem von ihnen zu reden? Hatten ihre Schwestern nicht viel häufiger mit den Menschen zu tun? So böse konnten sie nicht sein.

»Wenn ich es einrichten kann, werde ich dich nicht warten lassen.« Der Prinz drückte ihre Hand, eine weitere Berührung, die sie nie vergessen würde, bevor er sich mit den Fingern ebendieser Hand durch sein Haar fuhr.

»Ich fürchte, ich muss zurück zum Schloss.«

Malin starrte ihn mit großen Augen an. Er wollte schon gehen? Aber, erinnerte sie sich, die Menschen hatten so eine begrenzte Lebensspanne; gewiss musste er viel erledigen, um in diesem Leben zu etwas zu kommen.

»Ich verstehe«, sagte sie deshalb.

»Ich weiß. Grüße deine Schwestern von mir.« Dann ging er.

Und Malin blieb stehen, hörte nicht auf das, was die Rosen ihr zuflüsterten, und wartete, bis die Dämmerung einbrach. Der Besuch bei ihren Schwestern war vergessen, ebenso wie ihre Scheu vor den Menschen.

Schon am nächsten Morgen setzte sie sich unter den Apfelbaum und wartete. Tage und Nächte vergingen, Regen fiel hinab und wurde von Sonnenstrahlen getrocknet. Doch erst, als die Früchte die Äste des Baumes schwer hinunterhängen ließen, begegnete sie ihm erneut.

»Du bist gekommen«, raunte Malin.

Verschwitzt stand er vor ihr, das blütenweiße Hemd aufgeknöpft, in der Hand ein Florett.

Warum hatte er eine Waffe? Hatte sie etwas Falsches getan?

Hatten die Rosen ihr deshalb tagein, tagaus gesagt, sie solle sich umdrehen und nie mehr wiederkehren, bevor es zu spät sein würde?

Doch er griff sie nicht an. Stattdessen ließ er die Klinge mit einer geschmeidigen Bewegung unter seinen Gürtel gleiten, sodass sie locker an seinem Körper hing. »Ich hoffe, du hast nicht zu lang gewartet?«

Seine Zähne glänzten im Sonnenlicht. Ob wohl alle Menschen so weiße Zähne hatten? Das letzte Mal, dass sie unter seinesgleichen gewesen war, kamen sie ihr nicht so blütenrein vor. Rein wie sein Hemd, rein wie ihr Haar, rein wie die Rosen, die die Fee und den Prinzen vor den neugierigen Blicken der Außenwelt verbargen.

»Nein, keineswegs. Und wenn, dann habe ich gern gewartet.«

Waren das Worte der Reinheit gewesen? Immerhin der zweite Satz war keine Lüge. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, aufzustehen und zu gehen. Hatte sie überhaupt geschlafen?

»Da bin ich erleichtert.«

Sie wollte lächeln, aber etwas hielt sie davon ab. »Wozu tragt ihr das?« Sie deutete auf das Florett. Er hielt sie doch nicht etwa für eine Gefahr, oder?

»Ich habe trainiert, um vorbereitet zu sein.«

»Vorbereitet wofür?«

Kurz zuckte seine Augenbraue nach oben, als fragte er sich, wie sie nicht wissen könnte, wovon er sprach. »Vorbereitet dafür, mein Königreich zu verteidigen. Eines Tages werde ich König sein und für sein Wohl kämpfen.«

Kämpfen? Malin hatte noch nie gekämpft, das war es, was sie so lang von den Menschen ferngehalten hatte. Sie führte ein Leben in Harmonie, ohne Blut und Gewalt.

»Ist es denn in Gefahr, das Königreich?« Könnte sie etwas tun, um es zu beschützen? Wer würde ihm etwas antun wollen?

»Nein, aber eines Tages wird es das sein, und dann werde ich bereit sein, jeden zu töten, der sich mir in den Weg stellt.«

Jeden, wiederholte der Wind seine Worte.

Er weiß, was es heißt, sich für das zu opfern, was er liebt, klangen Malins Gedanken nach.

»Eine edle Vorstellung, sich eisern dafür einzusetzen, das, was man liebt, zu beschützen.« Tatsächlich konnte sich Malin nichts Edleres vorstellen als den Mann, der vor ihr stand.

Prinz Damian streckte seine Brust vor. Malin war, als wäre er plötzlich ein paar Zentimeter gewachsen, als er jetzt auf sie herabschaute. »In der Tat.«

Wie das Selbstverständlichste auf der Welt hielt Damian ihr entspannt seine Hand hin. »Willst du mich ein Stück begleiten, Malin?«

Kurz zögerte sie.

Sie hatte so viele Tage und Nächte unter dem Apfelbaum verbracht, dass es ihr unwirklich vorkam, diesen Ort zu verlassen. Die Büsche waren zu ihren Freunden geworden, der Garten zu ihrem Heim.

»Wenn es Euch keine Umstände macht, Prinz Damian.« Dann griff sie nach seiner Hand. Sanft, aber bestimmt schlossen sich seine Finger um ihre, als er sie mit sich zog, durch den Ausgang zwischen den Rosenbüschen und den Schlossgarten.

An Malin flogen die Beete vorbei, sie sah Rosen und Hortensien, Flieder und Lupinen. Wie in einem Traum preschten sie durch den Garten, der so groß war wie der Wald, den Malin einst ihr Zuhause genannt hatte.

Damals, bevor sie Damian getroffen hatte. Woher kam es, dass ihre Zeitrechnung nun aus einem Davor und einem Danach bestand?

Die Blumen verschmolzen zu einem bunten Strudel, so bunt wie die Gefühle, die sich in Malins Brust regten.

Das weiße Hemd klebte immer noch feucht an Damians Brust. Nun, da sie rannten, konnte sie sehen, wie sich seine Muskeln darunter bewegten.

Als sie das Schloss erkennen konnte, an dessen Mauern Efeu und Kletterrosen emporrankten, griff Damian auch nach ihrer zweiten Hand. Und plötzlich rannten sie nicht mehr, sondern drehten sich im Kreis um das winzige Universum, das sich in ihrer Mitte aufgetan hatte. Die Erde drehte sich nicht mehr um die Sonne – nun drehte sie sich um Malin und Damian, um Damian und Malin.

Pass auf, dass du nicht fällst, raunte das Gras unter ihren Füßen.

Doch Malin lachte und lachte, bis sich Tränen in ihren Augenwinkeln sammelten. Und Damian lachte mit ihr. Irgendwann ließ er ihre Hände los und griff nach ihrer Hüfte, hob Malin hoch, zog sie an sich und drehte sich mit ihr. Wann hatte sie sich jemals so lebendig gefühlt? Wann in den letzten hundert Jahren hatte sie gemeinsam mit jemandem gelacht, bis sie weinen musste? Und wann hatte sich eine Berührung so selbstverständlich angefühlt?

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Und schon zog er sie wieder mit sich auf die schattige Seite des Schlosses. Doch was Malin den Atem raubte, war nicht das imposante Bauwerk. Was sie nun vor sich sah, war der am dichtesten bewachsene Rosenbogen, den ihre Augen je erblickt hatten.

Nah am Boden waren die Blüten weiß wie ihr Haar, an der Spitze des Bogens so rot wie das Blut in Damians Adern. Und dazwischen, da verliefen die Farben in solch geschmeidigen Übergängen, wie sie sie sonst nur im Sonnenaufgang sah. Die zartesten Rosatöne veränderten ihre Farbe vom Boden bis zur Spitze, um in dem kräftigen Rot zu gipfeln.

Wieder führte Damian sie mit sich. Unter dem Bogen ließ er sie los und legte seine Finger an ihre Wangen.

Leicht wie eine Frühlingsbrise fühlte sie die Berührung auf ihrer Haut. So sanft, als würde er verschwinden, sobald sie die Augen schloss.

»Küss mich, Malin.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, so gut sie konnte. Doch die letzten Zentimeter blieben ihr verwehrt, zu groß war die Distanz zwischen dem hochgewachsenen Prinzen und ihr. Als er sich ihr endlich näherte, meinte Malin, ihr Herz müsse stehen bleiben.

Würde sie das überleben?

Sie hatte schon viele Jahrhunderte auf dieser Erde verbracht, sollte ein einziger Kuss ihr Herz zum Stoppen zwingen? Doch als sich ihre Lippen berührten, meinte sie, nicht zu sterben, sondern wiedergeboren zu werden. Ihre Haut prickelte überall, wo er sie berührte. Aber Seelen konnten vermutlich nicht prickeln. Viel mehr konnten sie tanzen und jauchzen und nach Hunderten von Jahren zum ersten Mal leben.

Als er sich von ihr löste, war Malin, als würden Sterne durch ihre Adern fließen.

»Nicht.« Es war nur ein Flüstern, mehr ein Hauchen, doch sie war noch nicht bereit, sich von ihm zu trennen. Also schlang sie die Arme um seinen Nacken und zog ihn an sich.

Eine Brise umwehte sie, ein lauer Sommerwind, der sich erst um ihre Beine schlang und sich dann um sie schlängelte, bis er ihr Haar erreichte.

War es Magie? Oder konnte das Liebe sein?

Als Damian an diesem Tag ging, nahm er sie mit sich. Über eine Dienstbotentreppe stahlen sie sich ins Schloss und rannten durch die Gänge, bis sie seine Gemächer erreichten.

Als sie sich durch die Laken wälzten, kostete Malin zum ersten Mal vom süßen Nektar der Erlösung.

Das Kribbeln, welches Damian an ihrem Gesicht und auf ihren Händen auslöste, breitete sich über ihren gesamten Körper aus. Kein Zentimeter Haut blieb verschont von seinen Berührungen, kein Gedanke drehte sich nicht um ihn.

Als sie endlich einschlief, meinte Malin, auf Rosenblüten gebettet zu sein.

Doch was wäre eine Rose ohne ihre Dornen?

Es waren die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die durch das Fenster schienen, während Damian an ihrer Schulter ruckelte.

Ein wohliger Schauer durchfuhr ihre Glieder, als sie ihn unbekleidet neben sich sah.

»Du musst gehen.«

Malin blinzelte, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

»Malin, du musst jetzt gehen. Gleich kommt jemand, um mich zu wecken.« Plötzlich waren seine grünen Augen nicht mehr sanft wie die Knospen junger Blätter, sondern scharf wie die Nieswurz-Blüten, welche das einzige für Feen tödliche Gift produzierten.

»Wohin?«

»Durch das Fenster.«

Wie konnte er wissen, dass sie nicht sterben würde, würde sie abstürzen? Oder ahnte er, dass sie hinabschweben würde wie ein Blatt im Wind?

Malin hielt die Tränen zurück, die ihm zeigen würden, wie sehr sie der Abschied schmerzte. »Ich werde auf dich warten, unter dem Rosenbogen«, flüsterte sie.

Damian nickte, doch seine Gedanken waren längst nicht mehr bei ihr.

Als Malin durch das Fenster entschwunden war, war das weiße Kleid auf dem Zimmerboden alles, was noch an sie erinnerte.

Sie wurde eins mit dem Rosenbogen, der ihr ein Zuhause und ein Freund geworden war. Wann immer sich ein Mensch in ihre Nähe wagte, verschmolz sie zwischen den Blüten und Blättern und wurde selbst zur schönsten Pflanze des Gartens. Und immer, wenn sie wieder allein war, goss sie mit ihren Tränen die Rosen, auf dass sie zu den kräftigsten Blumen des Königreichs werden würden.

Es waren zuerst die weißen Blütenblätter, welche verwelkten und zu Boden fielen. Als das erste von ihnen das Gras berührte, hob Malin es auf und drehte es zwischen ihren Fingerspitzen. Zart und rein war es gewesen, bevor seine Zeit abgelaufen war. Konnte es dieses Schicksal sein, welches ihr drohte?

Und als immer mehr Blüten die Pflanze verließen, schichtete Malin ihre Überreste zu einem Bett aus verwelkten Rosenblüten auf, unter einem Bogen, an dem nur die dornigen Stämme den Winter überdauern würden.

Als das letzte rote Blatt von der Spitze des Bogens auf die Fee fiel, beschloss sie, Damian aufzusuchen. Er hatte sie lange genug warten lassen.

Mit dem Herbstlaub flog sie hinauf zu dem Fenster, das sie einst übereilt durchquert hatte, um ihren Liebsten zu verlassen. Davor schwebend blickte sie durch das Glas.

Im Inneren des Raumes sah sie Damians Rücken, nackt. Seine Muskeln, durch das Training gestählt, zeichneten sich unter seiner blassen Haut ab. Gerade, als sie anklopfen wollte, ließ er die letzte Hülle in Form einer dunkelroten, samtenen Kniebundhose fallen.

Malin stockte.

Wusste er, dass sie hier war? Dass sie tagein, tagaus auf ihn gewartet hatte, bis sie zur schönsten Rose in seinem Garten geworden war? Nachdenklich strich sie über die rote Stelle in ihrem schneeweißen Haar, an der er sich verewigt hatte.

Gerade, als sie das Fenster öffnen wollte, machte Damian einen Schritt zur Seite. Nun sah Malin das Bett, welches sie miteinander geteilt hatten. Darauf lag ein vollbusiges Mädchen mit kastanienbraunem Haar, nicht mehr bekleidet als ihr Liebster.

Nein, das musste eine Verwechslung sein!

Damian hatte ihr Herz gestohlen, hatte ihr gezeigt, was Liebe war und ihre Seele tanzen lassen. Gleich würde er sie hinauswerfen und fragen, wo Malin war. Gewiss musste es so sein. Aber was ihre Augen sahen, strafte ihre Gedanken Lügen.

Damian ging mit langsamen, großen Schritten auf das Bett zu. Auf die Frau, die sich auf demselben Laken rekelte, in dem Malin gelegen hatte. Er beugte sich hinab und …

»Genug!« Malin spie das Wort so kräftig aus, dass das Fensterglas zersprang. Die Splitter zerbarsten in alle Richtungen. Doch nur das rote Blut, welches aus tausenden kleinen Wunden von Damians Rücken hinabfloss, gab ihr etwas, das sich fast wie Genugtuung anfühlte.

Das Gesicht des Mädchens war zu Eis erstarrt, die Augen ebenso weit aufgerissen wie der Mund. Nur die frische rote Flüssigkeit, die ihre Wangen benetzte, zeugte davon, dass sie aus Fleisch und Blut bestand.

Anders Damian. Ein Grollen entfloh seiner Kehle, als er sich zu Malin umdrehte. Kurz leuchteten Überraschung und Erkennen in seinen Pupillen auf, dann folgte etwas, das sich wohl am besten als Mitleid beschreiben ließ.

»Was willst du hier?« Seine Stimme klang müde. So müde, als wäre er es gewesen, der monatelang unter dem Rosenbogen auf jemanden gewartet hätte, der nie erschienen war.

»Ich dachte, du würdest mich lieben!« Die Wände des Zimmers erzitterten unter Malins Stimme. All die Hoffnung, Trauer, Verzweiflung und Wut verwandelten sich in diese sechs Worte, mit denen sie das Gebäude beben ließ.

»Ich habe dich in mein Bett gelassen, Malin. Nicht in mein Herz. Liebe habe ich dir nie versprochen.« Er lachte. »Ich würde mich eher an dieses Bett fesseln lassen, als mein Herz an dich zu ketten.«

Die Tränen, die sich in Malins Augenwinkeln sammelten, glitzerten golden im Licht der untergehenden Sonne. In ihrem Inneren wurde die einst so reine Seele zu Stein. »Dann soll es so sein, ich verfluche dich. Nie wieder sollst du ein Herz wie das meine brechen. Du sollst auf ewig schlafen, bis du im Angesicht der wahren Liebe wieder erwachen wirst.«

Die Rosen kamen aus ihrer Herbstruhe zu sich, schlängelten sich an der Mauer des Turmes hinauf und schlossen das glaslose Fenster. Malin schwebte draußen, Prinz Damian und seine letzte Geliebte verblieben im Inneren.

Es würde nur Sekunden dauern, bis das Mädchen merken würde, dass der Prinz in eine Ohnmacht fiel, die sich nicht so schnell lösen würde. Nur noch Minuten, bis sie ein anderes Mitglied der königlichen Familie benachrichtigen könnte. Eine Stunde, bis sie selbst versuchen würde, ihn wachzuküssen, weil sie sich für seine wahre Liebe hielt. Und ein Jahrhundert, bis sich tatsächlich eine vielversprechende Kandidatin finden sollte, um den Fluch zu brechen.

Kapitel 1

»Wir haben einen Auftrag für dich.«

Viel zu lang hatte Eleira diese Worte nicht mehr gehört. Sie klangen wie Musik in ihren Ohren, doch das Kribbeln, das ihre Haut überzog, regte sie nicht zum Tanzen, sondern zum Kämpfen an.

Fürsorglich polierte sie in ihrem Wohnzelt das Silber ihrer Saigabel, eine dreizackige Waffe, die sie erst vor wenigen Stunden gereinigt hatte. Sie wollte für die Stammesälteste immerhin den Anschein erwecken, als würde sie überlegen. Innerlich hatte Eleira längst entschieden, dass der Krieg das einzige Leben war, welches sich zu leben lohnte.

»Ein Prinz, König, was weiß ich. Vier Monatsreisen entfernt liegt er seit gut hundert Jahren im Schlaf. Angeblich soll ihn seine wahre Liebe küssen, um ihn aufzuwecken«, erklärte die Stammesälteste.

Eleira legte die Saigabel zur Seite und runzelte die Stirn. Dabei bewegte sich ihr eng an der Kopfhaut entlang geflochtenes karamellfarbenes Haar ein paar Zentimeter.

»Ich glaube nicht, dass ich die große Liebe für einen dahergelaufenen Aristokraten spielen kann.«

Die Stammesälteste lachte kehlig. »Gelaufen ist der definitiv schon lang nicht mehr.«

Dann fing sie sich. »Anscheinend setzen die letzten Nachkommen seiner Sippschaft darauf, dass du die Frau findest, die diesen Fluch über ihn gebracht hat und mit ihr kurzen Prozess machst. Im Endeffekt scheinen sie aber einfach nur den Fluch brechen zu wollen – also kannst du es auch gern mit einem Kuss versuchen. Solltest du den Prinzen auch noch bezirzen können, umso besser. Vielleicht lässt er dann eine besonders große Entschädigung für dich springen.«

Eleira zögerte. Für so etwas Banales wie die Liebe war in ihrem Leben kein Platz.

Sie war eine Kriegerin, eine Amazone und eine Assassinin. Es war ihr egal, ob sie aus dem Hinterhalt oder von Angesicht zu Angesicht töten sollte, aber das einzige Herz, das dabei höherschlagen würde, war das ihres Opfers, bevor es sein Leben aushauchte.

Zudem glaubte sie kaum daran, dass einer der westlichen Monarchen Gefallen an ihr finden würde; sie ging bei ihnen bestenfalls als ungewöhnlich durch, mit ihrer Haut, ihrem Haar und ihren Augen, welche alle denselben Messington hatten. Dass sich ihre Fähigkeiten jedoch bis in den fernen Westen herumgesprochen zu haben schienen, ließ sie eine tiefe Genugtuung fühlen. »Wie viel bieten sie?«

»100 Dukaten.«

Eleira warf einen sehnsüchtigen Blick auf ihre Waffen. Sie hatte schon für weniger gemordet. Jedoch würde sie gut vier Monate unterwegs sein und das war nur der Hinweg. Dann musste sie noch diese Hexe finden, sie erledigen, das Geld einsacken und wieder zurückkommen. Alles in allem wäre sie fast ein Jahr fort. »Ich mach’s für 200.«

»Ich denke nicht, dass du in der Position bist …«

»Für 200 oder gar nicht.«

Die Älteste führte den Stamm, aber Eleira wusste, dass sie selbst die beste Kriegerin in der Gemeinschaft war. Wenn sie diesen Auftrag nicht annahm, würde sich keine geeignetere Amazone finden lassen. Also ja, sie war sehr wohl in der Position, Forderungen zu stellen. Zumal der Adel im Westen mehr als genug Geld hatte.

Die Augen der Stammesführerin fixierten sie mit dem stechenden Blick eines Adlers, ehe sie einlenkte. »Ich rede mit ihnen.«

Eleira nickte. »Gut.«

Dann ging die Älteste und alles, was Eleira noch von ihr sah, war der lange schlohweiße Zopf, bevor sie aus dem Zelt verschwunden war.

200 Dukaten. Damit würde die Familie ihrer Schwester für zwei Jahre versorgt sein. Grigorie könnte bessere Kleidung, Nahrung, vielleicht sogar Spielzeug und Medizin für ihre Töchter ertauschen. Nein, Eleira selbst brauchte nicht viel zum Leben, sie hatte ihre Saigabeln, ihre Rüstung und den Stamm. Aber für Grigorie, die dem Leben als Kriegerin wegen der Familie abgeschworen hatte, würde sie doppelt so hart arbeiten.

Es vergingen Monate, bis die Älteste erneut zu Eleira kam. Es dämmerte bereits und sie war dabei, ihr Haar zu lösen. Natürlich hörte sie die Stammesführerin kommen. Die Mitglieder ihrer Gemeinschaft konnte sie allesamt anhand ihres Ganges voneinander unterscheiden, auch wenn sie noch viele Schritte von ihr entfernt waren. Nun ja, fast alle. Mit den Zwillingen von Grigorie, ihren Nichten, hatte sie noch ihre Schwierigkeiten.

Beinahe hatte Eleira das Angebot vergessen, das sie ihr vor all den Wochen unterbreitet hatte.

»Sie haben mir geschrieben. Du bekommst deine 200 Dukaten, sobald der Kopf der Hexe gerollt ist.«

»Gut.«

Eleira würde sich noch drei Sonnenaufgänge nehmen, bis sie aufbrechen würde. Wenn sie einmal einen Auftrag annahm, ließ sie nie viel Zeit verstreichen, bis sie ihn ausführte. So war es immer gewesen und so würde es auch dieses Mal sein.

»Du solltest dich von deiner Familie verabschieden.«

»Ich weiß«, knurrte Eleira.

Jede von ihnen war sich bewusst, dass der nächste Auftrag der letzte sein könnte. Aber sie waren gut, allen voran Eleira. Die Präzision, mit der sie arbeitete, hatte ihr bereits zwölf der goldenen Punkte auf ihrem Genick eingebracht, die Male, mit denen sie Seelen ehrten, die sie auf die andere Seite gebracht hatten.

Wenn eine von ihnen erfolgreich zurückkehrte, verzierte die Stammesälteste das Genick der Amazone in einer feierlichen Zeremonie mit einem weiteren.

Und mit diesem Auftrag würde sich Eleira ihren dreizehnten Punkt verdienen.

»Ich werde mich morgen um alles kümmern. Danke für die Nachricht.« Das waren bereits mehr Worte, als sie sonst zu jemandem an diesem Tag gesagt hatte. Sprache war etwas, mit dem Eleira gern sparsam umging. Taten waren es, die für sie zählten.

»Das Reich, das nach dir verlangt, nennt sich Auroris. Du solltest wissen, wohin du dich durchschlagen willst. Pass auf dich auf.«

»Mh.« Eleira nickte, dann ging sie zur Waschschüssel und begann, ihr Gesicht zu säubern. Das Gespräch war für sie beendet.

Als die Älteste dieses Mal ging, sah Eleira das Gewirr von Punkten, welches nicht nur ihren Nacken, sondern auch ihre Schulterblätter zierte. Ein Außenstehender hätte sie nie in der kurzen Zeit zählen können, aber Eleira wusste, dass es fünfzig waren. Eine Zahl, die sie eines Tages überbieten wollte.

Nach dem ersten der drei Sonnenaufgänge suchte Eleira ihre Schwester auf. Sobald sie an ihrem Tisch saß, fackelte die Assassinin nicht lange. »Ich werde gehen.«

Erschrocken blickte Grigorie sie an, während sie in einem großen Topf rührte. Kurz darauf wich die Angst in ihrem Blick Verständnis. Eleiras Schwester hatte sich nur zwei Punkte verdient, bevor sie sich der neuen Generation zugewandt hatte, aber sie wusste, mit welcher Ehre Eleira mit jedem weiteren Mal heimkehrte. »Wohin?«

»Nach Westen.«

Kurz schaute Grigorie in den Topf, als würde die Suppe darin ihr mehr über ihre Schwester verraten können als diese selbst. Dann bildete sich eine kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen. »Wie weit?«

Grigorie wusste, auf welche Informationen es ankam, sie verschwendete keine unnötigen Worte. Das hatten sie gemeinsam.

»Vier Monatsreisen entfernt.«

Die Falte vertiefte sich.

»Sie geben mir zweihundert Dukaten.«

Grigorie nickte. Das war eine Summe, von der sie nicht einmal geträumt hatte.

»Wenn etwas schiefgeht, bringt mir kein Geld der Welt meine Schwester zurück.« Ihre Augen glitzerten feucht.

Auch wenn es Eleiras Herz erwärmte, dass sie ihr so viel bedeutete, war sie der festen Überzeugung, dass Grigories Sorgen unbegründet waren. »Es geht nichts schief.«

Eleira beschloss, ihr lieber zu verschweigen, wen sie eigentlich töten sollte. Sie konnte sich vorstellen, dass es Grigorie nur noch mehr ängstigen würde, wenn sie wüsste, dass ihre Schwester loszog, um eine Hexe zu ermorden. Sie machte sich ohnehin schon zu viele Gedanken.

»Das Essen ist fertig.« Sie hatte nicht laut gesprochen, dennoch rannten Grigories Töchter wie von einer Jägermücke gestochen in die kleine Küche.

»Tante Eleira!« Aufgeregt sprangen die Mädchen um sie herum, die Mahlzeit war vergessen.

»Ich freue mich auch, euch zu sehen.«

»Genießt besser die Zeit, eure Tante wird für einige Monate fort sein.«

Mit großen Augen sahen sie Eleira an. An das letzte Mal, dass sie für einen Auftrag länger weg gewesen war, konnten sich ihre Nichten kaum erinnern, damals hatten sie gerade erst laufen gelernt.

»Ich werde einige Zeit gen Westen unterwegs sein, bis in ein fernes Königreich.« Eleira wusste nicht, ob ihre Nichten schon verstanden, was sie dort tun würde. Aber sie waren in ein Volk von Amazonen hineingeboren worden, in dem auch sie eines Tages ihren Teil leisten würden. Früher oder später würden sie wissen, was ihre Aufgabe war.

»Bringst du uns etwas mit?« Eine der beiden – Malira, oder war es doch Lyx? – griff nach ihrer Hand und sah sie aus kugelrunden Augen an. Beinahe hätte Eleira über diesen Ausbruch kindlicher Unschuld gelacht. Ihre Nichten machten sich jedenfalls keine Sorgen darum, dass ihr etwas zustoßen könnte.

»Aber natürlich. Wenn ich etwas sehe, das mich an euch erinnert, werde ich nicht zögern.« Damit hob sie das Mädchen behutsam hoch und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.

»Wir werden dich vermissen, Tante Eleira.« Die andere von beiden griff nach dem Zipfel ihrer mit Goldfasern durchwebten Tunika.

»Ich euch auch.« Wehmütig blickte sie auf ihre kleine Familie. Dies war der Ort, an den sie immer wieder zurückkehren würde, und dies waren die Mädchen, an die sie all ihr Wissen weitergeben würde, wenn die Zeit gekommen war.

»Wollen wir nun essen?«

»Ja, Mama.« Wie aus einem Mund antworteten die Zwillinge. Eleira ließ ihre Nichte herunter, sodass sie sich an den runden Holztisch setzen konnte.

Wie selbstverständlich hatte Grigorie auch für Eleira gedeckt, sodass sie alle beisammensitzen und speisen konnten. Während sie aßen, schauten ihre Nichten Eleira immer wieder mit einer Ehrfurcht an, die sie nicht einzuordnen vermochte. Wussten diese Kinder vielleicht schon viel besser, als sie dachte, auf welche Art von Mission sich ihre Tante begab?

Wenn sie wiederkehrte, würden sie gewiss vollends im Bilde sein. Dann war es nicht mehr lang, bis Malira und Lyx ihre eigene Ausbildung beginnen sollten. Sie würden ihrem Volk tapfer dienen, dessen war sich Eleira sicher.

»Das war köstlich, danke.« Die Assassinin wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Es wird wohl eine der letzten hausgemachten Mahlzeiten für eine Weile sein. Es freut mich, dass sie dir geschmeckt hat.« Grigorie blickte auf ihren Teller.

Wäre sie nicht ihre Schwester gewesen, hätte Eleira nie das stille Leid in ihren Karamell-Iriden gesehen. Doch ihre enge Verbindung ließ sie die zitternden Reflexionen bemerken, die selbst die Tapferste unter ihnen nicht unterdrücken könnte.

»Ich komme zurück, ich verspreche es.« Fest drückte sie Grigories Hand. Sie würde sie stolz machen. Ihre Familie, ihren Stamm und allen voran sich selbst. Eleira war die Beste, die Stärkste und die Schnellste unter ihnen. Die Gegnerin, die sie überlisten wollte, musste noch geboren werden.

»Kommt her, Mädchen.« Grigorie war aufgestanden. Kurz hatte sie angesetzt, die Teller abzuräumen, doch sich dann umentschieden. Nun stand sie mit offenen Armen neben dem Tisch und wartete auf ihre Töchter.

»Du auch«, fügte Grigorie mit einem Blick auf ihre Schwester hinzu. So fanden sie sich alle in einer Umarmung wieder, die sich wie ein Versprechen anfühlte. Ein Versprechen auf ein Wiedersehen.

»Mein Verstand weiß, dass du zurückkehren wirst. Nur mein Herz muss es noch begreifen.«

Nach dem zweiten Sonnenaufgang schnürte Eleira ihr Päckchen. Sie befüllte es mit Lederbändern, mit denen sie ihr Haar zusammenband, getrocknetem Fleisch und Gemüse, einer größeren Menge Salz, einem zweiten Paar Stiefel, einer blechernen Schüssel und mit ihrer Feldflasche.

Die Saigabeln, mit denen ihr eigenes Leben unweigerlich verflochten war, würde sie auf dem Rücken tragen. Liebevoll strich Eleira über das feste Silber ihrer Waffen. Der mittlere und längste Schaft schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Unterarm, wenn sie die Waffe einklappte. Nur wenige Zentimeter der Spitze ragten dann über ihren Ellbogen hinaus, während sich die beiden äußeren, kürzeren Schäfte neben ihrem Arm befanden. Wenn Eleira die Sai führte, fühlte sie sich mit sich im Reinen. Ihr Herzschlag und ihre Atmung wurden eins, ihre Sinne schärften sich.

Konzentriert stand die junge Amazone auf, um einige Bewegungsabläufe durchzugehen, die ihr schon vor langem in Fleisch und Blut übergegangen waren.

Sie schloss die Augen. Sie hörte Vögel vor ihrem Zelt zwitschern, hörte die anderen Dorfbewohnerinnen erwachen und den Bach neben ihrer Siedlung dahinplätschern. Und sie hörte sich selbst. Ihr Herz, ihren Atem, ihre Entschlossenheit.

Sie würde eine Hexe töten.

Während des dritten Sonnenaufgangs sattelte Eleira ihr Gnurd. Das massige Reittier mit den ausladenden Hörnern, die sich an ihrem äußersten Punkt nach innen krümmten, hatte sie bisher auf jeder Reise begleitet.

Ihm war es egal, ob sie durch Gebirge oder Wüsten reiten würden, ein Gnurd war genügsam und treu.

»Trink, mein Junge. Du weißt nicht, wann es das nächste Mal etwas gibt.« Sie hielt dem Tier eine Schale mit Wasser vor die Nüstern. Erst roch es daran, bevor es gierig sein Maul in dem kühlen Nass versenkte. Als ihr Gefährte fertig war, legte Eleira ihm das Zaumzeug an. Das weiche Leder hatte sie noch am Vorabend gefettet, ohne zu wissen, wann sie das nächste Mal dazu kommen würde.

»So ist es brav, mein Junge.« Zufrieden strich sie ihm über die Nüstern. Danach zurrte sie ihr schmales Gepäck am Sattel fest. Es war nicht viel, sie wollte das Reittier nicht mit unnötigem Gewicht belasten. Ohnehin band sie sich ungern an materielle Güter, die nicht gerade aus Silber bestanden und drei Spitzen besaßen.

Zufrieden überprüfte sie den Sitz ihrer beiden Saigabeln an ihrem Rücken, dann griff sie nach der dritten, welche sie versteckt unter ihrer Kleidung trug. Gemeinsam mit dem Dolch in ihrem Stiefel machte sie das Arsenal komplett, auf das sich Eleira in all den Jahren zu verlassen gelernt hatte.

Überzeugt, vorbereitet zu sein, schwang sich die Assassinin in den Sattel und drückte dem Gnurd ihre Fersen in die Flanken, damit es sich in Bewegung setzte.

Mit der aufgehenden Sonne im Rücken war Eleira für alles und jeden gewappnet, der sich traute, sich ihr in den Weg zu stellen.

Kapitel 2

Ekelerregend. Anders konnte der Prinz die feuchten Lippen, die sich auf seine pressten, nicht beschreiben.

Einen kurzen Moment herrschte Stille, bis auf das heftige Atmen seiner heutigen Auserwählten.

»Versuch Nummer zwölftausendundsiebzig, fehlgeschlagen.« Diese Stimme gehörte zu Berta, seiner Großnichte dritten Grades, wenn er dem Gemurmel trauen konnte.

Irgendwann hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihre durchgeführten Versuche genau zu überwachen und aufzuzeichnen, doch es war vergebens.

Wenn er doch nur etwas sagen könnte!

»Hat es funktioniert?« Ihre piepsige Stimme jagte ihm kleine Eissplitter durch die Venen. Was genau verstand die Närrin nicht an dem Wort fehlgeschlagen?

»Ich kann es auch gleich noch mal versuchen!«

Alles, nur das nicht! Wenn er Malin, diese Hexe, dieses Biest doch nur in die Finger bekommen könnte. Wenn er doch nur überhaupt irgendetwas anfassen könnte …

»Du darfst gehen.«

Neben sich hörte Damian das Mädchen enttäuscht ausatmen. Hatte sie etwa tatsächlich geglaubt, dass sie nach über zwölftausend anderen jungen Damen aus dem Königreich tatsächlich die Eine sein würde? Immerhin waren die ersten, die es versucht hatten, schon seit Jahrzehnten tot. Natürlich gab es für ihn keine einzig wahre Liebe, nicht in seiner Generation und nicht in den folgenden.

Wieso hätte Malin sonst diesen Fluch ausgewählt?

Schlurfend entfernten sich die Schritte der Kandidatin, bis er meinte, nur noch mit Berta in dem Turmzimmer zu sein.

Doch dann spürte er einen Luftzug. Die Tür musste nach wie vor geöffnet sein. Jemand anderes näherten sich dem Raum, er konnte seine schnellen Füße auf der Treppe hören. Dabei gab sich die Person nicht einmal Mühe, mit dem Palast würdigen Anstand zu gehen. »Eure Hoheit!«

Damian war drauf und dran, den Boten daran zu erinnern, dass er eine Königliche Hoheit war, doch es wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen.

»Was gibt es?« Berta klang schwach, dabei teilten sie dasselbe Blut, das es einst geschafft hatte, selbst die Fee der Reinheit zu bekehren. Das Blut, das ihr einst so schneeweißes Antlitz gezeichnet hatte.

»Sie ist auf dem Weg. Es gibt Hoffnung.«

Erleichtert atmete Berta aus. Wie war es möglich, dass eine weitere Frau, die sich auf dem Weg zu ihm begab, auch nur noch einen Funken Hoffnung in ihr zu wecken vermochte?

»Bitte lass sie ihr Geld wert sein.«

Oh, was hätte er nur in seinen besten Tagen dafür gegeben, ein Freudenmädchen zu empfangen. Jetzt kam es ihm dagegen wie die gerechte Strafe für all seine Sünden vor.

Kapitel 3

Das Gnurd stank. Trotzdem kuschelte Eleira sich noch tiefer in sein Fell. An diesem Morgen kitzelten die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht und sie musste dem Drang widerstehen, ihre Kapuze tief über ihre Augen zu ziehen, um noch ein paar Minuten Schlaf herauszuholen. Auf einer Mission war kein Platz für Erholung.

Seit Wochen überquerten sie das Gebirge, welches sie von den Tiefebenen im Westen trennten. Die Vegetation war ebenso spärlich wie flüssiges Wasser. Um ihre Vorräte aufzufüllen, schlug Eleira kleine Eisbrocken von den Felsspalten und füllte sie in ihre Feldflasche, die sie dann neben dem zusätzlichen Sai an ihrem Gürtel befestigte, damit das Eis nah an ihrem Körper schmolz. An manchen Tagen funktionierte diese Methode besser, an manchen schlechter.

Widerwillig stellte sie die Füße auf dem gefrorenen Boden auf und erhob sich. Das Gnurd hinter ihr gab einen Laut von sich, der sich bestenfalls als Schnarchen interpretieren ließ. Sie streckte sich und blinzelte. Rechts von ihr ging die Sonne gerade auf. Wenn sie gen Westen wollte, musste sie sich also einen Orientierungspunkt suchen, der sich im Moment gegenüber der Sonne befand und diesen ansteuern. Mit zusammengekniffenen Augen konnte sie in der Ferne eine besonders hohe Eiche erkennen, deren Krone sich wie eine Decke über die Landschaft im Tal legte. Sie nickte. Ja, dieser Baum würde ihr den Weg weisen, bis sie sich für eine neue Landmarke entscheiden musste.

Als sie das Gnurd gesattelt hatte, zog sie sich die dünne hellbraune Kapuze über den Kopf, die sich farblich kaum von ihrer messingfarbenen Haut unterschied.

Der Gebirgswind zerrte an ihr, als wollte er Eleira die Kleider vom Leib reißen. Die vereinzelten Flocken, die trotz der Kapuze den Weg in ihr Gesicht fanden, brannten auf der Haut wie kleine Messerstiche. Kurz fasste sie sich an die Wange, um sicherzugehen, dass sie nicht tatsächlich blutete. Nein, ihre Fingerspitzen behielten denselben Farbton.

Aufmunternd tätschelte Eleira ihrem Reittier den Hals. Das Gnurd hatte es vermutlich nicht weniger schwer als sie auf seinem Rücken. Doch als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Entfernung, die sie schon zurückgelegt hatten, größer war, als es sich anfühlte. Ohnehin war es schon zu spät, um noch umzudrehen. Es war bereits zu spät gewesen, als sie den Auftrag angenommen hatte. Wenn sie einmal zusagte, würde sie nichts und niemand von ihrer Mission abhalten. Es sei denn, dieser jemand wollte zu ihrem nächsten Auftrag werden.

Eleira hatte keinen Zeitmesser bei sich, sie wusste nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren, seitdem sie sich an diesem Morgen auf den Weg gemacht hatte. Doch sie spürte deutlich, dass die Sonne schon lang nicht mehr in ihrem Rücken schien, sondern sich immer weiter an ihre Seite schob.

Ohne den Blick auf ihr Ziel zu verlieren, stoppte sie das Gnurd und stieg ab. Mit steifen Fingern löste sie ihre Feldflasche von dem Gürtel um ihre Taille und nahm einen Schluck des kühlen Wassers. Sie würde später am Tag jagen müssen, wenn sie bei Kräften bleiben wollte. Sobald sie sich dem Tal genügend angenähert hatte, konnte sie auch nach Wurzeln graben und Beeren sammeln, aber der gefrorene Boden unter ihren Füßen ließ ihr wenig Hoffnung auf Abwechslung zur immer gleichen Fleischmahlzeit der letzten Wochen.

Kritisch strich sie über die Mähne ihres Reittiers, dann holte sie eine Blechschüssel aus ihrem Beutel, die sie ebenfalls mit Wasser füllte und dem Gnurd hinhielt. »Gut.«

Manch eine Assassinin aus ihrem Stamm hätte gewiss aufmunterndere Worte für ihren Begleiter übriggehabt, aber Eleira wusste nicht einmal, ob das Gnurd überhaupt eines ihrer Worte verstand. Vermutlich war jede Silbe verlorene Liebesmüh.

Sie verstaute die geleerte Schüssel in ihrem Beutel. Sobald sie wieder fließendes Wasser erreichte, würde sie sie gründlich ausspülen müssen, denn das wenige Wasser, das sie hatte, wollte sie dafür nicht verschwenden.

Mit eiserner Miene stieg sie auf und gab dem Gnurd mit leichtem Druck ihrer Ferse zu verstehen, dass es weiterging.

Die Sonne schien ihr beinahe frontal ins Gesicht, als Eleira die ersten Details der Eiche erkennen konnte. Gewiss hatte sie nun schon einige Höhenmeter abwärts hinter sich gebracht, sonst hätte ein solch großer Baum in dieser Umgebung nicht gedeihen können. Gerade, als Eleira über die farbigen Punkte, die sich zwischen den Blättern an den Zweigen auftaten, nachdenken wollte, bemerkte sie etwas in ihrem Augenwinkel. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung stieg sie ab und zog ihre Saigabeln.

Sie war nicht allein. Auf dem Waldboden vor ihr befand sich eine Kaninchenfalle. Dem kleinen, unscheinbaren Seil, welches über dem Boden gespannt war, hätte sie allein vielleicht keine Beachtung geschenkt, doch der geflochtene Käfig direkt dahinter war ihr in der Unregelmäßigkeit der kahlen Büsche ins Auge gefallen. Nichts in dieser Umgebung war gleichmäßig geformt, nicht hier, wo die Witterung jeden Stein zu vielen winzigen Spitzen zerbrach. Trittspuren, kleiner als ihre eigenen und von ungewöhnlicher Form, führten von der Falle fort und hinter einen spärlich bewachsenen Busch.

Blitzschnell warf Eleira ein Sai und zog das nächste aus ihrem Gürtel. Hinter dem Busch ertönte ein Wimmern. Mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze umkreiste sie die Pflanzen, bis sie das Wesen dahinter sah, welches kaum einen Kopf größer als ihre Nichten war.

»