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Zwischen Fernweh und Pflichtgefühl St. Peter-Ording, 1978: Während ihr Bruder Achim die Leitung des elterlichen Strandhotels übernehmen und heiraten will, kann Julia sich kaum damit anfreunden, dass sie das Strandcafé in Ording übernehmen soll. Denn sie träumt davon, Nordfriesland zu verlassen und als Stewardess die Welt zu bereisen. Aus diesem Grund bewirbt sie sich auch ohne die Einwilligung ihrer Eltern bei der Lufthansa. Während sie auf eine Antwort wartet, begegnet sie dem Fotografen Björn Hegerland. Bei einer Discoparty auf der Rollschuhbahn kommen sie einander näher – und bald ertappt Julia sich bei dem Wunsch, ihr Glück möge niemals enden. Dann wird sie von der Fluggesellschaft eingeladen. Welchem Herzenswunsch soll sie folgen, welchen muss sie begraben? Band 2 der St.-Peter-Ording-Saga von SPIEGEL-Bestsellerautorin Tanja Janz Eine berührende Liebesgeschichte, angesiedelt an der nordfriesischen Küste der 70er-Jahre
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Seitenzahl: 338
Originalausgabe
© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von zero Werbeagentur, München unter Verwendung von Shutterstock
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749905829
www.harpercollins.de
Für Vera Schwarz, Birgit Jakobs und Ulrike Schligtenhorst – die nächste Generation der Familie Schön und Zeitzeugen von St. Peter-Ording in den wilden 1970ern
Juli 1978, am Strandcafé in Sankt Peter-Ording
Die Nachmittagssonne strahlte von einem nahezu wolkenlosen Himmel, der so tiefblau war, als hätte ihn jemand mit einem Tuschkasten gemalt. Auf den Dünen wiegte sich der blühende Strandhafer rauschend im auffrischenden Wind. Und in der Ferne erhob sich majestätisch das rot-weiße Leuchtfeuer von Westerhever.
Die Flut hatte eingesetzt. Wellen brandeten geräuschvoll an den Strand und umspülten die Holzstelzen des Pfahlbaus am Ordinger Strand. Ein paar Möwen ließen sich auf dem Wasser treiben und hielten den Blick auf den Horizont gerichtet. Von den unzähligen Badegästen, die Abkühlung in der Nordsee suchten, nahmen die Wattvögel keinerlei Notiz.
Julia lief die hölzerne Treppe des Ordinger Strandcafés hinunter. Dabei löste sie geschickt den Knoten ihrer Schürze, die sie über ihrem knielangen Kleid getragen hatte, und warf sie sich wie bereits unzählige Male zuvor nachlässig über eine Schulter. Vor der letzten Stufe machte sie kurz halt, streifte sich die Sandalen ab und warf sie auf den Strand. Beim nächsten Schritt schon tauchte ihr Fuß in die kühle Brandung. Durch das klare Wasser beobachtete Julia, wie ihre Zehen zwischen Muscheln im Schlick versanken. Hinter sich hörte sie eiliges Fußgetrappel auf der Holztreppe.
»Warte doch auf mich!«
Julia drehte sich um und legte den Kopf leicht in den Nacken. Mit einer Hand hielt sie ihre dunkle Mähne zusammen, die ihr sonst der Wind ins Gesicht gepustet hätte. »Leg du lieber einen Zahn zu! Unsere Pause dauert schließlich nicht ewig!« Lachend stapfte sie durch das wadenhohe Salzwasser, das mit jeder neuen Welle an ihren Beinen emporspritzte. An einer Holzstelze des Pfahlbaus, die von unzähligen Algen und Muscheln bedeckt war, blieb sie stehen und griff nach der Schachtel, die in einer ihrer Kleidtaschen steckte. Sie entnahm ihr ein Feuerzeug und zwei Zigaretten, die sie beide zwischen ihre Lippen nahm und dann nacheinander ansteckte. »Hier, Conny.« Sie hielt ihrer Freundin eine Zigarette entgegen.
»Danke. An den hast du in deiner Eile aber nicht gedacht.« Nachdem sie die Zigarette angenommen hatte, hob Conny triumphierend einen Schleuderaschenbecher hoch.
»Dafür ja du«, entgegnete sie keck und zwinkerte ihrer Freundin gut gelaunt zu. Sie nahm einen tiefen Zug und ließ dann langsam den Rauch durch ihren Mund entweichen. »Heute ist ja wieder der Teufel los. Es kommt mir vor, als machte halb Deutschland in Sankt Peter Urlaub.«
Conny zuckte mit den Schultern. »So viele sind es bestimmt nicht. Aber besser so als totale Flaute. Wie viel Trinkgeld hast du denn schon?«
Julia lehnte sich an den Holzpflock und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, die ihr aufs Gesicht fielen. »Über zwanzig Mark auf jeden Fall. Vielleicht sind es auch schon dreißig. So genau weiß ich das nicht. Und du?«
Abermals zuckte Conny mit den Schultern. »Zwanzig Mark bestimmt, sicher noch keine dreißig. Trotzdem sind die Leute spendabel.«
»Klaro. Alle haben Urlaub, es ist klasse Sommerwetter, und außerdem gibt es bei uns die beste Friesentorte von ganz Eiderstedt. Keiner backt bessere Torten als meine Mutter. Das ist in Sankt Peter bekannt.«
»Jaja, das stimmt natürlich. Nicht zu vergessen: Im Strandcafé hat man zudem auch den schönsten Blick aufs Meer«, ergänzte Conny.
Julia schmunzelte. »Na eben. Die Aussicht bis zum Westerhever Leuchtturm bekommen unsere Gäste gratis zum Kännchen Kaffee dazu. Da kann man auch ruhig mal zwei Mark springen lassen, finde ich.«
»Stimmt. Wenn das so weitergeht, habe ich nächstes Jahr bestimmt das Geld für den Führerschein zusammen. Dann leihe ich mir die Ente meines Bruders und kutschiere dich nach Hamburg zum Schaufensterbummel.«
»Kutschiere mich lieber zum Flughafen.« Seufzend ließ Julia den Blick in die Ferne schweifen. »Bald bin ich Stewardess und werde die ganze Welt bereisen.«
Conny lächelte kopfschüttelnd. »Bald ist gut. Bis zum Abi ist es noch eine Weile hin, und volljährig wirst du auch erst nächstes Jahr. Vorher wirst du wohl keine großen Sprünge machen.«
Traurig nickte Julia. »Das weiß ich doch. Ob ich aber noch für ein weiteres Schuljahr zur Penne gehen werde, das steht in den Sternen.«
Conny zog die Augenbrauen zusammen. »Willst du etwa so kurz vor dem Abi die Schule schmeißen?«
»Am liebsten würde ich sofort abbrechen. Wofür brauche ich ein Abi als Stewardess? Außerdem hat Achim bloß Mittlere Reife.«
»Du meinst das wirklich ernst, oder?«
Julia zuckte eine Schulter. »Na sicher. Wieso sollte ich mir denn die Paukerei weiter antun? Ich habe nicht vor, später mal zu studieren.«
»Vielleicht weil du das Zeug zum Abi hast und dir alles nur so zufliegt?«, fragte Conny, als wäre ihre Freundin schwer von Begriff.
»Von wegen Zufliegen! Für die letzten Klausuren musste ich ganz schön ranklotzen.«
»Sei es drum! Deine Englisch- und Franznoten hätte ich jedenfalls gerne. Und wenn man dich im Unterricht so reden hört, könnte man meinen, es wären deine Muttersprachen. Du bist ein echtes Sprachentalent.«
»Ach!« Julia winkte ab. »Dafür bist du mir in Mathe haushoch überlegen.«
»Und wennschon. Das Abi in der Tasche zu haben hat noch keinem geschadet.«
Julia verdrehte lachend die Augen und schnippte etwas Asche in das silberne Gefäß, das Conny immer noch in einer Hand hielt. »Du klingst schon wie mein Vater.«
»Wenn unser Vater dich dabei erwischt, dann rappelt es im Karton!«, rief Achim in diesem Moment und kam durch das Wasser auf sie zugewatet. Er hatte seine helle Stoffhose bis zu den Knien hochgekrempelt, und auf seiner Nase saß eine Sonnenbrille. »Was sollen denn die Gäste denken?«, zischte er Julia zu, als er bei ihnen war. Verstohlen warf er einen Blick über seine Schulter.
»Ich werde doch wohl das Recht haben, in meiner Pause eine Zigarette zu rauchen«, fuhr sie kopfschüttelnd ihren Bruder an. »Oder bist du jetzt etwa beim Ordnungsamt angestellt?«
Achim machte eine unwirsche Handbewegung. »Erzähl nicht so einen Blödsinn! Was macht das denn für einen Eindruck? Die Tochter der Inhaber quarzt unter dem Café wie ein Schlot und nebelt alles ein. Du weißt genau, wie schnell man seinen guten Ruf bei den Gästen riskiert.«
»Wir sind ja auch schon fertig.« Conny warf ihr einen besänftigten Blick zu, bevor sie schuldbewusst ihre Zigarette im Aschenbecher ausdrückte.
»Du gehst mir mit deinem Spießertum gehörig auf die Nerven, weißt du das?« Genervt nahm Julia ihrer Freundin den Aschenbecher ab und entsorgte ihre Zigarette ebenfalls. »Bist du nun zufrieden?«
»Schon besser«, sagte Achim versöhnlicher.
»Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, du hast heute so viel wegen der Gesellschaft im Restaurant zu tun?«, fragte Julia.
»Mehr als genug sogar. Aber Biggi hat Appetit auf Friesentorte, und die ist im Hotel aus«, erklärte er und grinste. »Da dachte ich, ich schau mal hier vorbei – und bevor ich einen Fuß ins Café setzen kann, erwische ich dich beim Rauchen.« Noch einmal schüttelte er missbilligend den Kopf.
Conny strich sich amüsiert das Haar glatt. »Das muss echte Liebe sein, wenn du dafür extra mit dem Roller nach Ording fährst.«
»Für die zukünftige Mutter unseres Sohnes ist mir kein Weg zu weit.«
»Seit wann wird euer Kind denn ein Junge?«, fragte Julia belustigt. »Biggi hat mir vor ein paar Tagen noch eine Liste mit Mädchennamen gezeigt und mich gefragt, welchen ich am schönsten finde.«
Achim winkte ab. »Ich habe im Gefühl, dass es ein Junge wird.«
»Wenn das so ist …« Julia drückte ihm den Aschenbecher in die Hand. »Die Friesentorte ist im Café übrigens auch fast ausverkauft. Du solltest dich beeilen, wenn du für Biggi noch ein Stück ergattern willst.«
»Warum sagst du das denn nicht gleich?« Hastig wandte Achim sich ab und watete Richtung Strandcafé. Vor der Holztreppe krempelte er seine Hosenbeine hinunter und schlüpfte in die Schuhe, die er zuvor auf einer der unteren Treppenstufen abgestellt hatte.
Julia sah ihm nach. Wieder einmal fragte sie sich, wie es sein konnte, dass sie so grundverschieden waren. Schließlich waren sie Zwillinge. Zweieiige Zwillinge zwar, aber immerhin blutsverwandt, und ihre Geburtszeit lag bloß zwölf Minuten auseinander. Äußerlich kam sie ganz nach ihrer Mutter. Achim wiederum hatte das blonde Haar und die blauen Augen von ihrem Vater und dazu noch den disziplinierten Charakter ihres Großvaters geerbt. Nach wem sie charakterlich schlug, konnte sie nicht genau sagen. Wahrscheinlich war sie eine Mischung aus beiden Elternteilen. Manchmal glaubte sie, dass bei ihr mehr vom Schlag der Familienlinie aus dem Ruhrgebiet ausgeprägt war als bei ihrem Bruder – oder sie kam nach ihrer Tante väterlicherseits, die mit ihrer Lebensart auch von den traditionellen Vorstellungen ihrer Familie abwich.
Die Hansens waren eine der ersten Hotelierfamilien in Sankt Peter-Ording gewesen. Ihre Großeltern hatten das bekannte Strandhotel im Ortsteil Bad zu einer der ersten Adressen auf der Halbinsel Eiderstedt gemacht, und ihre Eltern hatten die Tradition am Platz fortgeführt. Vor ihrer Geburt hatte ihre Mutter das Familienunternehmen noch durch das Strandcafé in Ording erweitert, das ebenfalls hoch in der Gunst der Gäste stand. Ihr Bruder ging ganz im touristischen Familienbetrieb auf – im Gegensatz zu Julia, die es in die große weite Welt zog.
Julia fing Connys fragenden Blick auf. »Manchmal denke ich, Achim ist schon dreißig und nicht erst siebzehn.«
Conny hob die Schultern. »Vielleicht liegt es daran, dass er bald Vater wird.«
»Eigentlich war er ja schon immer so«, überlegte sie laut. »Aber seit Biggi schwanger ist, kommt es mir vor, als ob er in kürzester Zeit um mindestens zehn Jahre gealtert ist.«
Bedächtig sah Conny sie an. »Wer weiß, wie wir uns verhalten, wenn eine von uns plötzlich die Nachricht bekommen würde, bald Mutter zu werden.«
Bekümmert senkte Julia den Blick. »Wir geraten in letzter Zeit ständig aneinander. Es ist, als würden wir in zwei verschiedenen Welten leben.«
»Tut ihr das denn nicht auch?«
Sie nickte und sah ihre Freundin wieder ernst an. »Irgendwie schon. Ich habe jedenfalls nicht vor zu heiraten, sobald ich volljährig bin.«
»Du machst dann lieber gleich den Abflug.«
»Und den am liebsten sofort über den großen Teich.«
Conny schmunzelte. »Eilig hast du es jedenfalls mit deinen Plänen. Das kommt mir bei deinem Bruder auch so vor.«
»Ja, vielleicht sind wir uns in der einen Sache doch ein bisschen ähnlich.« Sie legte den Kopf schief und wiederholte ihren hoffnungsvollen Vorschlag. »Komm doch mit mir mit.«
Conny schüttelte lachend den Kopf. »Lieber nicht! Dafür habe ich viel zu große Flugangst.«
Sie hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet. Und trotzdem wäre es schön gewesen, mit ihrer Freundin zusammen das Abenteuer große weite Welt zu suchen. Julia schaute auf ihre Armbanduhr. »Die Pause ist gleich vorbei. Lass uns zurückgehen.«
»Wie steht es eigentlich zwischen dir und Manuel? Willst du ihm eine Chance geben?«, fragte Conny, als sie wieder am Strand waren.
Julia blieb vor der Treppe stehen und zog sich die Schürze wieder an. »Nein, mit Manuel und mir wird es nichts. Wir kennen uns schon aus dem Sandkasten. Fast kommt es mir vor, als wäre er mein zweiter Bruder.«
»Ich bin sicher, das sieht er ganz anders«, bemerkte Conny. »Wie er dich immer anhimmelt. Das fällt doch inzwischen einem Blinden mit Krückstock auf.«
»Mag sein. Aber ich interessiere mich nicht für ihn. Zumindest nicht mehr als für einen guten Freund.« Julia prüfte den Sitz der Schleife, die sie aus den Schürzenbändern gebunden hatte. »Außerdem ist Manuel genauso spießig wie Achim. Nach der Schule wird er das Restaurant seiner Eltern übernehmen und dann für den Rest seines Lebens in Sankt Peter versauern. Nein, danke! Darauf habe ich keine Lust. Ich will die Welt sehen, etwas erleben. So wie meine Tante Amelie. Genau so möchte ich einmal sein.« Ihr war bewusst, wie stark ihr die Bewunderung anzuhören war. Die Tatsache, dass ihre Tante sich über die Familientradition hinweggesetzt und nach Frankreich gegangen war, um dort als Modedesignerin zu arbeiten, hatte Julia schwer beeindruckt. Eines Tages wollte sie auch so mutig sein und ihr Glück an einem anderen Ort versuchen.
»Ist sie denn noch bei euch zu Besuch?«, erkundigte sich Conny.
»Ja.« Julia nickte knapp, bevor sie die Stufen zum Café hochstieg. Conny ging neben ihr her. »Leider nur noch bis heute Abend. Sie muss wieder zurück nach Paris, weil sie dort berufliche Verpflichtungen hat. Nachher bringe ich sie zusammen mit meinem Vater zum Flughafen nach Hamburg. Die Zeit mit ihr vergeht immer wie im Fluge.«
Mahnend hob Conny den Zeigefinger. »Hauptsache, du fliegst nicht mit.«
Julia blieb auf der vorletzten Stufe stehen, blickte ihre Freundin an und seufzte schwer. »Wenn ich es nur könnte, würde ich es tun.«
»Gut, dass wir nicht alles tun können, was uns in den Sinn kommt. Ohne dich würde ich mich hier doch sehr langweilen.«
»Keine Sorge, so schnell wirst du mich nicht los.« Julia lächelte und gab Conny einen Kuss auf die Wange. »Du bist doch die beste Freundin, die ich mir wünschen kann.«
»Das hoffe ich stark!«
»Na, komm. Es warten bestimmt schon einige Bestellbons auf uns.« Sie legte Conny den Arm um die Schulter und zog sie mit sich.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Hansen, aber Ihr Flug nach Paris verspätet sich aufgrund eines technischen Defekts um ungefähr anderthalb Stunden«, sagte die Dame hinter dem Schalter über das Stimmengewirr in der Empfangshalle hinweg. Obwohl es absolut keine erfreuliche Nachricht für die betroffenen Passagiere war, lächelte sie das Problem gekonnt weg.
»Danke.« Tante Amelie drehte sich um und hob die Schultern. »Da kann man wohl nichts machen, außer abwarten und Tee trinken.«
Wie immer war sie stilsicher gekleidet. Zu einer hellen Leinenhose trug sie ein passendes Jackett und eine lockere helle Bluse, auf deren Brusthöhe jeweils zwei Taschen aufgesetzt waren. Aus einer lugte eine Sonnenbrille mit großen braunen Gläsern hervor. Die schulterlangen blonden Locken hatte sie mit einem lindgrünen Haarband gebändigt.
»Da hättest du ja noch genug Zeit für ein Abendessen bei uns gehabt.« Julias Vater nahm den Koffer seiner Schwester und blieb einige Meter vom Schalter entfernt stehen. »Das ist wirklich ärgerlich.«
»Ach, halb so schlimm, Tom. Verspätungen sind doch im Flugverkehr an der Tagesordnung. Ob ich zwei Stunden eher oder später in Paris lande, ist egal. Hauptsache, ich bin morgen früh pünktlich zu meinem Termin im Atelier. An Bord gibt es bestimmt ein paar Sandwiches.«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Julia. Sie fand den Umstand, sich länger am Flughafen aufzuhalten als geplant, überhaupt nicht schlimm. Das geschäftige Treiben und die besondere Reiseatmosphäre lösten ein angenehmes Prickeln in ihrem Bauch aus. Das musste Reisefieber sein!
»Abwarten, bis deine Tante an Bord der Maschine gehen kann«, antwortete ihr Vater schlicht.
»Wir müssen ja nicht die ganze Zeit hier rumstehen«, erwiderte Amelie. »Es ist ein angenehmer Sommerabend. Vielleicht hat die Aussichtsterrasse noch geöffnet. Von da aus können wir die startenden und landenden Maschinen beobachten.«
»Das wäre spitze! Ich würde gerne Flugzeuge beobachten.« Julia klatschte begeistert in die Hände. »Können wir das machen, Papa?«
»Von mir aus«, stimmte er zu. »Ich besorge mir zuerst ein Getränk. Meine Kehle ist ganz trocken von der stickigen Luft. Hier in Hamburg ist es im Vergleich zu Sankt Peter ziemlich schwül. Möchtet ihr auch etwas?«
»Gerne. Eine kalte Coca-Cola wäre wunderbar.« Amelie fächelte sich mit ihrem Flugschein etwas Luft zu.
»Für mich auch eine Cola, bitte.«
»Also gut. Geht ruhig schon mal vor. Bis gleich.« Ihr Vater verschwand zwischen den Reisenden in der Halle.
Sie hatten Glück. Julia strahlte über das ganze Gesicht, als sie auf der Besucherterrasse ankamen. Hier wehte ein angenehmes Lüftchen. Vor ihren Augen erhob sich gerade ein Flugzeug in die Lüfte. »Das ist ja der helle Wahnsinn!«, entfuhr es ihr begeistert.
»Schau, da vorne gibt es Ferngläser. Willst du?« Amelie zeigte zu einem der silbernen Feldstecher, die für Besucher aufgestellt worden waren.
»Na klaro!«
Sie blieben vor einem der Ferngläser stehen. Amelie stellte ihren Koffer neben sich ab und entnahm ihrer Geldbörse einen Groschen. Sie steckte die Münze in den dafür vorgesehenen Schlitz. »Schau! Da hinten ist eine Maschine im Landeanflug.« Sie deutete auf einen Punkt am Himmel links von ihnen.
Julia peilte den Flieger mit dem Feldstecher an und verfolgte atemlos seine Flugbahn. Wenig später setzte das Flugzeug mit den Rädern auf der Rollbahn auf und kam weiter hinten schließlich zum Stehen. Sie hob den Blick und seufzte. Dann schaute sie zu Amelie. »Es muss wahnsinnig aufregend sein, eine Flugreise zu machen. Ich beneide dich so sehr. Dass du in so vielen Ländern unterwegs sein kannst, das stelle ich mir herrlich vor.«
»Komm mich doch mal in Paris besuchen. Ich hole dich dann vom Flughafen ab«, schlug ihre Tante leichthin vor, als wäre es das Normalste von der Welt.
Julia zog bedeutungsschwer die Augenbrauen hoch. »Das würde ich zu gern. Aber Papa wird es mir nicht erlauben. Obwohl mein Französisch nahezu perfekt ist. Ich muss warten, bis ich volljährig bin.«
Tante Amelie lächelte sie aufmunternd an. »So lange dauert es ja glücklicherweise nicht mehr bis zu deinem achtzehnten Geburtstag. Nächstes Jahr im Sommer bist du dann mein Ehrengast bei der Modenschau, ja?«
In ihrer Nähe erklang Gelächter. Julia drehte sich in die Richtung, aus der die fröhlichen Stimmen kamen. Einige Meter von ihnen entfernt hatten sich zwei gertenschlanke Frauen in gelber und marinefarbener Uniform an die Begrenzung der Aussichtsterrasse gestellt. Auf ihren Köpfen saßen passende Hüte, ihre makellosen Gesichtszüge wurden von einem dezenten Make-up unterstrichen. In ihren Händen hielten beide ein Eis am Stiel. Sie unterhielten sich und schienen ihr Leben in vollen Zügen zu genießen.
»Und irgendwann werde ich dann Stewardess«, sagte Julia leise, mehr zu sich selbst.
Ihre Tante blickte ebenfalls zu den Frauen. »Das Zeug dazu hättest du. Die Lufthansa wäre bestimmt entzückt, wenn du dich bewirbst. Ein hübscheres Mädchen als dich habe ich noch auf keinem Laufsteg gesehen.«
Julia senkte den Blick und spürte, wie sie errötete. »Das hast du lieb gesagt.«
Ihre Tante legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Das habe ich nicht nur so gesagt, das meine ich auch so. Dir steht die Welt offen. Du musst dich nur bewerben und dann zum Vorstellungsgespräch gehen. Der Rest regelt sich von allein.«
Ernst sah Julia ihre Tante an und merkte, wie ihre Hoffnung wuchs. »Ich weiß nur nicht, wie das geht mit dem Bewerben bei der Lufthansa.«
»Na, das werden wir gleich herausfinden.« Amelie griff entschlossen nach ihrem Koffer, mit der anderen Hand hakte sie sich bei Julia ein.
»Was hast du vor?«, fragte Julia erstaunt.
»Wir packen die Gelegenheit beim Schopfe, gehen zu den beiden netten Stewardessen und fragen einfach nach. Sie müssen es ja wissen, wie das mit den Bewerbungen bei der Lufthansa funktioniert.«
»Können wir das denn so einfach so tun?« Julia zögerte. Sie spürte, wie der Mut sie zu verlassen drohte. Für sie waren die Air-Hostessen wie Wesen von einem anderen Stern. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich mit ihr unterhalten würden. Aber vielleicht mit ihrer Tante.
»Selbstverständlich können wir das«, sagte Amelie selbstsicher. »Nur machen wir das besser, bevor dein Vater mit den Getränken auftaucht.«
»Also gut.« Julia straffte ihre Schultern und lächelte. »Im nächsten Sommer wird alles anders sein. Dann werde ich das tun, wovon ich bisher nur träumen konnte.«
»Das wirst du! Da bin ich mir sicher. Aber nun komm!«
Juli 1978, im Strandhotel im Ortsteil Bad von Sankt Peter-Ording
Sabine Hansen wickelte einen Teil der Telefonschnur um ihren Finger und lauschte konzentriert auf das Tuten in der Leitung. Dabei ließ sie den Blick durch das große Fenster gleiten. Es war früh am Morgen, und die Sonne stand noch tief über der nordfriesischen Küstenregion. Die Seebrücke lag verwaist in der Ferne, während vor dem Hotel ein Pkw hielt, aus dem kurz darauf frische Backwaren für die Hotelgäste entladen wurden.
Nach dem zehnten Tuten meldete sich endlich ihre Mutter.
Sabine atmete erleichtert auf. »Guten Morgen, Mutti. Ich dachte schon, es wäre was passiert.« Sie konnte das Radio in der Küche im Hintergrund hören. Das Einschalten des Geräts war jeden Morgen der erste Handgriff ihrer Mutter; noch bevor sie die Kaffeemaschine anstellte, hörte sie Musik. Und spätestens ab 12:00 Uhr mittags ließ sie sich die Hausarbeit von den Moderatoren bei Radio Luxemburg versüßen.
»Was soll denn passiert sein? Von der Kaffeemaschine bis zur Diele brauche ich nun einmal ein paar Sekunden.«
Sabine schluckte die Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. »Ist gut, Mutti.« Die Tatsache, dass ihre Mutter ein schwaches Herz hatte und mitunter wackelig auf den Beinen war, ignorierte sie gerne – besonders vor ihren Kindern tat sie, als wäre sie kerngesund, damit sie sich ja keine Sorgen um sie machten. Schwäche zeigen, das kam für diese Generation nicht infrage, eher wurden »gesundheitliche Missgeschicke« in Kauf genommen.
»Ich komme gegen halb sechs am Gelsenkirchener Bahnhof an«, erklärte Sabine übergangslos.
»Dann bist du zum Abendbrot hier«, schlussfolgerte ihre Mutter.
»Du kannst ab sechs Uhr mit mir rechnen. Ich nehme den 382er bis zur Kolberger Straße.«
»Möchtest du was Besonderes essen? Ich gehe nachher noch zu Hues einkaufen.«
»Meinetwegen brauchst du nicht extra einkaufen zu gehen. Ich esse das, was auf den Tisch kommt«, sagte sie bestimmt und nahm eine geradere Haltung ein. Der kleine Lebensmittelladen in der Zechenhaussiedlung war bloß eine Straße entfernt. Aus Erfahrung wusste Sabine allerdings, dass ihre Mutter beim Thema Gastfreundlichkeit zu Übertreibungen neigte. Die Vorstellung, dass sie sich mit viel zu schweren Taschen die Straße entlangschleppen oder gar stürzen könnte, bereitete ihr große Sorgen. Ihr Vater war seit einem Arbeitsunfall auf der Zeche nicht mehr gut zu Fuß unterwegs und konnte ihre Mutter deswegen kaum entlasten. Vor zwei Jahren hatte er sich ganz aus dem Berufsleben zurückgezogen. Sabine hoffte, dass er es seitdem ruhiger angehen ließ, aber sicher war sie sich nicht.
»Ach was! Ich muss eh einkaufen«, entgegnete ihre Mutter unwirsch. »Da kommt es auf ein Teil mehr oder weniger nicht an.«
Sabine seufzte. »Das können wir doch auch morgen gemeinsam machen. Ich kann dann beim Tragen helfen.«
»Sabine! Wenn dich andere so reden hören, denken sie, du sprichst mit einer Greisin. Als deine Großmutter in meinem Alter war, hat sie ganz andere Strecken zu Fuß zurückgelegt. Und da hat auch keiner beim Tragen geholfen. So gebrechlich bin ich nun wirklich nicht, dass ich keine zwei Taschen tragen kann.«
Sabine wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit ihrer Mutter weiterzudiskutieren. »Ist gut, Mutti«, erwiderte sie daher ergeben. »Wir sehen uns dann heute Abend.«
»Gute Reise und bis nachher! Wir freuen uns schon auf dich, Sabinchen.«
»Ich freue mich auch. Bis heute Abend.« Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und legte den Hörer zurück auf das farngrüne Telefon. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie ihre Schwester Karin anrufen sollte, damit sie bis zu ihrer Ankunft in Gelsenkirchen ein Auge auf ihre Mutter hatte. Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Karin hatte genug um die Ohren. In ein paar Tagen wollte ihre kleine Schwester mit ihrem Dauerverlobten Volker ein Reisebüro am Gelsenkirchener Markt eröffnen. Ihr Bruder Rolf war auch tagsüber mit seiner Arbeit in der Backstube beschäftigt.
Abermals seufzend ging Sabine ins Schlafzimmer, wo sie bereits den Koffer aufs Bett gelegt und geöffnet hatte. Aus dem Schrankfach nahm sie einige Wäschestücke und legte sie hinein. Nachdenklich blickte sie auf das eingerahmte Foto, das auf einer Kommode stand und sie mit ihren Eltern und Geschwistern zeigte. Sie nahm es in die Hand und strich sanft mit den Fingerspitzen über die Fotografie. Karin und Rolf lebten nach wie vor in Gelsenkirchen. Nur sie war damals aus Liebe zu Tom nach Sankt Peter-Ording gezogen und hatte das Ordinger Strandcafé von seinen ehemaligen Besitzern übernommen. Kurz darauf war sie mit ihren Zwillingen schwanger geworden.
Sie liebte ihr Leben an der nordfriesischen Küste sehr und konnte sich keinen besseren Ort vorstellen, um Kinder großzuziehen. Doch manchmal überkam sie ein Anflug von schlechtem Gewissen, wenn sie an ihre Eltern dachte. Sankt Peter-Ording war viel zu weit weg, um regelmäßig bei ihnen nach dem Rechten zu sehen und sie zu unterstützen. Sabine war froh, wenn sie es zwei oder drei Mal im Jahr schaffte, ins Ruhrgebiet zu reisen. Obwohl sie nicht müde wurde, ihre Mutter und ihren Vater nach Sankt Peter-Ording einzuladen, waren sie erst zweimal im Strandhotel zu Gast gewesen. Die Zugreise war ihnen zu lang, und ihr Vater konnte nur schlecht in einem fremden Bett schlafen. Lieber blieb er in seiner gewohnten Umgebung und machte Radausflüge den Rhein-Herne-Kanal entlang.
Sabine wusste, dass ihre Geschwister ihr Möglichstes taten, doch sie hatten auch ihr eigenes Leben und konnten nicht immer für ihre Eltern da sein. Ihr Bruder war verheiratet und hatte drei Kinder. Dadurch war er noch weniger abkömmlich als Karin. Nicht dass ihre Eltern jemals um Hilfe gebeten hätten.
Sie stellte das Foto zurück und öffnete den großen Kleiderschrank gegenüber dem Ehebett. Als es leise an der Tür klopfte, zuckte Sabine zusammen.
»Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Tom stand im Türrahmen und hatte mit einem Finger gegen die Holzzarge geklopft. Er lächelte sie zärtlich an.
»Schon gut.« Sabine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich war bloß in Gedanken.«
Gelassen kam er ins Schlafzimmer und setzte sich neben dem Koffer aufs Bett. »Bist du wegen deiner Eltern in Gedanken?«
Sabine nickte und nahm ein geblümtes Kleid vom Bügel. »Ich habe gerade mit meiner Mutter telefoniert. Das Gefühl, dass sie mit ihrem Alltag überfordert sind, beschleicht mich immer öfter. Natürlich lassen sie sich nichts anmerken und tun so, als wäre alles in bester Ordnung. Aber die gesundheitlichen Einschränkungen zu ignorieren, das kann ja zu keinem guten Ende führen.« Sie faltete das Kleid und legte es ordentlich in den Koffer.
Liebevoll sah Tom sie an und griff nach ihrem Arm, bevor sie wieder zum Kleiderschrank laufen konnte. »Mach dich nicht so verrückt. Deine Geschwister sind doch in der Nähe.«
»In der Nähe schon, aber sie sind berufstätig und haben keine Zeit, sich permanent zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.«
»Es wird schon nichts passieren. Bisher ist es doch gut gegangen«, versuchte er, sie zu beruhigen.
Sie seufzte. »Du hast gut reden. Deine Eltern wohnen hier mit uns im Hotel und erfreuen sich glücklicherweise bester Gesundheit.«
Er ließ die Hand sinken, legte sie auf die Tagesdecke und nickte. »Da hast du recht. Wahrscheinlich würde ich mir ähnliche Gedanken machen, wenn ich an deiner Stelle wäre.«
Sabine inspizierte wieder den Kleiderschrank. »Was machen unsere Kinder denn?«, wechselte sie das Thema und nahm einen Bügel, auf dem eine Bluse hing, von der Kleiderstange.
Erfreut lachte Tom auf. »Achim sorgt dafür, dass das Frühstück für die Gäste vorbereitet wird. Davor hat er die Terrasse gefegt und für Biggi einen bequemen Platz hergerichtet. Du kennst ihn ja, er möchte, dass alles ordentlich ist, und besonders, dass es der werdenden Mutter gut geht.«
»Nicht zu fassen, dass wir bald Großeltern werden!« Sabine kam mit einer anderen Bluse zurück.
»Ich finde es gar nicht schlecht«, erwiderte er. »So werden wir hoffentlich viele gemeinsame Jahre mit unserem Enkelkind verbringen.«
Sabine nickte. »Und Julia? Ist sie schon auf dem Weg zum Gymnasium?«
Seine Miene verfinsterte sich leicht. »Ist sie. Aber davor hatten wir unsere tägliche Morgendiskussion.«
Sabine legte die Bluse zusammen und unterdrückte dabei ein Lächeln. »Um was ging es heute?«
»Die Lütte macht mich mit ihren ständig wechselnden Fimmeln reineweg verrückt. Immer hat sie neue Ideen. Seit wir gestern meine Schwester zum Flughafen gebracht haben, will sie unbedingt Stewardess werden. Stell dir das mal vor! Als hätte sie keine anderen beruflichen Möglichkeiten.«
»Na ja, wenn sie das unbedingt möchte, dann wirst du es ihr nicht ausreden können.«
»Aber Sabine! Dafür geht sie doch nicht zum Gymnasium! Dann kann sie doch gleich im Strandcafé bleiben. Dort ist sie wenigstens an der frischen Luft und hat festen Boden unter den Füßen.«
Sabine hob die Schultern. »Sie ist eben genau so ein Sturkopf wie du. Ich kann mich noch gut an einen jungen Mann erinnern, der gerade einundzwanzig Jahre alt war und der sich von niemandem in seine Pläne reinreden lassen wollte. Du warst doch selbst fest entschlossen, von Hamburg aus Weltkarriere zu machen.«
»Das war ja wohl etwas ganz anderes.« Tom erhob sich vom Bett und richtete seine Krawatte. »Es waren andere Zeiten. Und irgendwie waren wir doch alle in Aufbruchstimmung. So verrückt wie Julia war ich im Leben nicht.«
»Nicht?« Sabine musste lachen. »In meinen Augen warst du noch viel verrückter. Gegen deinen Musikertraum sind Julias Flausen geradezu bodenständig. Ich habe übrigens gehört, dass die Lufthansa ihr Personal gut entlohnen soll.« Sie ging auf ihn zu und gab ihm einen Kuss. In seinem blonden Haar schimmerten einige silbergraue Strähnen. Ein untrügliches Zeichen der Jahre, die vergangen waren, seit sie sich in ihn verliebt hatte. »Lass das Mädchen doch ihre Träume haben. Sie ist siebzehn und fast flügge. Du wirst wohl bald froh sein, wenn du sie überhaupt noch zu Gesicht bekommst, um dir ihre neuesten Ideen anzuhören.«
Tom musste lächeln. »Ach, Sabine. Wahrscheinlich hast du recht.«
Liebevoll berührte sie seine Schulter und packte dann weiter ihren Koffer. »Bringst du mich gleich zum Bahnhof?«
»Natürlich.« Tom wandte sich zum Gehen. »Wenn du so weit bist, komm ins Restaurant. Ich helfe Achim derweil und erfreue mich an der Tatsache, dass wenigstens eins unserer Kinder nicht aus der Art geschlagen ist.«
»Du Armer!« Sabine schüttelte lachend den Kopf. »Ich bin in einer halben Stunde fertig.«
Der Bus hielt. Kurz darauf öffneten sich mit einem Zischlaut die Türen. Sabine machte einen großen Schritt auf den Bürgersteig. In der rechten Hand hielt sie ihren kleinen Koffer und in der linken ein Papiertaschentuch, mit dem sie sich zuvor das Gesicht abgetupft hatte. Es herrschte schwülwarmes Sommerwetter, bei dem man am liebsten mit einem Kaltgetränk im Schatten saß. Deswegen hatte sie auf den Kauf von Blumen verzichtet, die bis zu ihrer Ankunft bei ihren Eltern vermutlich die Köpfe hätten hängen lassen.
Mit ihr stiegen noch ein Ehepaar und eine Frau mit einem Mädchen aus, das seine langen braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten hatte. Sabine wartete, bis der Bus abgefahren war, und überquerte dann die Straße.
Nachdem Karin ausgezogen war, waren ihre Eltern in eine etwas kleinere Zechenwohnung auf der Pommernstraße gezogen. Die neue Wohnung lag nur einen Katzensprung von der alten entfernt. Als Sabine an dem Mehrfamilienhaus auf der Pommernstraße ankam, fielen ihr zwei Gartenstühle auf, die auf der großen Wiese vor dem Haus standen. Im Näherkommen erkannte sie, dass in einem ihre Mutter und in dem anderen eine Nachbarin saß.
»Guten Tag!«, rief sie ihnen zu und winkte, als sie kurz darauf bei ihnen war.
Ihre Mutter erhob sich und schloss Sabine in die Arme. »Sabine! Endlich bist du wieder zu Hause!« Sie drückte sie einmal fest an sich und ließ sie dann wieder los.
»Guten Tag, Frau Neumann«, grüßte Sabine die Nachbarin. »Ja, endlich bin ich angekommen. Und es ist ziemlich warm im Ruhrgebiet! Aber hier geht es.«
»Das liegt an der Birke.« Frau Neumann deutete auf den Baum hinter sich. »Wir sitzen hier im Sommer gerne unter den Blättern und halten ein Quätschchen.«
Sabine lächelte. »Dafür ist es wirklich ein schöner Platz.«
Ihre Mutter legte einen Arm um sie. »Jetzt lass uns ruhig reingehen. Du bist bestimmt durstig und hungrig.«
Dankbar nickte Sabine. »Vor allem durstig.«
Sie verabschiedeten sich von Frau Neumann und gingen zu zweit ins Haus.
In der Küche öffnete ihre Mutter den Kühlschrank. »Zitronensprudel oder Mineralwasser?«
»Wasser«, antwortete Sabine und nahm ein Glas aus dem grünen Küchenschrank mit integrierter Griffleiste. »Ist Papa nicht da?«
»Der hat heute Skat-Abend. Kann bei ihm spät werden, aber als Frührentner hat er ja Zeit. Er lässt dich grüßen.«
Sie goss sich Wasser ins Glas und trank in großen Schlucken. »Dann haben wir ja freie Bahn.«
Ihre Mutter lachte auf. »Man könnte auch sagen, ich kann nachher in Ruhe die Hitparade mit Dieter-Thomas Heck schauen, ohne dass hier jemand über die Schlager-fuzzis nörgelt.« Sie hob einen Finger und nahm eine Glasschüssel aus dem Kühlschrank. »Aber vorher gibt es Abendbrot.«
Sabine schüttelte den Kopf. »Kartoffelsalat? Du bist wirklich unverbesserlich. Du solltest doch nicht extra einkaufen gehen.«
»War ich nicht.« Energisch stellte sie die Schüssel auf den Küchentisch und ging erneut zum Kühlschrank. »Kartoffeln und Zwiebeln haben wir eingekellert, die Gurken sind im Glas eingemacht, frische Eier hat gestern der Eiermann gebracht, und ein Pfund Hackfleisch hatte ich eingefroren.« Lächelnd platzierte sie einen großen Teller voller Frikadellen neben dem Kartoffelsalat.
»Na, wenn das so ist, freue ich mich aufs Abendbrot. In meinem Magen rumort es schon eine Weile.«
Nachdem sie gegessen und das Geschirr abgespült hatten, wollte ihre Mutter wie angekündigt die Hitparade im Fernsehen schauen. Da ihr Vater noch immer beim Skat-Abend weilte und sie keine Lust auf die Musiksendung hatte, war Sabine noch einmal aufgebrochen, um bei ihrer Freundin Rita vorbeizuschauen. In der Bismarckstraße führte sie zusammen mit ihrem Mann Fiete den Salon Inge. Toms Freund Fiete hatte sich als junger Mann Hals über Kopf in Rita verliebt und war für sie von Sankt Peter-Ording nach Gelsenkirchen gezogen, wo er eine Ausbildung zum Friseur absolviert hatte. Inzwischen war er Meister und seit bald fünfzehn Jahren mit Rita verheiratet. In Kürze würden beide zum ersten Mal Eltern werden.
Sabine ging auf das Eckhaus zu, in dem im Erdgeschoss das Friseurgeschäft lag. Darüber befanden sich private Wohnungen. In einer lebten Rita und Fiete. Obwohl der Salon längst geschlossen hatte, brannte in den Räumen noch Licht. Sabine ging auf den Eingang zu und spähte hinein.
Fiete saß vor einem der Spiegeltische und schien in Geschäftsbücher vertieft zu sein. Zaghaft klopfte Sabine gegen die Glasscheibe. Fiete hob den Kopf und blickte zu ihr. Als er sie erkannte, hellte sich seine Miene auf. Wenig später schloss er von innen auf und öffnete die Tür. »Moin! Lass dich drücken.« Er umarmte sie.
»Moin, Fiete! Ich soll dich von Tom grüßen. Er lässt fragen, wann du Sankt Peter-Ording mal wieder mit einem Besuch beehrst.«
»Komm doch erst mal rein.« Er ließ sie in den Laden und schloss die Eingangstür wieder ab. »Das ist eine gute Frage. Ich hoffe, bald. Meine Eltern wollen nach der Geburt ihr Enkelkind kennenlernen und haben uns schon nach Brösum eingeladen. Aber du siehst ja, es gibt viel zu tun.« Er deutete auf die Geschäftsbücher. »Als Selbstständiger hat man nicht viel freie Zeit.«
»Wem sagst du das? Wir werden im Hotel und im Café auch nie mit der Arbeit fertig. Kaum ist ein Berg abgearbeitet, wartet auch schon der nächste.«
»Warum sollte es euch auch besser gehen als uns?« Fiete grinste sie schief an. »Wie fühlt man sich denn, wenn man mit sechsunddreißig Oma wird?«
Sabine zuckte die Schultern. »Eigentlich wunderbar, auch wenn Großeltern in meiner Vorstellung um einiges älter sind. Aber meine und Toms Eltern sind ja auch recht früh Großeltern geworden. Es hat alles seine Vor- und Nachteile.«
Fiete nickte und fuhr sich mit einer Hand durch seine frisch geschnittenen Haare. »Du willst doch bestimmt zu Rita, oder?«
»Ja, natürlich. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es mir kurz vor der Geburt ergangen ist. Und dann noch diese Hitze! Sie ist bestimmt oben in der Wohnung und ruht sich aus?«
Fiete verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das glaubst auch nur du. Sie weigert sich, sich zu schonen.«
»Was soll das heißen?«
Er blickte auf die Wanduhr, die über dem Verkaufstresen angebracht war. »Das heißt, dass Rita jeden Tag im Salon steht und gerade zusammen mit Eleonore vom Salon Spitzer auf einer Modenschau im Revierpark Nienhausen ist. Sie machen dort die Haare für die Models, die die neueste Strickmode für die nächste Wintersaison vorführen. In zwanzig Minuten geht die Präsentation los.«
Sabine stemmte die Hände in die Hüften. »Na, deine Frau hat ja vielleicht Nerven. Nicht dass sie da noch eine Sturzgeburt hat.«
»Ich habe mir schon den Mund fusselig geredet, aber sie lässt sich da nicht reinreden. Du kennst sie ja.« Fiete klappte die Geschäftsbücher zu. »Weißt du was? Wir fahren jetzt zusammen hin. Den Papierkram kann ich auch morgen machen.«
Die große Parkanlage lag westlich der Gelsenkirchener Innenstadt und grenzte an Essen-Katernberg. Fiete parkte seinen blauen Opel auf dem Besucherplatz. Als sie schließlich den Saal betraten, schlug ihnen stickige Luft entgegen.
»Puh, wie in einer Sauna.« Sabine fächelte sich Luft zu.
»Kein Wunder bei den ganzen Scheinwerfern und den vielen Leuten.« Fiete machte eine Kopfbewegung zum Laufsteg und der Bühne, um die herum Zuschauer auf Stühlen saßen.
»Und bei den Temperaturen wird Strickmode vorgeführt? Badebekleidung wäre angebrachter«, fand Sabine und reckte den Kopf. »Aber wo ist Rita? Ich kann sie nirgendwo entdecken?«
»Da vorne.« Fiete deutete auf die Bühne.
Da entdeckte sie sie. Rita stand mit dem Rücken zu ihnen. In einer Hand hielt sie einen Fön und in der anderen eine Rundbürste. Gemeinsam mit einer Kollegin verpasste sie den Models modische Frisuren, bei denen auch großzügig Haarspray zum Einsatz kam. Obwohl Rita ein weit geschnittenes Umstandskleid trug, war der beachtliche Umfang ihres Bauchs unübersehbar.
»Da vorne sind noch Plätze frei.« Fiete zeigte auf ein paar Stühle in der Nähe des Eingangs. »Wir können dort warten, bis Rita fertig ist.«
Sabine stimmte seinem Vorschlag zu. Ihre Aufmerksamkeit galt während der Modenschau weniger der Strickmodenpräsentation als ihrer Freundin. Sie behielt Rita ununterbrochen im Blick. Wie konnte ihre Freundin dieses Pensum in ihrer Verfassung nur schaffen?
Nachdem die Modenschau schließlich beendet war und das Publikum laut applaudiert hatte, räumte Rita ihre Utensilien in einen großen silbernen Friseurkoffer. Sabine und Fiete erhoben sich und gingen auf sie zu.
Sabine tippte ihr von hinten auf die Schulter. »Bekomme ich auch noch eine neue Frisur?«
Rita schwang herum und sah Sabine für einen Moment perplex an. Dann riss sie vor Freude weit die Augen auf. »Du bist ja schon da! Was für eine Überraschung!« Sie drückte Sabine vorsichtig über ihren Bauch hinweg an sich.
Fiete stand neben ihr und gab Rita einen zärtlichen Begrüßungskuss.
Sabine griff Ritas Hände. »Was meinst du, wie überrascht ich erst war, als Fiete meinte, dass du auf einer Modenschau Frisuren zauberst!«
»Das hatten Eleonore und ich schon letzten Sommer zusammen mit der Inhaberin des Wollladens geplant. Ich hatte schon Bedenken, dass ich gerade heute in den Wehen liege. Aber zum Glück hat ja alles geklappt.« Rita wischte sich mit dem Handrücken über die glänzende Stirn. Ihr Gesicht war gerötet, sie wirkte abgekämpft.
»Wie machst du das bloß?«, fragte Sabine kopfschüttelnd. »Ich hätte das damals nicht geschafft.«
»Alles eine Frage der Einstellung.« Rita lächelte.
»Ich nehme ihn schon«, schaltete Fiete sich ein, bevor Rita den Friseurkoffer anheben konnte. »Ich bringe jetzt die Sachen ins Auto und warte auf dem Parkplatz auf euch.«
»Fiete tut ja so, als wäre ich krank«, klagte Rita, als er außer Hörweite war. »Dabei geht es mir gut. Es gibt keinen Grund, mich in Watte zu packen.«
»Er meint es bestimmt nur gut.« Sabine legte ihr einen Arm um die Schultern. »Lange ist es nicht mehr hin bis zum Stichtag, oder?«
Rita sah sie an. »Ungefähr zwei Wochen. Bis dahin habe ich aber noch einiges vor. Mein Terminkalender im Laden ist gut gefüllt.«
»Zwei Wochen vor der Geburt von Julia und Achim habe ich nicht mehr viel gemacht. Mein Bauchumfang und der Rücken haben mir so zu schaffen gemacht. Ich saß oft im Strandkorb und habe die Aussicht aufs Meer genossen.« Aufmerksam beobachtete sie das Mienenspiel ihrer Freundin, doch der sanfte Hinweis schien an Rita völlig abzuprallen.
Sie lächelte Sabine unerschütterlich an, während sie auf den Ausgang zugingen. »Ach ja, bei dir war das ja auch anders. Du hast Zwillinge bekommen. Mit einer Schwangerschaft wie meiner ist das wahrscheinlich nicht vergleichbar.«
Sabine kannte Rita gut genug, um zu wissen, dass sie jeden weiteren Einwand genauso abschmettern würde. Es war offensichtlich, dass ihre Freundin mit allen Mitteln versuchte, die Schwangerschaft zu ignorieren, obwohl der Geburtstermin in greifbarer Nähe war. Besorgt dachte Sabine daran, was alles passieren konnte. Sie nahm sich vor, nicht weiter bei Rita nachzubohren. Denn es würde nichts nutzen. Sie musste nicht nur ein Auge auf ihre Eltern haben, sondern auch auf ihre Freundin.
Juli 1978, auf der Terrasse des Strandhotels von Sankt Peter-Ording
Auf der Außenterrasse des Hotels ließ Julia sich auf einen freien Platz neben Biggi sinken und streckte die Beine von sich. Ihre Ledertasche legte sie zu ihren Füßen ab. »Du hast es gut. Du kannst den ganzen Tag die Sonne genießen und dich bedienen lassen.« Lächelnd beugte sie sich zu ihrer Schwägerin in spe und berührte behutsam ihren Bauch, der mittlerweile kugelrund war. »Und du hast es am allerbesten, hörst du?«, richtete sie die nächsten Worte an das Ungeborene.