Was du nicht siehst. - Polly Oberman - E-Book

Was du nicht siehst. E-Book

Polly Oberman

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Beschreibung

Wir befinden uns im EC 217 von Frankfurt nach Graz. Menschen steigen ein, beobachten sich, begegnen sich, steigen wieder aus. Eine Person träumt von der Vergangenheit. Eine Affäre wird verheimlicht. Jemand verzweifelt. Ein Ort voller Liebe, Wut und Selbstreflexion, gefüllt mit Menschen, die einen kurzen Abschnitt ihres Lebens gemeinsam reisen. In kurzen Momenten kann man erkennen, was in ihnen vorgeht, aber es gibt immer auch etwas, was du nicht siehst.

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Für alle komplexen, emotionsgeladenen und widersprüchlichen Menschen da draußen. Ihr seid nicht alleine.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Thomaz

Kathy

Josef

Milo

Veronika

Emine

Luna

Schütze (23.11 – 21.12)

Jaonsh

Jessie

Elizabeth

Diara

Louis

Vorwort

Willkommen im EC 217 von Frankfurt nach Graz an einem unbedeutenden Freitagnachmittag. Der Geruch von schalem Bier und Schweiß vermischt sich mit dem unbeschreiblichen und doch eingängigen Geruch von hormongetriebenen Jugendlichen. Laute Gespräche treffen auf die erkaufte Stille durch Noise -Cancelling-Kopfhörer. Man sieht Menschen, die in ihren Laptop, ihr Smartphone, ihr Buch blicken und Menschen, die sich gerne unterhalten. Sie sind auf dem Weg zur Arbeit oder haben sich mit Lunchpaketen auf eine längere Strecke vorbereitet. Man sieht den Durchschnitt der Gesellschaft, aufeinandertreffend in einem engen Raum, verbunden durch das Element der Reise.

Und hier ist, was du nicht siehst …

Thomaz

Meine Finger flogen über die viel zu kleine Tastatur des Laptops, den ich extra für Außentermine angeschafft hatte. Ich verband einen tiefen Hass mit dem Gerät, das mir so vieles hätte erleichtern sollen. Ich fluchte innerlich, als ich wieder zwei Buchstaben auf einmal tippte. Wann war das alles so kompliziert geworden? Wo sind die festen Arbeitszeiten hin und das Büro mit dieser einen Grünpflanze, die irgendwie nie zu sterben schien? Und der entspannte Weg zur Arbeit. Ihn hatte ich geliebt. Zugfahren hatte ich geliebt. Es war meine Zeit gewesen. Das Aus-dem-Fenster-gucken, das Gedanken-schweifen-lassen. Jetzt musste ich schon auf dem Weg zur Arbeit produktiv sein, To-Dos abhaken, Karriere machen.

Das Monster, das mir seitdem auflauerte, krallte seine Pranken in meine Lunge und drückte mir langsam die Luft ab.

Ich drückte die Löschtaste.

Drückte etwas zu fest, wie ich feststellte, als die halbe E-Mail vor meinen Augen verschwand. Einem Impuls folgend klappte ich meinen Laptop zu.

Klappte ihn wieder auf.

Klappte ihn zu.

Das Geräusch schien die Aufmerksamkeit von einem Teenagermädchen geweckt zu haben, das mich sofort an meine Tochter erinnerte. Sie trug ein absichtlich verwaschenes AC/DC-Shirt und wusste vermutlich nicht mal, dass dies eine Band und kein Klamottenlabel war. Sie erinnerte mich sehr an meine Marie-Luise. Mein Mariechen, das kaum noch mit mir sprach, seit ich ausgezogen war. Als ob ausschließlich ich die Schuld am Scheitern der Ehe hätte. Als ob ich allein unsere Familie zerstört hätte. Weil ich nur noch Arbeiten war, für den Wohlstand, für das Haus mit Garten, für meine Familie.

Versorger-Falle hatte es die Paartherapeutin genannt und dem Problem zwar einen Namen, aber keine Lösung geliefert. Für mich war es wie in der Fabel mit den zwei Fröschen im Sahnetopf. Ich strampelte und strampelte, um ans Ziel zu kommen, in Unwissenheit darüber, dass ich kein Frosch und mein Topf nicht voller Sahne war. Geblieben war die Arbeit. Mein Laptop, der mich dominierte, verhöhnte.

Selbst jetzt, wo er zugeklappt vor mir lag, konnte ich den blinkenden Cursor im Textfeld der E-Mail spüren, die mitten im Satz abgebrochen war und auf Vollendung wartete.

Und wartete.

Und wartete.

Genauso fühlte ich mich gerade: Wie ein Text, zur Hälfte fertig geschrieben, im Ungewissen, wie es weitergeht. Sollte ich denn weiterstrampeln? Lohnte es sich noch? Ich drehte manisch an meinem Ehering, den ich nur noch aus Gewohnheit trug, und versuchte so das Monster loszuwerden, das sich nun auf meiner Brust festgesetzt hatte und alle Luft aus meiner Lunge presste. Ich versuchte, mit jeder Drehung einzuatmen, auch wenn der Widerstand immer größer wurde. Kurz bevor ich aufgab, hob ich meinen Blick und bemerkte, dass mich alle anstarrten. Einen Bruchteil zu spät realisierte ich, dass mein Handy laut klingelte. Sofort fielen alle Gedanken von mir ab und der Überlebensmodus setzte ein.

Keine Zeit für unnütze Gefühle.

Die Arbeit rief.

Kathy

Der Zug hielt und gab den Blick auf ein hastig gespraytes Graffiti frei, das in großen Buchstaben & CHARA & LEON YEVA in die Welt hinausschrie. Mit diesem Gefühl konnte ich relaten. Auch ich hätte gerne KATHYJONAH auf jede verfügbare Fläche gekritzelt, aber das Zugabteil war voll und mein Edding leer. Also begnügte ich mich damit, die „Top Deutsche Liebeslieder“-Playlist rauf und runter zu hören und auf meinem Handy die Fotos von der Klassenfahrt immer wieder durchzugehen.

Zuerst war ich echt genervt davon gewesen, dass noch eine andere Klasse in der Jugendherberge in Hamburg untergebracht war; schließlich hatte ich damals noch große Pläne mit Benne gehabt und da konnte ich es wirklich nicht gebrauchen, dass mir irgendein Mädchen dazwischenfunkt. Ich war perfekt vorbereitet gewesen, hatte wochenlang mit ihm geflirtet, meine besten Klamotten eingepackt, alles geplant. Niemand – wirklich niemand – sollte es wagen, mir meinen großen Moment zu ruinieren.

Und dann hatte ich Jonah gesehen.

Und all meine kindischen Pläne hatten sich in Luft aufgelöst.

Jonah war ganz anders als Benne. Viel tiefgründiger. Unsere Blicke hatten sich beim Frühstück über der Hagebuttenteekanne getroffen und da hatte ich es gewusst. Das war nicht nur ein Crush – das war Liebe!