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Ihre Ehe steckt in der Krise, ihre pubertierenden Kinder fordern sie täglich heraus. Wie ein Wink des Schicksals erscheint es Anna, als sie überraschend ein Grundstück im fernen Surinam erbt. Spontan nimmt sie sich eine Auszeit vom Alltag in Deutschland und reist in das exotische Paradies. Dort trifft sie auf jemanden, der die Erblasserin kannte. Fassungslos lauscht Anna den Erzählungen über einen dunklen Teil ihrer Familiengeschichte, der auch ihr Leben für immer verändern wird … Zwei Frauen, ein Schicksal - der große Familienroman von Linda Belago
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Seitenzahl: 363
Zum Buch
Ihre Großmutter Rijke soll Besitzerin einer Plantage im fernen Surinam gewesen sein? Bei der Testamentseröffnung hört Anna zum ersten Mal davon. Als sie Nachforschungen über das Erbe anstellen will, stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Um das Geheimnis um ihre Vorfahrin zu ergründen, reist Anna an den Ort der Erbschaft und ihrer verschütteten Familiengeschichte. In dem exotischen Land eröffnet sich ihr tatsächlich ein Blick in die Vergangenheit – und Anna erkennt, dass sie und Rijke viel mehr verbindet, als sie je für möglich gehalten hätte. „Fesselnd und warmherzig erzählt!“Autorin Sarah Lark über „Insel der blauen Lagunen“
Zur Autorin
Die Autorin Linda Belago interessiert sich besonders für die Geschichte der Niederlande. Durch ihre Familie hatte sie bereits als Kind eine besondere Beziehung zu diesem Land. Später führte sie ihr Beruf zunächst quer durch Europa und dann nach Übersee. Heute lebt Linda Belago mit ihrem Mann nahe der deutsch-niederländischen Grenze.
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Covergestaltung: büropecher, Köln Coverabbildung: MSMcCarthy_Photography, StefanieDegner, LiliGraphie, msk.nina / Thinkstock Redaktion: Bettina Lahrs
ISBN E-Book 9783956499401
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E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
Weißt du, was Liebe ist?
Ein Wort, ein Gedanke, ein endloser Kuss.
Aber Liebe ist mehr!
Nimm dein Herz ernst, denn es spricht nur einmal zu dir!
(Verfasser unbekannt)
Bremen, Oktober 1945
Wer hatte diesem Land die Farbe genommen? Die dünne Suppe, die eine Frau in verblichener Schwesterntracht gerade aus einer alten Zinkwanne in den Becher füllte, den Rijke ihr hinhielt, sah ebenso fade aus wie alles andere um sie herum. Menschen in zerschlissenen Kleidern standen oder saßen zwischen Trümmerhaufen, überall greinten Kinder.
Rijke fühlte sich schon fast ebenso grau und trist wie dieses Deutschland, das sie hier erlebte.
Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, was der Krieg in Europa angerichtet hatte. Es war jetzt vier Monate her, seit sie Surinam verlassen hatte. Manchmal musste sie sich schon sehr stark konzentrieren, um sich das üppige Grün, die prächtigen Farben und die warme Luft ihrer Heimat in Erinnerung zu rufen.
„Weiter – weitergehen!“ Die Frau in der Schwesterntracht sah sie müde an und nickte ungeduldig, um ihr zu bedeuten, dass sie die Essenausgabe nicht aufhalten solle. Rijke gehorchte und machte Platz. Hinter ihr standen noch an die hundert hungrige Menschen.
Sie hatte noch nie zuvor hungern müssen. Doch seit dem Tag, an dem sie in Amsterdam das Schiff verlassen hatte, war der Hunger ihr steter Begleiter gewesen.
Rijke schloss ihre Hände fest um die zerbeulte Tasse mit Suppe. Die Wärme tat gut. Auch frieren war etwas, das sie nicht gekannt hatte. In Surinam fröstelte man wohl einmal, wenn zur Regenzeit ein Schauer die schwülwarme Luft gereinigt hatte. Aber gegen die klirrende Kälte, die ihr hier durch Mark und Bein kroch, halfen weder dicke Kleidung noch die kratzigen grauen Decken.
Seit ihrer Ankunft in Bremen suchte sie nun Walter. Von Amsterdam aus war sie quer durch die Niederlande gereist und von der deutschen Grenze dann weiter bis nach Bremen. Eine gefährliche Reise, die nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Sie hatte unterwegs viel von ihrem Gepäck versetzen müssen; Kleidung war ein gefragtes Handelsgut, und so war ihre Tasche jede Woche etwas leichter geworden, und sie konnte zumindest hin und wieder essen. Anders als erhofft gab es keine Möglichkeit, schnell und unproblematisch mit dem Zug oder Autobus nach Bremen zu gelangen. Der Krieg war gerade erst vorbei, Europa lag noch immer in Schreckstarre. Niemand reiste auf die Weise, wie sie es vorhatte, stattdessen schoben sich in langen Reihen Ströme von Heimkehrern zu Fuß oder militärische Kolonnen über die Straßen. Es gestaltete sich nahezu unmöglich, einen Platz in oder auf einem der Fahrzeuge zu bekommen, daher hatte Rijke sich zu Fuß auf den Weg gemacht, nur mit einer vagen Vorstellung, wohin sie sich wenden sollte. In Surinam führten alle Flüsse zum Meer und alle Straßen irgendwann in ein Dorf, zu einer Plantage oder nach Paramaribo. In den Niederlanden und dann in Deutschland hatte sie so manches Mal die Orientierung verloren.
Als sie Bremen schließlich erreichte, wurde es nicht besser. Walter hatte ihr in seinen Briefen aus dem Lager in Lelydorp so viel über die Stadt erzählt und vor allem auch, wo seine Familie dort lebte. Doch die Adresse gab es nicht mehr. An Trümmer hatte Rijke sich auf ihrer Reise gewöhnt, doch die Gewissheit, dass auch in Bremen nichts mehr so war wie früher, hatte ihr bei ihrer Ankunft die Tränen der Verzweiflung in die Augen getrieben.
Langsam ging sie mit ihrer Suppentasse die inzwischen geräumten, aber von Schuttbergen gesäumten Straßen entlang. Sie hatte in einem Lager für Frauen und Kinder einen Platz auf einer fadenscheinigen Matratze ergattert. Erst wollte man sie nicht aufnehmen, doch als sie einer der Schwestern klarmachte, dass sie sich in anderen Umständen befand, hatte man ihr einen Fleck zum Schlafen zugewiesen. Seitdem verging ein Tag wie der andere. Rijke stand frühmorgens auf, um an den behelfsmäßigen Latrinen anzustehen, holte sich etwas Wasser für den Tag und ging dann schon am Vormittag zur Ausgabestelle der Suppenküche. Am Nachmittag lief sie zur Station des Roten Kreuzes, wo an langen Bretterwänden die Anzeigen für Vermisste und Gesuchte aushingen.
Walter würde sie kaum suchen, da er nicht wusste, dass sie ihm gefolgt war. Daher war ihre einzige Chance, ihn zu finden – oder wenigstens jemanden, der wusste, wo er war –, dort selbst ein paar Zettel zu verteilen. Jeden Tag aufs Neue hoffte sie auf eine Nachricht, einen Hinweis, irgendetwas, das ihr weiterhelfen konnte.
Vor den Bretterwänden herrschte dichtes Gedränge. Fast jeder in der Stadt suchte und vermisste jemanden. Langsam schob Rijke sich durch die Menschenmenge. Sie war schwach, das bisschen Suppe hielt sie gerade so auf den Beinen, und das Baby in ihrem Bauch zehrte an ihren Kräften. Sie vermied es, daran zu denken. Aber immerhin hatte die Schwangerschaft ihr einige Türen geöffnet und sicherte ihr die Unterkunft, bis sie Walter fand. Wie sollte sie ihm nur erklären, wozu sie gezwungen gewesen war? Würde er es verstehen?
An diesem Tag wollten besonders viele Menschen Zettel aufhängen oder die wartenden Nachrichten sichten. Wahrscheinlich war wieder eine Kolonne Soldaten zurückgekehrt. Rijke hielt etwas Abstand. Nach dem nassen Sommer waren die Tage inzwischen kalt und nebelig feucht. Viele Menschen husteten. Sie wollte nicht auch noch krank werden. Sie zog ihre Jacke enger um den Körper. Ein Kleidungsstück, das sie sich als Erstes eingetauscht hatte, denn ihre Sachen aus Surinam waren viel zu dünn gewesen.
Langsam schritt sie die Bretterwände der Länge nach ab. Sie wusste genau, wo ihre Zettel mit dem Namen Walter Nelis hingen. Den Gedanken, dass er vielleicht gar nicht nach Bremen zurückgekehrt war oder schon wieder fort sein könnte, verdrängte sie vehement.
„Rijke?“
Sie schloss die Augen. Wie oft hatte sie seine Stimme bereits im Geiste gehört! Offenbar wollten ihre Gedanken sie wieder täuschen.
„RIJKE!“
Ihr wurde etwas schwindelig. Die Suppe erfüllte kaum noch ihren Zweck.
Als jemand sie von hinten am Arm packte, riss sie sich sofort los, ohne genau hinzusehen. Man hatte schon so oft nach ihr gegriffen …
„Rijke … Rijke, ich bin es!“
Sie drehte sich um. Sie sah einen Mann, begriff aber nicht gleich, um wen es sich handelte. Wie viele blasse, ausgezehrte Gesichter hatte sie in den letzten Monaten angestarrt, ohne ihn darin zu erkennen?
„Rijke, bist du es wirklich? Wie bist du hergekommen? Oh Gott, ich habe dich gefunden! Ich habe dich gefunden!“ Der Mann griff erneut nach ihr.
Es war seine Stimme! Rijke ließ ihn gewähren, ließ sich in seine Arme ziehen. Sie spürte die so lang vermisste Wärme, sie hörte die Stimme, ohne zu verstehen, was er sagte.
„Walter!“, schluchzte sie leise, dann versagten ihre Beine. Sie wusste nur – sie war am Ziel.
Köln, April 2015
Anna stand im Flur, die Hände auf die kleine Kommode gestützt, und starrte in den Spiegel. Am Rand des goldenen Rahmens hing ein kleiner Staubfussel und bewegte sich leicht hin und her. Anna sah von ihrem Spiegelbild zu dem Fussel und dann wieder auf ihr Spiegelbild. Genauso fühlte sie sich: wie ein alter Fussel. Ihre blonden Haare wurden langsam von grauen Strähnen durchzogen. Sie hatte sie sich, wie jeden Morgen, etwas hastig und achtlos zu einem Zopf gebunden. Anna musste schlucken und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Gerade war er gegangen. Wieder einmal. Rüdiger schien es nicht mehr für nötig zu halten, sich aktiv an ihrem Familienleben zu beteiligen. Schon lange nicht mehr.
Heute war Sonntag, ein Tag, den eine Familie eigentlich gemeinsam verbringen sollte. Doch nicht die Familie Reuter. Rüdiger verschwand auf den Golfplatz und ließ Anna mit Dennis und Jasmin zurück. Quasi allein, denn Dennis verschanzte sich mit seinen vierzehn Jahren lieber in seinem Zimmer vor seinem PC, und Jasmin würde gleich frisch gestylt die Treppe runterkommen, um sich mit ihren Freunden zu treffen. Manchmal dachte Anna, ihren Kindern würde es wohl erst am Abend, am leeren Esstisch, auffallen, wenn ihre Mutter nicht da wäre. Doch sie war ja immer da.
Und wie würde ihr Sonntag aussehen? Die Wäsche musste gemacht werden, im Garten gab es noch einiges zu tun, und im Keller wollte sie auch seit Langem Ordnung schaffen. Sonntag? Das war ein Tag wie jeder andere.
Und Rüdiger ging golfen.
Anna sah, wie ihrem Spiegelbild eine Träne über die Wange kullerte. Ja – sie war jetzt Mitte vierzig, ja – sie hatte vielleicht etwas zugenommen, und ja – Himmelherrgott, wenn man den ganzen Tag den Haushalt machte, kochte, Kinder versorgte, den Garten bearbeitete und auch sonst alles in diesem verdammten Haus selber erledigte, weil der Ehemann golfen war, sah man eben nicht immer aus, als wäre man gerade vom Titelblatt der InStyle gesprungen.
Anna spürte, wie sich wieder diese Wut in ihr regte, eine Wut, die sie seit geraumer Zeit immer wieder herunterschlucken musste.
Es hatte alles so aussichtsreich angefangen. Hochzeit, Hausbau im Grünen, Jasmin wurde geboren, Rüdiger eröffnete seine eigene Kanzlei, Dennis kam auf die Welt. Bei Familie Reuter lief es perfekt. Das dachten die meisten Außenstehenden wohl auch heute noch.
Rüdiger stritt alles ab. „Anna, du siehst Gespenster. Ramona ist meine Angestellte.“ Doch Anna hatte die beiden zusammen gesehen. In einer Situation, die keinen Raum für Zweifel ließ. Nur durch Zufall war sie durch die Straße gefahren, in der Rüdigers Büro lag. Sie hatte Dennis zum Fußballtraining gebracht, eine andere Straße war gesperrt gewesen, daher der Umweg. Die beiden hatten an seinem Auto gestanden, ganz nahe beieinander. So dicht beieinander, dass bei Anna sofort die Alarmglocken schrillten. Das war vor zwei Jahren gewesen. Fast hätte Anna vor Schreck noch einen Unfall gebaut. Rüdigers Überstunden, die Dienstreisen, die Wochenenden auf dem Golfplatz und ihr seit Jahren gänzlich eingeschlafenes Intimleben – für all das gab es plötzlich eine Erklärung, und Anna hatte sich gefühlt, als plumpse sie von ihrem beschaulichen Familienleben in eine Seifenoper eines viertklassigen Fernsehsenders.
Sie löste ihren Blick vom Spiegel, fischte mit der linken Hand nach dem Staubfussel und wischte ihn resolut an ihrer Hose ab. Sie stand am Ende einer Sackgasse ohne Wendemöglichkeit.
„Ich arbeite seit fünf Jahren mit Ramona zusammen, da kennt man sich halt ganz gut“, hatte Rüdiger abgewiegelt. „Du wirst noch unsere Familie zerstören mit deinem Wahn.“
Doch in Wirklichkeit war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr beschauliches Familienidyll platzen würde wie eine Seifenblase. Die Angst vor diesem Szenario nagte an Anna. Gleichzeitig war es für sie kaum vorstellbar, dass sie und Rüdiger wieder zueinanderfinden würden. Oder bildete sie sich seine Untreue wirklich nur ein? War sie übertrieben eifersüchtig? Sie wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse die Tränen aus dem Gesicht. Sie wurde noch irre in diesem Haus!
Vor ihrer Ehe hatte sie als Reiseverkehrskauffrau gearbeitet, aber als Jasmin sich angekündigt hatte, wollte Rüdiger, dass Anna ihren Job aufgab. „Du brauchst nicht arbeiten zu gehen, ich verdiene doch genug“, hatte er gesagt. Ja, er verdiente gut, klagen konnte sie nicht. Doch seit Jasmin und Dennis aus dem Gröbsten raus waren, fühlte sich Anna nur noch als Köchin, Putzfrau und Taxidienst. Was würde aus ihr werden, wenn die Kinder eines Tages gänzlich aus dem Haus waren? Nach zwanzig Jahren zurück ins Berufsleben? Da hörte man selten Erfolgsberichte. Weiter zu Hause sitzen, die Rosen schneiden und warten, dass Rüdiger heimkam – so er dann überhaupt noch da war? Auch keine glorreiche Zukunftsaussicht.
Anna straffte sich. Sie hasste es, wenn sie so ins Grübeln kam, aber je älter die Kinder wurden und je weiter sich Rüdiger von ihr entfernte, desto größer wurde ihre Angst vor der Zukunft. Wo waren die einstigen „Wenn wir mal alt sind“-Träume hin? Dabei waren sie ja noch nicht einmal alt – obwohl Anna sich momentan wesentlich älter fühlte, als sie es war.
Der beste Tag der Woche war der Montag. Dann war das leidige Wochenende vorbei, und der Alltag ließ keinen Raum für Annas Sorgen.
„Hier ist ein Brief für dich.“ Rüdiger legte Anna einen Umschlag neben das Frühstücksbrettchen und klaubte dann die restliche Post zusammen. „Ich bin dann mal los …“
„Bis heut Abend.“ Anna sah ihm nach. Warum schien er eigentlich nicht so zu altern, wie sie es gefühlt tat? Seine Haare waren immer noch ohne graue Strähnen, seine Haut stets etwas gebräunt. Er war beim Golfen ja auch mehr draußen, während sie im Keller die Wäsche machte oder in den Beeten im Schatten der Hecke rumackerte. Anna schluckte die Galle herunter, die ihr schon wieder in den Hals stieg. Überreagierte sie vielleicht? Momentan brachte seine bloße Nähe bei ihr die Gefühle so in Rage, dass sie sich immer zusammenreißen musste, ihn nicht anzufahren.
Mit einem großen Schluck viel zu heißen Kaffees versuchte sie sich abzulenken. Dann stellte sie die Tasse ab. In der rechten Hand noch das halbe Brötchen haltend, nahm sie mit der linken den Brief auf und stutzte. Ein dicker, altmodischer Umschlag mit einer schwachen Blumenprägung, die Beschriftung feinsäuberlich von Hand durchgeführt. Er kam aus Holland, und Anna erkannte die Schrift sofort. Als Absender stand in der oberen linken Ecke Rijke Nelis – ihre Großmutter.
„Du hast Post?“ Jasmin kam verschlafen an den Frühstückstisch getapert. „Papa schon wieder weg?“
„Ja, Papa ist schon weg.“ Die Frage war überflüssig. Rüdiger nahm seit Langem am Morgen seinen Kaffee im Stehen zu sich und verschwand dann in die Kanzlei.
„Du bekommst doch nie Post.“ Jasmin setzte sich, nahm sich das Glas Schokoladenaufstrich und einen Löffel.
„Danke! … Wie wäre es, wenn du mal eine Scheibe Brot unter das Zeug legst?“ Anna schüttelte den Kopf.
Jasmin löffelte ungerührt weiter.
Ihre Tochter war mit ihren siebzehn Jahren noch rank und schlank, inzwischen gut einen Kopf größer als Anna selbst und sah, was Anna manchmal insgeheim sogar ein wenig neidisch werden ließ, fast wie ein Model aus. Aber bei Anna waren die Speckröllchen auch erst später gekommen. Nach dem zweiten Kind.
Dennis kam in die Küche und grinste seine ältere Schwester frech an. „Da bekommst du einen dicken Hintern von.“ Er sah zerzaust aus. Zwei Jahre jünger als Jasmin, steckte er entwicklungstechnisch noch irgendwo zwischen Kind und Teenager.
Jasmin streckte ihm die Zunge raus und wandte sich wieder ihrer Mutter zu. „Von wem ist der Brief?“
„Von eurer Urgroßmutter.“
„Die lebt noch?“, fragte Jasmin, den Löffel Schokoladencreme noch im Mund.
„Jasmin!“
„Ist doch wahr. Oma sagt immer …“
„Ja ich weiß, was Oma immer sagt.“ Anna ärgerte sich. Ihre Mutter Cornelia sprach über ihre eigene Mutter nicht gerade liebevoll und verkniff sich dies auch nicht in der Gegenwart ihrer Enkel.
Dabei war es doch eigentlich ganz schön und außergewöhnlich, dass es noch vier Generationen der Familie gab. Sofort packte Anna das schlechte Gewissen. Wann hatte sie Rijke das letzte Mal gesehen? War es in dem Jahr gewesen, bevor Dennis eingeschult wurde? Sie sah zu ihrem inzwischen fast fünfzehnjährigen Sohn. Früher, als die Kinder noch klein gewesen waren, hatten sie Rijke noch ab und an besucht. In den letzten Jahren … und wegen der Sache mit Rüdiger … war das alles irgendwie in den Hintergrund gerückt.
Wie alt war ihre Großmutter jetzt? Anna musste überlegen. An die neunzig Jahre? Vielleicht wäre es wieder Zeit für einen Besuch. Allerdings dauerte die Fahrt von Köln bis in die kleine Stadt Appingedam in Groningen fast vier Stunden. Aber das war auch keine gute Ausrede. Sie seufzte leise, legte den Brief beiseite und griff nach dem Kaffeebecher. In Wirklichkeit hatte sie sich all die Jahre nie sonderlich für ihre Großmutter interessiert. Sie wusste nicht einmal genau, warum ihre Mutter so einen Groll gegen sie hegte. Vielleicht weil Rijke, die gebürtige Niederländerin war, ihre Tochter Ende der Fünfzigerjahre von Bremen aus mit in die Niederlande genommen hatte? Für ihre Mutter Cornelia war das offenbar ein Drama gewesen. Sobald sie alt genug war, hatte sie das Weite gesucht und war wieder nach Deutschland gegangen.
„Ich muss um vier Uhr zu Kati. Ich ziehe mich nach der Schule schnell um und dann …“ Jasmin war aufgestanden und sah Anna nun auffordernd an.
„Ich muss aber um kurz nach vier zum Fußball“, tönte Dennis sogleich.
„Du kannst auch mit dem Rad fahren.“
„Du kannst zu Kati auch laufen.“
„Mama? Sag Dennis, er soll mit dem Rad fahren!“
Dennis schnitt eine Grimasse. „Fahr doch selbst mit dem Rad – nach diesem Frühstück vielleicht auch ganz ratsam.“
Anna verdrehte innerlich die Augen, zanken konnten die beiden noch wie zwei Fünfjährige. Das Leben mit zwei Teenagern im Haus war manchmal so ruhig wie ein Picknick … inmitten einer Herde Ziegenböcke. Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ist ja gut – ich fahre euch beide.“
Beim Abräumen des Frühstückstischs nahm Anna den Brief ihrer Großmutter und legte ihn auf die Kommode im Flur. Im Keller piepte der Gefrierschrank. Die Tür schloss nicht richtig. Rüdiger hätte sie schon lange reparieren sollen. Dann klingelte das Telefon, dann musste sie noch schnell eine Maschine Wäsche anstellen …
Am Dienstag landete das Infoschreiben einer Versicherung auf dem Brief, und eine Woche später verschwand er mit einigen anderen Papieren in der obersten Schublade der Kommode. Anna vergaß ihn.
Köln, Juni 2015
„Da ist schon wieder ein Brief aus Holland für dich.“ Rüdiger hielt in einer Hand die Kaffeetasse, mit der anderen sortierte er wie jeden Morgen die Post. Er fischte den Umschlag heraus und warf ihn in Annas Richtung. „Ich fahre morgen Mittag nach Stuttgart und komme dann Freitag wieder. Packst du meinen Koffer?“
Anna schluckte einen wütenden Spruch dazu herunter und antwortete auch nicht auf die Frage bezüglich des Koffers. Natürlich würde sie seinen Koffer packen, wie immer. Sie nahm den Brief zur Hand. Was hatte noch gleich in dem letzten gestanden? Wo war der eigentlich geblieben? Hatte sie ihn überhaupt gelesen?
Dieser Umschlag sah förmlicher aus. Er kam sicher nicht von ihrer Großmutter. Anna öffnete ihn. Jasmin und Dennis kamen in die Küche und zankten schon wieder über irgendetwas. Anna blendete den Lärm aus und las den Brief. Er war auf Niederländisch geschrieben. Als Kind hatte sie es geliebt, wenn ihre Großmutter versucht hatte, ihr die Sprache beizubringen, und ein wenig beherrschte Anna diese noch. Ihre Mutter hatte dann allerdings immer genervt das Gesicht verzogen, sie selbst hatte sich als Kind wohl immer sehr schwer damit getan und überhaupt alles, was mit den Niederlanden zu tun hatte, abgelehnt.
„Ich bin dann mal los. Denkst du an meinen Koffer? Anna? … Anna?“ Rüdiger stellte scheppernd seine Kaffeetasse in die Spüle.
Anna löste ihren Blick von dem Schreiben. „Oma Rijke ist gestorben.“
„Bitte nicht wieder dieses himmelblaue Hemd einpacken …“
„Hier steht, sie ist am 21. Mai gestorben.“
„Wer ist tot?“, tönte Dennis’ Stimme vom Tisch her.
„Du gleich, wenn du mir nicht sofort den Saft gibst“, blaffte Jasmin ihren Bruder an, ohne den Blick von ihrem Handy zu lösen.
„Und bitte drei Handtücher. Die im Hotel sind immer so hart.“
„Rüdiger! Meine Oma ist tot.“
Er sah sie an, als würde er nicht recht verstehen, was sie sagte. „Die aus Holland? Wo wir mal waren?“
„Ja, genau. Ich soll nächste Woche nach Appingedam kommen zur Testamentseröffnung.“
Rüdiger winkte ab. „Da musst du nicht persönlich hin, das geht auch alles schriftlich. Gab es da was zu erben? Wohl eher nicht. Gib her, ich regel das übers Büro.“ Er streckte die Hand nach dem Umschlag aus.
Anna zog ihn zurück. „Nein – lass mich doch erst mal lesen.“
„Zu einer Beerdigung will ich nicht!“, maulte Jasmin.
„In Schwarz siehst du auch dick aus.“ Dennis duckte sich schon vorsorglich, damit ihn kein Schlag seiner Schwester traf.
„Du bist ein Ar…“
„Jasmin!“ Rüdiger sah seine Tochter strafend an. „Ich muss jetzt los.“
„Wo … wo hab ich denn den letzten Brief gelassen?“
„Was für einen Brief?“ Er zog sich sein Jackett zurecht und ging zur Tür.
„Sie hatte mir doch vor einigen Wochen noch einen Brief geschrieben … Wo hab ich denn …?“
Rüdiger war schon weg.
Anna ging zur Kommode im Flur und begann in der obersten Schublade zu kramen. Darin landete für gewöhnlich alles, was irgendwie herumlag.
Die Kinder schoben sich an ihr vorbei und verließen ebenfalls das Haus. Grußlos, dafür weiter zankend.
Zwischen Werbeprospekten fand Anna den Umschlag. Es war plötzlich still im Haus. Sie ging in die Küche zum Tisch, setzte sich und goss ich noch einen Kaffee ein. Dann griff sie nach dem älteren Umschlag. Wie hatte sie ihn nur vergessen können? Das schlechte Gewissen setzte sich als Kloß in ihrem Hals fest. Sie öffnete den Umschlag.
Appingedam, 8. April 2015
Liebe Anna,
wir haben uns nun so viele Jahre nicht gesehen. Ich würde mich allerherzlichst freuen, wenn es in den nächsten Wochen noch einmal möglich wäre, dass Du mich besuchst. Ich bin nicht mehr die Jüngste, und mir geht es nicht sehr gut. Bevor ich von dieser Welt scheide, würde ich Dir gerne noch einige Dinge erzählen.
Ich würde mich freuen, von Dir zu hören.
Deine Großmutter
Rijke
Die Schrift war krakelig, als wäre das Schreiben für Rijke schon beschwerlich gewesen.
„Oh nein!“ Anna ließ den Brief sinken. Ihre Großmutter hatte sie noch ein letztes Mal sehen wollen, und Anna hatte ihren Brief nicht einmal gelesen. Ihr wurde ganz übel. Und jetzt war es zu spät. Ihre Augen brannten. Sie fischte nach dem Schreiben, das sie heute erreicht hatte. Rijke war sechs Wochen, nachdem sie den Brief geschickt hatte, gestorben. Hätte Anna doch den verdammten Umschlag aufgemacht … sie wenigstens noch einmal angerufen. Sie schniefte.
Natürlich war es lange her, doch sie erinnerte sich noch sehr gut an Rijkes kleines Haus in Appingedam, das Wohnzimmer, so herrlich vollgestellt mit allerlei Krimskrams, dass es ihr als Kind immer wie ein Museum vorgekommen war. Sie erinnerte sich an den Vanilleduft, der Rijke immer umschwebt hatte, und an das goldgerahmte Foto von ihrem Großvater Walter, den sie nie kennengelernt hatte. Er war sehr früh gestorben. Ihre Oma hatte mit dem Verlust wohl zeitlebens zu kämpfen gehabt. Sein Bild stand auf einem kleinen Tisch neben dem Sofa, immer mit ein paar frischen Blümchen dabei. Und wenn Oma Rijke auf dem Sofa saß, direkt neben dem Bild, sah es durch Annas kindlichen Blick auf die Dinge aus, als würde der Großvater neben der Oma sitzen.
Anna stand vom Tisch auf und nahm das Telefon zur Hand. Es war halb acht, vielleicht noch etwas früh, um ihre Mutter anzurufen. Egal! Anna wählte die Nummer.
Nach mindestens fünfzehnmal klingeln erklang ein verschlafenes „Ja?“.
„Ich bin’s, Mama.“
„Anna? Ist was passiert?“
„Nein … nicht direkt. Ich …“
„Weißt du, wie spät es ist?“
Anna wurde sauer. „Ja, Mama – und normale Menschen sind um die Uhrzeit schon fit. Hast du gewusst, dass Oma gestorben ist?“
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.
„Mama?“
„Deswegen rufst du mich in aller Herrgottsfrühe an?“
„Mama – deine Mutter ist gestorben!“
„Ja, und? Sie war steinalt“, antwortetet ihre Mutter tonlos.
„Also wusstest du es schon. Warum hast du mir nichts davon gesagt?“
„Warum? Wie lange hast du sie nicht gesehen? Zehn, fünfzehn Jahre? Soweit ich mich erinnere …“, jetzt wurde ihr Ton sarkastisch, „hast du dich doch um sie in den letzten Jahren nicht geschert.“
„Ich bin zur Testamentseröffnung eingeladen. Hast du auch so einen Schrieb bekommen?“
Es herrschte einen Augenblick Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Nein, habe ich nicht. Und glaub mir, zu erben gibt’s da auch nichts, falls Rüdiger das interessiert.“
„Also wirklich, Mama!“
Anna wusste, dass ihrer Mutter Rüdigers Hang zum Geld missfiel. In ihren Augen waren Anwälte Halsabschneider, die es sich auf Kosten anderer gut gehen ließen. Vielleicht rührte ihre Abneigung daher, dass ihre Scheidung von Annas Vater vor über dreißig Jahren nicht sehr erfolgreich verlaufen war und Rüdiger nicht müde wurde, seine Schwiegermutter darauf hinzuweisen, dass die Sache damals mit einem anständigen Anwalt besser für sie ausgegangen wäre. Zudem gab Cornelia gerne Geld aus, ob sie es hatte oder nicht … Meist jedoch ließ sie sich von ihren Geliebten aushalten. Anna war der Lebenswandel ihrer Mutter einst ein Dorn im Auge gewesen. Es war ihr peinlich, dass alle paar Jahre ein neuer Mann an Cornelias Seite auftauchte. Wäre sie nicht ihren Enkeln gegenüber eine halbwegs liebevolle Oma gewesen, hätte Anna wohl längst den Kontakt zu Cornelia abgebrochen.
Nach einer weiteren Pause drang Cornelias Stimme jetzt etwas versöhnlicher durch die Telefonleitung. „Ja, tut mir leid, ich hätte dir Bescheid geben sollen, aber da waren Karl und ich gerade an der Mosel.“
Karl war der aktuelle Lebensgefährte von Cornelia. Stets braun gebrannt und mit meist halb offenem Hemd, im Sommer wie im Winter, machte er immer einen leicht verruchten Eindruck. Er besaß ein großes Wohnmobil, mit dem die beiden fast das ganze Jahr durch die Gegend tingelten. Dass Anna ihre Mutter zu Hause ans Telefon bekommen hatte, war ein seltenes Glück. Cornelia war keine Oma, die man spontan bitten konnte, am Abend auf die Kinder aufzupassen. Doch schaffte sie es wenigstens alle paar Wochen, bei ihren Enkeln vorbeizuschauen, wenn sie und Karl nicht gerade in Spanien oder Italien waren. Jasmin und Dennis mochten ihre Oma sehr gerne, denn Cornelia wirkte weder altbacken, noch war sie langweilig. Im Gegensatz zu Rüdigers konventioneller Mutter Irene. Etwas von deren Normalität hatte Anna sich als Kind immer bei ihrer Mutter gewünscht. Leider vergeblich.
„Anna? Sonst alles klar bei euch?“
„Ja … also, ich werde wohl hinfahren.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Wir sind nächste Woche übrigens in Mecklenburg.“
„Gut. Ich melde mich. Viel Spaß.“ Anna legte auf. Von ihrer Mutter waren wohl weder Trauer noch irgendwelche weiteren Informationen zu erwarten. Anna setzte sich wieder an den Tisch und sah nachdenklich aus dem Fenster. Hatte ihre Großmutter im Testament nur sie bedacht? Als Kind hatte sie ihre Oma wirklich gemocht und umgekehrt wohl auch.
Die Sonne fiel durch die Blätter der Büsche im Garten und ließ Schatten über den Boden tanzen.
Bevor ich von dieser Welt scheide, würde ich Dir gerne noch einige Dinge erzählen.
Was hatte Oma Rijke damit wohl gemeint?
Am Samstag teile Anna Rüdiger ihren Entschluss mit. Es war wieder am Morgen, ansonsten sahen sie sich ja kaum noch. Abends schlief Anna meist schon, wenn er nach Hause kam. Obwohl das Klappen der Tür sie immer kurz weckte und ihr ihr zerbröseltes Eheleben vor Augen führte.
Rüdiger stand an der Arbeitsplatte und goss sich gerade seinen Kaffee ein, während Anna den Tisch deckte. Die Kinder saßen noch etwas schlaftrunken auf ihren Plätzen.
„Ich werde nächste Woche Dienstag zu dieser Testamentseröffnung fahren“, erwähnte sie so beiläufig wie möglich.
Rüdiger hielt inne. „Das könnten wir wirklich alles schriftlich regeln.“ Dann wurde sein Ton säuerlich. „Du musst dafür nicht extra nach Holland fahren.“
„Das möchte ich aber gerne. Ich glaube, ich bin ihr das schuldig.“ Anna nahm den Brief vom Tisch und wedelte damit einmal vorwurfsvoll durch die Luft.
„Dienstag? Und die Kinder? Wie lange willst du dableiben? Komm nicht auf den Gedanken, da wochenlang den Hausstand auflösen zu wollen!“
War das ein Befehl? Anna hätte fast aufgelacht. Es war das erste Mal, dass sie ankündigte, allein irgendwohin zu fahren, und in Rüdigers Augen blitzte in der Tat kurz Hilflosigkeit auf. Wahrscheinlich war ihm gerade klar geworden, dass er nicht mal wusste, in welchem Küchenschrank das Kaffeepulver stand.
„Ich fahre da hin und bleibe so lange wie nötig. Ich denke, ich bin Donnerstag wieder da, so lange wird das alles schon nicht dauern. Und ihr“, sie warf ihren Kindern einen mahnenden Blick zu „seid wohl alt genug, dass ich euch mal zwei Tage alleine lassen kann.“
„Kommt Oma?“ Wie seinem Vater schien offenbar auch Dennis die Situation jetzt schon nicht ganz geheuer zu sein.
„Nein, die ist in Mecklenburg.“ Anna warf ihrem Mann einen scharfen Blick zu. „Vielleicht kann Papa ja auch nachmittags mal etwas früher Feierabend machen.“
Rüdiger hob verblüfft die Augenbrauen, aber Anna konzentrierte sich bereits auf Jasmin. Ihr war nicht entgangen, dass ihrer Tochter offenbar schon ganz andere Dinge durch den Kopf gingen. „Vergiss es, Tochter – kein sturmfrei, keine Party!“
Jasmin schüttelte den Kopf und streckte ihrer Mutter die Zunge raus.
„Ich werde mal sehen, was mein Terminplan sagt nächste Woche“, murmelte ihr Mann.
Anna zuckte die Achseln. Ihr war herzlich egal, was auf seinem Terminplan stand. Jetzt war sie mal am Zug, und sie würde zu dieser Testamentseröffnung fahren. Nicht nur weil sie das ihrer Oma schuldig war, sondern auch weil sie inzwischen spürte, dass sie ganz dringend mal aus diesem Haus rausmusste, sonst würde sie womöglich platzen. Wenn auch der Anlass ein trauriger war, die Gelegenheit, einige Zeit ganz für sich allein zu bekommen, käme so schnell wohl nicht wieder.
Der Dienstag kam schneller, als sie gedachte hatte. Im Haus war alles vorbereitet. Im Kühlschrank stand ein großer Topf Spaghetti Bolognese. Kurz bevor die Kinder das Haus verließen, versuchte Anna sie noch einmal auf ihre ersten Tage ohne mütterliche Versorgung vorzubereiten.
„Dennis – einfach etwas in eine Schüssel abfüllen, einen Teller drauflegen, in die Mikrowelle stellen und dann auf vier Minuten stellen. NICHT den Deckel vergessen, das gibt sonst eine Riesensauerei.“
Dennis sah sich in der Küche um, als hätte er den Raum noch nie zuvor betreten. Anna dachte bei sich, dass er wohl eher das Telefon und die Karte vom Pizzadienst finden würde als das fürsorglich vorgekochte Essen im Kühlschrank.
„Das kann Jasmin dann ja machen“, wehrte er ab.
„Jasmin, du musst morgen Mittag nach der Schule zur Nachhilfe, vergiss das nicht!“
„Ja, ja …“ Jasmin hatte schon wieder die Handykopfhörer im Ohr.
Wann wurden diese Kinder eigentlich lebenstüchtig? Anna bekam schon wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie sie alleine ließ. Doch dann straffte sie sich. Sie hatte die beiden ganz schön verhätschelt. Das warf Cornelia ihr auch immer vor. Aber Anna wusste nur zu gut, wie belastend es für sie mit zwölf, dreizehn Jahren gewesen war, sich dauernd selbst etwas kochen zu müssen, weil die Mutter dafür keine Zeit gehabt hatte. Wie es war, wenn man sich mit fünfzehn seine Wäsche selbst waschen musste und wenn … man überhaupt fast immer auf sich gestellt war.
„Ihr schafft das schon, und wenn was ist … ruft Papa an.“ Sie wusste ganz genau, dass die beiden ihren Vater anrufen würden. Denn wenn den Reuterkindern eines nicht zuzumuten war, dann mit dem Bus oder dem Rad irgendwohin zu fahren. Anna musste in sich hineingrinsen. Sollte Rüdiger mal schön zwei Tage seinen Vaterpflichten nachkommen. Die hatte er ja in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Sie bekam fast etwas Angst vor sich selbst, aber dieser kleine Hauch von Freiheit und Selbstbestimmung, den sie sich gerade zugestand, tat ihr sehr gut.
Als sie auf die Autobahn fuhr, musste Anna mit einer letzten kurzen Panikattacke kämpfen. War der Trockner aus? Hatte sie Dennis’ Sporttasche eingeräumt? Jetzt hör aber mal auf! Du bist ja wirklich ein mutiertes Muttertier! rief sie sich energisch zur Ordnung, lehnte sich zurück, drehte das Radio auf und trat aufs Gas.
Obwohl ihr Navigationsgerät die Route hoch durchs Emsland empfahl, fuhr Anna viel früher über die Grenze und nahm die Autobahn über Arnheim. Dort wurde ihr schnell bewusst, warum sie Holland eigentlich so gerne mochte: Allein schon auf der Autobahn ging es viel entspannter zu als in Deutschland. Niemand raste, anstelle von Leitplanken gab es meist breite Grünstreifen, und während man Richtung Norden fuhr, konnte es vorkommen, dass mitten auf der Autobahn plötzlich eine Ampel rot wurde und sich vor den wartenden Fahrzeugen eine Klappbrücke emporhob, um ein Schiff passieren zu lassen.
Oberhalb von Zwolle wurde es dann gänzlich ländlich. Weite Wiesen bis zum Horizont, auf denen zahllose Kühe grasten. Vereinzelte Bauernhöfe, meist mit einem oder mehreren Windrädern dabei, und überall die kleinen Häuser, durch deren große Wohnzimmerfenster man bis auf die Sofas der Bewohner schauen konnte, selbst von der Autobahn aus.
Der Termin bei dem niederländischen Notar war um fünfzehn Uhr. Anna traf deutlich vor Mittag in Appingedam ein.
Der kleine Ort lag fast an der Küste, dort, wo die Ems in den Dollart mündet. Schräg gegenüber, am anderen Ufer der Bucht, lag Emden. Außer weitem Land, Deichen, Schafen, Wind und Meer gab es hier nicht viel. Schon als Kind war Anna der krasse Gegensatz zu der Großstadt Köln bewusst geworden. Ihre Mutter hatte mit der Einsamkeit Appingedams deutlich mehr zu kämpfen gehabt. Trostlos und langweilig hatte sie es stets genannt. Deswegen waren sie wohl auch nie lange bei der Oma geblieben.
Quer durch den kleinen Ort zog sich der Kanal Damsterdiep, über den an vielen Stellen Brücken führten. Im Grunde verdiente er diese Bezeichnung gar nicht; er ähnelte eher einem breiten Bach. Beschauliches Grün, parkartige Flächen und Bäume, die das Ufer säumten, versetzten Anna sogleich in eine leichte Urlaubsstimmung. Sie merkte, wie die Anspannung, die sie stets in Köln mit sich herumtrug wie einen viel zu schweren Rucksack, von ihr abfiel. Sie suchte sich einen Parkplatz. Egal, wo sie parkte, es würde nicht weit sein bis zu dem Büro des Notars. In Appingedam konnte man gewöhnlich alles fußläufig erreichen. Kaum war sie ein paar Schritte gegangen, kamen auch die Erinnerungen an die kleine Stadt zurück. Auf einer Brücke, die den Damsterdiep überspannte, blieb sie einen Moment am Geländer stehen. Dort hinten, irgendwo direkt am Kanal, lag das alte Haus von Oma Rijke. Ob es schon leer geräumt worden war? Hatte die Großmutter ihre letzten Wochen dort verbracht – oder womöglich in einem Altersheim oder gar im Krankenhaus? Hatte sich überhaupt jemand um sie gekümmert? Vielleicht wusste der Notar etwas darüber. In Annas Magen formte sich ein schmerzhafter Knoten. Es wäre peinlich, danach fragen zu müssen.
Anna zog trotz der sommerlichen Wärme ihre Strickjacke etwas fester um sich und ging langsam weiter.
Pünktlich um fünfzehn Uhr betrat Anna das Notariat. Das Büro war in einem der für Holland so typischen kleinen, gedrungenen Häuser untergebracht, die erst nach dem Betreten des schmalen Flures offenbarten, wie viel Raum sie in sich verbargen.
Eine junge Frau nahm Anna in Empfang.
„Goede dag, hoe kann ik u helpen.“
„Mein Name ist Anna Reuters, ich komme aus Köln, wegen der Testamentseröffnung.“
„Ah, okay. Guten Tag.“ Die junge Frau schaltete gleich souverän auf Deutsch um. Hier oben, so dicht an der Grenze, sprachen die meisten Niederländer recht gut Deutsch. „Sie kommen im Fall Rijke Nelis. Mein Beileid. Ich sage Herrn Meevlies, dass Sie da sind.“ Sie verschwand hinter einer der Türen. Kurz darauf tauchte sie wieder auf. „Hier entlang, bitte.“
Die junge Frau führte Anna in ein Büro und bot ihr einen Stuhl vor einem wuchtigen Schreibtisch an. „Herr Meevlies kommt gleich. Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Tee?“
„Danke, momentan nicht.“ Anna hob kurz entschuldigend die Hand, ihr war immer noch flau im Magen, und da ihr Minute für Minute bewusster wurde, warum sie eigentlich hier war, verstärkte sich das Unwohlsein gerade noch.
„Wenn Sie etwas möchten, sagen Sie bitte einfach Bescheid.“ Die junge Frau lächelte freundlich und verließ den Raum.
Anna hat kaum Zeit durchzuatmen, denn sogleich öffnete sich eine Seitentür, und ein großer Mann um die sechzig trat ein.
„Goede dag, vrouw Reuter. Mijn naam is Meevlies.“ Er streckte ihr energisch die Hand hin, lächelte aber zugleich sehr charmant. „Soll ich Deutsch sprechen? Ist wohl besser – um alles zu erklären.“ Er nahm schwungvoll hinter dem Schreibtisch Platz. „Es tut mir leid, dass ich aus diesem traurigen Anlasses hierher bitten musste. Mein herzliches Beileid hierzu noch einmal.“ Er senkte kurz den Blick und blätterte in einer Akte.
Oma ist tot! Jetzt erst traf es Anna mit schmerzlicher Gewissheit. Natürlich hatte es in dem Brief gestanden, und auch ihre Mutter hatte die Nachricht, wenn auch wenig sentimental, bestätigt. Aber erst hier, in diesem Augenblick traf sie die Realität mit voller Wucht. Ein seltsames Gefühl.
Der Notar fuhr mit geschulter Stimme fort: „Wir sind heute hier, um das Testament der am 21. Mai verstorbenen Rijke Nelis zu eröffnen. Anwesend ist die Enkeltochter der Verstorbenen, Anna Reuter.“
Herr Meevlies sah kurz von der Akte auf, dann sprach er weiter. „Ich erlaube mir vorab schon einmal darauf hinzuweisen, dass Ihre Großmutter nur Sie in dem Testament benennt. Sie haben grundsätzlich die Möglichkeit, das Erbe auszuschlagen. Wenn Sie dies tun, und es gibt keine weiteren Angehörigen oder Erbberechtigten, fällt das Erbe dem Staat zu.“
Anna lachte leise auf. „Na ja, Millionen wird meine Großmutter wohl nicht gehortet haben …“
„Wer weiß.“ Herr Meevlies lächelte sie etwas schelmisch an und entspannte so die gerade etwas nüchtern anmutende Situation.
Wer weiß, wiederholte Anna in Gedanken. Das hörte sich ja fast so an, als ob …
„Also … ich verlese dann jetzt das offizielle Dokument.“ Er räusperte sich.
Ich, Rijke Nelis, geboren am 26.01.1922, verfüge als meinen Letzten Willen Folgendes:
Meine Enkeltochter Anna Katharina Reuter, geborene Ehrmann, geboren am 25.11.1968, erbt meinen gesamten Besitz.
Appingedam im April 2015
Rijke Nelis
Der Notar legte die Akte auf den Schreibtisch und sah Anna an.
Anna räusperte sich verlegen. „Das … das war’s schon?“
Herr Meevlies lächelte. „Nun ja – der förmliche Teil.“ Wieder huschte ein seltsames Lächeln über sein Gesicht. „Kommen wir nun zur Auflistung des Nachlasses.“ Er nahm einige Bögen Papier aus der Akte.
„Es gestaltet sich wie folgt: Ihre Großmutter hatte noch gut siebentausend Euro Sparvermögen. Zu diesem hinterließ sie den Vermerk, dass ein Teil davon für die Beerdigung verwendet werden soll. Dies habe ich bereits gemäß ihrem Willen veranlasst. Ihre Urne wurde auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt. Wir hatten kurz vor ihrem Ableben noch einen Termin, wo sie mir den Auftrag dazu erteilte, mich um alles zu kümmern.“ Er hob leicht die Augenbrauen. „Sie wollte niemanden sonst damit behelligen. Sie war übrigens bis zu ihrem Ableben in einer guten geistigen Verfassung.“
Etwas an seinem Tonfall ließ Anna aufhorchen. Gab es denn ansonsten Zweifel an ihrer geistigen Verfassung?
„Des Weiteren gehören zum Nachlass natürlich das Haus hier in Appingedam sowie das darin enthaltene Inventar.“
„Ja, da werde ich mich dann wohl drum kümmern. War es ihr Haus? Also … Eigentum?“
„Ja, das Haus war Eigentum.“
Noch mal so ein komischer Blick. Dem Notar schien allmählich bewusst zu werden, dass Anna keinen blassen Schimmer von den Verhältnissen ihrer Großmutter hatte.
„Und es gibt noch einen Punkt unter Eigentum. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass dies durchaus auch für mich ein ungewöhnlicher Fall ist.“ Er setzte sich aufrecht hin und faltete die Hände. „Ihre Großmutter hatte Grundbesitz ist Südamerika.“
„Südamerika?“, rutschte es Anna vor Verblüffung etwas zu laut heraus.
„Ja, genau genommen in Surinam.“
„Surinam?“
„Lassen sie mich erklären, vielen ist die Geschichte dieses Landes nicht geläufig. Surinam wurde einst von den Niederladen kolonisiert. Bis 1975 gehörte es zu den Niederlanden. Heute ist es unabhängig, aber Niederländisch ist dort immer noch Amtssprache.“
Anna sah nur fragend über den Schreibtisch. Sie konnte überhaupt keine Verbindung zwischen ihrer Großmutter und diesem Land herstellen, geschweige denn spontan sagen, wo es überhaupt genau lag.
„Frau Reuter, wussten Sie nicht, dass Ihre Großmutter in Surinam geboren wurde und dort auch ihre Jugend verbracht hat?“
„Nein, das höre ich heute zum ersten Mal“, musste Anna etwas kleinlaut eingestehen.
„Nun, wie auch immer – zur Erbmasse gehört ein Grundstücksanteil eines ehemaligen Plantagengrundes mit der Gesamtfläche von zweihundertfünfzig Hektar. Die Gemarkung wird als Plantage Zandwijk betitelt.“
„Plantage? Zweihundertfünfzig Hektar?“ Anna schüttelte fassungslos den Kopf. Ihr Grundstück in Köln war achthundert Quadratmeter groß. Zweihundertfünfzig Hektar waren … auf jeden Fall bei Weitem größer. Sie wusste gar nicht, wie sie mit dieser Information umgehen sollte.
„Und … was befindet sich auf dem Grundstück?“, brachte sie hervor.
„Es tut mir leid, Frau Reuter. Ob es dort etwas anderes als Regenwald gibt, ist mir nicht bekannt. Hier in den Unterlagen liegen noch einige alte Pläne und auch die Übertragungsschreiben dazu. Ihre Großmutter hat dieses Land wohl wiederum von ihrer Mutter geerbt. Aber Genaueres zur Familienhistorie weiß ich natürlich nicht.“ Er öffnete kurz seine gefalteten Hände und legte sie dann auf die Tischplatte. „Sie haben jetzt ja einige Wochen Zeit, sich Gedanken zu machen, was sie mit diesem Grundstück und dem Erbe hier in den Niederlanden anfangen wollen. Das Erbrecht in Surinam entspricht so ziemlich unserem europäischen. Generell dürfen Sie nichts veräußern, bevor sie das Erbe nicht rechtmäßig angetreten haben, weder hier noch dort. Ich kann gerne noch weitere Informationen einholen, wenn Sie dies wünschen, und kann auch für Sie den Kontakt zu den surinamischen Behörden herstellen.“
„Ich … ich bin etwas überrascht, muss ich gestehen.“ Anna musste sich mehrmals räuspern, um überhaupt einen Ton herauszubekommen. „Ich ahnte ja nicht … Warum hat sie davon nie etwas gesagt? Selbst meiner Mutter – ihrer Tochter – war dies meines Wissens nicht bekannt.“
„Nur die Ruhe, Frau Reuter. Dies ist sicherlich eine Überraschung, und alles will wohlbedacht werden. Mein Büro steht Ihnen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite, wenn sie Hilfe brauchen. Ich würde dann jetzt diese Testamentseröffnung schließen. Übrigens bekommen Sie den Schlüssel zum Haus von Mevrouw Nelis von der Nachbarin Ihrer Großmutter. Die Dame hat sich seit deren Tod dort um alles gekümmert.“
„Ja … natürlich, danke.“ Wie in Trance unterschrieb Anna das Papier, das Herr Meevlies ihr zuschob.
Erst Minuten später, als sie wieder in der salzigen Luft am Ufer des Kanals mitten in Appingedam stand, wurde ihr das Gewicht der Worte des Notars bewusst: Ihr gehörte jetzt eine alte Plantage am anderen Ende der Welt. Was das bedeutete, das konnte sie noch nicht recht erfassen. „Bevor ich von dieser Welt scheide, würde ich Dir gerne noch einige Dinge erzählen.“
„Ach Oma – es tut mir leid!“, sagte Anna halblaut und schniefte leise. Sie hatte diese Chance verpasst. Jetzt musste sie die Hintergründe wohl selbst herausfinden.
Anna ging zu Fuß durch die kleine Ortschaft. In der Straße, in der das Haus von Rijke Nelis lag, waren die Parkplätze rar, daran konnte sich Anna noch gut erinnern. Deshalb hatte sie nur schnell ihre Reisetasche aus dem Kofferraum geholt und den Wagen dort stehen gelassen, wo er war.
Die Häuser erhoben sich unmittelbar am Rand der engen Straßen. Nur manchmal trennte sie ein schmales Blumenbeet von der Fahrbahn. Hier und da hatten sich aus diesen kleinen Gärten die Stockrosen bis auf die Bürgersteige gemogelt und erblühten dort in weichen Rosatönen. Anna musste einige Male den Gehweg, der gerade so breit war, dass eine Person darauf laufen konnte, verlassen, um den Pflanzen auszuweichen.
Die alten Häuser trugen niedrige Dächer, und durch die überdimensionierten, tief angesetzten Fenster, deren Simse in Kniehöhe lagen, konnte Anna in so manchen Privatraum blicken. Wehmütig lächelnd ging sie weiter. Daheim in Köln hatte Rüdiger den Garten mit einer hohen Hecke umpflanzen und an jedem Fenster Jalousien anbringen lassen. In Deutschland war es eben nicht üblich, private Einblicke zu gewähren.