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Beschreibung

Kinder sind verletzlich - zahlreiche Risikofaktoren können sie in ihrer Entwicklung beeinträchtigen. Manchmal können Kinder auch schwierigste Lebenssituationen erfolgreich bewältigen - dann spricht man von "Resilienz". Wissenschaftler aus verschiedensten Disziplinen und Ländern stellen aktuelle Ergebnisse der Resilienzforschung vor und leiten neue Wege der (heil-)pädagogischen Förderung von Kindern ab.

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Prof. em. Günther Opp, Institut f. Rehabilitationspädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Prof. Dr. Michael Fingerle, Institut für Sonderpädagogik, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt.

Prof. Dr. Gerhard J. Suess, Institut für klinische und Entwicklungspsychologie, Hochschule für Angewandte Wissenschaften HAW, Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03262-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61906-1 (PDF-E-Book)

978-3-497-61907-8 (EPUB)

5. Auflage

© 2024 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG einschließlich Einspeisung/Nutzung in KI-Systemen ausdrücklich vor.

Printed in EU

Reihenkonzeption Umschlag: Oliver Linke, Hohenschäftlarn

Covermotiv: © istock.com / Choreograph

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de · E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einleitung

von Michael Fingerle, Günther Opp und Gerhard Suess

A Grundlagen der Resilienzforschung

Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz

von Emmy E. Werner

Resilienz: Genetische und epigenetische Faktoren

von Julia Lippold und Martin Reuter

Bindungsdesorganisation und Resilienz: Aktueller Stand der Diskussion über Ursachen und Aussagekraft

von Gottfried Spangler

Selbstregulation: die Entwicklung resilienzfördernder Kompetenzen im frühen Kindesalter

von Günther Opp

Adaptation und Flexibilität – Überlegungen zum Preis der Resilienz

von Michael Fingerle

Psychische Sicherheit als Voraussetzung für psychologische Anpassungsfähigkeit im Rahmen der Bindungstheorie

von Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann

Resilienz: ein Überblick über internationale Längsschnittstudien

von Emmy Werner

B Resilienz in der Lebensspannenperspektive

Frühe Hilfen und Resilienz

von Gerhard Suess

Resilienz im Übergang vom Kindergarten in die Schule

von Susanne Doblinger und Fabienne Becker-Stoll

Traumapädagogische Resilienzförderung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe

von Marc Schmid

Resilienz aus biografischer Perspektive

von Rolf Göppel

Resilienz, Resilienzförderung und Vernetzung

von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Maike Rönnau-Böse

C Resilienz in spezifischen Risikolagen

Resilienz im Erwachsenenalter

von Bernhard Leipold und Christina Saalwirth

Freundschaft als Resilienzfaktor

von Maria von Salisch

Positive Peerkultur als Resilienzpraxis im schulischen Alltag

von Günther Opp und Ariane Bößneck

Trauma, Resilienz und Krise – Formierung, nachhaltige Erschütterung und Transformationspotenziale von Selbst- und Weltverhältnissen

von Mirja Silkenbeumer

Im Schatten des Scheiterns: Ressourcen und Resilienzpotenziale von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte

von Haci-Halil Uslucan und Ilkiz Şentürk

Vulnerabilität und Resilienz – Erkenntnisse für die Arbeit mit autistischen Menschen

von Georg Theunissen

Resilienz – Förderung – Lernen? Resilienz und Service-Learning in pädagogischen Handlungskontexten

von Anne Seifert

Schlussgedanken zum Thema Resilienz

von Gerhard Suess, Günther Opp und Michael Fingerle

Die Autorinnen und Autoren

Register

Einleitung

von Michael Fingerle, Günther Opp und Gerhard Suess

Zehn Jahre sind seit dem Erscheinen der letzten Ausgabe von „Was Kinder stärkt“ vergangen und 20 Jahre seit der Erstauflage. Der lange Abstand machte eine veränderte Neuausgabe nötig, doch er bietet auch Anlass, auf die Entwicklung der vergangenen Jahre zurückzublicken. Der Diskurs über das Phänomen Resilienz ist in manchen Punkten der Gleiche geblieben, doch es kam zu Schwerpunktverschiebungen und Erweiterungen.

Seit Anfang der 2000er Jahre wurde die Bedeutung sozialer Faktoren zu Resilienz wieder stärker hervorgehoben, und in diesem Zusammenhang wurde auch die Kontext- und Kulturabhängigkeit dessen, was unter Resilienz zu verstehen ist, in den Fokus der Forschung und Theorieentwicklung gerückt. Auch die Neurowissenschaften haben Resilienz mittlerweile stärker in den Blick genommen, als das vor der Jahrtausendwende der Fall war, und ihre Erkenntnisse und theoretischen Konzeptionen sind aus dem Diskurs nicht mehr wegzudenken. Es wären noch viele weitere Forscherinnen und Forscher zu nennen, die wichtige Arbeit geleistet haben und leisten, doch an dieser Stelle muss diese eher willkürliche Auswahl genügen. Obwohl in diesen und anderen Arbeiten immer wieder Neudefinitionen des Begriffs Resilienz präsentiert werden, geht es doch im Kern nach wie vor um die erfolgreiche Bearbeitung von Belastungen, Herausforderungen und Entwicklungsrisiken, allerdings weit über die Lebensphase Kindheit hinaus, die diesem Buch ursprünglich den Titel lieh. Im Unterschied zu 1998 und 2004 ist der Begriff „Resilienz“ inzwischen nicht nur in der englischsprachigen, sondern auch in der deutschsprachigen Fachliteratur etabliert und wird weit über die Psychologie und Erziehungswissenschaften hinaus verwendet. Die Alltagsdiskussion hat das Wort integriert und man darf wohl sagen, dass es inzwischen als Lehnwort Eingang in unseren Wortschatz gefunden hat. Gibt man das Stichwort „Resilienz“ bei Google ein, erhält man über 2,6 Millionen Ergebnisse, und auch die Online-Version des Duden kennt das Wort. Mit der inflationären Verwendung des Resilienzbegriffs verbindet sich spürbar die Gefahr einer Begriffsentleerung.

Forschungsarbeiten zur Resilienz decken mittlerweile ein hochgradig unterschiedliches disziplinäres und thematisches Spektrum ab. Es gibt – um nur einige Beispiele zu nennen – Forschungen zu Krieg und Flucht, zu Migration, zum Berufsleben und zur Städteplanung. Die Studien stammen nicht mehr nur aus der Psychologie, Erziehungswissenschaft und Medizin, sondern auch aus den Neurowissenschaften, der Genetik, den Ingenieurswissenschaften, der Personalentwicklung oder der Humangeografie, und sogar in den Medienwissenschaften wird auf Resilienz rekurriert.

Bezöge man auch Studien ein, die sich mit erfolgreichen Bearbeitungen von Belastungen, Herausforderungen und Risiken – um bei der oben erwähnten Kurzdefinition von Resilienz zu bleiben – beschäftigen, ohne jedoch Resilienz als Referenzbegriff zu verwenden, wäre die Forschungslage noch weniger überschaubar. Ein repräsentativer Überblick würde in jedem Falle den Rahmen eines einzelnen Buches sprengen; daher legt dieser Band den Schwerpunkt auf Disziplinen und Themen, die zu Erziehungswissenschaften und Pädagogik einerseits einen direkteren Bezug haben und andererseits einen wissenschaftlichen Bezugsrahmen bieten, der für die Reflektion pädagogischen Handelns von Nutzen ist.

Unser Blick nach vorn ist nicht ohne Wehmut. Emmy Werner ist am 12. Oktober 2017 gestorben. Ihre Forschungsarbeiten auf der Insel Kauai wurden weltberühmt. Sie hat die Grundlagen der Resilienzforschung gelegt und damit nicht nur die Forschung, sondern auch das Feld der Pädagogik verändert und die Sozialpolitik beeinflusst. Als wir 1997 an der Universität Halle eine Konferenz über Resilienz veranstalteten, die Anlass für die erste Ausgabe des vorliegenden Herausgeberbandes war, lernten wir Emmy Werner als einen humorvollen, anteilnehmenden und großzügigen Menschen kennen. Ihr berufliches und menschliches Engagement war unvergleichlich. In ihren Schriften und Vorträgen war sie ein glaubhaftes Beispiel für den Optimismus und die Hoffnung, die sich mit Resilienzvorstellungen verbindet. Wir hoffen, dass es in ihrem Sinne gewesen wäre, dieses Buch mit einem Beitrag von ihr zu beginnen und abzuschließen.

A Grundlagen der Resilienzforschung

Entwicklung zwischen Risiko und Resilienz

von Emmy E. Werner

Wir wissen alle, dass vielfältige biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren die kindliche Entwicklung bedrohen. Wir sehen aber auch häufig Kinder und Jugendliche, die sich trotz chaotischen Familiensituationen und körperlichen Behinderungen zu leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten entwickeln. Heute rücken diese Kinder in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Pädagogen, Psychologen, Psychiater und Soziologen in Nordamerika und Europa suchen jetzt nach den vielfältigen Wurzeln dieser kindlichen Widerstandskraft.

Ich werde jetzt einen kurzen Überblick über amerikanische Längsschnittstudien geben, die schützende Faktoren und Prozesse in der Entwicklung und Erziehung von „Risiko“-Kindern dokumentiert haben.

Die Mehrheit der amerikanischen Längsschnittstudien untersuchten das Leben von Kindern, die trotz elterlicher Arbeitslosigkeit, Armut, Psychose oder Drogensucht die Schule erfolgreich durchliefen. Einige Forscher konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf Scheidungskinder, die die Folgen familiärer Dissonanz und Trennung gut überstanden. Kinderärzte und Psychologen haben auch die Entwicklung und Erziehung von Kindern dokumentiert, die trotz Geburtskomplikationen und körperlichen Behinderungen einen bemerkenswerten Grad von Widerstandskraft zeigen. Sowohl Psychiater als auch Entwicklungspsychologen entdecken jetzt auch individuelle Stärke in den Kindern, die Naturkatastrophen und Bürgerkriege überlebt haben.

Der Begriff „protektiv“ oder „schützend“ beschreibt in diesem Zusammenhang Faktoren oder Prozesse, die dem Kind oder Jugendlichen helfen, sich trotz hohem Risiko normal zu entwickeln. „Resilienz“ oder „Widerstandskraft“ ist das Produkt dieser schützenden Prozesse. Die Forscher, die schützende Faktoren und Prozesse in der Entwicklung und Erziehung von „Risiko-Kindern“ studieren, müssen mehrere methodische Probleme lösen:

1.

wie man die Anpassung der Kinder in verschiedenen Altersstufen bewertet;

2.

wie man „erfolgreiche“ Anpassung operational definiert;

3.

wie man eine Vergleichsgruppe zu Kindern mit einem niedrigen Entwicklungsrisiko findet und

4.

wie lange man beide Gruppen beobachtet.

Das Endprodukt der Entwicklung wird in diesen Längsschnittstudien in vielfältiger Weise definiert – entweder als Fehlen von Lern- oder Verhaltensproblemen oder als erfolgreiche Bewältigung der Entwicklungsaufgaben der Kindheit und Jugend (gemäß dem Erikson-Schema). Die meisten Studien sind nur über kurze Zeiträume angelegt und haben als Brennpunkt das Schulalter. Es gibt wenige Längsschnittstudien, die im Kleinkindalter anfangen und die Jungen und Mädchen bis in das Erwachsenenalter verfolgen.

Eine Ausnahme ist die Kauai-Längsschnittstudie, an der ich seit mehr als drei Jahrzehnten mitarbeite. Bereits in der pränatalen Entwicklungsperiode begann ein Team von Kinderärzten, Psychologen und Mitarbeiter der Gesundheits- und Sozialdienste den Einfluss einer Vielzahl biologischer und psychosozialer Risikofaktoren, kritischer Lebensereignisse und schützender Faktoren in der Entwicklung von 698 Kindern zu studieren, die im Jahre 1955 auf der Insel Kauai in Hawaii geboren wurden.

Wir haben diese Population im Geburtsalter, im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und jetzt auch im Alter von 40 Jahren erfasst (Werner 1993; Werner 1995; Werner 1997; Werner / Smith 1992; Werner / Smith 1998). Bei etwa 30% der überlebenden Kinder in dieser Studienpopulation bestand ein hohes Entwicklungsrisiko, weil sie in chronische Armut hinein geboren wurden, geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waren und in Familien aufwuchsen, die durch elterliche Psychopathologie und dauerhafte Disharmonie belastet waren. Zwei Drittel dieser Kinder, die im Alter von zwei Jahren schon vier oder mehr Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten dann auch schwere Lern- oder Verhaltensprobleme in der Schulzeit, wurden straffällig und hatten psychische Probleme im Jugendalter.

Gleichzeitig entwickelten sich ein Drittel dieser Kinder trotz der erheblichen Risiken, denen sie ausgesetzt waren, zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen. Im Alter von 40 Jahren gibt es in dieser Population im Vergleich mit der normalen Altersgruppe die niedrigste Rate an Todesfällen, chronischen Gesundheitsproblemen und Scheidungen. Trotz einer schweren ökonomischen Rezession (nach der Verwüstung der Insel durch einen Orkan) haben all diese Erwachsenen Arbeit und keiner benötigt Hilfe vom Sozialdienst. Keiner von ihnen hat Konflikte mit dem Gesetz. Ihre Ehen sind stabil, sie schauen hoffnungsvoll und positiv in ihre Zukunft und haben viel Mitgefühl für andere Menschen in Not.

Die Ergebnisse unserer Längsschnittstudie mit asiatischen hawaiianischen Kindern stimmen mit den Berichten von anderen amerikanischen Forschern überein. Die lebensbegünstigenden Eigenschaften und sozialen Bindungen innerhalb der Familie und Gemeinde, die wir in Kauai dokumentiert haben, scheinen Schutzfaktoren zu sein, die in vielen Fällen ethnische und geografische Grenzen überschreiten und einen größeren Einfluss auf den Lebensweg der Kinder ausüben als spezifische Risikofaktoren oder stresserzeugende Lebensereignisse.

1 Schützende Faktoren im Kind (lebensbegünstigende Eigenschaften)

Unsere Ergebnisse mit den widerstandsfähigen Kindern von Kauai und Berichte von anderen Längsschnittstudien in San Francisco, Topeka, Kansas, Minneapolis, Minnesota und Chicago zeigen, dass diese Jungen und Mädchen Temperamentseigenschaften besitzen, die bei Sorge- und Erziehungspersonen positive Reaktionen auslösen. Bereits als Baby wurden sie als „aktiv“, „gutmütig“ und „liebevoll“ bezeichnet. Sie hatten als Kleinkinder, wie auch später als Erwachsene, ein hohes Antriebsniveau, waren gesellig und gut ausgeglichen. Als diese Kinder das Vorschulalter erreichten, waren sie schon sehr unabhängig, aber sie hatten auch die Fähigkeit, Hilfe zu erbitten, wenn dies erforderlich war.

Mein Kollege Tom Boyce, Professor der Pädiatrie an der Universität von Kalifornien, studiert das Kreislaufsystem und die Immunmechanismen von diesen Kleinkindern. Er begann seine Forschung mit der Beurteilung der immunologischen Reaktionen von fünfjährigen Kindern. Sie wurden zuerst eine Woche vor Schulanfang und dann zwölf Wochen lang nach dem Eintritt in die Schule beobachtet. Zufälliger Weise kam es in San Francisco zu einem schweren Erdbeben in der Mitte der Beobachtungsperiode. Die Kinder mit niedriger immunologischen Reaktionen sechs Wochen vor dem Erdbeben hatten eine viel niedrige Rate von Infektionskrankheiten nach dem Erdbeben als die Kinder mit höheren (a priori) Abwehrreaktionen (Boyce et al. 1991).

Boyce und seine Mitarbeiter (Barr et al. 1994) haben auch beobachtet, dass es schon bei Kleinkindern erhebliche Unterschiede in der Schmerzempfindung gibt. Kinder mit Krebserkrankungen, die ihre Aufmerksamkeit von den schmerzhaften klinischen Untersuchungen ablenkten, hatten eine größere Schmerztoleranz als Kleinkinder, für die die klinischen Untersuchungen der Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit wurde. Sie hatten auch weniger Angst vor der Untersuchung und ihr Puls und systolischer Blutdruck waren ausgeglichener. Diese „Distractors“ und „Attenders“ sind anscheinend Typen, deren Lebensanpassung schon in der Kleinkindheit sehr stabil ist.

Wir wissen mehr über die lebensbegünstigenden Eigenschaften der älteren Kinder. Die meisten Längsschnittstudien in Nordamerika befassen sich vorwiegend mit dem Schulalter. Die Ergebnisse dieser Studien sind ähnlich, ganz gleich, ob die Kinder in Hawaii, Kalifornien, Minnesota, Missouri, Maryland oder New York wohnen und ganz gleich, ob sie weiß, schwarz oder asiatisch sind. Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit sind universelle Faktoren in der Entwicklung von Schulkindern, die trotz ungünstiger Lebensumstände „normal“ aufwachsen.

Die Grundschullehrer in der Kauai-Studie waren positiv beeindruckt von den Kommunikations- und praktischen Problemlösungsfähigkeiten dieser Kinder. Obgleich sie intellektuell nicht hochbegabt waren, nutzten diese Kinder, was immer sie als Talente mitbrachten, effektiv aus. Gewöhnlich hatten sie ein spezielles Interesse oder Hobby, das sie mit einem Freund oder einer Freundin teilten. Solche Interessen und Aktivitäten waren nicht geschlechtsabhängig. Ähnliche Ergebnisse wurden von den Studien der Kinder berichtet, die widerstandsfähige Sprösslinge psychotischer Eltern waren (Anthony 1987; Radke-Yarrow / Brown 1993) und die sich trotz chaotischer Familiensituationen normal entwickelt haben (Seifer et al. 1992).

In allen Längsschnittstudien im Schulalter zeigte sich, dass Intelligenz und schulische Kompetenz positiv mit individueller Widerstandsfähigkeit korrelieren. Die Korrelation wird größer, wenn die Kinder älter werden und ist in der Jugendzeit höher als im Kleinkindalter. Intelligente Kinder schätzen stresserzeugende Lebensereignisse realistisch ein und benutzen eine Vielfalt flexibler Bewältigungsstrategien im Alltag und vor allem in Notsituationen.

Andere schützende Faktoren, die im Leben widerstandsfähiger Kinder in unserer Studie in Kauai gefunden und von verschiedenen Studien mit anderen „Risiko“-Kindern in den Vereinigten Staaten bestätigt wurden, waren die Fähigkeit zu überlegen und zu planen. Diese Jungen und Mädchen waren der Überzeugung, dass sie ihr Schicksal und ihre Lebenswelt durch eigene Handlungen positiv beeinflussen können.

Durch die Meisterung frustrierender Situationen, entweder durch ihre eigene Initiative oder mithilfe anderer Menschen, entwickelten diese Kinder auch Vertrauen in sich selbst. „Planful Competence“, Leistungsfähigkeit in der Schule und die Fähigkeit, realistisch die Zukunft zu planen, waren stark mit erfolgreicher Adaptation im Erwachsenenalter korreliert (Clausen 1993; Werner / Smith 2001).

Die widerstandsfähigen Jugendlichen in unserer Kauai-Studie verhielten sich nicht wie stereotypische Mädchen oder Jungen. Beide Geschlechter waren selbstbewusst, aber auch fürsorglich, leistungsfähig und sympathisch. Sie zeigten diese Tendenzen auch im Alter von 32 und 40 Jahren in ihrem Umgang mit ihren Ehegatten, Kindern und Mitarbeitern.

2 Schützende Faktoren in der Familie

Trotz der Belastungen durch familiäre Dissonanz, elterlicher Psychopathologie oder körperlichen Behinderungen hatten die widerstandsfähigen Kinder in unserer Studie die Chance, eine enge Bindung mit mindestens einer kompetenten und stabilen Person aufzubauen, die auf ihre Bedürfnisse eingegangen war. Längsschnittstudien der Sprösslinge psychotischer Eltern und von Kindern, die missbraucht wurden, stimmen alle überein, dass die widerstandsfähigen Kinder unter diesen Umständen doch am Anfang ihres Lebens ein grundlegendes Vertrauen entwickelt haben (Egeland et al. 1993; Herrenkohl et al. 1994; Musick et al. 1987).

Ein Erstgeborenes in einer kleinen Familie, wo das nächste Kind erst zwei Jahre später geboren wurde, hat anscheinend eine größere Chance, eine chaotische Familiensituation erfolgreich zu überstehen als spätgeborene Kinder in einer großen Familie, wo ein Kind gleich nach dem anderen kommt (Furstenberg et al. 1989; Werner / Smith 1992). Ein wichtiger Schutzfaktor in unserer Kauai-Studie war die Schulbildung der Mutter und ihre Kompetenz im Umgang mit ihrem Baby und Kleinkind. Ähnliche Ergebnisse wurden von andern Forschern mit Müttern von verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen in Nordamerika und auch jetzt in Südamerika und Ostafrika berichtet.

In Familien, wo die Mutter krank oder psychotisch ist, können Großeltern (vor allem die Großmutter), ältere Geschwister und auch Tanten eine wichtige Rolle als stabile Pflegepersonen und Identifikationsmodelle darstellen. Die widerstandsfähigen Kinder scheinen ein besonderes Talent zu besitzen, solche „Ersatzeltern“ zu finden. Diese Kinder übernehmen auch oft selbst die Sorge für jüngere Geschwister und Familienmitglieder, die krank oder behindert sind („required helpfulness“).

Die Kauai-Studie und eine Studie von resilienten Kindern in Berkeley, Kalifornien (Block / Gjerde 1986) fanden, dass sich die Erziehungsorientierungen in der Familie, die die kindliche Resistenzfähigkeit stärken, bei Jungen und Mädchen unterscheiden. Widerstandsfähige Jungen kommen oft aus Haushalten mit klaren Strukturen und Regeln, in denen ein männliches Familienmitglied (Vater, Großvater, älterer Bruder oder Onkel) als Identifikationsmodell dient und wo Gefühle nicht unterdrückt werden. Widerstandsfähige Mädchen kommen oft aus Haushalten, in denen sich die Betonung von Unabhängigkeit mit der zuverlässigen Unterstützung einer weiblichen Fürsorgeperson verbindet (Mutter, Großmutter, ältere Schwester oder Tante).

Eine religiöse Überzeugung ist ebenfalls ein Schutzfaktor im Leben von „Risiko“-Kindern. Sie gibt den widerstandsfähigen Jungen und Mädchen Stabilität und ein Gefühl, dass ihr Leben Sinn und Bedeutung hat und den Glauben, dass sich trotz Not und Schmerzen die Dinge am Ende richten werden. Diese Überzeugung spielte eine große Rolle im Leben der japanischen, hawaiianischen und philippinischen Kindern in Kauai, ganz gleich, ob sie Buddhisten, Mormonen, Katholiken oder Protestanten waren. Auch als sie erwachsenen waren, war ein solcher Glaube immer noch ein wichtiger Schutzfaktor in ihrem Leben (Werner / Smith 1992).

Andere Forscher haben eine starke religiöse Überzeugung in afroamerikanischen Jugendlichen gefunden, die erfolgreich Armut und rassistische Vorurteile überwunden haben. Der israelische Soziologe Aaron Antonovsky (1987) nennt diese Überzeugung „a sense of coherence“. Kinder, die moderne Bürgerkriege überlebten und als Erwachsene Mitgefühl mit ihren Mitmenschen haben, berichten, dass ihnen ein solcher Glaube viel geholfen hat (Dalianis 1994).

3 Schützende Faktoren in der Gemeinde

Unsere Untersuchung in Kauai und eine Anzahl anderer Längsschnittstudien in Nordamerika haben übereinstimmend gezeigt, dass widerstandsfähige Kinder und Jugendliche dazu neigen, sich auf Verwandte, Freunde, Nachbarn und ältere Menschen in der Gemeinde zu verlassen und bei ihnen Rat und Trost in Krisenzeiten zu suchen.

Die Verbindungen mit Freunden aus stabilen Familien sowie auch den Eltern dieser Freunde hilft den widerstandsfähigen Kindern, eine positive Lebensperspektive zu entwickeln. Diese Verbindungen helfen besonders den Scheidungskindern und den Sprösslingen von psychotischen Eltern (Anthony 1987; Wallerstein / Blakeslee 1989; Wallerstein / Kelly 1980). Diese Freundschaften sind auch im Erwachsenenalter sehr stabil, vor allem für die Frauen (Werner / Smith 1992).

Ein Lieblingslehrer kann sehr oft ein positives Rollenmodell für diese Kinder sein. Alle resilienten Kinder in der Kauai-Längsschnittstudie konnten auf mehrere Lehrer in der Grundschule oder höheren Schule hinweisen, die sich für sie interessierten und sie herausforderten. Diese Kinder gehen gern zur Schule und machen sie in vielen Fällen zu einer zweiten Heimat. Der britische Psychiater Michael Rutter (1994) und der kanadische Kinderpsychiater Dan Offord fanden, dass positive Erfahrungen in der Schule den Einfluss von Stress im Elternhaus lindern können. Drei Arten von Schulaktivitäten scheinen besonders bedeutungsvoll für „Risiko“-Kinder zu sein:

1.

Aktivitäten, die ihnen helfen, wichtige Erziehungs- oder Berufsziele zu erreichen;

2.

Aktivitäten, die das kindliche Selbstgefühl verstärken und

3.

Aktivitäten, die anderen Menschen in Not helfen.

4 Schützende Prozesse: Verbindungen zwischen schützenden Faktoren im Kind und seiner Umwelt

Im Lebenslauf der widerstandsfähigen Kinder in unserer Studie gab es eine gewisse Kontinuität in der Verbindung zwischen lebensbejahenden Eigenschaften und schützenden Faktoren in der Familie und der Gemeinde. Ihre individuellen Dispositionen führten sie dazu, eine Umwelt auszuwählen, die sie schützt und die ihre Fähigkeiten und ihr Selbstbewusstsein verstärkt.

Es gab zum Beispiel eine positive Verbindung zwischen einem gutmütigen, ausgeglichenen Temperament von Kleinkindern und der Unterstützung, die sie von Pflegepersonen erhielten. Die gleichen Kinder erhielten dann auch in der Schulzeit mehr Unterstützung von Erwachsenen innerhalb der Familie und in der Nachbarschaft. Eine höhere Intelligenz und Leistungsfähigkeit in der Grundschule war auch positiv mit der Unterstützung von Lehrern und Freunden in der Jugendzeit verknüpft und führte zu einem größeren Selbstwertgefühl im Erwachsenenalter.

Die Schulbildung der Eltern (vor allem der Mutter) war positiv mit der Unterstützung der Jungen und Mädchen im Kleinkind- und Schulalter assoziiert. Eltern, die eine höhere Schulbildung hatten, erzogen Kinder mit besseren Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten. Sie hatten auch gesündere Kinder, die weniger in der Schule fehlten und deswegen bessere Leistungen zeigten.

Die lebensbegünstigenden Eigenschaften der widerstandsfähigen Kinder und die Unterstützung, die sie in ihrer Familie und Gemeinde fanden, waren wie Stufen einer Wendeltreppe, die mit jedem Schritt und Tritt das Kind zu einer erfolgreichen Lebensbewältigung führten. Der Lebensweg war nicht immer gradlinig, aber aufwärts gerichtet, der Endpunkt war ein leistungsfähiger und zuversichtlicher Mensch, der hoffnungsvoll in die Zukunft blickt.

Der Einfluss von schützenden Faktoren auf die Anpassungsfähigkeit der Kinder scheint auf den verschiedenen Entwicklungsstufen zu variieren. Konstitutionelle Dispositionen – Gesundheitszustand und Temperamentseigenschaften – haben ihren größten Einfluss in der Säuglingszeit und im Kleinkindalter. Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten ebenso wie das Vorhandensein verantwortlicher, kompetenter „Ersatzeltern“ und Lehrer spielen eine zentrale Rolle als schützende Faktoren in der Schulzeit. In der Adoleszenz sind interne Kontrollüberzeugungen und Zielbestimmtheit wichtige Schutzfaktoren. Die sozialen Verbindungen in der Familie und Gemeinde korrelieren positiv mit einer erfolgreichen Lebensbewältigung in der Kindheit und Jugendzeit, vor allem für die Jungen. Leistungsfähigkeit, Selbstvertrauen, enge Freunde und ein starker Glaube oder Lebenssinn waren wichtige Schutzfaktoren im Erwachsenenalter, vor allem für die Frauen in unserer Stichprobe.

Viele widerstandskräftige Jungen und Mädchen verließen das negative Milieu ihrer Familie und Gemeinde nach der Schulzeit und suchten sich eine Umwelt aus (in Hawaii, in anderen Bundesstaaten oder sogar im Ausland), die mit ihren Lebensvorstellungen und Fähigkeiten besser übereinstimmte. Sie fanden dort ihre schützende Nische!

5 Die Balance zwischen Vulnerabilität und Resilienz

Die Ergebnisse von Längsschnittstudien der „Risiko“-Kinder geben uns eine neue Perspektive: Sie zeigen uns die selbstkorrigierenden Tendenzen, mit denen sich die meisten Kinder vor ungünstigen Lebensumständen schützen können, vorausgesetzt, dass keine schweren Schädigungen des Zentralnervensystems vorliegen. Die Längsschnittstudien zeigen uns auch erhebliche individuelle Unterschiede in den Reaktionen dieser Kinder sowohl auf negative wie auch auf positive Aspekte in ihrer Entwicklung und Erziehung.

Wir müssen im Auge behalten, dass es eine veränderliche Balance zwischen stresserzeugenden Lebensereignissen, die die kindliche Vulnerabilität verstärken, und schützenden Faktoren im Leben der Kinder gibt, die ihre Widerstandskraft stärken. Diese Balance kann sich mit jedem Lebensabschnitt ändern und ist auch abhängig vom Geschlecht des Kindes und dem kulturellen Kontext, in dem es lebt.

Die meisten Studien in Nordamerika haben gezeigt, dass Jungen verletzlicher sind als Mädchen, wenn sie chronischer und intensiver familiärer Disharmonie in der Kindheit ausgesetzt sind. Es gibt auch mehr Jungen als Mädchen mit körperlichen Behinderungen und Lernschwierigkeiten in der Grundschule. Am Ende der Adoleszenz scheinen die Mädchen verletzlicher zu sein und mehr psychische Probleme zu zeigen. Aber dieser Trend kehrt sich im Erwachsenenalter wieder um. In unserer Kauai-Studie gab es mehr Frauen als Männer mit Verhaltungsproblemen, die sich zwischen dem Alter von 18–40 Jahren eingegliedert haben. In den Entwicklungsländern ist es hingegen immer ein höheres Risiko, ein Mädchen zu sein, da die meisten Frauen vom Kleinkindalter bis zum Erwachsenenalter chronisch unterernährt und kränklich sind.

Wir sahen in der Kauai-Studie, dass zwei Töchter von psychotischen Eltern, die keine Lern- oder Verhaltensprobleme in der Kindheit und Adoleszenz zeigten, psychische Probleme in ihrem dritten Lebensjahrzehnt entwickelten. Andere „Risiko“-Kinder, die als Erwachsene leistungsfähig und erfolgreich waren, hatten Angst, dass die Drogensucht ihrer Eltern oder Geschwister einen negativen Einfluss auf ihre eigenen Kinder ausüben. Sie versuchten sich emotional von ihrer Stammfamilie zu distanzieren, aber das war für sie sehr schmerzhaft, und sie entwickelten psychosomatische Symptome – zum Beispiel Kopf- und Rückenschmerzen (Werner / Smith 1992).

Diese Fälle waren in der Minderheit; die Mehrheit der „Risiko“-Kinder in unserer Studie hatte als Erwachsene ihr Leben erfolgreich bewältigt. Im dritten und vierten Jahrzehnt ihres Lebens hatten sie noch viele Gelegenheiten, ihre Situation erheblich zu verbessern. Sie fanden neue Chancen in ihrer Arbeit, in ihrer Ehe, im Militärdienst und im Besuch von Weiterbildungsangeboten der Volkshochschule.

Die protektiven Faktoren und Prozesse, die wir in unserer Längsschnittstudie dokumentierten, waren nicht auf das Schulalter beschränkt.

Wir fanden zum Beispiel, dass die meisten Männer und Frauen, die als Kinder Lernschwierigkeiten hatten, als Erwachsene ihr Leben erfolgreich bewältigt haben – vorausgesetzt, dass sie nicht geistig behindert waren. Fünfzig Prozent hatten einen College Abschluss und 75% hatten stabile Ehen und Berufe. Keiner war arbeitslos. Die Männer arbeiteten meistens in technischen Berufen, die Frauen in der Touristenindustrie. Es gab aber auch Ausnahmen: 10% kamen mit dem Gesetz in Konflikt und 25% hatten Probleme am Arbeitsplatz.

Die erfolgreichen Männer und Frauen, die früher in der Schule Lernschwierigkeiten hatten, akzeptierten ihre Einschränkungen (z. B. im Lesen und Schreiben) und besaßen realistische Leistungsnachweise. Sie hatten auch viel Hilfe von ihrer Familie, ihren Freunden und Ehegatten. Die Ergebnisse anderer Studien von Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten in Kalifornien (Spekman et al. 1992) und im amerikanischen Mittelwesten (Vogel et al. 1993) stimmen mit unseren Resultaten überein.

Die erfolgreichen Männer und Frauen in dieser Population waren nicht passiv, sondern waren überzeugt, dass sie ihre Lebenswelt effektiv beeinflussen können. Sie hatten gelernt, berufliche Herausforderungen und Fehlschläge zu überstehen, ohne Geduld und Selbstvertrauen zu verlieren. In Stresssituationen suchten sie die Unterstützung und Rat ihrer Familien und ihrer Mitarbeiter. Sie hatten eine realistische Einschätzung ihrer Talente und zeigten, trotz ihrer Einschränkungen, eine hohe Leistungsmotivation.

6 Implikationen für Forschung und Praxis

Die Ergebnisse der Längsschnittstudie von „Risiko“-Kindern, die ihr Leben erfolgreich bewältigten, lassen uns hoffen. Das ist eine positive Perspektive für Eltern, Pädagogen, Kinderärzte, Psychologen und alle anderen Professionellen, die mit Kindern arbeiten, welche in schwierigen Lebensumständen aufwachsen oder körperlich behindert sind. Solange eine Balance zwischen Risiko- und Schutzfaktoren für diese Kinder hergestellt werden kann, können sie auch mit schwierigen Bedingungen umgehen.

Interventions- und / oder Präventionsprogramme sollten sich auf die Kinder und Jugendlichen konzentrieren, die verletzlich sind, weil ihnen die wesentlichen lebensbegünstigenden Eigenschaften und sozialen Verbindungen fehlen, die notwendig waren, um negative Lebensbedingungen überwinden zu können. Die Erfassung und Diagnose, d. h., die erste Phase von Interventionsprogrammen für diese Kinder darf sich aber nicht nur auf die Risikofaktoren in ihrer Lebenswelt konzentrieren, sondern muss auch die schützenden Faktoren in der Schule, der Nachbarschaft und der Gemeinde einschließen, die bereits existieren und verwendet werden können, um die Leistungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl dieser Jungen und Mädchen zu steigern.

Wir wissen, dass erfolgreiche Programme, die die Resilienz von „Hochrisiko“-Kindern vergrößern, umfassend, intensiv und flexibel sein müssen. Kompetente und fürsorgliche Erwachsene müssen nicht kurzfristig, sondern mehrere Jahr lang mit diesen Kindern arbeiten (Schorr 1988). In den USA gibt es im Augenblick zwei Interventionsprogramme für „Risiko“-Kinder, die erfolgreich sind:

Das erste Programm, „Project Head Start“, konzentriert sich auf Kleinkinder im Alter von 3–5 Jahren, denen pädagogisch geholfen wird. Die meisten Kinder in diesem Programm sind arm, 15% sind körperlich behindert. Sie werden von alleinstehenden Müttern oder Großmüttern erzogen.

Das zweite Programm ist das „Big Brother / Big Sister-Projekt“ für ältere Kinder und Jugendliche. Eine „große Schwester“ oder ein „großer Bruder“ freundet sich mit einem jüngeren Kind an, das im Schulalter ist. Diese Kinder kommen aus chaotischen Familiensituationen, in denen der Vater oft nicht zu Hause ist. Sie finden jetzt einen jungen Menschen, der ein positives Rollenmodell für sie darstellt und sich mit ihnen ein- oder zweimal pro Woche über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren trifft.

Beide Programme sind erfolgreich: sie vermindern Lernprobleme bei den jüngeren Kindern und Drogensucht und Straffälligkeiten bei den Jugendlichen (Tierney et al. 1995; Werner 1997).

Wir brauchen dringend mehr Forschung, die uns zeigt, wie man andere erfolgreiche Interventionsprogramme für „Hochrisiko“-Kinder in der Schule und Gemeinde organisieren und evaluieren kann.

Ich glaube, dass die Forschung, die sich mit Risiko und Schutzfaktoren beschäftigt, auch eine genetische Perspektive betrachten muss. Ich spreche hierbei nicht nur von den Forschungsprojekten die Minderheiten erfassen, sondern über die vielfältigen Beobachtungen aus Familienstudien, die berichten, dass kritische Lebensereignisse, z. B. elterliche Psychopathologie, Drogensucht und auch die Scheidung der Eltern, verschiedene Kinder in derselben Familie mehr oder weniger belasten. Wir müssen bei „Risiko“-Kindern den Einfluss genetischer Veranlagungen und des Familienmilieus auf die Lebensbewältigung von Geschwistern (vor allem Zwillingen) sorgfältig studieren (Rende / Plomin 1993).

Wir müssen auch herausfinden, welche Schutzfaktoren und Prozesse universell sind und wie die Kultur die kindliche Resistenz beeinflusst. Wir wissen, dass in den Entwicklungsländern die Schulbildung der Mutter (ein Schutzfaktor) einen bedeutsamen Einfluss auf die Lebensbewältigung und Leistungsfähigkeit ihrer Kinder hat. Unterernährung (ein Risiko) korreliert mit einem passiven Temperament und einem niedrigen Energieniveau, sodass die Widerstandskraft der meisten Kinder in der Welt erheblich unterdrückt ist.

Die Resilienzforschung braucht eine universelle Perspektive und eine dynamische Theorie, die Platz macht für selbstkorrigierende Tendenzen im Entwicklungsprozess. Ich habe in unserer Kauai-Studie das Schema der Lebensstufen von Erikson benutzt, aber ich fand, dass die Verbindung zwischen Schutzfaktoren im Kind und seiner Umwelt, die wir in unserer Längsschnittstudie dokumentieren, ein Beweis für die Nützlichkeit der Theorie von Scarr und McCartney (1983) ist, die beschreibt, wie die Menschen ihre eigene Umwelt konstruieren.

Literatur

Anthony, E. J. (1987). Children at high risk for psychosis growing up successfully. In Anthony, E. J. & Cohler, B. (Eds.), The invulnerable child. New York: Guilford.

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Resilienz: Genetische und epigenetische Faktoren

von Julia Lippold und Martin Reuter

Neuere Befunde der Resilienzforschung machen deutlich, dass nicht nur Faktoren der Umwelt die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflussen, sondern dass auch biologische Faktoren, und hier vor allem genetische, eine wichtige Rolle spielen.

Das vorliegende Buchkapitel möchte eine kurze Einführung in diesen Forschungszweig geben und deutlich machen, dass die Genetik nicht immer deterministisch über Gesundheit oder Krankheit entscheidet, sondern mit der Umwelt interagieren kann und dass auch die Umwelt über epigenetische Prozesse einen Einfluss auf unser Genom hat. Diese Gen-Umwelt-Interaktionen sind somit vielversprechende Ansatzpunkt für Präventions- und Therapieansätze.

1 Resilienz versus Vulnerabilität

Die Frage, warum manche Menschen aufgrund von kritischen Lebensereignissen oder Stress psychisch erkranken und manche nicht, ist eine der zentralen Fragen in der Gesundheitsforschung (Garmezy 1991). Psychische Erkrankungen stellen eine der größten wirtschaftlichen Belastungen für unser Gesundheitssystem dar, und die Anzahl der Fehltage am Arbeitsplatz aufgrund psychischer Probleme ist in den letzten beiden Jahrzehnten exponentiell angestiegen (DAK-Gesundheitsreport 2017). Die Zunahme der Prävalenz psychischer Erkrankungen in so kurzer Zeit deutet eindeutig auf einen säkularen Trend hin, d. h. gravierende Umweltbedingungen in einer bestimmten zeitlichen Epoche in der Lebensspanne eines Individuums scheinen ursächlich für dieses Phänomen zu sein. Dennoch häufen sich die Befunde, dass ebenso biologische Faktoren an der Entstehung von psychischen Erkrankungen beteiligt sind (Feder et al. 2009). Während solche Risikofaktoren die Genese von Krankheit begünstigen, können Resilienzfaktoren deren Entstehung verhindern. Oftmals sind Risiko- und Resilienzfaktoren die Kehrseiten ein und derselben Medaille. Das Nichtvorhandensein eines Risikofaktors kann einen Menschen widerstandsfähig / resilient machen und ebenso kann man bei Abwesenheit von protektiven Faktoren krank werden.

2 Genetische Risiko- und Resilienzfaktoren psychischer Gesundheit

Das vorliegende Buchkapitel möchte einen Überblick über die Forschung zu den genetischen Risiko- und Resilienzfaktoren psychischer Erkrankungen geben. Dabei soll besonderer Augenmerk auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gelegt werden. Da man weiß, dass traumatische Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter haben können und teilweise sogar zeitlebens persistent sind, haben auch Befunde, die an Erwachsenen erhoben wurden, einen informativen Wert (Heim / Nemeroff 2001). Zunächst sollen jene statischen genetischen Faktoren, die jedes Individuum schon pränatal in sich trägt, betrachtet werden. Dabei gibt es angeborene Varianten im menschlichen Genom, die wir als Mutationen, oder wenn sie ausreichend häufig in einer Population vorkommen (>1%), als Polymorphismen bezeichnen. Meistens handelt es sich bei solchen Polymorphismen um den Austausch eines einzelnen Buchstaben im Genom (so genannte SNP; engl. single nucleotide polymorphisms; für einen Einstieg in die Thematik der Molekulargenetik s. Reuter et al. 2016). Diese kleinen Unterschiede im Genom (Gesamtheit der Erbinformation eines Individuums) bedingen die genetisch erklärbare Unterschiedlichkeit zwischen Menschen und somit u. a. auch mutmaßlich die Anfälligkeit oder Widerstandsfähigkeit gegenüber Erkrankungen. Eines der am besten untersuchten Gene in Bezug auf psychische Erkrankungen wie Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) und Angststörungen ist das FKBP5-Gen, das sowohl Immunparameter beeinflusst als auch eine wichtige Rolle bei der Regulation der endokrinen Stressantwort spielt (Beeinflussung von Glukokortikoidrezeptoren im Zellkern). In einer Stichprobe von mehr als 1500 amerikanischen Veteranen europäischer Herkunft konnten 4 SNP auf dem FKBP5-Gen mit der Stärke der PTSD-Symptomatik in Zusammenhang gebracht werden (Watkins et al. 2016). Für die Qualität der Studie spricht, dass diese genetischen Befunde auch in einer zweiten Studie an über 500 Veteranen repliziert werden konnten.

3 Gen-Umwelt-Interaktionen

Einige der Polymorphismen interagierten zudem mit der Erfahrung von kindlichem Missbrauch. Missbrauchserfahrungen zusammen mit dem Vorhandensein von genetischen Risikofaktoren steigerte nochmals die Stärke der PTSD-Symptomatik, während in Abwesenheit von kindlichem Missbrauch die genetischen Risikofaktoren weniger starke Auswirkungen zeigten. Der Zusammenhang von externen Faktoren, also Umweltfaktoren, denen ein Individuum im Verlauf seiner Lebensspanne begegnet, und internen Faktoren, also anlagebedingten Faktoren, wird in integrativen Modellen wie dem Vulnerabilitäts-Stress-Modell beschrieben (Monroe / Cummins 2015). Die von Watkins et al. (2016) beschriebene Interaktion zwischen dem durch den Polymorphismus bedingten Genotypen (Vulnerabilität) und der Erfahrung von kindlichem Missbrauch (Stress) findet sich in diesem Modell wieder. Erst die Interaktion entscheidet über das Ausmaß der PTSD-Symptomatik. Darüber hinaus weiß man sicher, dass psychische Erkrankungen, wie z. B. Depressionen, PTSD oder Angststörungen nicht monogenetisch bedingt sind, sondern dass viele Gene pathogenetische Faktoren im Sinne einer Vulnerabilität sein können. Einzelne Polymorphismen können nur kleine Anteile der genetischen Variabilität erklären. Demgemäß ist es nicht verwunderlich, dass neben dem FKBP5-Gen noch andere Kandidatengene psychische Erkrankungen wie z. B. PTSD bedingen (Sullivan et al. 2012). So konnten Liberzon et al. (2014) eine signifikante Interaktion zwischen dem Promoter SNP rs2400707 auf dem ADRA2B-Gen, das für den α2b-Adrenorezeptor kodiert, und dem Vorliegen von traumatischen Kindheitserfahrungen auf PTSD identifizieren. Träger des AA-Genotyps zeigten eine geringere Anzahl von PTSD-Symptomen, wenn sie zugleich über mindesten zwei Arten von negativen Kindheitserfahrungen berichteten. Dieses Ergebnis fanden die Autoren zunächst in einer Stichprobe von N=810 vorwiegend männlichen amerikanischen Soldaten europäischer Herkunft und konnten diesen Befund in einer Replikationsstichprobe von über 2000 hauptsächlich weiblichen, afroamerikanischen weiblichen Teilnehmern eines Traumaprojektes replizieren. Der α2b-Adrenorezeptor ist von großer Bedeutung für die Neurotransmission der stressrelevanten Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin. Insbesondere zentralnervöses Noradrenalin moduliert Kurzzeitgedächtnisprozesse und die Konsolidierung von emotional erregender Informationen in das Langzeitgedächtnis (Maheu et al. 2004). Ein weiterer Polymorphismus auf den ADRA2B-Gen, die Deletionsvariante rs29000568, erwies sich hier als ein guter Prädiktor. In einer Stichprobe gesunder Versuchspersonen zeigten Träger der Deletion (Verlust von neun Basen auf dem Gen) verbesserte Gedächtnisfunktionen für emotionales Stimulusmaterial (Quervain et al. 2007; Rasch et al. 2009). Dieser Befund konnte in einer Stichprobe von über 200 Überlebenden des Bürgerkriegs in Ruanda bestätigt werden (Quervain et al. 2007). Obwohl eine verbesserte Erinnerungsfähigkeit für emotionale Gedächtnisinhalte aus evolutionärer Sichtweise durchaus adaptiv ist, ist das Gegenteil der Fall, wenn es sich um extrem belastende traumatische Ereignisse handelt. In der Flüchtlingsstichprobe erlebten Träger der ADRA2B-Deletionsvariante signifikant mehr Symptome pro erlebtem traumatischem Ereignis wieder, als Flüchtlinge ohne Deletion. Mit der PTSD-Diagnose per se war der Polymorphismus jedoch nicht assoziiert. Dennoch scheint der kausale Pfad des ADRDA2B-Gens bis zur Erkrankung an PTSD mutmaßlich über basale kognitive Prozesse, hier die Konsolidierung emotional belastender Gedächtnisinhalte, zu gehen. In einer eigenen Bildgebungsstudie konnten wir zeigen, dass Träger sich von Nichtträgern der ADRA2B-Deletionsvariante rs29000568 in der funktionellen Konnektivität der Amygdala beim Bearbeiten von Gedächtnisaufgaben unter Stress unterschieden (Wirz et al. 2017). Die Amygdala, eine phylogenetisch alte Hirnstruktur, die im limbischen System lokalisiert ist, ist das für die Verarbeitung von Emotionen (insbesondere negative Emotionen wie Angst) wohl prominenteste Areal im zentralen Nervensystem (LeDoux / Pine 2016). Ein ähnlicher Zusammenhang konnte zwischen einem Polymorphismus auf dem SLC6A4-(Serotonintransporter-)Gen und der Aktivierung der Amygdala gezeigt werden. Serotonin, ein Gewebshormon und Neurotransmitter, ist an zahlreichen Prozessen des zentralen und peripheren Nervensystems beteiligt. Im Zentralnervensystem finden sich serotonerge Neurone primär im Mittelhirn in den Raphe-Kernen. Von dort projizieren sie unmittelbar und mittelbar in fast alle Teile des Gehirns. So ist Serotonin neben z. B. der Thermoregulation, der Darmmotilität (Bewegungsfähigkeit des Darmes) und der Vasokonstriktion (Gefäßverengung) auch an der Regulierung emotionaler Prozesse wie der Hemmung von Impulsivität und Aggressivität beteiligt. Auf neurochemischer Ebene deutet ein Mangel der für die Serotoninproduktion relevanten Aminosäure (L-Tryptophan) oder Serotonin selbst, häufig auf depressive Verstimmungen hin. Eine genetische Verankerung findet dies im 5-HTTLPR (engl. serotonin transporter gene linked polymorphic region), ein Polymorphismus in der Promoterregion des SLC6A4-Gens (Fleurkens et al. 2018). Der Deletions-Polymorphismus besteht aus einer Längenvariation von 43 Basenpaaren, bei dem es insbesondere zu zwei Allelvarianten kommt, dem s-Allel (s=short) und dem l-Allel (l=long). Dabei führt das s-Allel zu einer dreifach verminderten basalen Transkriptionsaktivität in der Promotorregion. Heterozygote und homozygote Träger des s-Allels zeigen, anders als homozygote l-Allel-Träger, unabhängig von Alter und Geschlecht eine größere bilaterale Aktivierung in der Amygdala auf emotionale Stimuli (wütende und traurige Gesichter) gegenüber neutralen Stimuli (neutrale Gesichter; Hagen et al. 2011). Diese Ergebnisse deuten auf eine genetisch bedingte Hyperreagibilität gegenüber aversiven Stimuli hin, welche im Zusammenhang mit negativen Lebensereignissen die Genese von psychischen Krankheiten begünstigt. Eine Studie von Bogdan et al. (Bogdan et al. 2014) zeigte einen vergleichbaren Einfluss des 5-HTTLPR bei Kindern. Bereits bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren zeigte sich, dass negative Lebensereignisse insbesondere bei Trägern des s-Allels die Pathogenese von depressiven Symptomen bis hin zur Depression moderierten. Bei Zunahme der Anzahl solcher aversiven Lebensereignisse zeigt sich ein positiver Zusammenhang mit dem Ausmaß der depressiven Symptomatik. Dagegen zeigten sie bei Abwesenheit dieser kritischen Lebensereignisse geringere Symptomatik, auch generell gegenüber Kindern, die Träger des l-Allels waren. Auf Kinder mit l-Allel zeigten negative Lebensereignisse generell einen geringeren Einfluss. Entsprechend der Befunde bei Erwachsenen deuten auch bei Kindern die verschiedenen Genotypen des 5-HTTLPR auf Unterschiede in der Reagibilität auf externe Faktoren hin (s-Allel-Träger zeigen eine erhöhte Reagibilität). Dies steht im Einklang mit den oben beschriebenen Ergebnissen der Untersuchungen der Amygdala-Aktivität. Im Umkehrschluss kann folglich angenommen werden, dass Träger des l-Allels einen genetischen protektiven Faktor besitzen.

4 Epigenetische Faktoren

In einer weiteren Humanstudie wurden post mortem die Glukokortikoid-Rezeptor-Gen (NR3C1) mRNA-Expression und deren Promoter Methylierung im Hippocampus bei Suizidopfern untersucht, die eine positive oder negative Historie im Bezug auf kindlichen Missbrauch aufzeigten, sowie an einer nichtsuizidalen Kontrollgruppe (McGowan et al. 2009). Bei den Suizidopfern mit kindlichen Missbrauchserfahrungen zeigte sich eine erhöhte Methylierung des NR3C1-Gens und eine damit einhergehende erniedrigte mRNA-Expression (= geringeres Ablesen des Gens).

Es bleibt festzuhalten, dass nicht nur negative, sondern auch positive Umwelterfahrungen sich als Risiko- bzw. protektive Faktoren im Epigenom (Beschreibung der Gesamtheit von epigenetischen Zuständen) manifestieren können.

5 Fazit und Ausblick

Zusammengefasst exemplifizieren die aufgeführten Studien zwei Kernaussagen: Zum einen gibt es genetische Prädispositionen, welche Risiko-oder protektive Faktoren darstellen können und im Sinne von Vulnerabilitäts-Stress-Modellen in Interaktion mit Umweltfaktoren besonders bedeutsam werden können. Zum anderen kann es zu einer epigenetischen Prägung durch externe Faktoren, wie z. B. Missbrauchserfahrungen, mütterlicher Fürsorge, aber auch psychologische Resilienzfaktoren, wie Kontrollüberzeugung, kommen. Dieser Einfluss kann durch Manifestierung im Epigenom an Folgegenerationen weitervererbt werden. Die dargestellten Kernbefunde lassen die Bedeutsamkeit einer aktiven positiven Gestaltung der Umwelt erkennen. Durch Stärkung von psychologischen Resilienzfaktoren kann Einfluss auf das komplexe System von Resilienz- und Risikofaktoren vor dem Hintergrund der Genetik und Epigenetik genommen werden. Insbesondere in der Kindheit, in der die Grundsteine für das gesamte Leben gelegt werden und die Suche nach dem Selbst und einem Platz in der Gesellschaft beginnt, sollte dies Beachtung finden. Dennoch können epigenetische Veränderungen über die gesamte Lebensspanne, pränatal beginnend bis zum Tod, auftreten, aber auch wieder rückgängig gemacht werden. Wichtig ist zudem, dass das gesamte Kontinuum von alltäglichen (z. B. elterliche Bindungsstile, Coaching) bis hin zu klinischen Kontexten (z. B. [Pharmako-]Therapie) epigenetische Veränderungen bewirken kann.

Die oben dargelegten Ausführungen stellen somit auch ein Plädoyer für genetische und epigenetische Grundlagenforschung dar. Diese hilft uns ein breiteres Verständnis für die pathophysiologischen Vorgänge des Körpers und der Psyche zu entwickeln und ermöglicht die Identifikation von möglichen Risikogruppen. Dies dient insbesondere der Prävention von Krankheit und kann somit dem eingangs beschriebenen exponentiellen Anstieg der Belastung unseres Gesundheitssystems durch psychische Erkrankungen und dem Leid der einzelnen betroffenen Menschen entgegenwirken. Wichtig ist, uns klarzustellen, dass genetische und epigenetische Faktoren nur ein statistisches Risiko darstellen, die Gesundheit oder Krankheit mehr oder minder stark beeinflussen können, aber so gut wie nie determinieren.

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Bindungsdesorganisation und Resilienz: Aktueller Stand der Diskussion über Ursachen und Aussagekraft

von Gottfried Spangler

1 Resilienzbegriff der modernen Entwicklungspsychopathologie

Die moderne Entwicklungspsychopathologie hat mit dem so genannten Risiko-Schutz-Modell Vorstellungen über deterministische Erklärungen abweichender Entwicklung überwunden. Sie postuliert eine multikausale Erklärung, die von einem Zusammenwirken unterschiedlicher Risikofaktoren, die zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit abweichender Entwicklung beitragen, mit unterschiedlichen Schutzfaktoren ausgeht, die dazu beitragen, dass trotz vorliegender Risikofaktoren eine gesunde Entwicklung erfolgt (Rutter 2012). Schutzfaktoren können einerseits im familiären oder weiteren sozialen Umfeld liegen (z. B. in darin gewährter Unterstützung), andererseits aber sind es Merkmale aufseiten des Kindes, die seine Resilienz (Widerstandsfähigkeit) konstituieren, also die Fähigkeit, relativ unbeschadet mit belastenden Lebensumstände und deren Folgen umzugehen und Bewältigungskompetenzen zu entwickeln. Solche Merkmale (z. B. Intelligenz, Selbstwert, Selbstwirksamkeit) können selbst Entwicklungs- und Erfahrungsprozessen unterworfen sein, können sich also im Verlauf der Entwicklung auch dynamisch verändern und in unterschiedlichen Entwicklungsphasen auch spezifisch wirksam sein. Im Gefüge der Risiko- und Schutzfaktoren spielen dabei die kindlichen Bindungen eine besonders wichtige Rolle.

2 Unterschiede in der Bindungsqualität: Bindungssicherheit und Bindungsdesorganisation

Die Bindungsentwicklung stellt eine zentrale Entwicklungsaufgabe im Kleinkindalter dar, deren Bewältigung wesentlich zur weiteren Anpassung in der kindlichen Entwicklung beiträgt (Bowlby 1969; Sroufe 1979). Während sich eine Bindung speziestypisch bei allen Kindern ausbildet (wenn eine Bezugsperson vorhanden ist), können schon mit einem Jahr individuelle Unterschiede in der Bindungsqualität festgestellt werden, die in emotionalen Anforderungssituationen auftreten. In diesen kommt es zur Aktivierung des Bindungsverhaltenssystems, und somit werden spezifische Bindungsstrategien beobachtbar (Ainsworth et al. 1978). Bindungsunterschiede zeigen sich zum einen im Hinblick auf die Sicherheit der Bindungsbeziehung und zum anderen in der Kohärenz oder Organisation des Verhaltensmusters.

Ainsworth et al. (Ainsworth et al. 1978) haben drei verschiedene Bindungsmuster beschrieben, die sich im Hinblick auf Bindungssicherheit unterscheiden: das sichere, das unsicher-vermeidende und das unsicher-ambivalente Muster. Während sicher gebundene Kinder negative Gefühle kommunizieren und durch Bindungsverhalten Nähe zur Bezugsperson herstellen und sich dadurch relativ schnell emotional regulieren können, zeigen unsicher-vermeidende Kinder kaum emotionale Betroffenheit und Bindungsverhalten und vermeiden die Nähe zur Bezugsperson. Unsicher-ambivalente Kinder dagegen zeigen deutlich emotionale Reaktionen, suchen auch die Nähe zur Bezugsperson auf, drücken aber gleichzeitig deutlichen Ärger aus, sind aber nicht in der Lage, sich mithilfe der Bezugsperson wieder emotional zu regulieren.

Main und Solomon (Main / Solomon 1986) haben darüber hinaus die desorganisierte Bindung beschrieben. Typisches Merkmal von Kindern mit desorganisierter Bindung ist das Fehlen kohärenter Verhaltensstrategien bei der Wiedervereinigung nach einer Trennung von der Bezugsperson (Main / Solomon 1990); eine durchgängige Verhaltensorganisation kann in emotional anfordernden Situationen also nicht festgestellt werden. Verhaltenskennzeichen beim Kleinkind sind widersprüchliches Verhalten, unvollständige und unterbrochene Bewegungen, Stereotypien, Verwirrung oder Angst. Desorganisation stellt eine intensive Alarmreaktion des Kindes dar, bedingt durch einen starken Konflikt des desorganisierten Kindes zwischen Annäherung an die Bezugsperson (ausgelöst durch Kummer oder Angst) und Vermeidung / Rückzug, da Angst oder Kummer durch die Bezugsperson selbst ausgelöst wird (Main / Solomon 1990). Dieser Konflikt kommt in den genannten mehr oder weniger subtilen oder intensiven auf kindliche Desorganisation hinweisenden kindlichen Verhaltensweisen zum Ausdruck. In späteren Entwicklungsphasen (ab Ende des Vorschulalters) zeigt er sich in kontrollierendem (fürsorglichen oder bestrafenden) Verhalten gegenüber der Bezugsperson (Main / Cassidy 1988).

Die Interpretation dieser Verhaltensweisen als desorganisiert wird unterstützt durch empirische Befunde zur Beteiligung von biologischen Systemen in der emotionalen Regulation von desorganisierten Kindern, die auf defensive Prozesse oder unangemessenes Coping in bindungsbezogenen emotionalen Belastungssituationen hinweisen. Dies zeigt sich beispielsweise in kardiovaskulärer Aktivierung als Indikator erhöhter Copinganstrengungen (Spangler / Grossmann 1993; Spangler / Grossmann 1999) oder in hormonellen Stressreaktionen, die mit der Dysfunktionalität bzw. Ineffizienz behavioraler Regulationsstrategien assoziiert sind (Spangler / Grossmann 1993; Hertsgaard et al. 1995). Spangler und Schieche (Spangler / Schieche 1998) konnten zudem zeigen, dass bei desorganisierten Kindern Emotionsausdruck als Mittel für eine effiziente dyadische Emotionsregulation in der Bindungsbeziehung, die zur Herabregulierung des HPA-Systems führen sollte, eingeschränkt scheint.

Auch wenn Desorganisation mit Entwicklungsrisiken assoziiert ist (s. Abschnitt unten), ist sie klar zu differenzieren von klinisch bedeutsamen Bindungsstörungen. Während Bindungsstörungen oder nach dem DSM-5 auch die Beziehungsstörung mit Enthemmung (Falkai / Wittchen 2015) vor allem bei Kindern auftreten, die wenig Möglichleiten haben, kontinuierliche Bindungen aufzubauen bzw. sie aufrechtzuerhalten, ist Desorganisation ein bezugspersonenspezifisches Phänomen, welches innerhalb von spezifischen Bindungsbeziehungen auftreten kann und stellt keine Bindungsstörung dar (Granqvist et al. 2017).

3 Bindungssicherheit als Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung

Während aufgrund der empirischen Befundlage davon ausgegangen werden kann, dass die kindliche Erfahrung von Bindungssicherheit Bedeutung für eine positive Kompetenzentwicklung insbesondere für die sozial-emotionale und Persönlichkeitsentwicklung besitzt (Suess et al. 1992; für einen Überblick s. Thompson 2016), so sind die Effekte jedoch keineswegs deterministisch und nur teilweise im Sinne von Haupteffekten gegeben. Vielmehr lassen insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von abweichendem Verhalten bzw. psychischen Störungen Einflüsse früher Bindungserfahrungen häufig im Rahmen des Risiko-Schutz-Modells einordnen (DeKlyen / Greenberg 2016). So kann eine sichere kindliche Bindung als Schutzfaktor bzw. Resilienzmerkmal betrachtet werden, das insbesondere beim Vorliegen von Risikofaktoren wirksam wird.

Diese Schutzfunktion ist in mehrfacher Hinsicht erklärbar (Spangler / Bovenschen 2013; Spangler / Zimmermann 1999; Zimmermann 2000). Zum einen bietet Bindungssicherheit positive Voraussetzungen für eine gesunde Kompetenz- bzw. Persönlichkeitsentwicklung, spezifisch von Merkmalen, die von Werner (Werner 1993) als separate Schutzfaktoren betrachtet werden (z. B. sozial-emotionale Kompetenzen, Autonomie, Selbstwertgefühl; Thompson 2016). Bindungssicherheit trägt also aus der ontogenetischen Perspektive zur Entwicklung weiterer Schutzfaktoren bei. Zum anderen erfüllen sichere Bindungen aktual-genetisch betrachtet im Belastungskontext eine wichtige Regulationsfunktion. Sicher gebundene Kinder nehmen bei Belastung auftretende negative Gefühle (Kummer, Angst, Ärger) adäquat wahr, können sie ausdrücken und offen kommunizieren, erhalten dadurch Unterstützung durch die Bindungsperson nicht nur bei der Regulation der Gefühle, sondern auch bei der Lösung der zugrunde liegenden Probleme. Somit führen sichere Bindungen nicht nur zur Verminderung von Stress und Belastung im kritischen Kontext, sondern langfristig als Schutzfaktoren auch zur Risikomilderung bezüglich abweichender Entwicklung. Schließlich lassen sichere Bindungen einen Interventionserfolg prognostisch wahrscheinlicher werden, wenn bei Vorliegen emotionaler Störungen und Verhaltensproblemen Interventionen notwendig sind. Gerade bei psychotherapeutischen oder beraterischen Interventionen wird versucht, über die Beziehungsebene Veränderungen herbeizuführen, da bei sicherer Bindung Vertrauen in den Beziehungsaufbau und Bereitschaft zur Annahme von Hilfsangeboten erwartet werden kann.

4 Bindungsdesorganisation als Risikofaktor für die kindliche Entwicklung

Während bei Kindern mit unsicherer Bindung die Schutzfunktion einer sicheren Bindung fehlt, so gelingt es diesen Kindern immerhin noch, eine gewisse (wenn auch aus bindungstheoretischer Sicht nicht adäquate) Regulation im Kontext. So besitzt die vermeidende Strategie nach Main (Main 1981