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Tragisch, herzzerreißend, markerschütternd – diese Liebesgeschichte ist größer als das Leben! Die sechzehnjährige Izzy ist nicht gerade begeistert, als sie mit ihren Eltern von Manhattan nach Brooklyn ziehen muss. Wie soll sie hier Freunde finden? Alle Leute in ihrem Alter sind mit ihren Machtspielchen beschäftigt, in ihrer Hackordnung gibt es keinen Platz für Neue. Doch dann begegnet Izzy Tristan, dessen Cousin Marcus der Boss im Block ist. Izzy und Tristan verlieben sich auf den ersten Blick ineinander. Niemand ahnt, dass die beiden sich heimlich treffen, schon gar nicht Tristans Cousin. Doch als Marcus ausgerechnet Izzy als seine neue Freundin herauspickt, nimmt die Tragödie ihren Lauf. »Es gibt Momente, in denen die Zeit stehenbleibt. Plötzlich weißt du, dass vor dir jemand steht, der auf irgendeine Weise Teil deiner Zukunft sein wird. Als ich Tristan zum ersten Mal sah, war das so ein Moment. Wir sahen uns an, und alles war klar. Ich wusste, dass ich mir jedes Detail seines Gesichts genau einprägen musste, damit ich mich später an alles erinnern könnte.« In einer idealen Welt könnten Izzy und Tristan das absolute Traumpaar sein und beweisen, dass Liebe alle Gräben überwindet. Doch diese Welt ist nicht ideal. Für Fans von »Eleanor & Park« und Angie Thomas.
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Seitenzahl: 375
Veröffentlichungsjahr: 2019
Shannon Dunlap
we will fall
Eine Liebesgeschichte
Aus dem amerikanischen Englisch von Henriette Zeltner
FISCHER E-Books
Für alle, die verstehen,
dass Liebe die Zeit überwindet.
Während wir leben, lass uns die Liebe erhalten,
damit wir nach unserem Leben darin ewig weiterleben.
Anne Bradstreet, 1612–1672
Das hier ist kein Roman. Es ist eine Liebesgeschichte.
Eine Liebesgeschichte – Mrs Dwyer hat uns das in der Zehnten in Englisch beigebracht, als ich noch auf meine alte Schule ging –, eine klassische Liebesgeschichte ist eher so was wie ein Märchen. Sie handelt von Idealen, Geheimnissen und Obsessionen. Versucht man, die Figuren einer romantischen Liebesgeschichte zu klar zu umreißen, entgleiten sie einem, werden abstrakt und driften in Richtung Märchen davon.
Glaubt mir, im Moment fühle ich mich nicht gerade wie in einem Märchen. Ich will nicht von Sisyphos anfangen, aber meine tägliche Routine hier an diesem Schreibtisch ist das Gegenteil von märchenhaft. Meine Erzählperspektive, wie Mrs Dwyer es wohl genannt hätte, ist die eines rastenden Zugvogels, der keinen Drang verspürt, weiterzufliegen.
Damals jedoch war alles anders, ich war anders und hatte vermutlich auch romantische Gefühle. Romantisch im gebräuchlichen, alltäglichen Sinn, mit roten Rosen und Liebesgedichten, aber auch im akademischen Sinn, denn ich war ganz gefangen im Märchen meiner eigenen Geschichte. Tristan empfand ich übrigens auch immer so. Tristan, der so wunderbar war, dass seine Umrisse verschwammen, als existiere er gar nicht wirklich. Tristan – das Ideal, das Mysterium, die Obsession. Ich sah das alles schon, als ich ihn zum allerersten Mal erblickte. Damals wollte ich seinen Schmerz schlucken oder wie ein Bonbon in meinem Mund schmelzen lassen, bis er ein Teil von mir würde.
Vielleicht ist ja genau das passiert. Vielleicht war das die Ursache aller Schwierigkeiten, die dann folgten.
Aber ich greife vor.
Mrs Dwyer hat uns auch erklärt, dass die Bezeichnung novel für Roman vom italienischen novella kommt, was neue kleine Geschichte bedeutet. Gemeint ist also etwas Frisches, etwas, das zum Zeitpunkt der Entstehung des Begriffs niemand zuvor versucht hatte. Und wisst ihr, auch deshalb kann das hier kein Roman sein, weil es um nichts Neues geht. Es geht um die älteste Sache der Welt. Um Liebe.
Tristan
Marcus sitzt ein paar Meter hinter mir auf einer Parkbank, und obwohl meine Augen auf das Brett gerichtet sind, weiß ich genau, was ich sehen werde, wenn ich mich umdrehe. Er streckt seine langen Arme aus, nimmt Raum ein, einfach weil er es kann. Dadurch müssen sich seine Lakaien an den Rand der Bank klemmen oder mit dem Platz dahinter begnügen: Tyrone, K-Dawg, Frodo – allesamt weniger charismatisch als die Figuren auf dem Brett und mit ungefähr genauso viel Hirn. Ich höre Marcus gähnen und weiß, was für eine große Show er daraus macht, seine Cap zurechtzurücken und die Augen zu schließen, als könnte ihm nichts gleichgültiger sein als diese Partie.
»Yo, T, dauert das noch lange?«, fragt er. Als ich vor zwei Jahren nach Brooklyn und zu Auntie Patrice zog, pflegte Marcus mich Lil’ T zu nennen, weil Tyrone schon T hieß. Aber das war, bevor ich anfing, für ihn am Schachtisch Geld zu verdienen.
»Es dauert, solange es dauert«, murmelt Antoine. Ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie er die Arme vor der Brust verschränkt hält. Er ist nervös. Und das sollte er auch sein, denn seinem Mann, diesem fetten puertorikanischen Jungen mir gegenüber am Tisch, gehen die Optionen aus. Deshalb versucht er es, seinen Turm heimlich in eine bessere Position zu bringen. Schlechter Zug.
»Es dauert, solange es dauert«, sage ich, ohne den Blick vom Brett zu heben. »Sagt man so. Aber es ist fast vorbei. Schach.«
Ich kann spüren, wie sich hinter mir langsam ein Grinsen auf Marcus’ Gesicht ausbreitet.
Von dem Punkt an ist es Routine, inklusive des Geschreis ein paar Züge später, als ich das Schachmatt verkünde. (Und ich muss es immer verkünden, weil die Leute einen Killerzug nicht mal dann erkennen, wenn er ihnen mit dem nackten Arsch ins Gesicht springt.)
»Gut gemacht, Lil’ T«, sagt Tyrone und boxt mir gegen die Schulter.
»So klein ist der gar nicht mehr, was, Tyrone?«, sagt Frodo. Frodo ist selbst so klein und hässlich, dass die einzige echte Freude in seinem Leben darin besteht, sich wichtiger als Tyrone zu fühlen.
Ich ignoriere beide, genauso wie Antoine, der rübergeht, um Marcus zu bezahlen. Stattdessen konzentriere ich mich darauf, dem fetten Jungen die Hand zu schütteln. Ich will gar nicht wissen, wie viele Dollars Marcus auf solche Spiele setzt. Das stört mich beim Spielen.
»Gute Partie«, sage ich und sehe dem fetten Jungen zum ersten Mal an diesem Tag direkt in sein Puppengesicht. Er ist jung, vielleicht erst vierzehn, und seine Gefühle sind von Kopf bis Fuß unübersehbar. Er hat versucht, mir mit einer seltsamen Eröffnung namens Orang Utan eine Falle zu stellen. Der Junge hat Mut, wenn auch noch nicht die entsprechende Erfahrung.
»Yeah«, sagt er, »für dich vielleicht.«
»Hey«, sage ich und senke meine Stimme, »du solltest nicht mit Antoine abhängen. Kein guter Umgang, Mann.«
Der fette Junge grinst. »Yeah. Marcus etwa nicht?«
Und dann ist es Zeit zu gehen, den Park zu verlassen, die Lakaien loszuwerden, mit Marcus nach Hause zu laufen, vielleicht noch einen Joint mit ihm zu rauchen, um vom Adrenalin der Partie runterzukommen. Und es ist Zeit, den armen fetten Jungen zurückzulassen, bevor er ein bisschen von Antoine runtergemacht wird.
Die Luft heute Abend ist schon ein bisschen kühl, das erste Anzeichen von Herbst in diesem Jahr, aber während wir den Eastern Parkway runterschlendern, trägt Marcus immer noch kurze Ärmel. Ich weiß, dass er das wahrscheinlich noch wochenlang tun wird. Er verdeckt seine Tattoos, die ein Vermögen gekostet haben, nicht gern. Das ist der wahre Grund. Aber wenn die Mädchen mit dem Lipgloss, den engen Jeans und tief ausgeschnittenen Tops quietschen und fragen: »Ist dir nicht kaaaalt?«, dann lässt er sein Tausend-Watt-Lächeln aufblitzen und sagt: »Heißblütig.«
Manchmal, wenn ich die grobe Kraft von Marcus’ Bizeps sehe, wundere ich mich schon, wie es sein kann, dass wir verwandt sind oder auch nur derselben Spezies angehören. Das sind wir aber, blutsverwandt sogar. Sein Vater ist der Bruder meiner Mutter (»Gott schenke ihrer wundervollen Seele Frieden«, sagt Uncle Sherwin immer unter Tränen zu mir, wenn er einen Rum-Punch zu viel hatte), und Auntie Patrice, bei der ich wohne, ist die Tante von uns beiden. Marcus lebt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Chantal im selben Block. Offiziell jedenfalls. In Wirklichkeit wohnt Marcus überall und nirgends: Auf den Basketballplätzen unten auf den Piers, auf den Bänken vor dem TipTop Social Club, wo die alten Männer würfeln, oder auch an Patrice’ Tisch, wo er sich zur Abendessenszeit oft unangekündigt auf einen Stuhl fallen lässt; aber auch an der Ecke Fulton und Nostrand, wo er verschiedenen Geschäften nachgeht. Er besteht darauf, dass ich darüber nicht allzu viel wissen muss. In dem Punkt widerspreche ich ihm nie.
Es gibt da draußen ein paar Leute, die Angst vor Marcus haben, und nicht alle sind so hilflos wie fette Schachspieler. Beim Abhängen mit Marcus habe ich schon einige Dinge gesehen, bei denen ich mir gewünscht habe, mein Gehirn hätte eine Löschfunktion. Aber auf welcher Waage auch immer ich das abwäge, meine Loyalität Marcus gegenüber hat immer das meiste Gewicht, und das nicht nur, weil er für jemand wie mich die beste Versicherung dagegen ist, zusammengeschlagen zu werden. Er ist Familie, kurz und bündig, und wir beginnen einfach immer auf derselben Seite des Schachbretts. Marcus kann impulsiv sein, und ich will auf keinen Fall, dass er in ernsthafte Schwierigkeiten gerät. Aber die meiste Zeit über wirkt er sowieso viel zu perfekt, als dass irgendwas schiefgehen könnte.
Als wir unseren Block erreicht haben, joggt er die Stufen zu seiner Wohnungstür hoch, und ich verabschiede mich, doch da meint Marcus »warte«, setzt sich auf die oberste Stufe und deutet mit dem Kopf auf die Stelle neben sich. Mein Mund ist trocken, und dieser seltsame Nach-dem-Spiel-Kopfschmerz dringt allmählich durch die leichte Benommenheit vom Gras. Ich will nur nach Hause und versuchen, vor dem Abendessen noch ein Nickerchen zu machen. Aber stattdessen setze ich mich, eine Stufe unter ihn, wobei ich mir einrede, das sei, damit wir beide mehr Platz haben.
»Das war echt eine Leistung, was du da heute geliefert hast«, sagt Marcus.
»Das war nix«, sage ich. »Der Junge hatte von Anfang an Schiss. Vor Antoine, nicht vor mir.«
Marcus streckt sich lächelnd nach hinten und stützt seine nackten Ellbogen auf den Beton des Treppenabsatzes. »Du musst mal lernen, ein Kompliment anzunehmen, Lil’ T.«
Ich zucke mit den Schultern. Marcus weiß null über Schach, und ich mache mir nichts aus leeren Lobreden.
»Nächste Woche Schule«, sagt er.
»Yup.«
»Willst du was Verrücktes hören?«
Ich drehe mich ein Stückchen zu ihm um und hebe fragend eine Augenbraue. »Macht Frodo dieses Jahr seinen Abschluss?«
Marcus lächelt als kleine Anerkennung für meinen lahmen Witz mit all seinen strahlend weißen Zähnen. »Nah. Die Sache ist die: Ich hab das Gefühl, dass das mein Jahr ist. Mein Jahr, um es nach oben zu schaffen. Mein Moment. Klingt das irre?«
Klingt es, aber nur weil aus meiner Perspektive Marcus schon immer oben war. Er kommt jetzt in die Zwölfte. Und dass er es so weit geschafft hat, ist größtenteils dem Flehen seiner Mutter zu verdanken (sowohl ihm als auch der Schulleitung gegenüber) und der Tatsache, dass die Schule seinen Platz im sozialen Ranking bestätigt. Ich bin nur eine Klasse unter ihm, aber ganze zweieinhalb Jahre jünger, was man mir übrigens auch ansieht. Kleiner Tipp: Eine Klasse zu überspringen ist kein Weg, um sich unter Gleichaltrigen Respekt und Bewunderung zu verdienen.
»Nope«, sage ich.
»Die Dinge ändern sich, T«, sagt er mit diesem Blick, den er manchmal drauf hat und der mich an den eines Pitchers erinnert, der sich zum Werfen bereitmacht. »Das spüre ich.«
»Mmmm.« Es fällt mir schwer, mich auf irgendwas anderes zu konzentrieren als auf die trockene Stelle in meiner Kehle. Darauf und auf das Bild des fetten Jungen mit blauem Auge und geschwollener Lippe. Wie er sich nach Hause schleppt, um weiter Schach zu üben. Vielleicht masturbiert er ja aus Einsamkeit, wenn er das Bad in seiner winzigen Wohnung ein paar Minuten für sich hat. Mir kommt der Gedanke, dass der einzige Unterschied zwischen ihm und mir ein paar verlorene Partien sind. Das wiegt weniger als die Samen einer Pusteblume.
»Du bist eine Million Meilen weit weg«, sagt Marcus lässig, und ich reiße mich, aus Angst ihn zu verärgern, schnell zusammen. »Aber das ist okay, T. Bei all dem, was da oben vor sich geht.« Er tippt sich an die Schläfe. »Das macht einen Sieger aus dir.« Und dann lächelt er dieses Lächeln, das mir so weiche Knie macht wie den Mädchen, die ihm nachlaufen. Er gibt mir einen etwas zu festen Klaps auf den Hinterkopf.
Genau das ist das Problem mit Marcus: Er kann einen so einwickeln, dass manchmal sogar ich vergesse, wie mächtig er ist.
Das Schloss an der Wohnungstür klemmt, und man muss immer ein paar Augenblicke mit dem Schlüssel daran rummachen, bis es aufgeht. Das gibt mir genug Zeit, um an meiner Jacke nach Rauch zu schnüffeln und entsprechend paranoid zu werden. Während Marcus eine Macht ist, mit der man rechnen muss, ist Auntie Patrice die reinste Naturgewalt. Als ich ihre Wohnung im dritten Stock betrete, rührt sie in einem Topf auf dem Herd herum, schreibt aber gleichzeitig noch mit einer Hand eine E-Mail auf ihrem Laptop, der auf der Arbeitsplatte steht, und telefoniert übers Headset mit jemandem, höchstwahrscheinlich einer Verwandten in Trinidad.
»Bleib dran«, sagt sie, als sie mich sieht. »Tristan kommt gerade rein.«
»Tristan«, sagt sie, und es klingt wie das Gackern eines aufgebrachten Huhns. Sie ist übrigens einer der wenigen Menschen, die meinen vollen Namen, diesen verrückten deutschen Namen, benutzen. Ich weiß, sie tut das aus Loyalität gegenüber derjenigen, die ihn mir gegeben hat. Dann schnuppert sie intensiv wie ein Bluthund und meint: »Warst du mit Marcus unterwegs?«
Patrice anzulügen bringt nie was. »Yeah. Aber es ist okay. Nichts Schlimmes passiert.« Anscheinend klingt das so glaubwürdig, dass sie sich damit zufriedengibt.
»Marcus«, sagt sie kopfschüttelnd. »Der Junge macht auch nichts als Ärger.« Das stimmt zwar, aber ich weiß, wie sehr sie Marcus liebt, wahrscheinlich mehr als mich. »Kommt er zum Abendessen?«
»Nicht sicher. Ich glaub nicht.«
»Okay.« Die ganze Zeit, während wir reden, hat sie nicht aufgehört zu rühren, wirkt aber trotzdem noch so, als wäre ihre andere Hand sauer, weil sie nichts zu tun hat. »Abendessen in einer Dreiviertelstunde. Du kannst den Koriander nicht am Abend gießen, Baby, dann kriegt er Ungeziefer. Du musst es frühmorgens machen.« Ich brauche eine Sekunde, um zu kapieren, dass diese Anweisung für die Verwandte in der Ferne und nicht für mich bestimmt war. Patrice hat sich inzwischen weggedreht: »Nein, das ist nicht früh genug.«
Ich schlurfe über den Flur zu meinem Zimmer oder besser gesagt: zu dem Zimmer, in dem ich schlafe. Es sieht immer noch eher wie ein Gästezimmer aus, obwohl ich seit zwei Jahren darin wohne. Es fällt mir leicht, Dankbarkeit und Respekt für Auntie Patrice aufzubringen, weil sie die mit Abstand feinfühligste Person in meiner Familie ist. Ich empfinde auch große Zuneigung für sie, aber sie ist kein besonders warmherziger Mensch, und es gibt Tage, an denen ich mich hier wie ein Eindringling fühle.
Jetzt lasse ich mich aufs Bett fallen und schließe die Augen, werde aber das Gefühl nicht los, dass irgendwas mich umschließt. Etwas schnürt mir die Luft ab, so subtil, dass ich tot sein werde, bevor ich benennen kann, was das eigentlich ist. Augen auf. Augen zu. Ein Monster, das sich auf meiner Brust niederlässt. Augen auf. Auf dem Nachttisch steht ein gerahmtes Hochzeitsfoto meiner Eltern. Mir ist immer noch nicht klar, ob Patrice es dort hingestellt hat, weil sie meinte, es wäre mir ein Trost, oder um es selbst aus den Augen zu haben.
Auf dem Foto schneiden sie eine Torte an. Sie trägt ein weißes Kostüm, lacht und sagt etwas zu jemand, der nicht auf dem Bild ist. Ich habe den hellen kreolischen Hautton meines Vaters, aber alles andere an mir ist so hundertprozentig meine Mutter, dass wir wie aus demselben Holz geschnitzt wirken. Mein Vater hält den Kopf leicht gesenkt, aber an seinen Grübchen kann man erkennen, dass auch er lächelt. (Grübchen! Ich weiß nicht, wann ich seine das letzte Mal in natura gesehen habe. Existieren sie überhaupt noch? Können die einem mit dem Alter oder aus Trauer abhandenkommen?) Das Foto ist schwarzweiß, was ich schon immer verwirrend fand, weil es ja noch nicht so lange her ist. Tatsächlich bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass ich auch mit auf dem Bild bin, unter der zugeknöpften Jacke des weißen Kostüms meiner Mutter. Niemand hat es mir jemals ausdrücklich gesagt, aber man muss kein Genie sein, um sich die sieben Monate auszurechnen, die zwischen dem Tag, an dem dieses Foto gemacht wurde, und dem Tag lagen, an dem meine Mutter starb.
»Bianca war ein wildes Kind«, sagen einige unserer Verwandten gerne kopfschüttelnd und lächeln bei der Erinnerung an sie. Als ich noch klein war, schnappte ich begierig die Worte auf, mit denen andere sie beschrieben: hübsch, verrückt, witzig, charmant, lebhaft. Ich versuchte, mir daraus eine eigene Erinnerung an sie zu basteln. Aber es ist nicht so leicht, sich einen Menschen aus dem Nichts zu bauen.
Jetzt strecke ich die Hand aus und lege den Rahmen mit dem Foto nach unten hin, dann krame ich im Rucksack nach meinem Handy. Ich will die Stimme von meinem Dad hören, auch wenn ich weiß, dass er nicht rangehen wird. Er ist Konzertveranstalter und hat seltsame Arbeitszeiten. Ich lausche seiner Stimme auf der Mailbox, rufe gleich noch mal an und höre sie ein zweites Mal. Er wird natürlich sehen, dass ich ihn angerufen habe, aber das tun viele Leute. Er wird versuchen, dran zu denken, dass er mich später anruft, und es vergessen.
Wenn ich jetzt wie ein großer Teich voller Selbstmitleid klinge, dann ist das nicht meine Absicht. Ich warte nicht weinend darauf, dass mein Dad kommt und mich zurückholt, nicht im Geringsten. Bevor ich nach Brooklyn zog, haben mein Dad und ich in McAdams, einem Vorort von Atlanta, gewohnt. In einer Hälfte eines kleinen, ranchartigen Doppelhauses, das immer dunkel war und meistens schlecht roch, ein bisschen wie ungewaschene Füße und ein halbherziger Versuch mit billigen Putzmitteln. Ich brauchte eine ganze Weile, um zu kapieren, dass es nicht normal war, einen Vater zu haben, der es nur mit Mühe aus dem Bett schaffte, um den Typen zu bezahlen, der uns Lebensmittel ins Haus lieferte. Mit sieben besuchte ich zum ersten Mal meinen Freund Benji und staunte darüber, dass es seine Mutter tatsächlich zu interessieren schien, wo wir waren, was wir machten, ob wir Hunger hatten und dass uns nichts zustoßen würde. Als sie ihm die Wäsche frisch gewaschen und gefaltet in sein Zimmer brachte, starrte ich sie wahrscheinlich an, als wäre sie ein Einhorn. Ich hatte mit fünf rausgekriegt, wie man die Waschmaschine benutzt. Die Sachen zusammenzulegen erschien mir total unnötig. Davor, den zickigen Gasherd in unserer Küche anzuzünden, hatte ich ziemliche Angst, aber manchmal tat ich es trotzdem, um uns Makkaroni mit Käse zu kochen. Meist aßen wir jedoch Sandwiches mit Erdnussbutter und Marmelade, Salat aus der Tüte und Salzbrezeln.
In der Schule war ich richtig gut. Zum einen ging ich gerne dorthin, weil egal, wie langweilig der Unterricht sein mochte oder wie gemein manche Kids waren, fühlte ich mich dort so viel weniger einsam als zu Hause. Zum anderen wusste ich auch, je besser meine Noten waren, desto weniger wahrscheinlich würde irgendjemand sich in mein Leben einmischen. Ich war ja nicht blöd und hatte mitgekriegt, was für ein Mist passierte, wenn Lehrer bemerkten, dass jemand »zu Hause Probleme« hatte. Bestehe jeden Test mit Bravour, und schon rutschst du auf der Liste mit potentiell Hilfebedürftigen ganz weit nach unten. Ich bekam also gute Noten und schloss mich mehreren Clubs an, darunter dem Schachclub, weil es mir total lächerlich vorkam, dass man gelobt wurde, weil man ein paar Stunden mit einem Brettspiel verbrachte.
Vielleicht klingt das für euch jetzt total traurig, aber das war es nicht. Das Leben besteht schließlich aus Vergleichen. In der Schule lernt man alles Mögliche über Kriege und mehr Kriege, Epidemien, Hungersnöte und noch mehr Kriege. Ich saß während des Geschichtsunterrichts hinten im Klassenzimmer, wunderte mich über die langweilige Zeit, in die ich hineingeboren worden war, und verspürte gleichzeitig Erleichterung. Ich denke, eine Menge Leute reagieren genau umgekehrt, und das sind dann diejenigen, die neue Kriege anzetteln. Ich nicht. Ich war zu beschäftigt damit, mich unterhalb des Radars zu halten.
So kam es, dass ich über zehn Jahre lang der Aufmerksamkeit entging, während Trauer und Depression wie zwei riesige Felsen auf der Brust meines Vaters lagen und ihn fast erstickten.
Und dann änderte sich alles. Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, wie es dazu kam. Mein Vater hatte immer wieder Phasen, in denen er sich besser fühlte, seine Stimmung sich aufhellte, er eine Reinigungsfirma engagierte, mich fragte, was ich in der Schule mache, und er sogar seine Kollegen in der Agentur anrief, deren Miteigentümer er eigentlich noch war. Meine wahrscheinlichste Vermutung ist, dass er in einer solchen Phase, in der es ihm relativ okay ging, einen Arzt aufsuchte und sich irgendwelche Pillen verschreiben ließ, denn praktisch über Nacht wurde er geradezu manisch aktiv. Er arbeitete wieder und hatte ein Auftreten wie als Zwanzigjähriger, als sein Aufstieg begann. Das sagte er auch dauernd, dass er sich wieder wie ein junger Kerl fühle. Dabei hatte er eine Zigarette zwischen den Fingern, wippte mit einem Bein und hatte diesen glasigen Blick, der verriet, dass ihm nicht unbedingt bewusst war, dass er mit einem wirklich jungen Kerl sprach, nämlich seinem eigenen Sohn. Er begann, abends lange zu arbeiten, so dass ich oft allein war. Obwohl es keinen großen Unterschied machte, ob er nun weg war oder im benachbarten Zimmer schlief, muss ich zugeben, dass dies der Punkt war, ab dem ich mich irgendwie vernachlässigt fühlte. Und vielleicht auch ein bisschen gekränkt, weil nicht ich es gewesen war, der meinen Vater nach all den Jahren aus dem Bett bekam.
Dann erklärte er mir eines Tages, dass ich künftig bei meiner Tante Patrice leben würde.
»Aber ich kenne sie doch kaum«, sagte ich, was stimmte. Auntie Patrice war ein Name, den ich hauptsächlich von Geburtstagskarten kannte. Ich war mir auch nicht sicher, sie aus der Schar von Moms Geschwistern in den alten Fotoalben zu erkennen, die sich in einem Schrank im Flur stapelten.
»Wie meinst du das?«, fragte er und rutschte nervös in seinem Sessel herum. »Du hast doch bei Patrice gelebt, bis du fast zwei warst.«
»In Brooklyn?« Das war mir völlig neu. »Wo warst du denn da?«
Mein Vater seufzte. »Das ist doch kein Leben, T. Es ist meine Schuld, aber trotzdem.«
»Es ist mein Leben«, sagte ich.
»Patrice wird schon wissen, was zu tun ist. Sie weiß immer, was zu tun ist. Und alles wird gut.« Ich begann eine Reihe von ziemlich triftigen Gründen aufzuzählen, aus denen ich nicht bei einer praktisch Fremden leben wollte, aber er wurde von irgendwas abgelenkt und ließ mich einfach zurück. Ich versuchte, mich an Patrice zu erinnern.
Mein Dad vermurkste die Eröffnung zwar ein bisschen, aber tatsächlich hatte er recht: Zu meiner Tante zu ziehen, das war wahrscheinlich das Beste, was mir hatte passieren können. Plötzlich gab es Patrice, Marcus und das Wunderland Brooklyn. In den Parks standen Schachtische herum, ich traf hübsche, weltgewandte Mädchen und an den Feiertagen gab es große Feste mit der Verwandtschaft. Schule ist lächerlich leicht, erst recht wenn jemand anders Makkaroni mit Käse für dich kocht. Vergleichsweise eine völlig neue Perspektive.
Mein Vater arbeitet dauernd, und manchmal sehe ich meine Onkel darüber die Köpfe schütteln und »ts-ts-ts« machen; sie behaupten, das sei jetzt nur eine andere Sorte Wahnsinn. Doch wenn ich mit ihm telefoniere, klingt er okay. Und wenn er alle paar Monate zu Besuch kommt, wirkt er glücklicher denn je. Mir scheint, dass er sich endlich entschieden hat, von den Toten zurückzukehren und ein zweites Leben zu führen, was ich ihm nicht übelnehme. Doch diese Worte, die er damals zu mir gesagt hat, quälen mich manchmal noch. Ist das ein Leben? Und wenn ja, kann ich es dann zu Recht meins nennen, oder habe ich mich einfach nur den Umständen ausgeliefert? Mein Dad hatte schon zwei Leben, aber hat mein erstes überhaupt schon begonnen?
»Essen!«, ruft Patrice aus der Küche.
Marcus lässt sich zum Abendessen nicht blicken, worüber ich ein klein wenig erleichtert bin, aber gleichzeitig macht es mich auch etwas nervös. Manchmal kann es irgendwie peinlich sein, wenn Patrice und ich unter uns sind, fast als wüssten wir nicht so recht, wie wir miteinander reden sollen. Ich stelle ihr dann höfliche Fragen über ihren Job in einer Bank in Manhattan, obwohl ich sie in Wirklichkeit lieber nach meiner Mutter fragen würde oder danach, wie es gewesen war, als sie sich um mich als Baby gekümmert hatte. Ich wüsste auch gern, warum sie nie Dates hat, obwohl sie doch noch hübsch ist, wenn auch auf ihre nüchterne, oft stirnrunzelnde Art. Aber es kommt mir vor, als wären all diese Themen tabu.
»Die Spaghetti sind gut«, sage ich, doch es klingt eher zaghaft.
»Dieses Wochenende ist Labor Day«, sagt Patrice. »Das heißt, am Samstag findet die Wohnblockparty statt.« Patrice hilft jedes Jahr mit, dieses Nachbarschaftsfest zu planen, und ich weiß, dass sie eine Menge Zeit investiert, damit jedes Detail perfekt wird. Aus den Partys der beiden letzten Jahre habe ich aber auch gelernt, dass ich bei dieser Sache weniger Spaß habe als der Rest der Nachbarschaft.
»Oh, yeah«, sage ich. »Vormittags muss ich arbeiten, aber danach komme ich sofort nach Hause. Dann sollte ich noch einiges davon mitkriegen.« Ich habe einen Sommerjob als Nachhilfelehrer für Mathe in einer Stadtteilbibliothek. Den habe ich mir gesucht, damit ich den Sommer über in Brooklyn abhängen kann und nicht wie letztes Jahr in den Burgerladen nach Atlanta muss. Dort kannte ich kaum noch jemand, und abgesehen davon, verdient sich das Geld bei der Nachhilfe angenehmer als beim Burgerbraten. Marcus sieht das allerdings anders. »Du bist mehr wert, T«, meinte er. Aber ich konnte den Job nicht hinschmeißen, um den ganzen Tag für Marcus Schach zu spielen. Ich kannte Patrice gut genug, um zu wissen, dass das nicht gut ankommen würde. »Eine meiner letzten Schichten«, fügte ich, quasi als Erklärung, noch hinzu.
»Vielleicht kannst du beim Kinderprogramm helfen, wenn du nach Hause kommst«, sagt Patrice. »Oder ein Stück den Block hinauf gibt es eine neue Familie, und die Frau möchte irgendwas mit Kunsthandwerk machen.« Patrice zuckt mit den Schultern und rollt die Augen, so dass ich schon weiß, sie spricht von der weißen Familie, die vor ein paar Wochen hergezogen ist. Diese Leute haben eines der ältesten Häuser des Blocks renoviert, so dass die Ecke ohne den verwilderten Garten und die halb verrottete Veranda jetzt ganz anders aussieht. »Eine buddhistische Sandskulptur oder irgend so was. Keine Ahnung.«
»Das klingt … interessant«, sage ich vorsichtig. Diese Rassensache ist hier total anders als in Atlanta. Mir persönlich gefällt es, wie gleichgültig die Leute hier damit umgehen und sich Mühe geben, miteinander auszukommen, weil für alles andere der Platz einfach nicht reicht.
Patrice gibt ein neutrales Hmmm von sich. Sie wohnt schon ewig in dieser Gegend, und sie kann schon mehr als ein bisschen besitzergreifend sein, wenn es um unseren Block geht. Sie hat eine Menge Veränderungen miterlebt und alle Neuankömmlinge müssen eine lange Probezeit absolvieren, bis sie entscheidet, ob sie sie mag oder nicht. Das gilt vor allem dann, wenn Leute so aussehen, als würden sie vielleicht nicht hierherpassen. Wenn sie beispielsweise knallbunte Batikschals tragen, wie ich sie an dieser Frau gesehen habe, oder buddhistische Sandskulpturen anfertigen.
»Na, ich bin froh, dass du es interessant findest«, sagt Patrice. »Dann kannst du ihr ja helfen.«
Wäre Marcus jetzt hier, würde er irgendeinen Witz über verrückte Weiße und deren verrückte Ideen reißen und sie damit zum Lachen bringen. Er kann, wenn er will, ganz schön hart über andere urteilen, aber vielleicht ist das nur eine andere Form von Territorialdenken.
Mir ist es allerdings unangenehm, solche Witze zu machen, deshalb tue ich jetzt so, als sei ich total in meine Spaghetti vertieft, und nicke nur. Gleichzeitig bemühe ich mich um ein neutrales Gesicht, das sagt: Du kennst mich, ich liebe buddhistische Sandskulpturen.
»Gut«, sagt sie. »Dann ist das abgemacht.«
Izzy
Den Großteil meiner Zeit in jenem Frühling und Sommer verbrachte ich damit, mir zu überlegen, ob meine Eltern vielleicht Idioten waren. Ich war ihren unermüdlichen Optimismus ebenso leid wie ihre Sandalen im Partnerlook, ihre langweiligen übergebildeten Freunde, ihren Bulgur aus der Nachbarschaftskooperative, ihre biologische, aber wirkungslose Zahnpasta und dass sie so taten, als hätte die Musikgeschichte mit The White Album der Beatles geendet. Die sechziger Jahre lagen schon ein halbes Jahrhundert hinter uns, aber irgendwie hatten sie das nicht mitgekriegt. Verdammt, die beiden waren in den Sixties doch selbst gerade erst geboren, aber das hinderte sie an nichts. Mit solchen Menschen zusammenzuleben, das wäre schon unter bestmöglichen Bedingungen nervig gewesen. Aber als sie beschlossen, die Lower East Side, wo mein Zwillingsbruder Hull und ich unser ganzes junges Leben verbracht hatten, besäße nicht mehr genug Seele und wir müssten uns von unserem bequemen Dasein losreißen und am Ende unserer zehnten Klasse nach Brooklyn umziehen, wurde ich wirklich wütend. Ihr hättet das Dunkelrot sehen sollen, in dem das Gesicht meines Bruders anlief, als sie diese Neuigkeit bei einem Abendessen im Familienkreis bei ihrem Lieblingsinder Shah Jalal fallenließen. Fällt euch die Vorstellung leichter, wenn ich euch erzähle, dass er dazu noch »Scheiß auf diese bescheuerte Familie« brüllte?
Es heißt ja, dass runde Eltern eckige Kinder haben, und diese Theorie kann man mit der Familie Steinbach einfach perfekt illustrieren. Wir beide waren fünf, als Hull seine erste Excel-Tabelle erstellte. (Es war eine Inventarliste seiner Stofftiere, weil er sich sicher war, dass ihm jemand welche klaute. Das war ich.) Ab der fünften Klasse fing er an, auf Hemden mit Kragen zu bestehen, die er auch an den Wochenenden trug. Außerdem ließ er sich alle drei Wochen die Haare zu einem von meiner Mutter seufzend »Mitt Romney« genannten Schnitt kürzen. Jedes Jahr kandidierte er mit dem Slogan »Hull Steinbach: die verantwortungsvolle Wahl« für die Schülervertretung. Erstaunlicherweise gewann er diese Wahl an unserer kleinen, experimentierfreudigen Schule auch immer. Hull konnte schwer zu ertragen und manchmal ein bisschen kratzbürstig sein. Die Leute hielten ihn für arrogant, dabei war er in Wirklichkeit einfach nur sehr klug und besonders und er machte sich keine Mühe, vorzutäuschen, dass er das nicht wüsste. Ich liebte ihn trotz und wegen alldem sehr.
Was mich betrifft, ich unterschied mich ebenfalls von meinen verrückten Eltern, aber auf andere Weise. Den Großteil meiner Kindheit brachte ich damit zu, meine Familie von imaginären Krankheiten zu heilen. Mein Dad, Professor für Theater der Renaissance an der New York University, konnte zu Hause keine Drucksachen haben, auf denen »Dr. Steinbach« stand, weil ich mir die sofort schnappte und in mein Arztköfferchen packte. »Warum heißt du überhaupt so, wenn du kein richtiger Arzt bist?«, pflegte ich ihn zu fragen. Seine Freunde fanden das immer altklug und, insbesondere wenn es bei Abendessenseinladungen zum Besten gegeben wurde, schrecklich amüsant. Wenn meine Mutter mich zu dämlichen Wochenend-Workshops mit ihr zwang – Töpfern, Malen oder Ausdruckstanz –, dann steckte ich beleidigt die ganze U-Bahn-Fahrt über die Nase in Grays Anatomie des menschlichen Körpers. Sie war Goldschmiedin und fertigte große, kunstvolle Schmuckstücke an, die sich nur exzentrische reiche Leute leisteten. Und sie konnte es nicht glauben, dass sie eine Tochter mit so wenig künstlerischer Begabung zur Welt gebracht hatte. Glaub es einfach, dachte ich, wenn ich im Tanz-Workshop halbherzig so tat, als wäre ich ein Baum. Glaub es. Als ich im Alter von neun Jahren meine Absicht verkündete, Medizin zu studieren, versuchten meine Eltern, es tapfer hinzunehmen.
»Nun, William Carlos Williams war Arzt«, sagte mein Vater hoffnungsvoll. »Und Tschechow auch!« Und meine Mutter erwiderte ein bisschen zu fröhlich: »Das ist toll, Süße!«, und zündete ein paar Sandelholz-Räucherstäbchen an, was sie immer tut, wenn sie gestresst ist.
Aber ich bin vom Thema abgekommen. Es kam also nicht besonders gut an, als meine Eltern uns die große Neuigkeit mitteilten, dass wir nach Brooklyn umziehen und wir beide dort auf eine staatliche Schule gehen würden.
»Das wird phantastisch«, trällerte meine Mutter. »Das Haus, das wir gefunden haben, ist ein Juwel. Kinder, wolltet ihr nicht schon immer einen richtigen Garten? In Brooklyn passieren die wirklich interessanten Sachen. Und wir werden mittendrin sein!«
»Was für interessante Sachen?«, fragte Hull. Wütend zerrupfte er sein Naan-Brot und rollte kleine Kugeln daraus, ein ganzes Arsenal von Munition auf seinem Teller. »Künstlerisch interessante Essiggurken und ironische Gesichtsbehaarung?«
Während Hull und meine Mutter sich einen Zweikampf über weitreichende gesellschaftliche Probleme lieferten, kaute ich auf einer Gabel voll Biryani herum und dachte nach. Folgende Dinge kamen mir in dieser Reihenfolge in den Sinn:
Ich wollte meine Freunde und Lehrer an der Hope Springs Day School nicht verlassen. Einige Freunde wie Alma und Philip gingen schon seit der Vorschule in meine Klasse.
Die HSDS war in Naturwissenschaften nicht besonders stark, und es bestand die Möglichkeit, dass es an der neuen Schule Biologie für Fortgeschrittene gab.
Hull würde nicht aufhören, sich über diese Sache aufzuregen. Lange nicht. Jahrelang hatte er politische Vorarbeit geleistet, um sowohl in der Elften wie in der Zwölften Jahrgangssprecher zu werden. Deshalb war er jetzt auch so außer sich. Er schlug sogar mit der Faust auf den Tisch, wobei er ein Schälchen mit Minz-Chutney umstieß.
»Verfüge ich denn über keinerlei rechtliche Handhabe?«, schnauzte Hull, was meinen Vater zum Lachen brachte. Daraufhin gab Hull die schon zitierte Sch…-Bemerkung von sich. Was wiederum die Gäste an den anderen Tischen dazu veranlasste, uns schief anzusehen.
»Ich denke, dass ihr es dort mögen werdet«, meinte meine Mutter, dann brach sie in Tränen aus. Damit war das Abendessen zu Ende.
Das Haus, das meine Eltern gekauft hatten, war alt, sehr alt. Als Brooklyn noch aus hügeligen Wiesen und Feldern und stattlichen Ferienhäusern dazwischen bestand, war es ein Bauernhaus gewesen. Jetzt quetschte es sich allerdings ans Ende einer Reihe aus Sandsteinhäusern. Ich hätte es nicht Juwel, sondern eher renovierungsbedürftig genannt. Aber es besaß eine breite Veranda, ein großes Wohnzimmer, eine hübsch geschwungene Treppe und ein zweites Stockwerk – lauter Komfort, auf den die anderen Bewohner Manhattans sich antrainiert hatten zu verzichten. Meine Eltern sind, das muss man ihnen lassen, gut im Renovieren. Sie engagierten also einen Handwerker, Nicolas, für die größeren Reparaturen, während sie selbst Böden abschliffen, alte Tapeten entfernten und sich ihre Herzen aus dem Leib gärtnerten, malten und lackierten. Das war im Spätfrühling, als es in der Schule schon auf die Sommerferien zuging. Manchmal schafften sie es, mich zum Helfen mitzuschleppen, doch Hull weigerte sich standhaft. Er wollte diesen Ort nicht mal sehen.
Irgendwann musste er das natürlich. Die Genossenschaftswohnung, die meine Eltern fast zwanzig Jahre gemietet hatten, ließ sich rasch an einen jungen Investmentbanker und seine Freundin, eine aufstrebende Schauspielerin, weitervermitteln. Für den Umzug wurde ein Tag Anfang Juli festgelegt.
»Es ist nicht so schlecht«, versuchte ich ihn ein oder zwei Wochen vorher zu überzeugen. »Es gibt viel mehr Platz.«
Da sah er mich kopfschüttelnd so traurig an, als wäre selbst diese einfache Äußerung einer Tatsache schon ein Verrat.
Eines Tages quetschten Hull, Mom und ich uns in unseren alten Volvo und fuhren hinter meinem Vater, der den Umzugswagen lenkte, zu unserem neuen Zuhause. Ich musste an die Zeile »Over the river and through the woods« aus dem Kinderlied denken, als wir über die Manhattan Bridge in unseren neuen Stadtteil fuhren. Kaum waren wir angekommen, verschwand Hull mit einer Reisetasche und dem Karton mit seinen Sachen in sein neues Zimmer und schloss sich dort ein. Vor dem Rest der Umzugsarbeit drückte er sich.
»Ich glaube, er trauert«, sagte meine Mutter zu meinem Vater und mir, während wir schweißtriefend einen Karton nach dem anderen schleppten. »Wir sollten seine emotionale Reise respektieren.«
»Ich glaube, Ihr Sohn mag Brooklyn nicht sehr«, sagte Nicolas ernst, während er half, den Esstisch durch die Haustür zu bugsieren. »Vielleicht ist es nicht der richtige Ort für ihn.« Da Nicolas fast nie irgendwas Überflüssiges von sich gab, wirkte alles, was er dann sagte, wie eine gewichtige und irreversible Bekanntmachung. Meine Mutter ließ ihr Ende des Tisches fallen. Das führte zu einer Schramme in einem der Tischbeine, die sich nicht mehr beseitigen ließ.
Wir waren alle so fixiert auf Hull und seinen Zorn, dass wir ein paar andere Probleme komplett ausblendeten, bis wir direkt damit konfrontiert waren. Das Haus stand in einer ziemlich coolen Gegend von Bed-Stuy, in der es allerdings an den Rändern etwas rauer zuging als in unserem Viertel in Manhattan. Eines Abends zertrampelten ein paar betrunkene (oder wütende) Leute die Blumen und Sträucher, die meine Eltern im Vorgarten gesetzt hatten, so dass sie ihn neu bepflanzen mussten. Ein unbebautes Grundstück am anderen Ende des Blocks stank immer nach Urin, und über Nacht tauchten dort gebrauchte Kondome wie Pilze auf. Meine Mutter bestand irgendwann darauf, dass ich immer eine kleine Dose Pfefferspray in meinem Rucksack dabeihatte. Sie sah ein bisschen verlegen aus, als sie sie mir gab. »Einfach zur Sicherheit«, sagte sie.
Als Kind aus New York City kannte ich natürlich jede Menge Schwarzer, Latinx und Asiaten. Ungewohnt war, so offensichtlich und Aufmerksamkeit erregend weiß zu sein – in einer Gegend, wo die meisten Leute das eben nicht waren. Was noch dazu kam: Es war ein Sommer voller Probleme, von denen ich geglaubt hatte, sie wären Jahrzehnte vor meiner Geburt gelöst worden. Die Zeitungen waren voll mit Berichten über Schwarze, die von weißen Polizisten erschossen worden waren, und die entsprechenden Überschriften kamen mir jedes Mal, wenn ein Streifenwagen vorbeifuhr, unweigerlich in den Sinn. Nicolas hatte uns erzählt, dass die meisten Nachbarn schon lange in diesem Block wohnten. Die meisten waren vor Jahrzehnten aus der Karibik eingewandert oder die erste Generation von deren Kindern. Ich merkte, wie sie mich von Kopf bis Fuß musterten, wenn ich vorbeiging. Auf dem Weg zum Haushaltsgeschäft oder dem Lebensmittelladen wurde mir ein-, zweimal Schneeflocke nachgerufen. Und einmal musste ich so tun, als würde ich einen extrem betrunkenen Obdachlosen nicht hören, der mir aus einem Block Entfernung hinterherschrie, was alle weißen Mädchen gerne lutschen würden. Aber meistens hatte ich keinerlei Probleme.
Die Situation war weit schlimmer, wenn ich mit meinen Eltern unterwegs war. Mom wollte mit jedem Kontakt aufnehmen, der ihr begegnete, weil sie versuchte, neue Freundschaften zu schließen, was echt nervte. »Meine Familie stammt aus Irland«, sagte sie immer, wenn wir jemand Neuen trafen, und fuhr sich dabei mit einer Hand durch ihre roten Locken. »Geboren bin ich allerdings in Illinois.« Als ich sie fragte, warum sie dauernd etwas so Dämliches sagte, erklärte sie mir: »Ich erzähle etwas von meinem familiären Hintergrund, damit es ihnen leichterfällt, etwas von ihrem zu erzählen. So lernen Menschen einander kennen, Izzy.« Ganz ehrlich, es war todpeinlich.
Nach dem Einzug verbrachte ich ein paar Wochen im Haus. Ich half Dad die Terrasse zu lasieren, die Nicolas hinter dem Haus gebaut hatte, und zählte die Tage, bis ich meinen Sommerjob als Betreuerin im Camp Timbuktu in den Catskills antreten würde. Schon als kleines Kind hatte ich jeden Sommer dort verbracht und jede Sekunde davon geliebt. Es war so eine Art Nerd-Version eines Sommerlagers, mit den üblichen Schwimmausflügen und Geländespielen – und viel Lernen. Die ersten sechs Wochen hatte ich wegen der Renovierung und dem Umzug bereits versäumt, aber meine Eltern hatten versprochen, dass ich in den restlichen sechs dort jobben könnte.
»Du solltest mitkommen«, schlug ich Hull bei einem meiner seltenen Besuche in seinem Zimmer vor. »Du weißt doch, dass sie ehemalige Teilnehmer immer nehmen, wenn sie sich bewerben. Vor allem mit Noten wie deinen. Du könntest einen Rhetorikkurs anbieten, ein Seminar über Politik oder so was.«
»Kann nicht«, sagte Hull. Wir saßen zwischen unausgepackten Kartons und verstreuten Klamotten. Seine Matratze lag immer noch auf dem Boden, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sein Bettgestell aufzubauen. Das Angebot meiner Eltern, es für ihn zu erledigen, hatte er ignoriert. Sogar sein Haar sah länger und unordentlicher aus als sonst.
»Warum nicht?«
»Ich hab zu viel damit zu tun, Mom und Dad davon zu überzeugen, dass sie diesen Mist verkaufen und zurück nach Manhattan ziehen«, sagte er. Doch dann sah er mich mit einem zaghaften Lächeln an, das mich hoffen ließ, er wäre nicht komplett verrückt geworden.
»Weißt du, die Aussicht ist gar nicht übel. Wenn du mal deine Fensterläden aufmachen würdest. Mom und Dad sind mit dem Garten hinterm Haus fast fertig.«
»Ach, Izzy«, sagte er. »Ich liebe das, dass du glaubst, die Aussicht könnte wirklich ausgleichen, was mit diesem Haus nicht stimmt.«
Wenn ich damals schon gewusst hätte, was bei meiner Rückkehr aus dem Camp noch alles nicht stimmen sollte, dann hätte ich wahrscheinlich als Antwort nicht nur mit den Augen gerollt. Vielleicht hätte ich Hull angefleht, einem so riesigen Stadtteil wie Brooklyn gegenüber doch ein bisschen aufgeschlossener zu sein. Rückblickend hätte ich ihn davor warnen sollen, dass manche Aktionen Folgen haben, und zwar langfristige. Stattdessen sagte ich nur »Bork«. Das war der winzige Rest unserer Zwillingssprache im Kleinkindalter, der uns geblieben war. Ein Begriff, den wir für alles benutzten, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt gesagt werden musste. Diesmal bedeutete das Wort: »Alles wird gut. Du wirst schon sehen.«
»Bork«, erwiderte er, aber ich konnte aus dem Ton seiner Stimme nichts heraushören, und das machte mich nervös.
Tristan
Während meiner ganzen Nachhilfestunde am Samstag, als ich versuche, dem armen Tomaso endlich, endlich den Unterschied zwischen Sinus und Cosinus klarzumachen, spüre ich die ganze Zeit ein seltsames Flattern im Magen. Und tatsächlich, als ich zur Party in unser Viertel zurückkehre, beginnt alles aus den Fugen zu geraten. Trotz der Deko aus Krepppapier, der bunten Schilder und der Rauchwölkchen, die von den Holzkohlegrills aufsteigen, die man auf den Gehsteig geschoben hat, ist die Atmosphäre angespannt. Dunkle Wolken ziehen rasch heran, und es ist stickig heiß. Ein letztes Aufbäumen des gewittrigen Sommers. Es ist die Zeit des Nachmittags, wenn die Erwachsenen schon so viel Bier hatten, dass sie sich lustlos und schläfrig fühlen. Die Kinder radeln schon seit dem frühen Morgen mit ihren Rädern das abgesperrte Straßenstück rauf und runter. Jetzt sind sie verschwitzt und knatschig und fangen an, sich auf die Nerven zu gehen. Aber das ist noch nicht mal das größte Problem, zumindest nicht von meinem Standpunkt aus. Das größte Problem ist, dass Marcus und seine Lakaien auf der Treppe vor dem Hauseingang sitzen. Wie ein Wolfsrudel. Und wie jedes gute Wolfsrudel haben sie die Augen auf leichte Beute gerichtet. Irgendein weißer Jugendlicher, der noch dazu echt nerdig angezogen ist, hat auf der anderen Straßenseite einen Tisch aufgestellt. Dazu ein Schild, auf dem steht: UNTERRICHT IN SCHACH UND POLITISCHER STRATEGIE – 10 $. Ich spüre ein Stöhnen in meiner Brust aufsteigen und weiß schon, dass ich da in was reingezogen werde. Aber ich versuche noch, so zu tun, als hätte ich nichts bemerkt – weder den Typen noch das Schild noch Marcus’ fiesen Blick, nichts.
»What’s up?«, sage ich zu Marcus und hoffe, es wird eher als Gruß verstanden, nicht als Frage, die beantwortet werden muss. Alle riechen nach dem Starkbier, das Marcus irgendwoher besorgt hat. Er gibt sich kaum Mühe, es hinter sich zu verstecken. K-Dawg sieht dermaßen benebelt aus, als könne er schon nicht mehr sprechen, aber die anderen flüstern miteinander und lachen.
Marcus schaut hoch und nickt mir zu. »T, der Mann der Stunde. Wir haben schon drauf gewartet, dass du aufkreuzt, damit dieser Hund dir Unterricht in Schach geben kann.« Den letzten Halbsatz sagt er so laut, dass der weiße Junge ihn hört. Der gibt sich alle Mühe, nicht in Marcus’ Richtung zu schauen. Die Antilope hat das Raubtier gewittert, weiß aber, dass es Selbstmord wäre, ihm in die Augen zu blicken. »Der große Mann des ganzen Blocks da drüben wird uns das eine oder andere lehren.«
Frodo grinst. »Sogar seine Ma hat versucht, ihn dazu zu bringen, das sein zu lassen.« Er deutet mit dem Kinn auf eine Frau, die ein Stückchen die Straße runter an einem Klapptisch steht. Neben ihr beschießen Kids sich mit Super-Soaker-Wasserpistolen und ignorieren sie und ihre Sandkunst.
Ich will gerade sagen, dass ich ihr eigentlich helfen soll, aber bevor ich dazu komme, fasst Marcus mich am Arm und sagt: »Hey, T, lass uns mal rübergehen und mit dem Typen reden. Ihn in der Nachbarschaft willkommen heißen.« Es gibt nichts, wozu ich weniger Lust habe, als diesen Typen zur Rede zu stellen, der schon mit seinem arroganten Gesichtsausdruck danach schreit, verprügelt zu werden. Doch Marcus’ Griff ist eisenhart, also lasse ich mich von ihm mitziehen. Dann verschränke ich die Arme, schaue auf den Tisch runter und hoffe, dass es wenigstens schnell vorbei sein wird.
»Hallo«, sagt White Boy. »Was kann ich für euch tun?«
»Wie heißt du, mein Sohn?«, fragt Marcus und zeigt sein Killerlächeln.
»Ich bin nicht dein Sohn«, sagt White Boy mit breitem Politikergrinsen. »Aber wenn es dich interessiert, habe ich vielleicht ein paar nützliche Ratschläge für dich.« Er deutet mit dem Kopf auf sein Schild.
»Ohhh«, macht Marcus, zeigt auf das Schild, als würde er es zum ersten Mal lesen, und fasst sich dann nachdenklich ans Kinn. »Verstehe. Da haben wir also einen Schachmeister direkt hier in unserem Block.«
White Boy sagt nichts, bricht aber auch den Blickkontakt nicht ab. Nicht mal als Marcus sich noch weiter vorbeugt.
»Wie es der Zufall will«, sagt Marcus, »ist mein Freund T hier tatsächlich schon ziemlich gut in Schach.«
»Mmmm«, macht White Boy und schaut etwas entspannter. Kenne ich ihn? Er sieht aus wie viele Leute, gegen die ich bei Schulturnieren gespielt habe.
»Weil weißt du, ich glaube, du hast eine falsche Vorstellung von deiner neuen Nachbarschaft. Wir könnten dir wahrscheinlich ein paar Lektionen anbieten. Stimmt’s, T?«
Ich räuspere mich und versuche es mit einem anderen Ton. »Mann, das ist echt nicht cool, bei so einer Party Zeug zu verkaufen. Da geht’s eher drum, dass jeder teilt, was er kann, verstehst du?«
White Boy grinst, und mir wird klar, dass Mitleid mit jemand zu haben und ihn zu mögen zwei verschiedene Dinge sind.
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