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Anne Charlotte Leffler

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Beschreibung

In Anne Charlotte Lefflers Werk 'Weiblichkeit & Erotik' wird die komplexe Beziehung zwischen Frauen, Sexualität und der Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts untersucht. Mit einem einfühlsamen und doch kritischen Blick auf die Rolle der Frau in einer von männlicher Dominanz geprägten Welt fokussiert Leffler auf die Herausforderungen und Tabus, mit denen Frauen konfrontiert sind. Ihr literarischer Stil zeichnet sich durch eine subtile Wendung der Sprache aus, die es ihren Lesern ermöglicht, tief in die Psyche der Charaktere einzutauchen und deren innersten Gedanken zu erleben. Als eine der führenden feministischen Stimmen ihrer Zeit brachte Leffler nicht nur die Unterdrückung der Frauen zum Ausdruck, sondern forderte auch die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und Stereotypen. 'Weiblichkeit & Erotik' ist daher nicht nur ein literarisches Werk, sondern auch ein Manifest für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen.

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Anne Charlotte Leffler

Weiblichkeit & Erotik

Ein Memoirenroman

Books

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1662-8

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Erstes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

»Außerordentlich hübsch! Wirklich eine reizende Gruppe,« sagte der höfliche Photograph; Mutter und Tochter in stiller Vertraulichkeit!«

»Es ist nicht meine Tochter,« erwiderte die alte Dame lächelnd.

»Ah – vermutlich die Frau Schwiegertochter! Oder, was ich da sage – nicht Frau Schwiegertochter, sondern die zukünftige Schwiegertochter, wenn ich nicht irre!«

Das junge Mädchen errötete bei diesen Worten – es war ein heftiges Erröten, welches ihr das Blut in ein paar eigenartigen Spitzen bis in die Schläfen jagte.

»Nein, wir sind nur gute Freundinnen,« sagte Frau Rode, »obwohl ein beträchtlicher Altersunterschied zwischen uns besteht.«

»Siehst du wohl,« flüsterte das junge Mädchen eifrig, während der Photograph mit seinem Apparat beschäftigt war. »Ich wußte ja, daß dies Veranlassung zu solchen Vermutungen geben würde. Und wenn das Bild nun nach Algier kommt, so werden Richards Freunde natürlich ganz dasselbe glauben.«

»Ach nein! Das Bild kann wenigstens glücklicherweise nicht erröten. Du selber giebst ja gerade Veranlassung zu diesen Gerüchten, indem du bei der geringsten Andeutung rot wirst.«

»Das Gesicht ein wenig mehr hierher, wenn ich bitten darf!«

»Warten Sie einen Augenblick, ich möchte die Umgebungen erst ein wenig mehr ordnen.«

»Verzeihen Sie, mein Fräulein! Aber Sie können sich in der Beziehung wirklich auf meinen künstlerischen Blick verlassen.«

»Aber hier ist ja gar nicht die Rede von etwas Künstlerischem!« unterbrach ihn Frau Rode. »Ich möchte so gern, daß die Umgebung genau so ist wie in unserm Heim. Darum haben wir ja den Lehnstuhl und die Lampe mitgenommen; das Bild soll als Weihnachtsgeschenk an meinen Sohn nach Algier gesandt werden. Er ist Leutnant beim Generalstabe, ist aber in französische Kriegsdienste getreten und seit drei Jahren nicht zu Hause gewesen; er wird sich gerade über ein kleines Bild aus unserm täglichen Leben freuen.«

»Du mußt deinen Mund auch stets mit dir durchgehen lassen, Tantchen, sobald nur die Rede auf deinen Sohn kommt,« flüsterte das junge Mädchen, die alte Dame aufs Ohr küssend. »Was geht das den Photographen an? Es kann ihn ja nur in seinem Verdacht bestärken. Verstehst du denn das nicht, Tantchen?«

»Er muß aber doch wissen, weshalb wir alles nach unserm eignen Kopf ordnen wollen,« erwiderte Frau Rode zurechtweisend. »Stelle nun die Lampe auf den richtigen Platz, so wie wir es verabredet haben. Und der Brief! Wo ist nur der Brief geblieben? Das ist doch aber ärgerlich! Nun habe ich ihn gewiß zu Hause liegen lassen! Alie, reiche mir einmal die schwarze Tasche. Wo ist denn die? Du sollst sehen, die ist im Wagen liegen geblieben!«

Alie lachte aus vollem Halse.

»Ich möchte wissen, wie oft die schwarze Tasche fortgewesen ist, und wie oft du nahe daran gewesen bist, einen Schlaganfall vor Schrecken zu bekommen,« sagte sie. »Natürlich ist sie hier, sieh nur, dort hinter deinem Rücken liegt sie. Ach, du zerstreutes, unordentliches kleines Tantchen!«

»Verzeihen Sie, aber ich finde, es würde weit natürlicher aussehen, wenn das Fräulein den Brief in der Hand hielte und ihrer Frau Mutter – der gnädigen Frau, wollte ich sagen, daraus vorläse.«

»Nein, nein, das geht auf keinen Fall,« unterbrach Frau Rode ihn eifrig. »Das Bild soll vorstellen, daß soeben ein Brief von meinem Sohn angekommen ist, und den lese ich immer zuerst selber.«

»Da schwatzt sie wieder von ihrem kleinen Jungen,« flüsterte Alie, die alte Dame leicht in den Arm kneifend.

Der Photograph verschwand hinter seinem Apparat, und Alie fuhr fort: »Da kannst du sehen, böse, alte Tante, daß selbst der Photograph es für natürlicher hält, daß ich die Briefe gleich zu lesen bekomme. Aber gönnst du mir das wohl jemals? Ei bewahre! Du mußt natürlich immer erst untersuchen, ob sie auch Geheimnisse enthalten. Als ob du mir dann hinterher diese Geheimnisse jemals verschweigen könntest! Als ob du nicht schließlich doch mit jeder Kleinigkeit herausplatztest.«

»Still, du Plaudertasche! Sitze nun ruhig und laß mich in Frieden. Du mußt wirklich ein wenig milde und weiblich auf dem Bilde aussehen. Und streich dir den häßlichen Haarbüschel aus der Stirn. Ich bin fest überzeugt, daß Richard das nicht leiden mag.«

»Ei was! Glaubst du, daß ich mich daran kehre? Nein,« fuhr sie energisch fort, indem sie das Haar, das die alte Dame zurückgestrichen hatte, wieder in die Stirn zog. »Nie und nimmer lasse ich mich dazu bewegen, mein Haar aus dem Gesicht zu tragen, das habe ich dir wohl schon hundertmal gesagt!«

»Wenn ich jetzt bitten darf – –«

»Aber, Tantchen, schiebe doch um Gottes willen die Unterlippe nicht so vor!« flüsterte Alie wieder. Sie schien ihren Mund keine Minute ruhig halten zu können. »Ich will keine Schwiegermutter haben, die so böse aussieht.«

Sie kamen beinahe vor Lachen um, als der Photograph warnend die Hand erhob und mit elegant ausgestrecktem Zeigefinger ihnen zurief: »Jetzt fange ich an, bitte –«

Es war schade, daß es nicht dem feinfühlenden Pinsel eines Malers vergönnt war, die Gruppe wiederzugeben, die jetzt in dem stark von der Sonne beschienenen Atelier vor dem Photographen saß.

Die alte Dame in ihrem Lehnstuhl mit der hohen, schlanken, ein wenig vornübergebeugten Figur, mit dem trotz ihres Alters lebhaften, beweglichen Gesicht, das freilich von durchlebten Sorgen, aber auch von einer elastischen, natürlichen Munterkeit und einer Freude am Dasein erzählte, die sich in den vielen feinen Falten bei den Augen und dem freundlichen Lächeln in den Mundwinkeln kundgab. Das weiße, weiche, seidenfeine, aber ziemlich dünne Haar krauste sich leicht in den Schläfen. Eine runde schwarze Sammethaube mit breiter, gelber, echter Spitze bedeckte den Kopf und fiel in den Nacken hinein.

Daneben das junge Mädchen, das sich gemütlich neben sie in die Sofaecke gesetzt hatte, den einen Arm auf den Tisch gestützt, die Augen aufmerksam auf das Antlitz der alten Dame gerichtet, die aus dem Briefe vorzulesen schien. Eine ausdrucksvolle, ausgeprägte Physiognomie, eine feine, weiche Figur, mit schnellen, vogelähnlichen Bewegungen, dunkelblaue, kurzsichtige Augen mit ungewöhnlich großen Pupillen und stark überschattet von geraden, scharfgeschnittenen Brauen und einer ein wenig vortretenden Stirn, über der sich das aschblonde Haar leicht und luftig kräuste gleich einer von einem Sonnenstrahl in Bewegung gesetzten Staubwolke. Das Kinn war rund und schön geformt, der feine Mund in hohem Grade gefühlvoll und nervös.

Antlitz wie Figur zeugten von unendlicher weiblicher Anmut, aber der Ausdruck war so bewußt und beherrscht, daß er im großen und ganzen ein wenig abkühlend auf die Männer wirkte, die von Alies weiblicher Schönheit und ihrem lebensvollen, geistsprudelnden Wesen gefesselt wurden. Mehr als einer ihrer Bewunderer träumte davon, wie entzückend dies feine, bewegliche Gesicht sein würde, wenn es einmal seine reflektierende Zurückhaltung aufgeben und in weibliche Lieblichkeit zerschmelzen könne. Und von einer Frau wie Alie geliebt zu werden, zu sehen, wie diese ernsten, ein wenig grübelnden, allzu kritisch forschenden Augen weich würden und einen zärtlichen, hingebenden Ausdruck annahmen – das hatte manchem Manne als das größte Glück und gleichzeitig als die größte Auszeichnung vorgeschwebt, die man sich denken konnte.

Aber noch hatte kein Mann dies Glück erreicht, und man hörte oftmals die jungen Herren von Alie sagen: »Schön, lebhaft, glänzend, aber ohne weibliches Gefühl.«

Richard Rode hatte seinen Weihnachtsabend mit einigen Kameraden seines Regiments verbracht, mit Franzosen, für die dieser Tag keine weitere Bedeutung hatte. Als er spät in der Nacht nach Hause kam, lag ein großes Couvert mit der Handschrift seiner Mutter auf dem Schreibtisch. Begierig öffnete er den Brief, ein Ausruf froher Ueberraschung entfuhr ihm, als er das hübsche, wohlgelungene Kabinettbild erblickte. Seine Mutter war bis dahin nie zu bewegen gewesen, sich photographieren zu lassen. Er wußte, daß er Alies Energie die Erfüllung seines Wunsches zu verdanken habe.

Und Alie selber! Ja, von ihr hatte er freilich einmal ein Bild bekommen, aber das war schon lange her. Wie es schien, sah sie noch ebenso gut aus wie damals.

Da saßen sie beide so traulich bei der Winterlampe in dem alten Heim! Er kannte alles wieder bis zu der einfachen, altmodischen Tischdecke, die längst einer Nachfolgerin bedurft hätte, die aber noch nicht durch eine neue ersetzt zu sein schien. Nein, seine Mutter hatte ja niemals Geld, um sich selber etwas kaufen zu können: alles, was sie zusammensparen konnte, wurde von seinen kostbaren Studienreisen verschlungen.

Es war sonderbar, zu denken, daß Alie während dieser drei Jahre, die er fern von der Heimat verlebt, den Platz einer Tochter bei seiner Mutter ausgefüllt hatte. Ja, er hatte ihr vieles zu danken. Als seine Schwester Ida, kurz nachdem er seine Reise ins Ausland angetreten, plötzlich vom Tode dahingerafft worden war, würde er natürlich gezwungen gewesen sein, seine Studien abzubrechen und umzuwenden, heimzukehren zu der einsamen Mutter, wenn nicht Alie sich bereit erklärt hätte, den Platz der verstorbenen Freundin einzunehmen. Sie hatte selber ganz kürzlich die eigne Mutter verloren und stand fast allein in der Welt da, aber sie war, wenn auch keineswegs reich, doch vermögend genug, um unabhängig leben zu können, ja, er wußte durch Ida, daß es ihr Plan gewesen, sich auf Reisen zu begeben, und da war es ja immerhin ein Opfer, statt dessen zu der alten Frau zu ziehen, die in jener Zeit nur Sinn für ihren heftigen, untröstlichen Kummer hatte.

Frau Rode hatte Alie zu Idas Lebzeiten eigentlich nie so recht leiden können. Sie hatte sogar schon, als die beiden jungen Mädchen noch Kinder waren, ihre vertrauliche Freundschaft gemißbilligt, hauptsächlich wegen Alies häuslicher Verhältnisse – die Mutter lebte von ihrem Manne getrennt, die Schwester war eine Sängerin zweiten Ranges mit ziemlich zweifelhaftem Ruf – dann aber wegen Alies eigner Persönlichkeit, die zu eigenartig und auffallend war, um nicht das Mißtrauen einer Mutter zu erregen, die ihre Tochter gern zu einem Prachtexemplar einer normalen Frau erziehen will. Ja, Alie war sicher noch sehr unreif gewesen, als Richard sie zuletzt gesehen, obwohl sie damals bereits zweiundzwanzig Jahre zählte. Es gärte so vieles in ihr, daß sie nicht so leicht wie andre, gleichmäßiger angelegte Naturen in Harmonie gelangen konnte. Es lag etwas so Wechselvolles, Unberechenbares in ihrem ganzen Wesen, sie schwankte in dem Enthusiasmus für gewisse allgemeine Ideen und Interessen und einer zurückhaltenden Kälte, die sie zur Schau trug, sobald man auf das Gebiet der Gefühle kam. Versuchte man nur aus weiter Entfernung, sich ihrem Gefühlsleben zu nähern, so zog sie sich scheu zurück und legte jedes ernste Wort als Scherz aus.

Richard grübelte darüber nach, ob sie sich während dieser letzten Jahre wohl verändert habe, da sie und die Mutter jetzt so gut miteinander auszukommen schienen. Aber auch die Mutter hatte sich wohl verändert. Alies Einfluß war nicht ohne Wirkung auf die empfängliche Natur der alten Dame geblieben, ihre Lebensanschauungen hatten sich erweitert, und Richard hatte manchesmal beim Lesen ihrer Briefe durchgefühlt, wem er es zu verdanken habe, daß seine Mutter allen seinen Interessen so gut zu folgen verstand. Früher Kummer und ein einförmiges, zurückgezogenes Leben hatten eine Staubschicht über einer von Natur klaren Intelligenz angesammelt; aber im Laufe der letzten Jahre war die Luft daheim gereinigt worden, das fühlte er; ein frischerer Wind hatte Zutritt erhalten, seine Mutter gehörte ihm nun so voll und ganz an, sie verstand ihn in allem, teilte alles mit ihm so vollkommen, wie das Alter nur selten die Interessen der Jugend zu teilen vermag.

Richards Gefühle für Alie wurden wärmer und wärmer, während er das Bild in der Hand hielt und über dies alles nachdachte. Es war eigentlich wunderbar, daß er, der stets ein so lebhaftes Interesse für sie empfunden, sich doch niemals in sie verliebt hatte. Idas brennender Wunsch war es stets gewesen, sie hatte alles gethan, um sie so oft wie möglich zusammenzuführen; bei der Mutter aber war das Gegenteil der Fall gewesen. Richard mußte laut lachen, wenn er daran dachte, wie unruhig sie stets war, wenn die beiden zufällig einmal allein geblieben, und wie sie immer etwas Herabsetzendes über Alie zu sagen wußte, sobald sie zu bemerken glaubte, daß Richard ein mehr als gewöhnliches Interesse für sie empfand.

Nun hatte sich dies alles wohl geändert. Falls sie, wenn sie sich jetzt wiedersahen, auf den Gedanken kommen sollten, sich ineinander zu verlieben, so würde es für die Mutter wahrscheinlich keine größere Freude geben. Und doch war es merkwürdig, daß sie in ihren Briefen so wenig von Alie sprach. Ihr Name kam natürlich unausgesetzt vor, er war ja zu sehr mit dem täglichen Leben der Mutter verknüpft; nie aber hatte sie im Laufe all dieser Jahre erwähnt, was Alie für sie geworden war, nie hatte sie eine Aeußerung gemacht, die Richards Interesse für sie hätte anfachen können. Dies geschah wahrscheinlich aus Feingefühl von seiten der Mutter; sie fürchtete gewiß, daß Richard glauben könne, sie wolle auf ihn einwirken, wie Ida dies früher versucht hatte.

Richard fühlte sich eigentlich gar nicht für das stille Glück des häuslichen Lebens geschaffen; der Gedanke, sich mit einem jungen Mädchen ohne nennenswertes Vermögen zu verheiraten, hatte ihm niemals so recht zugesagt.

Er liebte das Leben im großen Stil und hatte stets davon geträumt, andre Wege zu gehen als die ausgetretenen alltäglichen. Und doch hatte er sich niemals entschließen können, eine glänzende Partie zu machen, obwohl sich ihm die Gelegenheit dazu mehr als einmal im Auslande geboten hatte, wo er viel in den höheren geselligen Kreisen verkehrt hatte und von schönen geistreichen Damen der verschiedensten Nationen gefeiert und verzogen worden war. War es nicht im Innersten seines Herzens doch der Gedanke an Alie gewesen, der ihn allen diesen Versuchungen gegenüber so kalt hatte bleiben lassen?

Er saß lange da, das Bild in der Hand, den Brief der Mutter vor sich. Als erklärenden Text zu dem Bilde hatte die Mutter geschrieben: »Ich habe soeben einen Brief von Dir erhalten, und Alie ist ungeduldig und wartet darauf, ihren Anteil an dem Inhalt zu bekommen.«

Pflegte Alie teil an seinen Briefen zu nehmen? Und wartete sie wirklich voller Ungeduld darauf? Und er, der so vertraulich an die Mutter zu schreiben pflegte, der gewohnt war, ihr sein ganzes Seelenleben offen darzulegen, ihr alle seine Pläne, jedes noch so flüchtige Gefühl, jede Stimmung mitzuteilen. Wie nahe ihm Alie plötzlich dadurch gerückt wurde! Sie hatte also während aller dieser Jahre in intimer Berührung mit seinem ganzen inneren Leben gestanden. Er fing an, sich nach einem Wiedersehen mit ihr zu sehnen, und mit wirklicher Spannung und einem unbestimmten Vorgefühl, daß sein Leben erst jetzt beginnen würde, reich und persönlich zu werden, lenkte er im Frühjahr den Kurs dem Vaterlande zu.

Er wurde am Vormittage mit dem Dampfschiff von Lübeck erwartet. Alie hatte gerade ein neues Frühlingskleid bekommen und es angezogen, als sie zum Frühstück hereinkam. Sie kümmerte sich im allgemeinen nicht viel um ihre Toilette und konnte jahrelang tagaus tagein mit demselben Kleide gehen. Wenn sie sich aber etwas Neues anschaffte, legte sie stets großes Gewicht darauf, etwas wirklich Hübsches zu wählen, ohne sich sonderlich um die herrschende Mode zu bekümmern. Es gab ein Wort, das für sie alles das bezeichnete, was sie auf der ganzen Welt am meisten verabscheute: das Banale, mochte es nun seinen Ausdruck in Worten, Gefühlen, Möbeln, Kleidern oder Schmucksachen finden. Lieber unhöflich als eine banale Höflichkeit; lieber hart und abstoßend als banal gefühlvoll, lieber in auffallende Farben und Stoffe gekleidet, die gar nicht für die Jahreszeit paßten, als in eine banal abgepaßte modische Toilette. Das Kleid, das sie gewählt hatte, um Richard zu empfangen, kleidete sie so gut, daß Frau Rode, die viel Sinn für Schönheit hatte, und die niemals häßliche Menschen hatte leiden können, förmlich benommen war, als sie sie erblickte, sie mehrmals drehte und wendete und ihrer Bewunderung einen lauten Ausdruck gab:

»Sehr, sehr hübsch, Alie! Nein, welch ein eigentümliches, seegrünes Schillern in dem Atlas der Taille! Ei, du meine Güte! Welch eine kostbare Perlenstickerei, die fällt ja wie ein Regenschauer von dem Halse herab, das sieht sehr pikant aus. Dreh dich einmal um, nein, nicht so langsam! Schwinge dich einmal ordentlich herum, so wie sonst! Du solltest sehen, wie die Perlen blitzen. Der Schmuck ist wie für dich gemacht, du schlangenartige, glatte, kleine Hexe du! Es ist wie etwas, das man festhalten will und das einem immer wieder aus den Händen gleitet. Du gleichst heute wirklich einer Seifenblase, Kleine!«

»Das Bild ist nicht so übel, Tantchen!« sagte Alie, deren Laune heute ebenso strahlend zu sein schien wie ihre Perlen. »Es ist ein ganz angenehmes Gefühl, gut gekleidet zu sein. Mir ist zu Mute, als könne ich heute über Häuser und Dächer hinwegspringen.«

Sie stand am Tische und legte die letzte Hand an das Arrangement einer großen Blumenschale mit Perlhyazinthen, Schlüsselblumen und Anemonen, umgeben von saftigem Moos.

Frau Rode betrachtete die warme Farbe ihrer Wangen und den Glanz, der über ihrem ganzen Ausdruck ruhte; plötzlich überkamen sie Gedanken, die einen kleinen Schatten über ihr offenes, bewegliches Antlitz gleiten ließen.

»Du willst das Kleid doch nicht heute anbehalten?« bemerkte sie trocken. »Ich fürchte, Richard wird es lächerlich finden, daß du dich schon am frühen Morgen so putzt!«

Alie wandte sich mit einer blitzschnellen Bewegung um, so daß die Perlen blitzten. Die Röte brannte sich, nach den Schläfen zu scharf abgezirkelt, fest; ihre ein wenig nervöse Stimme, die ein äußerst empfängliches Instrument zur Verdolmetschung aller der wechselnden Stimmungen war, die sie so gern verborgen hätte, nahm einen harten, unangenehmen Ton an, als sie antwortete: »Ach, sei nur ohne Sorge! Ich will deinem Prinzen keine Schlingen legen!« Damit eilte sie auf ihr Zimmer, kleidete sich in zwei Minuten um und kam in ihrem ziemlich vertragenen schwarzen Winterkleide zurück. Die Feststimmung war sowohl bei ihr als bei Frau Rode verschwunden. Die alte Dame bereute es, daß sie Alie verletzt hatte, und sann darüber nach, wie sie das wieder gut machen könne.

Diese kleine Mißstimmung warf einen Schatten auf ihre Freude, als sie eine Weile später ihren Sohn in die Arme schloß. Sie sah auch, daß Richard sich unangenehm berührt fühlte von der flüchtigen und gekünstelt gleichgültigen Weise, mit der Alie ihn empfing.

»Was für eine häßliche alte Frau ich doch bin!« sagte sie zu sich selber. »Ich, die ich gerade den Wunsch hegte, daß das ganze Haus ihm bei seiner Rückkehr entgegenstrahlen sollte; und nun habe ich mir durch meine dumme, unbegründete Furcht selbst die Freude zerstört!«

»Warte ein wenig! – Nein, du darfst nichts erzählen, ehe Alie hereinkommt,« unterbrach sie den Sohn, als sie in der Sofaecke im Wohnzimmer saßen, nachdem er ausgepackt und alle seine Sachen geordnet hatte, was gleich geschah, sobald er ins Haus gekommen war.

»Laß mich erst einmal nach Alie sehen!«

»Aber sag mir nur einmal, Mutter, was hat Alie eigentlich?« rief der junge Offizier aus, indem er aufsprang. Er saß nie lange an einem Fleck. »Weshalb hat sie mich so wortkarg und unfreundlich empfangen? Ich glaubte doch aus deinen Briefen zu verstehen, daß sie sowohl Interesse als auch Freundschaft für mich hege.«

»Das thut sie auch, Richard, darauf kannst du dich verlassen. Wie sie dein ganzes Leben in all diesen Jahren verfolgt hat!«

»Also nichts weiter als diese gewöhnliche schwedische Affektion!« rief er verdrießlich aus. »Das kenne ich von früher her; hier im Norden kann ein junges Mädchen nie natürlich und freundlich gegen einen jungen Mann sein; es gehört zum guten Ton, stolz und steif, zurückhaltend und vorsichtig zu sein, als sähe sie in dem geringsten Blick eines Mannes eine Gefahr für ihre Tugend. Ich bin an einen ganz andern Verkehr mit jungen Damen gewöhnt, Mutter. Wie natürlich und kameradschaftlich freundlich sind nicht zum Beispiel die Amerikanerinnen gegen einen Mann, sobald sie ihn kennen gelernt haben. Ich kann diese schwedische Prüderie, diese Heuchelei wirklich nicht ertragen!«

Er schritt im Zimmer auf und nieder und schlug seine Rockaufschläge zurück, als beengten sie ihm die Brust. »Puh, welch eine erstickende Atmosphäre hier in unserm ehrbaren Schweden herrscht!«

»Aber es sieht Alie wirklich so gar nicht ähnlich, prüde zu sein, das kannst du mir glauben!«

»Nun, dann bitte sie, hereinzukommen, und sage ihr, daß ich wirklich nicht so gefährlich bin. Sie braucht gar nicht so scharfe Mittel anzuwenden, um mich im Zaum zu halten. Ich habe in der Beziehung eine sehr feine Nase und bin bis dahin noch keiner Dame lästig geworden; ich habe seiner die Cour gemacht, die mich nicht selbst dazu aufgefordert hat.«

»Alie, Richard findet es merkwürdig von dir, daß du dich so zurückziehst.« Frau Rode sprach durch die halbgeöffnete Thür zu Alie hinein, die saß und schrieb. »Er ist ganz ärgerlich auf dich. Komm jetzt herein!«

»Ich habe keine Zeit,« entgegnete Alie, ohne aufzusehen. »Ich muß diesen Brief noch heute fertig haben.«

Erst bei Tische zeigte sie sich wieder, und Frau Rode sah, wie Richard sie einer ziemlich scharfen Kritik unterwarf. Das machte sie plötzlich so wunderbar warm ums Herz in Alies Interesse. Sie liebte das junge Mädchen in Wirklichkeit wie eine Tochter und erlaubte es niemand, eine abfällige Bemerkung über sie zu machen. Sie wollte gern, daß ihr Sohn Alie bewundern sollte, wenn er sich nur nicht im Ernste an sie band. Weshalb sie sich eigentlich so hiervor fürchtete, darüber war sie sich selber nicht so recht klar.

»Es ist das beste, wenn Richard eine Braut wählt, die ich selber niemals gesehen habe,« pflegte sie wohl zuweilen zu Alie zu sagen. »Ich stelle so große Anforderungen, daß wohl keine, die ich kenne, sie jemals erfüllen kann. Deshalb will ich die Betreffende nicht kennen, ehe es zu spät ist, die Sache rückgängig zu machen; dann muß ich natürlich versuchen, zufrieden zu sein.«

Dies hatte sie jedoch nicht verhindert, im Interesse ihres Sohnes die brennendste Eifersucht zu empfinden, sobald irgend ein andrer Mann Alie seine Huldigungen dargebracht hatte.

»Wie unverändert hier doch alles geblieben ist!« sagte Richard, als sie nach Tische alle drei zusammensaßen. »Derselbe Strickzeugkorb, mit dem ich immer zu spielen pflegte, bis das Garn in Unordnung geriet; erinnerst du dich dessen wohl noch, Mutter? Und dasselbe alte, abgegriffene Album, auf das ich zu deiner Verzweiflung immer loszuhämmern pflegte.«

»Ja, und wie ich merke, hast du noch dieselbe Unruhe in den Fingern,« sagte die Mutter, ihm im Scherz einen Schlag auf die Hand versetzend.

»Ja, und in den Beinen,« rief er aus und sprang auf. »Erinnerst du dich noch, wie du mich zu ermahnen pflegtest, daß man stillsitzen und beim Sprechen nicht so auf und nieder gehen müsse? Sieh nur, da kann man noch die alten Spuren von meinen allabendlichen Spaziergängen auf dem Teppich sehen. Ach, wie mir das alles wieder lebendig in die Erinnerung zurückkommt! Was ich aber nicht verstehe,« fuhr er, plötzlich stehen bleibend, fort, »das ist, wie ihr hier so viele Jahre ohne die geringste Abwechslung habt leben können. Bei Mutter, die so alt ist und die schon viel durchgemacht hat, kann ich es schon begreifen, aber Alie, so tagaus tagein ohne Abwechslung, während ich mir das Leben unter so vielen verschiedenen Verhältnissen um die Ohren geschlagen, Feldzüge in Afrika mitgemacht und alle möglichen Abenteuer erlebt habe; mich überfällt stets ein eingeengtes, halb erdrückendes Gefühl, wenn ich an das Leben denke, das ihr geführt habt. Hast du dich glücklich dabei gefühlt, Alie? Was hat dich eigentlich dazu bewogen, so zu leben? Das möcht' ich wirklich gern wissen.«

Er stand still, ließ sich auf das kleine Sofa neben ihr nieder und begann mit ihrem Stickgarn zu spielen.

Sie saß mit zurückgehaltenem Atem über ihre Arbeit gebeugt da. Ihr Herz pochte heftig. Wenn er nur gehen wollte! Wenn er nur nicht so nahe bei ihr sitzen, nur nicht ihre Schulter streifen wollte, wie er es that, als er die Hand auf die Sofalehne hinter ihr legte. Wenn er nur aufstehen und gehen, nur ein paar Schritte durch das Zimmer machen wollte, bis sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte und ihm ruhig und natürlich antworten konnte. Aber jetzt, wo er ihr so nahe saß, zu ihm aufsehen, – das war ihr nicht möglich.

Er wartete mehrere Minuten auf eine Antwort von ihr, als sie aber noch immer gesenkten Hauptes dasaß, ärgerte er sich wieder über ihre Prüderie, erhob sich und trat an die Mutter heran, die in einem Schaukelstuhl saß, den er nun mit knabenhaftem Mutwillen in eine so heftige Bewegung zu setzen begann, daß die alte Dame laut aufschrie, während sie gleichzeitig vor Freude darüber lachte, daß ihr Junge nun wieder bei ihr war, ganz wie in früheren Zeiten.

Er wandte Alie fast den Rücken zu, und nun konnte sie ihn unbemerkt betrachten. Sie hatte stets die seine Form des Nackens, die geschmeidige Kraft der Figur bewundert, die etwas von der Elastizität einer Springfeder in sich hatte, wenn er so plötzlich in die Höhe fuhr, was er zu thun pflegte, sobald er eifrig wurde. Er war von einer feinen, fast weiblichen Schönheit, und doch trug seine Erscheinung das Gepräge einer brennenden, nervösen Energie und einer wirksamen, arbeitenden Intelligenz, die etwas Ansteckendes, Elektrisierendes hatte. Alie hatte stets ein Gefühl gehabt, als könne man in Richards Gegenwart nicht unthätig sein; sie fühlte sich auch jetzt durch seine Kritik über das etwas apathische Traumleben getroffen, das sie während der Jahre seiner Abwesenheit geführt hatte.

»Unser Leben ist nicht so einförmig gewesen, wie du glaubst,« sagte die Mutter nach einer Weile. »Du hast es wahrhaftig verstanden, uns in Spannung zu erhalten mit allen deinen Plänen und wilden Unternehmungen. Während des Feldzuges verfolgte Alie alle deine Bewegungen auf der Karte. Sie hatte sich aus Paris eine große Spezialkarte und ein paar dicke Werke über Algier kommen lassen. Du hättest sie sehen sollen, mit ihrer Kurzsichtigkeit, wie sie sich über den großen Tisch krümmen mußte, um die Karte besser sehen zu können, und wie sie mich Aermste verhöhnte, wenn ich zuweilen dumme Fragen that und mit deiner Marschroute nicht recht Bescheid wußte. Ja, wir lebten in einer Spannung, als ob unser eignes Hans vom Feinde belagert gewesen wäre.«

Richard schaute zu Alie hinüber und fing einen kurzen Blick von ihr aus. Er sah darin etwas, das einem Wiederschein des lebhaften Interesses glich, das die Mutter soeben geschildert hatte. Ihm wurde ganz warm ums Herz dabei, und er näherte sich ihr wieder:

»Und ihr erwartetet natürlich mit jeder Post die Nachricht, daß ich von der Kugel eines Arabers gefallen sei?«

»Natürlich,« erwiderte Alie, und das Schelmische in ihr erhielt die Oberhand über die Verlegenheit. »Tante sah dich jede Nacht in Blut gebadet auf einem verlassenen Wahlplatz liegen, während die Raben in deinem Fleische hackten!«

»Pfui, Alie, welch häßliche Bilder du da ausmalst! Ja, Richard, du kannst mir glauben, es war angenehm, wenn ich nahe daran war, aus Angst um dich zu vergehen, sie auf die Weise reden zu hören!«

Richard sah ganz verwundert aus.

»Aber das wird Alie doch nicht gethan haben!«

»Meinst du nicht?« sagte Frau Rode, und alle die kleinen Falten, die ihre Augen umgaben, fingen an, sich zu bewegen und zu lächeln. »Du glaubst wohl, daß sie sich bemühte, mich zu trösten, daß sie mir einige freundliche, beruhigende Worte sagte? Nein, ganz im Gegenteil! Sie schalt mich nur und sagte, ich sei dumm und thöricht und unausstehlich, und wenn ich das Jammern jetzt nicht ließe, würde sie fortgehen und sich nie wieder bei mir sehen lassen und so weiter.«

»Ja,« entgegnete Alie, die jetzt ihre Fassung zurückgewonnen und ihren gewöhnlichen, scherzenden Ton wieder angenommen hatte. »Das war auch das einzige, was half. Wenn ich sie eine ganze Zeit tüchtig ausgescholten hatte, hörte sie gewöhnlich auf, zu weinen und zu klagen, und dann las ich ihr den Text gleich so gründlich, daß ich sie zum Lachen brachte. Sprach ich dagegen freundlich mit ihr und suchte ich sie zu trösten, so wurde die Sache nur tausendmal schlimmer. Dann wurde sie allen Ernstes böse auf mich und sagte, ich spräche gegen mein besseres Wissen, und ich sollte nur lieber einräumen, daß du verwundet oder gefangen oder tot oder – ja, Gott mag wissen, ob sie die Araber nicht im Verdacht gehabt hat, daß sie dich als Leckerbissen zu Mittag serviert hätten. Gesteh es nur, Tantchen, so ganz sicher warst du dir in der Beziehung nicht. So etwas wagte sie mir freilich nicht zu sagen, denn sie wußte sehr wohl, daß ich sie dann tüchtig ausgelacht hätte.«

»Glaube nicht an ihr dummes Gerede, lieber Richard!« sagte Frau Rode und streichelte ihr die Wangen.

Alie hatte sich erhoben und stand vor der alten Dame, über sie gebeugt, sich auf die Lehne des Schaukelstuhls stützend.

»Zuweilen kam sie auf den Einfall, in meine Klagen einzustimmen und meine Unruhe noch zu übertreiben,« fuhr sie zu Richard gewendet fort. »Dann that sie, als sei sie selber ganz verzweifelt, und dann mußt' ich sie trösten.«

»Das war natürlich alles nur Scherz?« fragte Richard, der ganz weich gestimmt war bei dem Gedanken, daß diese beiden nur für ihn gelebt hatten, während er auf kühne Abenteuer ausgezogen war und nur daran gedacht hatte, sein eignes Leben so reich und so interessant wie möglich zu machen. »Du selber warst wohl nie im geringsten darüber in Unruhe, wie es mir ergehen würde, Alie?«

Sie ließ den Schaukelstuhl fahren, wandte sich um und sah ihm in die Augen. Er ergriff ihre beiden Hände und küßte sie, sie aber entzog sie ihm schnell.

»Wollen wir nicht ein wenig hinausgehen?« fragte er. »Es ist hier so eng, und ich bin nicht daran gewöhnt, den ganzen Nachmittag im Zimmer zu sitzen. Du magst nicht, Mutter? Das dachte ich mir schon! Du bist natürlich, seit ich fortgewesen bin, ganz aus der Uebung gekommen. Aber Alie! Bist du heute schon draußen gewesen?«

»Nein, aber – –«

»Gehst du denn nicht jeden Tag aus?«

»Ach nein, nicht regelmäßig.«

»Aber was für ein Leben ist dies doch! Hier zwischen den vier Wänden zu sitzen, so jung, wie du bist! Ach, Alie, ich hätte wohl Lust, dich zu lehren, was es heißt, zu leben! Komm jetzt mit mir hinaus!«

Nein, Alie hatte keine Lust. Sie hatte alle möglichen Vorwände; das Muster sollte fertig gestickt werden, sie hatte ein wenig Kopfschmerz, es sah so nach Regen aus und so weiter. Richard aber gab nicht nach. Seine frische Energie und seine Lebenslust wirkten so ansteckend, daß Alie selber anfing zu meinen, sie habe wie ein richtiger Maulwurf gelebt, und es würde ihr gut thun, die Erde von sich abzuschütteln.

Und so gingen sie denn, Straße auf und ab, zum Tiergarten hinaus und durch das Villenviertel zurück. Er wollte alle die neuen Bauten und Anpflanzungen sehen, die seit seiner Abwesenheit entstanden waren. Daß sie, die nicht an solche Märsche und Strapazen gewöhnt war, von einem so langen Spaziergang müde werden könne, kam ihm keinen Augenblick in den Sinn. Er hatte stets nur Gedanken für das, was ihn gerade interessierte, und Alie wäre lieber so lange gegangen, bis sie zusammenbrach, als daß sie eingestanden hätte, daß sie müde sei.

Aehnliche Spaziergänge wurden nun häufiger wiederholt, und selbst Frau Rode, die mehrere Jahre hindurch eine ganz sitzende Lebensweise geführt hatte, mußte Richard gar bald auf Besuche, ins Theater, auf Fahrten über Land und dergleichen mehr begleiten.

»Ich will mich noch freuen, solange ihr mich wenigstens nicht zwingt, Haschens zu spielen,« sagte die alte Dame eines Tages, als Richard sie überredet hatte, einen Besuch mit ihm bei einer Familie auf dem Lande zu machen, wo das ganze Haus voller Jugend war.

»Ich werde wohl kaum umhin können, daran teilzunehmen,« meinte Alie, »obwohl ich nie im Leben diese wilden Spiele habe leiden mögen.«

Des Vormittags arbeitete Richard einige Stunden auf seinem Zimmer an einem größeren kriegswissenschaftlichen Werk, zu dem er das Material auf seinen Reisen gesammelt hatte. Er konnte es dann nicht ertragen, durch den geringsten Laut gestört zu werden, niemand durfte sich draußen im Zimmer rühren oder auch nur eine Thür öffnen. Alies Zimmer lag neben der Wohnstube, seines auf der andern Seite. Wenn es zuweilen geschah, daß sie ausgewesen war und nach Hause kam, während er bei seiner Arbeit saß, so wagte sie es nicht, durch das Wohnzimmer zu gehen, sondern konnte stundenlang in der Küche sitzen und warten, bis er ausging. Die Mutter sah dies mit an, aber es fiel ihr nicht ein, etwas Ungewöhnliches darin zu finden. Für sie war es das Natürlichste von der Welt, daß sich alle seinem Wohlbefinden unterordneten.

Vor Tische waren stets die Mutter und Alie in der Küche, um der Köchin bei der Zubereitung der Speisen zu helfen, aus Angst, daß das Essen nicht auf den Glockenschlag fertig werde. Alie sprang hin und her, hob die Deckel der Kochtöpfe auf, steckte ein Stück Holz unters Feuer, damit es besser brenne, gab die Suppe auf, half beim Decken, wandte das Roastbeef um, voller Besorgnis, daß die Köchin den richtigen Zeitpunkt vergessen könne. Richard war so verwöhnt, daß ihm das Essen zu Hause fast niemals schmeckte. Die Mutter kaufte Fleisch von dem besten Schlächter der Stadt und strengte sich in wirtschaftlicher Beziehung über ihre Kräfte an, um ihm einen gut besetzten Tisch zu bieten. Er war zu liebenswürdig, um eine direkte Bemerkung zu machen, aber sein kritischer Blick, die Vorsicht, mit der er erst jedes Gericht probierte, sowie seine Schilderungen von der vorzüglichen französischen Küche verrieten deutlich genug, daß ihre Anstrengungen vergeblich waren.

Indessen hatte Richard nicht die geringste Ahnung von all dieser Fürsorglichkeit, und aus Alies Aeußerungen gewann er vielmehr den Eindruck, daß sie sich diesen häuslichen Angelegenheiten gegenüber höchst gleichgültig verhielt. Sie äußerte sich verächtlich über die allgemeine Schwäche der Männer für einen guten Tisch und erklärte, ein vernünftiger Mensch dürfe an seine Nahrung keine andern Ansprüche stellen, als daß dieselbe gesund und nahrhaft sei; Leckerhaftigkeit sei eines denkenden Wesens unwürdig. Im allgemeinen bestritt sie fast alle Behauptungen, die Richard aufstellte, und griff seine Anschauungen und Lebensgewohnheiten in allen möglichen Punkten an, wogegen sie ganz im geheimen zu jedem persönlichen Opfer bereit war, damit sein Wohlsein in keiner Beziehung gestört werde.

Er war im allgemeinen ein wenig zu schnell in seinen Schlußfolgerungen und viel zu selbstbewußt und absolut in seinem Urteil, sowie gewöhnt, zu imponieren und als Orakel betrachtet zu werden, besonders wo es sich um die Stimmen junger, unverheirateter Damen handelte. Hier aber trat ihm zum erstenmal bei einer Frau eine Kritik entgegen, die ihn Schritt für Schritt anhielt und ihn zwang, jede Behauptung zu begründen und jede übereilte Aussage zurückzunehmen.

Er wunderte sich wieder und wieder, wie viel Alie gelesen und gedacht hatte, und welch ein vorzügliches Gedächtnis sie besaß. Sie war ihm in jedem Punkte des allgemein menschlichen Wissens völlig gewachsen und hatte dabei nicht unbedeutende Fachkenntnisse in seinen eignen Hauptzweigen, die sie, – wie sie ihm erzählte, wenn er seine Verwunderung hierüber ausdrückte, – studiert hatte, um die Mutter in stand zu setzen, den Sohn besser zu verstehen. Er war stets voller Pläne und Einfälle und staunte über die Leichtigkeit, mit der sie sich mit seinen Ideen vertraut machte, selbst wo es sich um Gegenstände handelte, die ihr so fremd waren wie Strategie, Verbesserung des Kriegsmaterials und dergleichen mehr.

Er empfand auch ein immer lebhafteres Interesse an ihrer Unterhaltung und verbrachte den größten Teil des Tages in ihrer Gesellschaft. Aber zur selben Zeit, wo er sie bewunderte und von ihrer regen Intelligenz gefesselt wurde, war doch etwas an ihr, was ein wenig abkühlend auf seine Gefühle wirkte. Man konnte nicht sagen, daß sie unweiblich war, weder in ihrem Aussehen und ihren Bewegungen, noch in ihrer Art und Weise, sich zu unterhalten, oder in Bezug auf ihr Temperament und ihren Charakter; im Gegenteil, ihre Liebe für seine Mutter, ihr selbstverleugnendes Leben waren Züge echter Weiblichkeit – und doch! Er nahm sich selbst ins Verhör, ob es nicht möglicherweise nur seine männliche Eigenliebe war, die sich gedemütigt fühlte durch das Bewußtsein, daß jedes seiner Worte, jede Handlung unter der Kritik einer Frau stand; ob das, was er bei ihr vermißte, nicht vielleicht nur die blinde Bewunderung war, die er sonst so guten Kaufes bei ihrem Geschlecht zu erringen pflegte. Er sagte sich selber, daß es nur sein schlechteres, egoistisches, eigenwilliges Ich sei, das sich von ihr zurückgestoßen fühlte, während das Edlere in ihm, seine ganze tiefere Persönlichkeit ihn zu dieser Frau hinzog, die ihn so gründlich verstand, die eine so vorzügliche Gesellschaft für ihn war, und die seine wahre Lebensgefährtin in einem weit reicheren und volleren Maße werden konnte als jede andre, die er bis dahin gekannt. Er fing an, sich selber davon zu überzeugen, daß er sie liebe. Es war freilich nicht eine solche Liebe, wie er sie geträumt hatte, nicht diese allbeherrschende Leidenschaft, welche die Dichter besingen. Aber er war wohl nicht im stande, eine solche Liebe zu empfinden, seine Phantasie und seine Gedanken waren zu sehr in Anspruch genommen von seinen wissenschaftlichen Interessen, und er sagte sich selber, daß er in seiner Gattin viel mehr einer intelligenten, angenehmen Gesellschafterin bedürfe, einer Freundin, mit der er seine Gedanken austauschen könne, als einer Geliebten, mit der man schäkert.

Und eines Tages, auf einem ihrer gewöhnlichen Spaziergänge, bat er sie, die Seine zu werden.